Die Bernsteinsammlerin
Roman
Lübeck 1806: Die Thuraus sind eine Familie, die durch den Handel mit Wein reich und mächtig geworden ist. Ihre Tochter Femke aber, deren meeresgrüne Augen schon so manchen fasziniert haben, zaubert aus dem Bernstein, den sie am Ostseestrand sammelt, wahre...
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Produktinformationen zu „Die Bernsteinsammlerin “
Klappentext zu „Die Bernsteinsammlerin “
Lübeck 1806: Die Thuraus sind eine Familie, die durch den Handel mit Wein reich und mächtig geworden ist. Ihre Tochter Femke aber, deren meeresgrüne Augen schon so manchen fasziniert haben, zaubert aus dem Bernstein, den sie am Ostseestrand sammelt, wahre Meisterwerke, denen man sogar magische Fähigkeiten nachsagt. Als die Familie aufgrund der Bedrohung durch Napoleons Truppen in wirtschaftliche Bedrängnis gerät, ist es Femkes Talent, das den Thuraus das Überleben sichert. Femke ahnt nicht, dass sie ein Findelkind ist und dass ein dunkles Geheimnis in ihrer Herkunft sie mit dem Stein verbindet, der ihr Schicksal ist ...
Lese-Probe zu „Die Bernsteinsammlerin “
Die Bernsteinsammlerin von Lena JohannsonProlog
3. Juni 1583. Ein kräftiger Wind fegte von Osten her auf die Küste des Samlandes zu. Auf der See tanzten Schaumkronen. Die Sonne hatte schon ungewöhnlich viel Kraft für diese Jahreszeit. Sie wärmte die Männer angenehm, die bis zur Hüfte im kalten Wasser der Ostsee standen und ihre Netze an langen Stöcken durch die Fluten führten. Es war ideales Wetter zum Bernsteinfi schen. Der Wind ließ die Weizenfelder unter dem intensiv blauen Himmel auf und nieder wogen wie ein zweites Meer, dessen Wellen aus Halmen niemals den Strand erreichen konnten. Rote Mohnblüten und blaue Kornblumen leuchteten hier und da auf. Möwen fl ogen ein paar Meter und ließen sich dann von den Böen tragen. Die dicken Taue an den beiden Galgen sausten durch die Luft und knallten wie Peitschen. Wieder und wieder schlugen sie laut gegen das massive Holz. Die Galgen dienten nicht etwa nur der Abschreckung, sie wurden ohne großes Zögern genutzt, wenn einer sich ohne Pass an den Strand vor Königsberg wagte. Oder schlimmer noch, wenn einer Bernstein sammelte und für sich behielt, um zum eigenen Vorteil Handel damit zu treiben. Der wurde an Ort und Stelle aufgeknüpft.
Nikolaus stolperte voran. Es war kein gutes Vorwärtskommen in dem weichen Sand mit den schweren nassen Stiefeln an den Füßen. Als wäre der Teufel leibhaftig hinter ihm her, blickte er sich immer wieder um, rannte dabei weiter und strauchelte mehr als einmal, ja, wäre sogar fast gefallen. Doch es gelang ihm, sich mit den Armen rudernd zu fangen. Wieder ein Blick zurück. Noch konnte er die Männer mit ihren Netzen sehen und den kleinen Holzverschlag, in dem sie die Steine lagerten, die sie dem Meer abgerungen hatten. Genau wie sie hatte auch er eben noch im Wasser gestanden, sein Netz langsam darin bewegt und die gefundenen
... mehr
Brocken zusammen mit Algen und allerlei Unrat in den Beutel gestopft, den er über der Schulter trug. War der endlich ausreichend gefüllt, stapfte man an Land, hieb den Stock des Siebes kräftig in den Sand, so dass er dort steckenblieb, und lud die Fracht aus dem Beutel in den kleinen Unterstand. So hatte auch Nikolaus es gemacht. Stunde um Stunde. O ja, er hatte sehr wohl einen Pass, um die samländische Küste betreten zu dürfen. Er durfte das Gold der Ostsee auch fi schen oder sammeln. Er musste es sogar, denn es war die Pflicht der Küstenbewohner. Dafür bekamen sie Salz, das für die Vorratshaltung unerlässlich war und sich gut verkaufen ließ. Wie so viele andere lebte Nikolaus vom Fischen und Sammeln des Bernsteins. Nur behalten durfte er keinen noch so kleinen Splitter. Auf Unterschlagung stand der Tod. Nikolaus fürchtete den Tod. Er fürchtete die Danziger Kaufmannsfamilie, die vom Staat als Generalpächter der preußischen Strände eingesetzt war, und deren Häscher. Er war kein Held und riskierte sein Leben gewiss nicht leichten Herzens. Aber war das überhaupt ein Leben, was er und seine Familie hatten? Arm und elend und herumkommandiert von anderen. Wie die meisten Männer, die täglich die Strände absuchten oder Bernstein aus dem Wasser holten, hatte er bisher nur sehr kleine Exemplare »versehentlich « in seinen Stiefel fallen lassen. Alle paar Tage mal einen Stein – das war ein überschaubares Risiko. Ansonsten war er stets gehorsam gewesen und unauffällig, führte mit seiner Frau und seinen fünf Kindern ein bescheidenes Leben und hätte nie auch nur daran gedacht, sich gegen den Staat aufzulehnen – bis zu dem Moment, als er diesen dunklen rötlich braunen Bernstein aus seinem Sieb fischte. Ein Stück von solcher Größe hatte Wert, das wusste er. Oft ging einem so ein Fang nicht ins Netz. An einer Stelle war die dünne Kruste abgeplatzt, und aus der Tiefe des geheimnisvollen Edelsteins blickte Nikolaus ein bronzefarben schimmerndes Auge an. Gebannt starrte er auf den Klumpen in seiner Hand.
»Heda, bist du etwa versteinert?«, rief einer der Fischer. Die anderen schauten nun auch zu Nikolaus herüber. Er musste ein sehr verwirrtes Gesicht gemacht haben, denn sie lachten ihn aus.
»Ausruhen kannst du später bei deinem Weib! Spute dich!«, riefen sie gegen den tosenden Sturm.
Nikolaus hatte den Bernstein mit dem Einschluss rasch in seinen Lederbeutel gleiten lassen. Kurz danach war er aus dem Wasser gewatet, voller Aufregung und mit dem Gefühl, das Auge könne ihn durch das Leder anstarren. Allein in dem windschiefen Holzverschlag, wo schon der Ertrag des Tages auf kleinen Haufen lag, wagte er es, seinen Fund eingehend zu betrachten. Kein Zweifel, der Kopf einer Eidechse war vor Tausenden von Jahren, in einer Urzeit, die Nikolaus sich nicht vorzustellen vermochte, in diesen Stein geraten. Jede Schuppe konnte er erkennen, die Struktur der Haut des Reptils war bis ins kleinste Detail erhalten. Selbst die Zungenspitze, die einmal blitzschnell Insekten gefangen hatte, war sichtbar. Wie schon so oft war Nikolaus fasziniert. Die Eidechse sah aus, als hätte sie gestern noch gelebt, als wäre sie soeben erst den Baum hinaufgehuscht. Wie nur war es möglich, dass ein Tier von einem Edelstein gefangen wurde? In dem engen Lagerraum war es stickig. Die Sonne brannte auf das Dach herunter. Nikolaus begann zu schwitzen. Er strich sich eine Strähne seines roten Haares aus dem Gesicht. Das Auge des Tieres war erhaben und glänzte metallisch wie der Kopf eines Nagels. Nikolaus hätte nicht einmal sagen können, in welche Richtung das Tier geschaut hatte, als es in die tödliche Falle gegangen war. Trotzdem hatte dieses Auge etwas Lebendiges, etwas, das ihn vollkommen in seinen Bann schlug.
Wie viel von diesem Tier mag ans Tageslicht kommen, wenn der Bernstein erst geschliffen ist?, fragte sich Nikolaus. Vielleicht war das der Moment, in dem er beschloss, diesen Brocken nicht ordnungsgemäß abzuliefern. Er selbst wollte derjenige sein, der die glanzlose Kruste vollständig entfernte, der den Stein so lange schliff und polierte, bis das eingeschlossene Tier vollends zum Vorschein kam. In Königsberg war die Verarbeitung des Ostsee-Goldes verboten. Bernsteindreherzünfte gab es in Lübeck, Brügge oder eben Danzig. So hatte Nikolaus die Bearbeitung des weichen Materials nie gelernt. Er hatte nur selbst immer wieder ein paar Versuche gemacht, bis er eine recht ordentliche Fingerfertigkeit erlangt hatte.
Während er jetzt den festen Sandweg erreichte, auf dem er schneller vorankam, fragte er sich, was nur in ihn gefahren war. Wenn er schon ein so kostbares Stück unterschlagen musste, warum hatte er es dann nicht wie sonst auch in den Schaft seines Stiefels gleiten lassen? Warum hatte er nicht weitergearbeitet und war dann, zusammen mit den anderen Männern, ganz ruhig nach Hause gegangen? Aber nein, vollkommen kopfl os machte er sich aus dem Staub. Es würde nicht lange dauern, bis die Strandreiter, die sicherstellten, dass nur Pass- Inhaber nach Bernstein suchten, auf ihn aufmerksam wurden. Nikolaus blinzelte gegen den Schweiß an, der ihm brennend in die Augen lief. Er schmeckte das Salz auf seinen Lippen und bemerkte, wie durstig er war. Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde er wegen seines törichten Verhaltens.
Einen Bernstein von dieser Größe, in dem auch noch eine Eidechse eingeschlossen war, konnte er schwerlich einfach auf dem Markt anbieten. Kleine gewöhnliche Exemplare wurde man immer unter der Hand los, oder man verbrauchte sie eben selbst, um daraus heilsames Pulver zu machen oder sie anstelle teurer anderer Stoffe zu verbrennen. Doch diesen Klumpen mit seinem kostbaren Bewohner zu versilbern war für Nikolaus, der weder reiche Leute noch Halunken kannte, nahezu unmöglich. Es knisterte und knackte in den Weizenfeldern zu seiner Linken und Rechten. Nikolaus sah sich um, versuchte gegen das grelle Licht Gestalten auszumachen, aber niemand schien in der Nähe zu sein. Es war der Wind, der die Halme wispern ließ. Fast wäre er über einen Ast gestolpert, der quer auf dem Weg lag. Keuchend vor Anstrengung, Aufregung und Hitze, verlangsamte er seine Schritte. Bis zu seiner Hütte war es nicht mehr weit. Er wusste nicht, was er mit seinem Fund anstellen sollte. Er wusste nur, dass er ihn in Sicherheit bringen, sich dann eine glaubhafte Erklärung für sein höchst merkwürdiges Fortlaufen einfallen und möglichst viel Zeit vergehen lassen musste, ehe er den Bernstein wieder zur Hand nehmen konnte. Endlich sah er das einfache kleine Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Er wurde wieder schneller. Da erkannte er eine Gestalt vor dem Häuschen. Es war seine Frau, die sich gerade anschickte, zum Strand zu gehen. Es war üblich, dass Frauen und manchmal auch die Kinder dabei halfen, den Bernstein einzusammeln. Sie lasen ihn vom Strand auf oder leerten die Netze der Männer und gaben darauf acht, dass sich im Tang kein Stein verbarg, den man womöglich wieder ins Meer werfen könnte. Hastig stolperte Nikolaus auf sie zu. Sie blieb stehen, als sie ihn sah, und wich sogar einen Schritt zurück, erschrocken über seine Anwesenheit um diese frühe Stunde und über seinen Anblick – glühend rote Wangen, Haarsträhnen, die im Gesicht klebten, und fast fiebrig glänzende Augen. Dann war er bei ihr.
»Ich habe eine große Dummheit begangen, Frau, aber ich konnte nicht anders.« Er zog den Bernstein unter seinem zerschlissenen Hemd hervor und hielt ihn ihr entgegen. Sie gab keinen Laut von sich, schlug sich nur die zur Faust geballte Hand vor den Mund. Natürlich war ihr klar, was das bedeutete. »Es ist ein magischer Stein, Frau. Die Eidechse hat mich verzaubert. «
Schnell lauter werdender Hufschlag kündigte das Unheil an, das über Nikolaus’ Familie kommen würde.
»Hier, du musst ihn verstecken!« Nikolaus griff nach der rechten Hand seiner Frau, presste den Brocken hinein und schloss ihre Finger darum. »Ich werde sie ablenken. Vielleicht kann ich ihnen entkommen.« Damit ließ er seine Frau stehen und rannte den beiden sich rasch nähernden Reitern zunächst einige Schritte entgegen. Dann bog er ab und schlug sich in ein Weizenfeld. Vom Rücken der Pferde war es leicht, ihn auszumachen. Einer der Reiter lenkte sein Tier vom sandigen Pfad direkt in das Feld, um dem Flüchtigen den Weg abzuschneiden. Nikolaus’ Frau wusste in dem Moment, dass er keine Chance hatte. Sie lief nicht davon. Sie presste nur die Fäuste vor die Brust und ließ den unterschlagenen Stein in den Ausschnitt ihres einfachen derben Leinenkleides fallen. Sie spürte, wie er zwischen ihren Brüsten hindurch zu ihrem Bauch rutschte. Wie sie gehofft hatte, blieb er an der Kordel, die um ihre Taille lag, hängen, anstatt durch den Rock zu sausen und zwischen ihren Füßen auf den Sand zu schlagen. Sie presste die linke Faust auf die Stelle, an der die Beute ihres Mannes vermutlich den Stoff des Kleides ausbeulte. Mit der rechten Hand rieb sie nervös die linke und starrte den Kerl an, der sein Pferd direkt vor ihr zum Stehen gebracht hatte. Eine geschmeidige Bewegung, ein schneller Sprung, schon stand er neben dem Tier. Staub wirbelte um seine schwarzen Schuhe auf, während er die Zügel an einem Apfelbaum befestigte.
»Er wird nicht weit kommen«, stellte der Scherge ruhig fest.
»Besser, du gibst mir, was er unterschlagen hat.« Seine Stimme klang nicht böse, nicht einmal streng. Fast schwang ein wenig Bedauern darin mit, als ob er es nicht guthieße, dass die Küstenbewohner die Arbeit machten und andere daran verdienten.
Nikolaus’ Frau rührte sich nicht. Sie stand wie festgewachsen und rieb unablässig die Faust, die sie vor den Bauch gepresst hielt, als wäre ihr nicht wohl.
»Aber er hat doch nicht … Er würde niemals …«, stammelte sie leise.
»Mach es mir doch nicht so schwer«, sagte der Handlanger des Generalpächters seufzend. Er schob sie beiseite und ging mit schweren Schritten auf das Haus zu.
»Warten Sie!«, schrie sie. »Bitte! Da drinnen ist doch nichts. Nur die Kinder sind da. Bitte, tun sie meinen Kindern nichts!«
Sie rannte an ihm vorbei, die linke Hand noch immer vor den Leib gepresst, und erreichte den Eingang der Hütte vor dem Mann.
In dem Moment waren wieder Hufe zu hören, die im langsamen Trab den Sandweg heraufkamen. Der andere Reiter näherte sich. Im Schlepptau hatte er den gefesselten Nikolaus, der schwitzend neben dem braunen Hengst herlief. Blut lief aus einer Wunde an der Schläfe über sein Gesicht, das von
einem Gemisch aus Staub, Schweiß und Blut verdreckt war.
»Da ist der Dieb«, rief der Blonde, noch immer hoch zu Ross, seinem Kameraden zu. »An den Galgen mit ihm. Und bring das Weib auch gleich mit.« Er musterte Nikolaus’ Frau von oben bis unten. »Vielleicht machen wir mit ihr im Feld eine kleine Pause. Was denkst du?« Er lachte gehässig. »Sind schließlich keine Unmenschen, wollen ihr noch ein wenig Spaß gönnen, bevor sie am Galgen baumelt.« Er lachte wieder.
»Sie hat nichts damit zu tun«, sagte Nikolaus keuchend. »Sie ist eine ehrbare und gute Frau und weiß nicht, dass ich Bernstein gestohlen habe.« Er hatte es gesagt. Er hatte sich selbst schuldig gesprochen. Eben noch im Feld hatte er alles geleugnet, hatte gehofft, sein Leben retten zu können. Doch nun gab es keinen Ausweg für ihn. Er konnte nur noch seine Frau und seine Kinder schützen. »Der Bernstein ist hinter dem Haus zwischen dem Brennholz in einer kleinen Schatulle. Ich habe meiner Frau verboten, das Kästchen zu öffnen. Es geht sie nichts an, was ich darin aufbewahre. Sie ist eine gehorsame Frau. Sie hat getan, was ich ihr gesagt, und nicht getan, was ich ihr verboten habe.« Während er das sagte, blickte er sie unablässig an.
»O Nikolaus, warum hast du das getan?«
Der Blonde sprang von seinem Pferd und machte es ebenfalls an dem Apfelbaum fest. »Ein Weib, das seine Neugier zähmen kann und nicht in ein geheimnisvolles Kästchen schaut?«, fragte er lauernd und kam auf sie zu. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seinen Schweiß und seinen Atem riechen konnte.
»Daran mag ich nicht glauben.«
»Aber es ist die Wahrheit«, bekräftigte Nikolaus verzweifelt und machte zwei Schritte vorwärts. Weiter kam er nicht, denn der Strick, mit dem er gefesselt war, endete in einem dicken Knoten direkt am Sattel.
Der zweite Häscher, ein großer schlanker Mann mit dunkelbraunem Haar, schlug vor: »Sehen wir nach, ob die Geschichte mit der Schatulle überhaupt stimmt. Wer weiß, vielleicht ist es eine Falle.«
»Hast recht. Fesseln wir das schöne Weib und nehmen uns dann das Brennholz vor.«
Lene, Nikolaus’ Frau, schluckte. Wenn sie ihr die Hände banden, fi el der Bernstein, dessen Wärme sie ganz deutlich auf ihrer Haut spürte, womöglich doch noch zu Boden. Dann wäre sie auch des Todes.
»Warum willst du das Weib fesseln«, fragte der Dunkle. »Hast du etwa Angst, von einer Frau hinterrücks erschlagen zu werden? « Er lachte spöttisch.
»Angst vor einem Weib?« Der Blonde schnaubte. »Niemals! Was aber, wenn die beiden doch unter einer Decke stecken? Dann wird sie fliehen.«
»Nehmen wir sie eben mit«, schlug sein Kamerad vor. Er griff Lenes rechten Ellbogen und sagte: »Geh mit uns!«
Sie nickte und folgte den beiden Häschern auf die Rückseite der Hütte, wo Holz zum Befeuern der Kochstelle und für den nächsten Winter gelagert war.
»Also, wo ist das Kästchen?«, fragte der Blonde und gab Lene einen Klaps auf den Po, um sie anzutreiben. Sie hätte fast aufgeschrien, nahm sich aber zusammen. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
Und das war die Wahrheit. Oft hatte sie sich, wenn sie Holz für den Ofen geholt hatte, gefragt, wo Nikolaus den Bernstein versteckt hielt. Sie wusste, dass es das Kästchen zwischen den Scheiten gab, doch gesehen hatte sie es nie. Wann immer ihr Mann einen Splitter nach Hause gebracht hatte, statt ihn ordnungsgemäß abzuliefern, hatte er ihn selbst verstaut. Auch war er es, der Lene das eine oder andere Exemplar aus der Schatulle geholt hatte, damit sie es bearbeiten konnte. Wie er hatte sie es nie gelernt, aber Lene war eine Meisterin. Sie verstand es, mit den wenigen und einfachen Hilfsmitteln, die sie zur Verfügung hatte, kleine Kunstwerke aus dem Bernstein zu formen. Hier ein Herz, dort einen Tropfen, einmal hatte sie sogar eine Möwe geschnitzt.
»Nun red schon«, kommandierte der blonde Strandwächter sie wieder.
»Lass sie in Ruhe«, sagte der andere. »Sie weiß nichts.«
»Ich glaube ihr nicht. Überlass sie mir, und ich werde die Wahrheit aus ihr herausbekommen.« Er legte einen Arm um ihre Taille und schob eine Hand mit festem Griff auf ihren Oberschenkel.
Lene begann zu zittern und presste beide Hände verzweifelt auf ihren Leib. Dabei krümmte sie sich ein wenig, als hätte sie Schmerzen.
»Nun lass sie schon und hilf mir lieber suchen. So viel Holz ist es ja nicht. Da werden wir die Schatulle wohl bald finden, wenn wir beide zupacken.«
Der Blonde sah Lene an. Das Zucken seiner Wangen verriet, dass er die Zähne zusammenbiss. Er hätte wohl lieber bei der Frau zugepackt als bei Holzscheiten, die ihm Splitter in die Finger jagen würden. Trotzdem ließ er sie los und machte sich daran, die sorgsam aufgestapelten Klötze durcheinanderzuwerfen.
Es dauerte kaum eine Minute, da fl og eine kleine Holzkiste, nicht einmal halb so groß wie ein Scheit, durch die Luft und sprang auf, als sie auf den Boden schlug. Heraus kullerten sieben unbearbeitete Bernsteine und einer, der die Form eines Kleeblattes hatte.
»O nein, o nein, o nein«, jammerte Lene und krümmte sich immer mehr. Ihre kupferroten Haare fi elen über die Schultern nach vorn und rahmten das Gesicht ein, das ganz blass geworden war.
»Da schau an«, sagte der Blonde gedehnt. Er trampelte durch das herumliegende Holz und stieß Stücke beiseite, die ihm im Weg waren. »Und davon willst du nichts gewusst haben?« Er bückte sich, hob das Unterteil des Kästchens – der Deckel war durch die Wucht des Aufpralls abgebrochen – und dann die Bernsteinbrocken auf.
Lene schüttelte den Kopf.
Der Dunkle trat einen Schritt näher heran. »Sogar verarbeitet hat er sein Diebesgut. Da ist uns ja ein dicker Fisch an die Angel gegangen!«
»Und wenn sie es war? Wette, die ist recht fingerfertig«, sagte der Blonde anzüglich.
»Eine Frau mit einem derartigen handwerklichen Geschick?«
Der Dunkle nahm das Kleeblatt in die Hand und hielt es gegen die Sonne. Es hatte die Farbe von Honig, und sein Glanz verriet, dass es viele Stunden sorgfältig poliert worden war. Die Rundungen waren perfekt, nirgends stand eine Ecke vor oder fühlte sich eine Kante rauh an. »Hast recht, das ist kaum möglich«, entgegnete der Blonde, während sie wieder um die Hütte zu den Pferden gingen.
»Vollenden wir unser Werk, bringen wir die Diebe an den Galgen und den Bernstein zu seinem Besitzer.«
»So glaubt mir doch, sie wusste nichts davon«, keuchte Nikolaus leise, der sich vor Erschöpfung, Hitze und Durst kaum noch auf den Beinen halten konnte.
»Warum nur hast du das getan?«, fragte Lene noch einmal. Tränen rannen ihr über die bleiche Haut. Ihre nassen Augen schimmerten grün. Warum hast du gestanden, wollte sie wissen, doch der Scherge des Pächters verstand sie falsch oder wollte sie falsch verstehen.
»Du hörst doch, sie hatte keine Ahnung, dass ihr Mann unterschlagen hat. Knüpfen wir nur ihn auf, dann können sie und die Kinder weiter für den Pächter Bernstein sammeln.«
Einen Augenblick zögerte der andere noch. Dann machte er sein Pferd los und sagte: »Hast recht. Wäre auch zu schade um das hübsche Ding.« Er saß auf. Sein Kamerad tat es ihm gleich.
»Keine Sorge«, rief der Blonde Lene zu, als er das Pferd wendete und den entkräfteten Nikolaus hinter sich herzog, »ich kümmere mich gern um die Witwen der Unglücksvögel, die am Galgen baumeln.« Er lachte laut und gab seinem Pferd die Sporen, so dass es in einen fl otten Trab fi el. Nikolaus schaffte zwei Schritte, bevor er über seine Füße stolperte und fiel. Er schrie auf, als seine nackten Arme vom Sand geschliffen wurden wie sonst der Bernstein in den Händen seiner Frau. Er atmete den Staub ein und würgte und hustete.
»Vater!« Die Kinder waren im Haus geblieben, denn die beiden ältesten hatten schnell erkannt, dass draußen größte Gefahr herrschte. Bis zu diesem Moment war es ihnen gelungen, die kleinen Geschwister ruhig zu halten. Als sie jedoch den Schrei des Vaters hörten, stürmten sie aus der Hütte. Nur das Jüngste blieb zurück, das noch nicht laufen konnte. Lene packte ihre beiden ältesten Kinder, jedes mit einem Arm. Sie zerrten an ihr, wollten sich frei machen. Die beiden jüngeren weinten und zogen an Lenes Rockzipfel. Auch der andere Strandreiter hatte sein Pferd inzwischen losgebunden und war aufgesessen. Er sah sie noch einmal voller Mitgefühl an. Da fi el der Bernstein. Lene dachte, ihr bliebe das Herz stehen. Noch immer versuchten die Kinder, sich aus der Umklammerung der Mutter zu befreien. Sie kreischten, schimpften und schluchzten. Ihre Füße wirbelten Staub auf. Lene starrte den Reiter an. Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen einander an. Dann zog er den Zügel herum, führte das Pferd in einem Bogen vom Haus fort und gab ihm die Sporen, um seinem Kameraden eilig zu folgen.
Copyright © 2009 by Knaur Taschenbuch.
»Heda, bist du etwa versteinert?«, rief einer der Fischer. Die anderen schauten nun auch zu Nikolaus herüber. Er musste ein sehr verwirrtes Gesicht gemacht haben, denn sie lachten ihn aus.
»Ausruhen kannst du später bei deinem Weib! Spute dich!«, riefen sie gegen den tosenden Sturm.
Nikolaus hatte den Bernstein mit dem Einschluss rasch in seinen Lederbeutel gleiten lassen. Kurz danach war er aus dem Wasser gewatet, voller Aufregung und mit dem Gefühl, das Auge könne ihn durch das Leder anstarren. Allein in dem windschiefen Holzverschlag, wo schon der Ertrag des Tages auf kleinen Haufen lag, wagte er es, seinen Fund eingehend zu betrachten. Kein Zweifel, der Kopf einer Eidechse war vor Tausenden von Jahren, in einer Urzeit, die Nikolaus sich nicht vorzustellen vermochte, in diesen Stein geraten. Jede Schuppe konnte er erkennen, die Struktur der Haut des Reptils war bis ins kleinste Detail erhalten. Selbst die Zungenspitze, die einmal blitzschnell Insekten gefangen hatte, war sichtbar. Wie schon so oft war Nikolaus fasziniert. Die Eidechse sah aus, als hätte sie gestern noch gelebt, als wäre sie soeben erst den Baum hinaufgehuscht. Wie nur war es möglich, dass ein Tier von einem Edelstein gefangen wurde? In dem engen Lagerraum war es stickig. Die Sonne brannte auf das Dach herunter. Nikolaus begann zu schwitzen. Er strich sich eine Strähne seines roten Haares aus dem Gesicht. Das Auge des Tieres war erhaben und glänzte metallisch wie der Kopf eines Nagels. Nikolaus hätte nicht einmal sagen können, in welche Richtung das Tier geschaut hatte, als es in die tödliche Falle gegangen war. Trotzdem hatte dieses Auge etwas Lebendiges, etwas, das ihn vollkommen in seinen Bann schlug.
Wie viel von diesem Tier mag ans Tageslicht kommen, wenn der Bernstein erst geschliffen ist?, fragte sich Nikolaus. Vielleicht war das der Moment, in dem er beschloss, diesen Brocken nicht ordnungsgemäß abzuliefern. Er selbst wollte derjenige sein, der die glanzlose Kruste vollständig entfernte, der den Stein so lange schliff und polierte, bis das eingeschlossene Tier vollends zum Vorschein kam. In Königsberg war die Verarbeitung des Ostsee-Goldes verboten. Bernsteindreherzünfte gab es in Lübeck, Brügge oder eben Danzig. So hatte Nikolaus die Bearbeitung des weichen Materials nie gelernt. Er hatte nur selbst immer wieder ein paar Versuche gemacht, bis er eine recht ordentliche Fingerfertigkeit erlangt hatte.
Während er jetzt den festen Sandweg erreichte, auf dem er schneller vorankam, fragte er sich, was nur in ihn gefahren war. Wenn er schon ein so kostbares Stück unterschlagen musste, warum hatte er es dann nicht wie sonst auch in den Schaft seines Stiefels gleiten lassen? Warum hatte er nicht weitergearbeitet und war dann, zusammen mit den anderen Männern, ganz ruhig nach Hause gegangen? Aber nein, vollkommen kopfl os machte er sich aus dem Staub. Es würde nicht lange dauern, bis die Strandreiter, die sicherstellten, dass nur Pass- Inhaber nach Bernstein suchten, auf ihn aufmerksam wurden. Nikolaus blinzelte gegen den Schweiß an, der ihm brennend in die Augen lief. Er schmeckte das Salz auf seinen Lippen und bemerkte, wie durstig er war. Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde er wegen seines törichten Verhaltens.
Einen Bernstein von dieser Größe, in dem auch noch eine Eidechse eingeschlossen war, konnte er schwerlich einfach auf dem Markt anbieten. Kleine gewöhnliche Exemplare wurde man immer unter der Hand los, oder man verbrauchte sie eben selbst, um daraus heilsames Pulver zu machen oder sie anstelle teurer anderer Stoffe zu verbrennen. Doch diesen Klumpen mit seinem kostbaren Bewohner zu versilbern war für Nikolaus, der weder reiche Leute noch Halunken kannte, nahezu unmöglich. Es knisterte und knackte in den Weizenfeldern zu seiner Linken und Rechten. Nikolaus sah sich um, versuchte gegen das grelle Licht Gestalten auszumachen, aber niemand schien in der Nähe zu sein. Es war der Wind, der die Halme wispern ließ. Fast wäre er über einen Ast gestolpert, der quer auf dem Weg lag. Keuchend vor Anstrengung, Aufregung und Hitze, verlangsamte er seine Schritte. Bis zu seiner Hütte war es nicht mehr weit. Er wusste nicht, was er mit seinem Fund anstellen sollte. Er wusste nur, dass er ihn in Sicherheit bringen, sich dann eine glaubhafte Erklärung für sein höchst merkwürdiges Fortlaufen einfallen und möglichst viel Zeit vergehen lassen musste, ehe er den Bernstein wieder zur Hand nehmen konnte. Endlich sah er das einfache kleine Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Er wurde wieder schneller. Da erkannte er eine Gestalt vor dem Häuschen. Es war seine Frau, die sich gerade anschickte, zum Strand zu gehen. Es war üblich, dass Frauen und manchmal auch die Kinder dabei halfen, den Bernstein einzusammeln. Sie lasen ihn vom Strand auf oder leerten die Netze der Männer und gaben darauf acht, dass sich im Tang kein Stein verbarg, den man womöglich wieder ins Meer werfen könnte. Hastig stolperte Nikolaus auf sie zu. Sie blieb stehen, als sie ihn sah, und wich sogar einen Schritt zurück, erschrocken über seine Anwesenheit um diese frühe Stunde und über seinen Anblick – glühend rote Wangen, Haarsträhnen, die im Gesicht klebten, und fast fiebrig glänzende Augen. Dann war er bei ihr.
»Ich habe eine große Dummheit begangen, Frau, aber ich konnte nicht anders.« Er zog den Bernstein unter seinem zerschlissenen Hemd hervor und hielt ihn ihr entgegen. Sie gab keinen Laut von sich, schlug sich nur die zur Faust geballte Hand vor den Mund. Natürlich war ihr klar, was das bedeutete. »Es ist ein magischer Stein, Frau. Die Eidechse hat mich verzaubert. «
Schnell lauter werdender Hufschlag kündigte das Unheil an, das über Nikolaus’ Familie kommen würde.
»Hier, du musst ihn verstecken!« Nikolaus griff nach der rechten Hand seiner Frau, presste den Brocken hinein und schloss ihre Finger darum. »Ich werde sie ablenken. Vielleicht kann ich ihnen entkommen.« Damit ließ er seine Frau stehen und rannte den beiden sich rasch nähernden Reitern zunächst einige Schritte entgegen. Dann bog er ab und schlug sich in ein Weizenfeld. Vom Rücken der Pferde war es leicht, ihn auszumachen. Einer der Reiter lenkte sein Tier vom sandigen Pfad direkt in das Feld, um dem Flüchtigen den Weg abzuschneiden. Nikolaus’ Frau wusste in dem Moment, dass er keine Chance hatte. Sie lief nicht davon. Sie presste nur die Fäuste vor die Brust und ließ den unterschlagenen Stein in den Ausschnitt ihres einfachen derben Leinenkleides fallen. Sie spürte, wie er zwischen ihren Brüsten hindurch zu ihrem Bauch rutschte. Wie sie gehofft hatte, blieb er an der Kordel, die um ihre Taille lag, hängen, anstatt durch den Rock zu sausen und zwischen ihren Füßen auf den Sand zu schlagen. Sie presste die linke Faust auf die Stelle, an der die Beute ihres Mannes vermutlich den Stoff des Kleides ausbeulte. Mit der rechten Hand rieb sie nervös die linke und starrte den Kerl an, der sein Pferd direkt vor ihr zum Stehen gebracht hatte. Eine geschmeidige Bewegung, ein schneller Sprung, schon stand er neben dem Tier. Staub wirbelte um seine schwarzen Schuhe auf, während er die Zügel an einem Apfelbaum befestigte.
»Er wird nicht weit kommen«, stellte der Scherge ruhig fest.
»Besser, du gibst mir, was er unterschlagen hat.« Seine Stimme klang nicht böse, nicht einmal streng. Fast schwang ein wenig Bedauern darin mit, als ob er es nicht guthieße, dass die Küstenbewohner die Arbeit machten und andere daran verdienten.
Nikolaus’ Frau rührte sich nicht. Sie stand wie festgewachsen und rieb unablässig die Faust, die sie vor den Bauch gepresst hielt, als wäre ihr nicht wohl.
»Aber er hat doch nicht … Er würde niemals …«, stammelte sie leise.
»Mach es mir doch nicht so schwer«, sagte der Handlanger des Generalpächters seufzend. Er schob sie beiseite und ging mit schweren Schritten auf das Haus zu.
»Warten Sie!«, schrie sie. »Bitte! Da drinnen ist doch nichts. Nur die Kinder sind da. Bitte, tun sie meinen Kindern nichts!«
Sie rannte an ihm vorbei, die linke Hand noch immer vor den Leib gepresst, und erreichte den Eingang der Hütte vor dem Mann.
In dem Moment waren wieder Hufe zu hören, die im langsamen Trab den Sandweg heraufkamen. Der andere Reiter näherte sich. Im Schlepptau hatte er den gefesselten Nikolaus, der schwitzend neben dem braunen Hengst herlief. Blut lief aus einer Wunde an der Schläfe über sein Gesicht, das von
einem Gemisch aus Staub, Schweiß und Blut verdreckt war.
»Da ist der Dieb«, rief der Blonde, noch immer hoch zu Ross, seinem Kameraden zu. »An den Galgen mit ihm. Und bring das Weib auch gleich mit.« Er musterte Nikolaus’ Frau von oben bis unten. »Vielleicht machen wir mit ihr im Feld eine kleine Pause. Was denkst du?« Er lachte gehässig. »Sind schließlich keine Unmenschen, wollen ihr noch ein wenig Spaß gönnen, bevor sie am Galgen baumelt.« Er lachte wieder.
»Sie hat nichts damit zu tun«, sagte Nikolaus keuchend. »Sie ist eine ehrbare und gute Frau und weiß nicht, dass ich Bernstein gestohlen habe.« Er hatte es gesagt. Er hatte sich selbst schuldig gesprochen. Eben noch im Feld hatte er alles geleugnet, hatte gehofft, sein Leben retten zu können. Doch nun gab es keinen Ausweg für ihn. Er konnte nur noch seine Frau und seine Kinder schützen. »Der Bernstein ist hinter dem Haus zwischen dem Brennholz in einer kleinen Schatulle. Ich habe meiner Frau verboten, das Kästchen zu öffnen. Es geht sie nichts an, was ich darin aufbewahre. Sie ist eine gehorsame Frau. Sie hat getan, was ich ihr gesagt, und nicht getan, was ich ihr verboten habe.« Während er das sagte, blickte er sie unablässig an.
»O Nikolaus, warum hast du das getan?«
Der Blonde sprang von seinem Pferd und machte es ebenfalls an dem Apfelbaum fest. »Ein Weib, das seine Neugier zähmen kann und nicht in ein geheimnisvolles Kästchen schaut?«, fragte er lauernd und kam auf sie zu. Er blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seinen Schweiß und seinen Atem riechen konnte.
»Daran mag ich nicht glauben.«
»Aber es ist die Wahrheit«, bekräftigte Nikolaus verzweifelt und machte zwei Schritte vorwärts. Weiter kam er nicht, denn der Strick, mit dem er gefesselt war, endete in einem dicken Knoten direkt am Sattel.
Der zweite Häscher, ein großer schlanker Mann mit dunkelbraunem Haar, schlug vor: »Sehen wir nach, ob die Geschichte mit der Schatulle überhaupt stimmt. Wer weiß, vielleicht ist es eine Falle.«
»Hast recht. Fesseln wir das schöne Weib und nehmen uns dann das Brennholz vor.«
Lene, Nikolaus’ Frau, schluckte. Wenn sie ihr die Hände banden, fi el der Bernstein, dessen Wärme sie ganz deutlich auf ihrer Haut spürte, womöglich doch noch zu Boden. Dann wäre sie auch des Todes.
»Warum willst du das Weib fesseln«, fragte der Dunkle. »Hast du etwa Angst, von einer Frau hinterrücks erschlagen zu werden? « Er lachte spöttisch.
»Angst vor einem Weib?« Der Blonde schnaubte. »Niemals! Was aber, wenn die beiden doch unter einer Decke stecken? Dann wird sie fliehen.«
»Nehmen wir sie eben mit«, schlug sein Kamerad vor. Er griff Lenes rechten Ellbogen und sagte: »Geh mit uns!«
Sie nickte und folgte den beiden Häschern auf die Rückseite der Hütte, wo Holz zum Befeuern der Kochstelle und für den nächsten Winter gelagert war.
»Also, wo ist das Kästchen?«, fragte der Blonde und gab Lene einen Klaps auf den Po, um sie anzutreiben. Sie hätte fast aufgeschrien, nahm sich aber zusammen. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
Und das war die Wahrheit. Oft hatte sie sich, wenn sie Holz für den Ofen geholt hatte, gefragt, wo Nikolaus den Bernstein versteckt hielt. Sie wusste, dass es das Kästchen zwischen den Scheiten gab, doch gesehen hatte sie es nie. Wann immer ihr Mann einen Splitter nach Hause gebracht hatte, statt ihn ordnungsgemäß abzuliefern, hatte er ihn selbst verstaut. Auch war er es, der Lene das eine oder andere Exemplar aus der Schatulle geholt hatte, damit sie es bearbeiten konnte. Wie er hatte sie es nie gelernt, aber Lene war eine Meisterin. Sie verstand es, mit den wenigen und einfachen Hilfsmitteln, die sie zur Verfügung hatte, kleine Kunstwerke aus dem Bernstein zu formen. Hier ein Herz, dort einen Tropfen, einmal hatte sie sogar eine Möwe geschnitzt.
»Nun red schon«, kommandierte der blonde Strandwächter sie wieder.
»Lass sie in Ruhe«, sagte der andere. »Sie weiß nichts.«
»Ich glaube ihr nicht. Überlass sie mir, und ich werde die Wahrheit aus ihr herausbekommen.« Er legte einen Arm um ihre Taille und schob eine Hand mit festem Griff auf ihren Oberschenkel.
Lene begann zu zittern und presste beide Hände verzweifelt auf ihren Leib. Dabei krümmte sie sich ein wenig, als hätte sie Schmerzen.
»Nun lass sie schon und hilf mir lieber suchen. So viel Holz ist es ja nicht. Da werden wir die Schatulle wohl bald finden, wenn wir beide zupacken.«
Der Blonde sah Lene an. Das Zucken seiner Wangen verriet, dass er die Zähne zusammenbiss. Er hätte wohl lieber bei der Frau zugepackt als bei Holzscheiten, die ihm Splitter in die Finger jagen würden. Trotzdem ließ er sie los und machte sich daran, die sorgsam aufgestapelten Klötze durcheinanderzuwerfen.
Es dauerte kaum eine Minute, da fl og eine kleine Holzkiste, nicht einmal halb so groß wie ein Scheit, durch die Luft und sprang auf, als sie auf den Boden schlug. Heraus kullerten sieben unbearbeitete Bernsteine und einer, der die Form eines Kleeblattes hatte.
»O nein, o nein, o nein«, jammerte Lene und krümmte sich immer mehr. Ihre kupferroten Haare fi elen über die Schultern nach vorn und rahmten das Gesicht ein, das ganz blass geworden war.
»Da schau an«, sagte der Blonde gedehnt. Er trampelte durch das herumliegende Holz und stieß Stücke beiseite, die ihm im Weg waren. »Und davon willst du nichts gewusst haben?« Er bückte sich, hob das Unterteil des Kästchens – der Deckel war durch die Wucht des Aufpralls abgebrochen – und dann die Bernsteinbrocken auf.
Lene schüttelte den Kopf.
Der Dunkle trat einen Schritt näher heran. »Sogar verarbeitet hat er sein Diebesgut. Da ist uns ja ein dicker Fisch an die Angel gegangen!«
»Und wenn sie es war? Wette, die ist recht fingerfertig«, sagte der Blonde anzüglich.
»Eine Frau mit einem derartigen handwerklichen Geschick?«
Der Dunkle nahm das Kleeblatt in die Hand und hielt es gegen die Sonne. Es hatte die Farbe von Honig, und sein Glanz verriet, dass es viele Stunden sorgfältig poliert worden war. Die Rundungen waren perfekt, nirgends stand eine Ecke vor oder fühlte sich eine Kante rauh an. »Hast recht, das ist kaum möglich«, entgegnete der Blonde, während sie wieder um die Hütte zu den Pferden gingen.
»Vollenden wir unser Werk, bringen wir die Diebe an den Galgen und den Bernstein zu seinem Besitzer.«
»So glaubt mir doch, sie wusste nichts davon«, keuchte Nikolaus leise, der sich vor Erschöpfung, Hitze und Durst kaum noch auf den Beinen halten konnte.
»Warum nur hast du das getan?«, fragte Lene noch einmal. Tränen rannen ihr über die bleiche Haut. Ihre nassen Augen schimmerten grün. Warum hast du gestanden, wollte sie wissen, doch der Scherge des Pächters verstand sie falsch oder wollte sie falsch verstehen.
»Du hörst doch, sie hatte keine Ahnung, dass ihr Mann unterschlagen hat. Knüpfen wir nur ihn auf, dann können sie und die Kinder weiter für den Pächter Bernstein sammeln.«
Einen Augenblick zögerte der andere noch. Dann machte er sein Pferd los und sagte: »Hast recht. Wäre auch zu schade um das hübsche Ding.« Er saß auf. Sein Kamerad tat es ihm gleich.
»Keine Sorge«, rief der Blonde Lene zu, als er das Pferd wendete und den entkräfteten Nikolaus hinter sich herzog, »ich kümmere mich gern um die Witwen der Unglücksvögel, die am Galgen baumeln.« Er lachte laut und gab seinem Pferd die Sporen, so dass es in einen fl otten Trab fi el. Nikolaus schaffte zwei Schritte, bevor er über seine Füße stolperte und fiel. Er schrie auf, als seine nackten Arme vom Sand geschliffen wurden wie sonst der Bernstein in den Händen seiner Frau. Er atmete den Staub ein und würgte und hustete.
»Vater!« Die Kinder waren im Haus geblieben, denn die beiden ältesten hatten schnell erkannt, dass draußen größte Gefahr herrschte. Bis zu diesem Moment war es ihnen gelungen, die kleinen Geschwister ruhig zu halten. Als sie jedoch den Schrei des Vaters hörten, stürmten sie aus der Hütte. Nur das Jüngste blieb zurück, das noch nicht laufen konnte. Lene packte ihre beiden ältesten Kinder, jedes mit einem Arm. Sie zerrten an ihr, wollten sich frei machen. Die beiden jüngeren weinten und zogen an Lenes Rockzipfel. Auch der andere Strandreiter hatte sein Pferd inzwischen losgebunden und war aufgesessen. Er sah sie noch einmal voller Mitgefühl an. Da fi el der Bernstein. Lene dachte, ihr bliebe das Herz stehen. Noch immer versuchten die Kinder, sich aus der Umklammerung der Mutter zu befreien. Sie kreischten, schimpften und schluchzten. Ihre Füße wirbelten Staub auf. Lene starrte den Reiter an. Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen einander an. Dann zog er den Zügel herum, führte das Pferd in einem Bogen vom Haus fort und gab ihm die Sporen, um seinem Kameraden eilig zu folgen.
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Autoren-Porträt von Lena Johannson
Lena Johannson wurde 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach der Schulzeit auf dem Gymnasium machte sie zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin, bevor sie sich der Tourismusbranche zuwandte. Ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen konnte sie später in ihrem Beruf als Reisejournalistin miteinander verbinden. Vor einiger Zeit erfüllte sich Lena Johannson einen Traum und zog an die Ostsee.»Die Bernsteinsammlerin« ist nach »Das Marzipanmädchen« ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lena Johannson
- 2009, 9. Aufl., 473 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,6 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342650121X
- ISBN-13: 9783426501214
- Erscheinungsdatum: 06.02.2009
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