Die Auserwählten / Kommissar Niels Bentzon Bd.1
Thriller
Ein Mönch in China, eine Ärztin in Kanada, ein Bürgerrechtler in Russland - Opfer einer rätselhaften Mordserie. Alle tragen ein blutiges Mal auf dem Rücken. In Kopenhagen, bei Kommissar Bentzon, laufen die Fälle zusammen....
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Produktinformationen zu „Die Auserwählten / Kommissar Niels Bentzon Bd.1 “
Ein Mönch in China, eine Ärztin in Kanada, ein Bürgerrechtler in Russland - Opfer einer rätselhaften Mordserie. Alle tragen ein blutiges Mal auf dem Rücken. In Kopenhagen, bei Kommissar Bentzon, laufen die Fälle zusammen. Auch er und seine Mitarbeiterin Hannah Lund schweben in höchster Gefahr.
Klappentext zu „Die Auserwählten / Kommissar Niels Bentzon Bd.1 “
Und wende dein Auge nicht von den GerechtenEin Mönch in China, eine Ärztin in Kanada, ein Bürgerrechtler in Russland rund um den Erdball werden Menschen ermordet. Menschen, zwischen denen ein geheimnisvoller Zusammenhang besteht: Die Opfer tragen ein blutiges Mal auf dem Rücken. In Kopenhagen laufen die Fälle zusammen, und Kommissar Niels Bentzon übernimmt die Ermittlungen. Unterstützung bekommt er von Hannah Lund, einer genialen Physikerin, die das Rätsel schließlich löst. Doch damit bringt sie sich und Bentzon in tödliche Gefahr.
Kopenhagen, 2009. Die Vorbereitungen auf den Klimagipfel laufen auf Hochtouren, als eine dringende Sicherheitswarnung bei der dänischen Polizei eingeht. Mysteriöse Todesfälle, die im Abstand von sieben Tagen an verschiedenen Orten der Welt gemeldet wurden, geben Anlass zur Sorge. Die Todesursache ist nicht zu ermitteln, doch es scheint eine Verbindung zwischen den Opfern zu geben: Ein seltsames Mal überzieht den Rücken der Toten. Interpol steht vor einem Rätsel, allerdings gibt es einen Hinweis, der nach Dänemark führt. Niels Bentzon, Kommissar bei der Kopenhagener Polizei, wird auf den Fall angesetzt. Ihm zur Seite steht die Physikerin Hannah Lund, die mit mathematischem Sachverstand zu Werke geht. Gemeinsam tragen sie Puzzleteilchen um Puzzleteilchen zusammen. Was sie schließlich zutage fördern, übersteigt zunächst ihre Vorstellungskraft bis sie gewahr werden, dass es um ihr Leben geht.
Lese-Probe zu „Die Auserwählten / Kommissar Niels Bentzon Bd.1 “
Die Auserwählten von A. J. Kazinski1.
Yonghegong-Tempel, Peking - China
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Es war nicht das Beben der Erde, das ihn weckte. Daran hatte er sich gewöhnt - die Metro fuhr direkt unter dem YonghegongTempel hindurch und drohte unablässig damit, den dreihundertfünfzig Jahre alten Tempelkomplex inmitten der chinesischen Hauptstadt zum Einsturz zu bringen. Der Mönch war aufgewacht, weil sich jemand oder etwas im Schlaf über ihn gebeugt und ihn beobachtet hatte. Dessen war er sich sicher.
Ling richtete sich im Bett auf und sah sich um. Die Sonne ging gerade unter, die Schmerzen hatten ihn früh ins Bett gezwungen.
»Ist da jemand?« Das unerbittliche Pochen in seinem Inneren zirkulierte, so dass er nicht wusste, wo das Übel steckte. War es im Rücken, im Bauch oder in der Brust? Unten auf dem Tempelplatz hörte er die jungen Mönche reden, und die letzten, westlichen Touristen schienen gerade den Gebäudekomplex zu verlassen.
Ling trotzte den Schmerzen und stand auf. Noch immer hatte er das Gefühl, dass sich jemand im Raum befand. Es war aber niemand zu sehen. Er konnte seine Sandalen nicht finden und wankte auf nackten Füßen über den steinernen Boden. Es war kalt. Vielleicht liegt es an der Durchblutung, dachte er, vielleicht ist eine Arterie verstopft. Er bekam kaum Luft. Seine Zunge war geschwollen, und er schwankte. Für einen Moment hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren, aber er durfte nicht stürzen. Das wusste er nur zu gut. Ging er jetzt zu Boden, stand er nie wieder auf. Er holte tief Luft und ertrug das Brennen in Luftröhre und Lungen.
»Hilfe«, versuchte er zu rufen. Aber seine Stimme war zu schwach. Niemand hörte ihn. »Hilfe!«
Ling trat auf einen schmalen, feuchten Flur und ging von dort in einen angrenzenden Raum. Orangefarbenes Sonnenlicht drang zaghaft durch das Dachfenster. Er musterte seinen Körper. Es war nichts zu sehen. Arme, Bauch und Brust sahen ganz normal aus. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen, so dass er für einen Moment die Lider schloss, den Kampf aufgab und in eine Finsternis aus grenzenlosem Unbehagen abtauchte. Dann, als die Schmerzen abebbten, verspürte er plötzlich Ruhe. Sie kamen stoßweise, und jede Attacke überstieg die vorangegangene. Jetzt wurde ihm wieder eine Atempause gegönnt.
Mit zitternden Händen öffnete er die Schublade und schob seine Finger tastend hinein. Endlich fand er, wonach er suchte: einen kleinen, verzierten Taschenspiegel. Er betrachtete sich und sah ein Gesicht voller Furcht. Ling schob seinen Umhang etwas hoch und hielt den Spiegel nach hinten, so dass er einen Blick auf seinen Rücken werfen konnte. Ihm verschlug es den Atem.
»Mein Gott«, flüsterte er und ließ den Spiegel fallen. »Was ist denn das?«
Die einzige Antwort, die er erhielt, war das Klirren des Spiegels, der am Boden zerbrach.
Das altmodische Münztelefon an der Wand sah ganz und gar nicht wie ein rettender Engel aus, aber es war seine einzige Chance. Er schleppte sich zu dem Apparat. Erneut übermannte ihn der Schmerz und zwang ihn innezuhalten. Er schien kein Ende nehmen zu wollen, fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Ling öffnete die Augen und starrte auf das Telefon, gegen dessen Installation er sich seinerzeit mit all seiner Kraft zur Wehr gesetzt hatte. Die Behörden hatten sich aber mit Rücksicht auf die Touristen durchgesetzt - - sollte jemandem etwas zustoßen, musste Hilfe herbeigerufen werden können. Aus dem gleichen Grund stand auch die Nummer des Rettungsdienstes mit großen Ziffern neben einer Schale mit Münzen an der Wand. Ling streckte den Arm aus und versuchte, die Schale zu erreichen, doch seine Finger mussten sie loslassen, als er erneut das Gleichgewicht verlor und sich an der Wand abstützen musste. Scherben und Münzen am Boden. Sollte es wirklich eine seiner letzten Handlungen auf dieser Erde sein, sich nach den kleinen, glänzenden Münzen zu bücken, denen zu entsagen er fast sein ganzes Leben gewidmet hatte? Aber er wollte nicht sterben, noch nicht, und hob deshalb mit zitternden Fingern eine Münze auf, steckte sie ins Telefon und wählte die drei Ziffern, die an der Wand geschrieben standen. Dann wartete er.
»Komm schon, komm schon«, flüsterte er mühevoll. Endlich meldete sich eine Frauenstimme: »Rettungszentrale!« »Sie müssen mir helfen!«
»Um was geht es? Von wo aus rufen Sie an?«
Die Stimme klang ruhig und gefasst. Fast mechanisch. »Ich brenne. Ich ... «
Ling verstummte und sah sich um. Da war doch jemand, er war sich ganz sicher. Jemand beobachtete ihn. Er rieb sich die Augen, doch es nützte nichts, er konnte niemanden sehen. Wer sollte ihm so etwas antun?
»Ich muss wissen, wo Sie sind«, sagte die Frau.
»Helfen Sie mir ...« Bei jedem Wort, das über seine Lippen kam, schoss ein stechender Schmerz von seinem Rücken durch seine Brust in den Mund bis in die geschwollene Zunge.
Die Frau unterbrach ihn freundlich, aber bestimmt. »Wie lautet Ihr Name?«
»Ling. Ling Cedong, ich ... Helfen Sie mir! Meine Haut ... sie brennt!«
»Herr Cedong ...« Sie war jetzt ungeduldig. »Wo befinden Sie sich?«
»Helfen Sie mir!«
Er hielt abrupt inne. Etwas in ihm schien völlig unvermittelt zusammenzubrechen. Als würde die Welt um ihn herum einen Schritt zurücktreten und ihn in einem Zustand der Unwirklichkeit zurücklassen. Die Geräusche verhallten. Das vereinzelte Lachen auf dem Tempelplatz. Und die Stimme im Hörer. Die Zeit stand still. Plötzlich war er in einer neuen Welt. Oder auf der Schwelle zu einer solchen. Aus seiner Nase rann Blut.
»Was geht hier vor?«, flüsterte er. »Es ist so still.«
Im gleichen Moment ließ er den Hörer los.
»Hallo!«, tönte die mechanische Stimme. »Hallo?«
Aber Ling hörte sie nicht mehr. Er taumelte ein paar Schritte Richtung Fenster und sah die drei Gläser, die auf der Fensterbank standen. In einem war Wasser - vielleicht half das ja. Er streckte seine Hand danach aus, bekam es aber nicht richtig zu fassen. Stattdessen fiel es in die Tiefe und zersplitterte auf den Steinen.
Die Mönche unten auf dem Platz blickten nach oben. Ling versuchte, ihnen ein Zeichen zu geben. Er sah, dass ihre Münder sich bewegten, hörte aber nichts.
Dann spürte und schmeckte Ling plötzlich das Blut, das aus seiner Nase lief.
»Mein guter Gott«, stöhnte er. »Was geschieht mit mir?«
Für einen Moment hatte er das Gefühl, weggewischt zu werden. Als würde er reduziert zu einem Puzzlesteinchen im Traum eines anderen Menschen, der jetzt, in diesem Augenblick erwachte. Er konnte sich dagegen nicht zur Wehr setzen. Die Geräusche um ihn herum waren verstummt. Er stürzte. Landete auf dem Rücken und blickte nach oben. Um ihn herum war es vollkommen still. Er lächelte und streckte einen Arm aus. Dort, wo noch vor einem Augenblick die Zimmerdecke gewesen war, hatte er nun freien Blick in einen Himmel, an dem die ersten, noch schwachen Sterne sichtbar wurden.
»Es ist so still«, murmelte er. »Die Venus. Und die Milchstraße.«
Die anderen Mönche stürmten in sein Zimmer und beugten sich über ihn. Aber Ling sah sie nicht. Seine ausgestreckte Hand fiel kraftlos zu Boden. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen.
»Er hat versucht anzurufen.« Einer der Mönche hielt den Hörer in der Hand. »Die Rettungszentrale.«
»Ling!« Der jüngste der anderen Mönche versuchte ihn anzusprechen. »Ling! Kannst du mich hören?«
Keine Antwort. Der junge Mönch sah zu den anderen auf. »Er ist tot.«
Alle schwiegen mit gesenktem Kopf. Einige hatten Tränen in den Augen. Dann brach der älteste Mönch das Schweigen: »Hol den Lopön, uns bleibt nicht viel Zeit.«
Jemand wollte den Jungen schicken, aber der ältere hielt ihn auf. »Nein, hol du ihn. Der Junge hat so etwas noch nie erlebt. Er soll hierbleiben.«
Als ein anderer Mönch sich auf den Weg machte, sah der Junge den älteren an.
»Was passiert jetzt?«, fragte er ängstlich.
»Phowa. Wir müssen das Bewusstsein übertragen. Gleich kommt der Lopön.«
»Phowa?«
»Phowa hilft dem Bewusstsein auf den Weg. Durch den Körper und dann durch den Kopf nach draußen. Wir haben nur ein paar Minuten.«
»Was passiert, wenn wir es nicht schaffen?«
»Wir schaffen es. Der Lopön ist schnell. Kommt, helft mir. Er kann da nicht liegen bleiben.«
Niemand reagierte.
»Packt an.« Der Junge und zwei andere Mönche nahmen Lings Beine.
Sie hoben ihn hoch und legten ihn seitlich aufs Bett. Als der älteste ihn auf den Rücken legen wollte, erblickte er etwas. »Was ist das?«, fragte er.
Die anderen kamen näher.
»Seht doch, da, auf seinem Rücken.«
Alle beugten sich über den toten Mönch.
»Was ist das?«, fragte der Junge.
Keiner antwortete ihm. Sie standen nur schweigend da und starrten auf das seltsame Zeichen, das auf Lings Rücken zum Vorschein gekommen war. Es reichte von Schulter zu Schulter und herab bis zur Mitte des Rückens. Wie eine Tätowierung oder ein Brandzeichen.
Als hätte ein Feuer auf seinem Rücken gebrannt.
2.
Suvarna Hospital, Mumbai - Indien
Giuseppe Locatelli hatte die Mail mit der seltsamen Bitte vor drei Tagen erhalten. Er sollte die Leiche eines kürzlich verstorbenen indischen Wirtschaftswissenschaftlers in Augenschein nehmen. Giuseppe hatte nicht wirklich Lust dazu, aber er brannte darauf, Indien zu verlassen, und hoffte, dass ein pflichtbewusster, erfolgreicher Einsatz ein Sprungbrett für eine bessere Stellung in einer anderen italienischen Botschaft sein konnte. Vielleicht in den USA. Davon träumte er. Washington oder das Konsulat in New York, in dem man sich mit allem beschäftigte, was mit den Vereinten Nationen zu tun hatte. Aber im Grunde war ihm alles lieber als diese stinkenden Straßen. Deshalb hatte er nicht gezögert, dieser seltsamen Bitte nachzukommen.
Die Fahrt war lang und beschwerlich. Trotz des frühen Morgens kam das Taxi in dem Gewimmel des Elendsviertels nur langsam voran. Guiseppe hatte bereits während seiner ersten Woche in Indien gelernt, dass man die Armen nicht ansehen durfte. Man durfte ihnen nicht in die Augen blicken -- sonst hatte man wie jeder Neuankömmling eine Traube bettelnder Kinder im Schlepptau. Richtete man seinen Blick stattdessen stur geradeaus und blieb eiskalt, ließen sie einen in Ruhe. War man in Indien unterwegs, kam es darauf an, die Armut zu verdrängen, weinen durfte man erst, wenn man wieder allein war. Sonst wurde man bei lebendigem Leib gehäutet.
Das Taxi hielt an.
»Suvarna Hospital, Sir.«
Giuseppe bezahlte und stieg aus dem Wagen. Vor dem Krankenhaus hatte sich eine Warteschlange gebildet. In diesem Land wartete man wirklich überall. Am Strand, bei der Polizei, vor jeder noch so kleinen Praxis, auch wenn es dort nur Pflaster und Mullbinden gab. Giuseppe schob sich durch die Wartenden, ohne einem einzigen in die Augen zu blicken.
Er sprach den Pförtner auf Englisch an. »Giuseppe Locatelli. Italienische Botschaft. Ich habe einen Termin mit Dr. Kahey.«
Dr. Kahey ließ sich den Arbeitsdruck nicht anmerken. Er machte einen ruhigen, gefassten Eindruck, während er über Italien sprach, über Sardinien, wo Giuseppe selbst noch nie gewesen war. Sie gingen über die Treppe nach unten zur Leichenhalle. Giuseppe kam nicht umhin, dem Arzt seine Bewunderung auszudrücken.
»All die Menschen da draußen, wie schaffen Sie das nur?« »Die sind nicht da, um behandelt zu werden.« Dr. Kahey lächelte etwas amüsiert. »Immer mit der Ruhe.«
»Und warum dann?«
»Sie wollen ihm die letzte Ehre erweisen.«
»Ihm?«
Dr. Kahey sah Giuseppe Locatelli verwundert an. »Dem Mann, den auch Sie sehen wollen. Raj Bairoliya. Sind Ihnen etwa nicht die vielen Blumen aufgefallen?«
Giuseppe wurde rot. Ihm war gar nichts aufgefallen. Er hatte aus Furcht vor dem Augenkontakt mit einem Bettler starr nach vorne geschaut. Kahey sprach mit seinem charakteristischen, indischen Akzent weiter: »Bairoliya war einer der engsten Berater von Muhammad Yunus, dem Vater der Mikrokredite. Kennen Sie Mr Yunus?«
Giuseppe schüttelte den Kopf. Er hatte aber von den Mikrokrediten gehört, dank derer Tausende und Abertausende von Menschen kleine Geschäfte hatten aufbauen können.
»Yunus ist 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden«, sagte Dr. Kahey und zog die Leiche des Wirtschaftswissenschaftlers aus der Kühlung. »Man hätte diesen Preis aber ebenso gut auch Bairoliya geben können.«
Giuseppe nickte. Der Arzt nahm das Leichentuch zur Seite. Der Wissenschaftler sah friedlich aus. Seine Haut war aschgrau. Giuseppe räusperte sich und erklärte, dass er jetzt die italienischen Polizeibehörden unterrichten müsse, die ihn geschickt hatten.
»Sure, sure.«
Er wählte die Nummer. Der Hörer wurde sofort abgenommen.
»Tommaso di Barbara?«
»Si.«
»Giuseppe Locatelli. Chiamo dall'ambasciata a Nuova Delhi.« »Si. Si!«
»Wie Sie mich gebeten hatten, stehe ich nun neben dem Leichnam von Raj Bairoliya.«
Die Stimme am Telefon klang erkältet und aufgeregt: »Sein Rücken. Können Sie seinen Rücken sehen?«
Giuseppe wandte sich an den Arzt, der beiseite getreten war, um eine Zigarette zu rauchen.
»Die italienischen Behörden fragen nach dem Rücken.«
»Ah, Sie wollen das Mal sehen.« Kahey zuckte mit den Schultern und legte die Zigarette so auf die Fensterbank, dass die Glut über den Rand ragte. »Vielleicht können die mir ja sagen, was das ist.« Er sah Giuseppe auffordernd an. »Sie werden mir helfen müssen.«
Giuseppe umklammerte unbeholfen den Hörer und wusste nicht, was er tun sollte.
»Wir müssen ihn umdrehen.«
»Rufen Sie zurück«, lautete die Order auf Italienisch, dann war die Leitung unterbrochen.
»Come on. Don't be afraid. He won't hurt anyone. On three! Ready?«
Dr. Kahey lächelte, als Giuseppe zufasste. »One, two, three!« Die Leiche klatschte auf die Seite, und ihr Arm rutschte über
die Kante. Giuseppe Locatelli starrte verwundert auf den Rücken
des Toten. Ein Mal erstreckte sich von Schulter zu Schulter. »What is it?«
...
Übersetzung: Günther Frauenlob
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es war nicht das Beben der Erde, das ihn weckte. Daran hatte er sich gewöhnt - die Metro fuhr direkt unter dem YonghegongTempel hindurch und drohte unablässig damit, den dreihundertfünfzig Jahre alten Tempelkomplex inmitten der chinesischen Hauptstadt zum Einsturz zu bringen. Der Mönch war aufgewacht, weil sich jemand oder etwas im Schlaf über ihn gebeugt und ihn beobachtet hatte. Dessen war er sich sicher.
Ling richtete sich im Bett auf und sah sich um. Die Sonne ging gerade unter, die Schmerzen hatten ihn früh ins Bett gezwungen.
»Ist da jemand?« Das unerbittliche Pochen in seinem Inneren zirkulierte, so dass er nicht wusste, wo das Übel steckte. War es im Rücken, im Bauch oder in der Brust? Unten auf dem Tempelplatz hörte er die jungen Mönche reden, und die letzten, westlichen Touristen schienen gerade den Gebäudekomplex zu verlassen.
Ling trotzte den Schmerzen und stand auf. Noch immer hatte er das Gefühl, dass sich jemand im Raum befand. Es war aber niemand zu sehen. Er konnte seine Sandalen nicht finden und wankte auf nackten Füßen über den steinernen Boden. Es war kalt. Vielleicht liegt es an der Durchblutung, dachte er, vielleicht ist eine Arterie verstopft. Er bekam kaum Luft. Seine Zunge war geschwollen, und er schwankte. Für einen Moment hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren, aber er durfte nicht stürzen. Das wusste er nur zu gut. Ging er jetzt zu Boden, stand er nie wieder auf. Er holte tief Luft und ertrug das Brennen in Luftröhre und Lungen.
»Hilfe«, versuchte er zu rufen. Aber seine Stimme war zu schwach. Niemand hörte ihn. »Hilfe!«
Ling trat auf einen schmalen, feuchten Flur und ging von dort in einen angrenzenden Raum. Orangefarbenes Sonnenlicht drang zaghaft durch das Dachfenster. Er musterte seinen Körper. Es war nichts zu sehen. Arme, Bauch und Brust sahen ganz normal aus. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen, so dass er für einen Moment die Lider schloss, den Kampf aufgab und in eine Finsternis aus grenzenlosem Unbehagen abtauchte. Dann, als die Schmerzen abebbten, verspürte er plötzlich Ruhe. Sie kamen stoßweise, und jede Attacke überstieg die vorangegangene. Jetzt wurde ihm wieder eine Atempause gegönnt.
Mit zitternden Händen öffnete er die Schublade und schob seine Finger tastend hinein. Endlich fand er, wonach er suchte: einen kleinen, verzierten Taschenspiegel. Er betrachtete sich und sah ein Gesicht voller Furcht. Ling schob seinen Umhang etwas hoch und hielt den Spiegel nach hinten, so dass er einen Blick auf seinen Rücken werfen konnte. Ihm verschlug es den Atem.
»Mein Gott«, flüsterte er und ließ den Spiegel fallen. »Was ist denn das?«
Die einzige Antwort, die er erhielt, war das Klirren des Spiegels, der am Boden zerbrach.
Das altmodische Münztelefon an der Wand sah ganz und gar nicht wie ein rettender Engel aus, aber es war seine einzige Chance. Er schleppte sich zu dem Apparat. Erneut übermannte ihn der Schmerz und zwang ihn innezuhalten. Er schien kein Ende nehmen zu wollen, fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Ling öffnete die Augen und starrte auf das Telefon, gegen dessen Installation er sich seinerzeit mit all seiner Kraft zur Wehr gesetzt hatte. Die Behörden hatten sich aber mit Rücksicht auf die Touristen durchgesetzt - - sollte jemandem etwas zustoßen, musste Hilfe herbeigerufen werden können. Aus dem gleichen Grund stand auch die Nummer des Rettungsdienstes mit großen Ziffern neben einer Schale mit Münzen an der Wand. Ling streckte den Arm aus und versuchte, die Schale zu erreichen, doch seine Finger mussten sie loslassen, als er erneut das Gleichgewicht verlor und sich an der Wand abstützen musste. Scherben und Münzen am Boden. Sollte es wirklich eine seiner letzten Handlungen auf dieser Erde sein, sich nach den kleinen, glänzenden Münzen zu bücken, denen zu entsagen er fast sein ganzes Leben gewidmet hatte? Aber er wollte nicht sterben, noch nicht, und hob deshalb mit zitternden Fingern eine Münze auf, steckte sie ins Telefon und wählte die drei Ziffern, die an der Wand geschrieben standen. Dann wartete er.
»Komm schon, komm schon«, flüsterte er mühevoll. Endlich meldete sich eine Frauenstimme: »Rettungszentrale!« »Sie müssen mir helfen!«
»Um was geht es? Von wo aus rufen Sie an?«
Die Stimme klang ruhig und gefasst. Fast mechanisch. »Ich brenne. Ich ... «
Ling verstummte und sah sich um. Da war doch jemand, er war sich ganz sicher. Jemand beobachtete ihn. Er rieb sich die Augen, doch es nützte nichts, er konnte niemanden sehen. Wer sollte ihm so etwas antun?
»Ich muss wissen, wo Sie sind«, sagte die Frau.
»Helfen Sie mir ...« Bei jedem Wort, das über seine Lippen kam, schoss ein stechender Schmerz von seinem Rücken durch seine Brust in den Mund bis in die geschwollene Zunge.
Die Frau unterbrach ihn freundlich, aber bestimmt. »Wie lautet Ihr Name?«
»Ling. Ling Cedong, ich ... Helfen Sie mir! Meine Haut ... sie brennt!«
»Herr Cedong ...« Sie war jetzt ungeduldig. »Wo befinden Sie sich?«
»Helfen Sie mir!«
Er hielt abrupt inne. Etwas in ihm schien völlig unvermittelt zusammenzubrechen. Als würde die Welt um ihn herum einen Schritt zurücktreten und ihn in einem Zustand der Unwirklichkeit zurücklassen. Die Geräusche verhallten. Das vereinzelte Lachen auf dem Tempelplatz. Und die Stimme im Hörer. Die Zeit stand still. Plötzlich war er in einer neuen Welt. Oder auf der Schwelle zu einer solchen. Aus seiner Nase rann Blut.
»Was geht hier vor?«, flüsterte er. »Es ist so still.«
Im gleichen Moment ließ er den Hörer los.
»Hallo!«, tönte die mechanische Stimme. »Hallo?«
Aber Ling hörte sie nicht mehr. Er taumelte ein paar Schritte Richtung Fenster und sah die drei Gläser, die auf der Fensterbank standen. In einem war Wasser - vielleicht half das ja. Er streckte seine Hand danach aus, bekam es aber nicht richtig zu fassen. Stattdessen fiel es in die Tiefe und zersplitterte auf den Steinen.
Die Mönche unten auf dem Platz blickten nach oben. Ling versuchte, ihnen ein Zeichen zu geben. Er sah, dass ihre Münder sich bewegten, hörte aber nichts.
Dann spürte und schmeckte Ling plötzlich das Blut, das aus seiner Nase lief.
»Mein guter Gott«, stöhnte er. »Was geschieht mit mir?«
Für einen Moment hatte er das Gefühl, weggewischt zu werden. Als würde er reduziert zu einem Puzzlesteinchen im Traum eines anderen Menschen, der jetzt, in diesem Augenblick erwachte. Er konnte sich dagegen nicht zur Wehr setzen. Die Geräusche um ihn herum waren verstummt. Er stürzte. Landete auf dem Rücken und blickte nach oben. Um ihn herum war es vollkommen still. Er lächelte und streckte einen Arm aus. Dort, wo noch vor einem Augenblick die Zimmerdecke gewesen war, hatte er nun freien Blick in einen Himmel, an dem die ersten, noch schwachen Sterne sichtbar wurden.
»Es ist so still«, murmelte er. »Die Venus. Und die Milchstraße.«
Die anderen Mönche stürmten in sein Zimmer und beugten sich über ihn. Aber Ling sah sie nicht. Seine ausgestreckte Hand fiel kraftlos zu Boden. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen.
»Er hat versucht anzurufen.« Einer der Mönche hielt den Hörer in der Hand. »Die Rettungszentrale.«
»Ling!« Der jüngste der anderen Mönche versuchte ihn anzusprechen. »Ling! Kannst du mich hören?«
Keine Antwort. Der junge Mönch sah zu den anderen auf. »Er ist tot.«
Alle schwiegen mit gesenktem Kopf. Einige hatten Tränen in den Augen. Dann brach der älteste Mönch das Schweigen: »Hol den Lopön, uns bleibt nicht viel Zeit.«
Jemand wollte den Jungen schicken, aber der ältere hielt ihn auf. »Nein, hol du ihn. Der Junge hat so etwas noch nie erlebt. Er soll hierbleiben.«
Als ein anderer Mönch sich auf den Weg machte, sah der Junge den älteren an.
»Was passiert jetzt?«, fragte er ängstlich.
»Phowa. Wir müssen das Bewusstsein übertragen. Gleich kommt der Lopön.«
»Phowa?«
»Phowa hilft dem Bewusstsein auf den Weg. Durch den Körper und dann durch den Kopf nach draußen. Wir haben nur ein paar Minuten.«
»Was passiert, wenn wir es nicht schaffen?«
»Wir schaffen es. Der Lopön ist schnell. Kommt, helft mir. Er kann da nicht liegen bleiben.«
Niemand reagierte.
»Packt an.« Der Junge und zwei andere Mönche nahmen Lings Beine.
Sie hoben ihn hoch und legten ihn seitlich aufs Bett. Als der älteste ihn auf den Rücken legen wollte, erblickte er etwas. »Was ist das?«, fragte er.
Die anderen kamen näher.
»Seht doch, da, auf seinem Rücken.«
Alle beugten sich über den toten Mönch.
»Was ist das?«, fragte der Junge.
Keiner antwortete ihm. Sie standen nur schweigend da und starrten auf das seltsame Zeichen, das auf Lings Rücken zum Vorschein gekommen war. Es reichte von Schulter zu Schulter und herab bis zur Mitte des Rückens. Wie eine Tätowierung oder ein Brandzeichen.
Als hätte ein Feuer auf seinem Rücken gebrannt.
2.
Suvarna Hospital, Mumbai - Indien
Giuseppe Locatelli hatte die Mail mit der seltsamen Bitte vor drei Tagen erhalten. Er sollte die Leiche eines kürzlich verstorbenen indischen Wirtschaftswissenschaftlers in Augenschein nehmen. Giuseppe hatte nicht wirklich Lust dazu, aber er brannte darauf, Indien zu verlassen, und hoffte, dass ein pflichtbewusster, erfolgreicher Einsatz ein Sprungbrett für eine bessere Stellung in einer anderen italienischen Botschaft sein konnte. Vielleicht in den USA. Davon träumte er. Washington oder das Konsulat in New York, in dem man sich mit allem beschäftigte, was mit den Vereinten Nationen zu tun hatte. Aber im Grunde war ihm alles lieber als diese stinkenden Straßen. Deshalb hatte er nicht gezögert, dieser seltsamen Bitte nachzukommen.
Die Fahrt war lang und beschwerlich. Trotz des frühen Morgens kam das Taxi in dem Gewimmel des Elendsviertels nur langsam voran. Guiseppe hatte bereits während seiner ersten Woche in Indien gelernt, dass man die Armen nicht ansehen durfte. Man durfte ihnen nicht in die Augen blicken -- sonst hatte man wie jeder Neuankömmling eine Traube bettelnder Kinder im Schlepptau. Richtete man seinen Blick stattdessen stur geradeaus und blieb eiskalt, ließen sie einen in Ruhe. War man in Indien unterwegs, kam es darauf an, die Armut zu verdrängen, weinen durfte man erst, wenn man wieder allein war. Sonst wurde man bei lebendigem Leib gehäutet.
Das Taxi hielt an.
»Suvarna Hospital, Sir.«
Giuseppe bezahlte und stieg aus dem Wagen. Vor dem Krankenhaus hatte sich eine Warteschlange gebildet. In diesem Land wartete man wirklich überall. Am Strand, bei der Polizei, vor jeder noch so kleinen Praxis, auch wenn es dort nur Pflaster und Mullbinden gab. Giuseppe schob sich durch die Wartenden, ohne einem einzigen in die Augen zu blicken.
Er sprach den Pförtner auf Englisch an. »Giuseppe Locatelli. Italienische Botschaft. Ich habe einen Termin mit Dr. Kahey.«
Dr. Kahey ließ sich den Arbeitsdruck nicht anmerken. Er machte einen ruhigen, gefassten Eindruck, während er über Italien sprach, über Sardinien, wo Giuseppe selbst noch nie gewesen war. Sie gingen über die Treppe nach unten zur Leichenhalle. Giuseppe kam nicht umhin, dem Arzt seine Bewunderung auszudrücken.
»All die Menschen da draußen, wie schaffen Sie das nur?« »Die sind nicht da, um behandelt zu werden.« Dr. Kahey lächelte etwas amüsiert. »Immer mit der Ruhe.«
»Und warum dann?«
»Sie wollen ihm die letzte Ehre erweisen.«
»Ihm?«
Dr. Kahey sah Giuseppe Locatelli verwundert an. »Dem Mann, den auch Sie sehen wollen. Raj Bairoliya. Sind Ihnen etwa nicht die vielen Blumen aufgefallen?«
Giuseppe wurde rot. Ihm war gar nichts aufgefallen. Er hatte aus Furcht vor dem Augenkontakt mit einem Bettler starr nach vorne geschaut. Kahey sprach mit seinem charakteristischen, indischen Akzent weiter: »Bairoliya war einer der engsten Berater von Muhammad Yunus, dem Vater der Mikrokredite. Kennen Sie Mr Yunus?«
Giuseppe schüttelte den Kopf. Er hatte aber von den Mikrokrediten gehört, dank derer Tausende und Abertausende von Menschen kleine Geschäfte hatten aufbauen können.
»Yunus ist 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden«, sagte Dr. Kahey und zog die Leiche des Wirtschaftswissenschaftlers aus der Kühlung. »Man hätte diesen Preis aber ebenso gut auch Bairoliya geben können.«
Giuseppe nickte. Der Arzt nahm das Leichentuch zur Seite. Der Wissenschaftler sah friedlich aus. Seine Haut war aschgrau. Giuseppe räusperte sich und erklärte, dass er jetzt die italienischen Polizeibehörden unterrichten müsse, die ihn geschickt hatten.
»Sure, sure.«
Er wählte die Nummer. Der Hörer wurde sofort abgenommen.
»Tommaso di Barbara?«
»Si.«
»Giuseppe Locatelli. Chiamo dall'ambasciata a Nuova Delhi.« »Si. Si!«
»Wie Sie mich gebeten hatten, stehe ich nun neben dem Leichnam von Raj Bairoliya.«
Die Stimme am Telefon klang erkältet und aufgeregt: »Sein Rücken. Können Sie seinen Rücken sehen?«
Giuseppe wandte sich an den Arzt, der beiseite getreten war, um eine Zigarette zu rauchen.
»Die italienischen Behörden fragen nach dem Rücken.«
»Ah, Sie wollen das Mal sehen.« Kahey zuckte mit den Schultern und legte die Zigarette so auf die Fensterbank, dass die Glut über den Rand ragte. »Vielleicht können die mir ja sagen, was das ist.« Er sah Giuseppe auffordernd an. »Sie werden mir helfen müssen.«
Giuseppe umklammerte unbeholfen den Hörer und wusste nicht, was er tun sollte.
»Wir müssen ihn umdrehen.«
»Rufen Sie zurück«, lautete die Order auf Italienisch, dann war die Leitung unterbrochen.
»Come on. Don't be afraid. He won't hurt anyone. On three! Ready?«
Dr. Kahey lächelte, als Giuseppe zufasste. »One, two, three!« Die Leiche klatschte auf die Seite, und ihr Arm rutschte über
die Kante. Giuseppe Locatelli starrte verwundert auf den Rücken
des Toten. Ein Mal erstreckte sich von Schulter zu Schulter. »What is it?«
...
Übersetzung: Günther Frauenlob
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von A. J. Kazinski
A. J. Kazinski ist das Pseudonym für das dänische Autorenduo Anders Rønnow Klarlund und Jacob Weinreich. Anders Rønnow Klarlund, Jahrgang 1971, arbeitet als Autor und Regisseur. Für seine Filme ist er bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Jacob Weinreich, 1972 in Århus geboren, ist Drehbuch- und Romanautor.
Bibliographische Angaben
- Autor: A. J. Kazinski
- 2011, 2, 608 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453267672
- ISBN-13: 9783453267671
Rezension zu „Die Auserwählten / Kommissar Niels Bentzon Bd.1 “
"Das Krimidebüt zweier dänischer Autoren (Kazinski ist ein Pseudonym) ist mehr als gelungen und schlägt etwa Landsmann Jussi Adler Olsen um Längen."
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