Die Blume von Surinam
Roman. Originalausgabe
Surinam, 1876: Julie und Jean bewirtschaften eine Zuckerrohrplantage. Als indische Arbeiter ins Land geholt werden, kommt auch die junge Inika auf die Plantage. Dort sorgt sie für erbitterte Rivalität zwischen Julies Sohn und ihrem Stiefenkel.
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Produktinformationen zu „Die Blume von Surinam “
Surinam, 1876: Julie und Jean bewirtschaften eine Zuckerrohrplantage. Als indische Arbeiter ins Land geholt werden, kommt auch die junge Inika auf die Plantage. Dort sorgt sie für erbitterte Rivalität zwischen Julies Sohn und ihrem Stiefenkel.
Klappentext zu „Die Blume von Surinam “
Surinam, 1876: Julie und Jean führen eine glückliche Ehe und bewirtschaften erfolgreich ihre Zuckerrohrplantage. Dann aber ziehen sich dunkle Wolken über der Familie zusammen: Es drohen wirtschaftliche Sorgen, gegen die als Abhilfe indische Arbeiter in das südamerikanische Land geholt werden. So kommt die junge Inika mit ihren Eltern auf die Plantage und sorgt für erbitterte Rivalität zwischen Julies Sohn und ihrem Stiefenkel ...
Lese-Probe zu „Die Blume von Surinam “
Die Blume von Surinam von Linda BelagoProlog
Britisch-Indien 1876 Kalkutta
... mehr
Meter um Meter kämpften sie sich durch die Menschenmenge am Hafen von Kalkutta. Inika stolperte neben ihrer Mutter vorwärts, umgeben von schiebenden und drückenden Körpern, dass ihr angst und bange wurde. Es war laut, es stank und sie würde bald keine Luft mehr bekommen, so pressten sich die vielen Menschen aneinander. Wenn sie doch nur endlich dieses Schiff erreichen würden! Dort hätten sie Platz und Luft zum Atmen und vielleicht, vielleicht gäbe es auch endlich wieder etwas zu essen. Das schmächtige Mädchen spürte plötzlich den starken Arm seines Vaters um sich, der sie fest umklammerte und mitzog. Nun war sie ein wenig von den drängenden Menschen abgeschirmt, viel sicherer fühlte sie sich aber nicht. Die Menschenmasse schob sich unaufhaltsam dem Steg des Schiffes entgegen und Inika krallte sich mit aller Kraft am Arm ihres Vaters fest, als ihr Blick auf die Pierkante direkt neben ihnen fiel. Schwarzes, dreckiges Wasser schwappte zwischen der Mauer und dem Schiff hoch und schien nach ihr greifen zu wollen. Inika spürte die Anstrengung ihres Vaters, der versuchte, sie nach vorne zu schieben. Sie begann zu weinen und blickte sich suchend nach ihrer Mutter um. »Gleich sind wir auf dem Schiff, Liebes, gleich!« Ihr Vater schrie förmlich in ihr Ohr, konnte den Lärm der vielen Menschen aber kaum übertönen. Das Schiff. Wochenlang war dieses Schiff nun ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung gewesen: seit sie ihr kleines Dorf verlassen hatten, auf dem langen Fußmarsch nach Kalkutta, über sumpfige Straßen, in den überfüllten Lagern, in denen es von Ungeziefer wimmelte, und in der Stadt selbst, wo sie nicht einmal mehr einen Schlafplatz bekommen hatten, sondern tagelang auf ihren Gepäckbündeln am Hafen kampieren mussten.
Das Schiff - auf ihm und mit ihm würde alles besser. Sie würden einen trockenen Platz zum Schlafen bekommen, endlich auch Verpflegung - und es würde sie in ein fernes Land bringen, in dem eine sorgenfreie Zukunft auf sie wartete. So hatten es Inikas Eltern ihr immer und immer wieder erzählt.
»Bleib dicht bei mir!«, hörte sie ihren Vater jetzt ihrer Mutter laut zurufen. In seiner Stimme klang Angst mit, und Inika klammerte sich weiter an ihn, als er sich nun dem Strom der drückenden Körper entgegenwandte. Entsetzt bemerkte Inika, wie ihre Mutter mehr und mehr abgedrängt wurde.
»Sarina!« Sie sah, wie ihr Vater mit verbissener Miene versuchte, mit der freien Hand nach ihrer Mutter zu greifen.
Ihre Mutter rief etwas, das Inika aber nicht verstehen konnte, und streckte einen Arm nach ihrer Tochter und ihrem Mann aus.
Inika hörte ihren Vater leise fluchen, dann stieß er barsch ein paar Männer beiseite und bekam im letzten Moment den Arm seiner Frau zu packen. Inika sah, wie ihre Mutter vor Schmerz und Anstrengung das Gesicht verzog, und spürte, wie ihr Vater sie mit dem anderen Arm noch fester an sich drückte. Sein Gesicht war nass von Schweiß, er atmete schwer und ging gebückt unter der zusätzlichen Last des Sackes mit den Habseligkeiten auf seinem Rücken, während er mit aller Kraft seine Familie mit sich zerrte. Erst als sie vom Steg auf das Schiffsdeck gelangten, wo das Gedränge etwas nachließ und von wo aus Matrosen die Passagiere durch eine große Luke und eine steile Stiege hinunter in den Schiffsbau lotsten, lockerte sich sein Griff.
»Sarina, hier, nimm Inika.«
Er löste Inikas angststarren Griff und schob das Mädchen in den Arm ihrer Mutter. Inika war für ihre zwölf Jahre sehr klein und wie ihre Mutter von zarter Statur. Sarina drückte ihre Tochter an sich. Inika lehnte sich an den Sari ihrer Mutter und vergrub das Gesicht in den Falten des üppigen Stoffs. Sarina strich ihr über das lange, schwarze Haar und schob sie sachte weiter.
»Inika, geh, wir müssen noch ein Stück weiter. Irgendwo hier sind unsere Plätze. Kadir?«
»Ich bin hier. Ich glaube, wir müssen bis nach hinten durchgehen. «
Inikas Vater wuchtete den schweren Sack von seinem Rücken. Sie hatten nicht viel mitnehmen können; ein bisschen Kleidung, Mehl und etwas Salz und in weiser Voraussicht einige kleine Säckchen mit Heilkräutern. Die Versorgung sei für die Dauer der Schiffsreise gewährleistet, so hatte man ihnen versprochen, aber wer wusste das schon. Seine letzten Ersparnisse, ein paar Rupien, hatte Kadir sorgsam unter seinen Turban, den pagri, gesteckt.
Schon kam einer der Matrosen und winkte die Passagiere weiter. Nach und nach füllten sich die kleinen, hölzernen Kojen, die in Reihen den Laderaum im Schiffsbauch durchzogen. Für jede Familie gab es nur einen Schlafplatz. Kadir bemerkte Sarinas betroffenen Gesichtsausdruck, zwang sich aber zu einem ermutigenden Lächeln und stopfte den Sack ganz hinten an die Wand. Er wusste, dass man sein Hab und Gut auch hier auf dem Schiff gut bewachen musste.
Sarina bedeutete Inika, in die Koje zu steigen, in der lediglich eine dünne Strohmatte lag, und kletterte dann selbst mit einem Seufzer hinterher. »Komm her ...« Sie zog das verstörte Mädchen an sich und wiegte es sanft.
Kadir sah, dass seine Frau vor Erschöpfung und Angst den Tränen nahe war und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Auf was hatten sie sich da nur eingelassen? Er wusste, dass er seiner Familie in den letzten Wochen viel abverlangt hatte. Erst der lange Fußmarsch nach Kalkutta, dann die trostlosen Umstände und die Warterei am Hafen. Dass jetzt diese kleine Koje für mehrere Wochen ihr Lager sein sollte, verschlimmerte das Ganze für Sarina noch. Er hätte ihr gerne mehr geboten.
Sarina war vom ersten Tag an gegen die Reise gewesen. Kadir hingegen hatte, wie so viele andere Männer auch, dem Mann mit wachsender Begeisterung zugehört, der eines Tages im Dorf erschienen war und im Auftrag der englischen Kolonialverwaltung um Kontraktarbeiter für die niederländische Kolonie Surinam geworben hatte. Er war auf der Suche nach Männern, die bereit waren, sich in dieses ferne Land verschiffen zu lassen, um dort in Lohn und Brot zu gehen. Der Mann hatte die Zukunft in Surinam in den buntesten Farben gezeichnet und in den höchsten Tönen gelobt: Jeder bekäme dort Arbeit und später auch eigenes Land, die Bezahlung der Niederländer sei ausgesprochen gut und die Reise zudem von Anfang bis Ende von den Engländern organisiert.
Kadir hatte nicht lange überlegen müssen. Was hatten sie in Indien schon für Aussichten? Er war der sechstgeborene Sohn einer Bauernfamilie. Seine Eltern waren arm, es gab unzählige Münder zu stopfen. Kadir konnte sich nicht daran erinnern, dass es seiner Mutter, sosehr sie sich auch bemühte, je gelungen war, all ihre Kinder wirklich satt zu bekommen. Kadir hatte dies nicht noch verschlimmern wollen, und sein Vater hatte ihn zur Heirat gedrängt und ihm auch eine Frau gesucht, Sarina. Sie kam aus einem entfernten Dorf und entstammte einer armen Familie, welche die Brautmitgift fast in den Ruin trieb. Aber so konnten sich die Brauteltern wenigstens der Tochter entledigen. Töchter standen in der Hierarchie weitaus niedriger als Söhne, und einen Mann zu finden, der sie übernahm und versorgte, war ein großes Glück. Die beiden Brautleute sahen sich zum ersten Mal während der Hochzeitszeremonie. Kadir befand, dass er Glück gehabt hatte. Sarina war eine hübsche Frau, mit langem blauschwarzem Haar und sanften dunklen Augen. Sie erwies sich schon bald als kluge, demütige Ehefrau.
Kadir hatte, wie seine Brüder vor ihm, ein Haus auf dem Land seines Vaters gebaut, wie es die dörfliche Tradition verlangte, und versucht, sich und seine kleine Familie mit Hilfsarbeiten auf den großen Teeplantagen zu versorgen. Was ihm eher schlecht denn recht gelang. Die Bezahlung war mehr als dürftig, und die Gesamtsituation im Land war bei Weitem nicht mehr so vielversprechend wie dreißig Jahre zuvor.
Kadir hatte fieberhaft nach einem Ausweg gesucht. In einen anderen Teil des Landes zu ziehen war eine Möglichkeit, aber ob dort die Chancen auf Arbeit und gerechten Lohn besser standen, wusste niemand. Und auch dafür brauchte er Geld, das er sich erst einmal mühsam hätte ersparen müssen. Das Angebot der Engländer kam für ihn gerade im richtigen Moment. Er hatte anschließend nächtelang mit den Männern des Dorfes die Möglichkeiten und Risiken diskutiert. Kadirs Vater hingegen zuckte nur die Achseln. Er hätte seinem Sohn gerne geholfen, sah aber keine Lösung. Kadirs Geschwistern ging es schließlich nicht anders.
Sarina war nicht angetan gewesen von Kadirs Idee, aber ihr stand es nicht zu, sich dagegen aufzulehnen. Trotz der ärmlichen Verhältnisse und der Not, die sie alltäglich ertragen musste, war die kleine Hütte dennoch ihr Heim, waren die Menschen um sie herum ihre Familie. Hier fühlte sie sich sicher. Und dann war da ja noch Inika - so eine weite Reise in ein so fernes Land mit einem Kind?
»Und warum kommen sie dann nach Indien und suchen Arbeitskräfte, wenn dort doch alles so gut ist?«, hatte sie skeptisch gefragt.
»Vielleicht gibt es in diesem Niederland nicht genug Arbeitskräfte, und die Engländer helfen nun aus. Oder ... es soll doch ein sehr wohlhabendes Land sein, vielleicht müssen die Menschen dort schon nicht mehr selbst die Arbeit verrichten.«
Kadirs Antwort konnte ihre Zweifel nicht zerstreuen, aber letztendlich musste auch Sarina sich eingestehen, dass die Zukunft nicht viel, sondern eher weniger für sie bereithielt. Und sie hatte ihrem Mann zu folgen, egal, wohin er ging. Sie mussten versuchen, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Also hatte Kadir, gemeinsam mit zwei weiteren Familienvätern aus dem Dorf, den Zweitagesmarsch zur englischen Verwaltung auf sich genommen und sich und seine kleine Familie als Kontraktarbeiter für die niederländische Kolonie Surinam angemeldet.
Ein Vertrag, den Kadir nicht einmal lesen konnte, hatte das Unterfangen besiegelt. Wenige Wochen später waren sie bereits nach Kalkutta aufgebrochen, um das Schiff zu besteigen, das sie ihrer neuen Zukunft im fernen Surinam entgegenbringen würde.
Kapitel 1
Karini Rozenberg wippte mit den Beinen. Heute fiel es ihr wirklich schwer, geduldig zu sein. Wie jeden Tag saß sie auf der kleinen Mauer, die den Schulhof umgab, und wartete darauf, dass es zur Pause läutete. Zweimal am Vormittag war es ihre Aufgabe, vom Stadthaus der Plantage Rozenburg in Paramaribo zur örtlichen Schule zu gehen, um den beiden jungen Masras Martin und Henry die Pausenmahlzeit zu bringen, die Karinis Mutter Kiri zuvor zubereitet hatte. Um zehn Uhr jeweils ein Glas Milch und ein Brot. Um zwölf je ein Glas Saft und eine kleine Mahlzeit. Karini war mit dieser Aufgabe nicht allein, um sie herum warteten jetzt mehrere dunkelhäutige Jungen und Mädchen darauf, dass die blanken, wie die Farbigen in Surinam alle Weißen bezeichneten, in die zweite Pause entlassen wurden. Die Gläser auf dem Tablett, das auf ihren Knien lag, gaben ein leises Klirren von sich, weshalb sie mitten in der Bewegung verharrte und ihren Blick über das Tablett gleiten ließ. Erleichtert stellte sie fest, dass alles noch an Ort und Stelle stand, der Inhalt der Gläser nicht übergeschwappt war und die kleinen Mahlzeiten in ansehnlicher Weise auf den Tellern lagen. Karini seufzte. Gegen Mittag hatte sie es immer besonders eilig. Wenn sie gleich ihren Auftrag erfüllt hatte, würde sie schnell zurück zum Stadthaus laufen, das Geschirr in der Küche abgeben, sich in der kleinen Hütte im Hinterhof, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnte, waschen, umziehen und dann selbst zum Unterricht in der Missionsschule von Pater Benedikt laufen. Karini wusste, dass diese erst nach der Abschaffung der Sklaverei in Surinam vor fast dreizehn Jahren gegründet worden war; seither musste sich jeder Sklave taufen lassen, was ihm den Besuch von Gottesdiensten und den Kindern den Besuch des Schulunterrichts ermöglichte, zumindest bis zum zwölften Lebensjahr. Gewöhnlich fingen die farbigen Kinder im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren an zu arbeiten, und nur wenige Kinder hatten wie Karini das Glück, die Schule noch länger besuchen zu dürfen. Manche Eltern, überwiegend ehemalige Sklaven der Plantagen, schickten ihre Kinder auch gar nicht zur Schule, sondern ließen sie in den Häusern oder auf den Pflanzungen schuften. Die wenigsten Plantagenbesitzer nahmen die Schulpflicht für die schwarzen Kinder ernst, und die Kolonialverwaltung hatte nicht viel Einfluss auf die unzähligen Kinder im Hinterland. Misi Juliette und Masra Jean aber, denen die Zuckerrohrplantage Rozenburg gehörte, der auch sie und ihre Mutter angeschlossen waren, bestanden darauf, dass alle Kinder dort Unterricht erhielten.
Für Karini waren es die letzten Monate in dieser Schule, sie wurde bald vierzehn Jahre alt. Sie liebte den Unterricht und das Lernen und war stolz auf ihre Fortschritte: Sie konnte fließend lesen und schreiben und sogar das Rechnen fiel ihr leicht. Karini war schon immer neidisch auf Masra Henry und Masra Martin gewesen, weil diese jeden Morgen zum Unterricht gehen und den ganzen Vormittag in der Schule verbringen durften. Wie viel Zeit sie zum Lernen hatten! Und wie lange sie lernen durften! Ihr eigener Unterricht beschränkte sich auf wenige Stunden am Nachmittag und das auch nur an drei Tagen in der Woche. Die beiden Jungen allerdings teilten Karinis Begeisterung nur bedingt. Vor allem Masra Martin, der ältere der beiden Jungen, maulte morgens oft, er wäre noch müde und hätte keine Lust. »Ach, nun los«, motivierte Karini ihn dann immer, wenn sie ihm frisches Wasser für die Morgentoilette brachte, die Vorhänge aufzog und den Nachttopf abholte.
»Du hast leicht reden, du musst ja nicht jeden Tag in die Schule«, erwiderte Masra Martin dann oft missmutig.
Karini versetzte diese Antwort immer einen kleinen Stich. Täglichen Unterricht hatte sie nur auf der Plantage.
In der großen Trockenzeit zwischen August und Dezember zog Karini mit ihrer Mutter und den beiden jungen Masras gemeinsam auf die Plantage Rozenburg, die mehrere Stunden flussaufwärts im Hinterland lag. Masra Henry und Masra Martin wurden im Haus von einem eigens dafür eingestellten Hauslehrer unterrichtet, und Karini ging, wie alle Kinder aus dem Arbeiterdorf, bei Tante Fiona zur Schule. Die war nicht ihre leibliche Tante, aber im Plantagendorf sprachen die Kinder alle älteren Frauen mit Tante an.
Vor dem Jahreswechsel, zu Beginn der kleinen Regenzeit, zogen die Jungen mit Karini und ihrer Mutter wieder in das Stadthaus nach Paramaribo, um dort bis August die Schule zu besuchen. Dieser Rhythmus wurde in ganz Surinam vom Klima bestimmt. Die große Regenzeit zwischen Mitte April und August brachte nicht nur schwere Gewitter, sondern auch Heerscharen an Moskitos mit sich, was in der Stadt angenehmer zu ertragen war als auf Rozenburg, das zwischen Wald und Fluss lag. Dort hingegen ließ sich die stetig zunehmende Hitze während der großen Trockenzeit besser aushalten als in der Enge der Stadt. Misi Juliette, die Mutter von Masra Henry und Ziehmutter von Masra Martin, kam zwar im Dezember zunächst mit nach Paramaribo, um die Jungen zu verabschieden und um Geschäftliches zu erledigen, lebte aber die meiste Zeit des Jahres mit ihrem Mann, Masra Jean, auf Rozenburg und reiste nur selten in die Stadt. Der Spagat zwischen Plantagen- und Stadtleben war sicher nicht leicht für die Misi, und die Trennung von den Jungen fiel ihr jedes Mal sichtlich schwer. Aber sich bequem dem gediegenen Stadtleben hinzugeben, wie andere Frauen, ohne auf der Plantage mitzuhelfen, das war nicht die Art von Misi Juliette. Sie bestieg sogar manchmal ihr Pferd und ritt in die Felder. Das war zwar eher unschicklich für eine Dame, aber ihr Einsatz hatte sich gelohnt, das hatte Karini mitbekommen. Rozenburg hielt den schlechten Zeiten in der Kolonie wacker stand. Karini war stolz, den Namen der Pflanzung auch in ihrem Nachnamen tragen zu dürfen. Misi Juliette hatte allen Sklaven Namen mit Rozen... gegeben, und Karini nannte ihren Namen gerne, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Sklaven, deren ehemalige Besitzer ihnen Nachnamen wie Faulermann oder Waschweib gegeben hatten.
Nachnamen trugen die ehemaligen Sklaven überhaupt erst seit ihrer Befreiung, sie waren seither sogar zur Pflicht geworden, auch wenn sich auf der Plantage im Alltag niemand darum scherte. Ebenso wenig wie um die Hautfarbe, die noch zu Zeiten des Sklavenstands eine wichtige Rolle gespielt hatte. In der Stadt hingegen achtete man immer noch sehr darauf, wessen Hautfarbe eine Nuance heller war, hier fühlten sich die hellhäutigeren Mulatten den tiefschwarzen, ehemaligen Arbeitssklaven immer noch überlegen. Trotzdem spürten auch sie den gesellschaftlichen Wandel, denn es ging nicht mehr darum, wer Sklave gewesen oder Mulatte war, sondern vielmehr darum, wer Arbeit hatte und wer nicht. Zumal Mulatten nach wie vor keine niederen Arbeiten und auch, wie schon zur Sklavenzeit, keine Arbeit auf den Plantagenfeldern verrichten durften. Karini wusste nicht genau, warum das so war. Ihre Mutter hatte angedeutet, dass es mit den Vätern der Mischlingskinder zusammenhing, die nicht wollten, dass ihre Kinder Sklavenarbeit verrichteten. Warum das allerdings für die Schwarzen nicht galt, verstand Karini nicht.
Karini fand manche Regelungen in der Kolonie sehr verwirrend. Sie fühlte sich eher den Weißen verbunden, außerdem waren Masra Henry und Masra Martin ihre besten Freunde.
Karinis Mutter Kiri war einmal die Leibsklavin von Misi Juliette gewesen. Nach der Abschaffung der Sklaverei hatte Misi Juliette Kiri einen Arbeitsvertrag angeboten, wie ihn von diesem Zeitpunkt an alle ehemaligen Sklaven für die Übergangszeit von zehn Jahren nachweisen mussten, und Kiri war gerne bei ihr auf Rozenburg geblieben, wie die meisten Sklaven der Plantage. Die Misi hatte einige schlimme Jahre mit ihnen durchgestanden und war immer gut und gerecht zu ihnen gewesen, sie hatte die Lebensbedingungen verbessert und sich sehr um das Allgemeinwohl im Sklavendorf gekümmert. Das war bei Weitem nicht überall so, viele der alteingesessenen Plantagenbesitzer ließen nicht von ihrem brutalen Gebaren gegenüber den ehemaligen Sklaven ab. Die langen, ledernen Peitschen, die noch an vielen Gürteln baumelten, sprachen Bände. Zur Rechenschaft wurde dafür nur selten jemand gezogen, und um die vielen Tausend ehemaligen Sklaven, die weit im Hinterland auf den Pflanzungen lebten, scherte sich in der Stadt und bei der Kolonialverwaltung niemand. Und in den Niederlanden erst recht nicht, denn auch wenn dort, im fernen Europa, die Abschaffung der Sklaverei begrüßt und gefeiert wurde, wie die Zeitungen berichteten, waren die Menschen in den Kolonien am anderen Ende der Welt schnell wieder vergessen.
Mit dem Ende der Vertragspflicht hatten sich die Verhältnisse in den vergangenen drei Jahren weiter verändert. Die ehemaligen Sklaven waren nun nicht mehr an die Plantagen oder ihre Herren gebunden, sie waren freie Einwohner der Kolonie, durften leben, wo sie wollten, und ihre Arbeitgeber selbst wählen.
Kiri war nun Angestellte der Plantage Rozenburg, sie betreute die jungen Masras und führte den Haushalt im Stadthaus. Karinis Vater Dany blieb das ganze Jahr über auf der Plantage, wo er als Vorarbeiter auf den Zuckerrohrfeldern beschäftigt war. Außerdem trieb er Handel mit den Buschnegern, wobei ihm die enge Verbindung zu seinem Vater Aiku zugutekam. Der war ein Maroon, ein freier Buschneger, der als Anführer seines Stammes tief im Regenwald lebte. Karini beschlich in Gegenwart ihres granpapa, den sie nur äußerst selten besuchte, immer ein Gefühl der Unsicherheit. Er war ihr unheimlich, weil er nicht sprach - oder nicht sprechen konnte, das wusste sie nicht so genau. Ihre Eltern verloren nie ein Wort darüber.
Karini mochte sich nicht entscheiden, was ihr besser gefiel: das Leben in der Stadt, wo immer etwas los war, es so viel Neues zu entdecken gab und auch der Unterricht bei Pater Benedikt viel anspruchsvoller war, als der von Tante Fiona, die selbst gerade einmal schreiben und ein wenig rechnen konnte; oder aber das beschauliche Leben auf der Plantage Rozenburg, wenn ihre Familie beisammen war und auch ihr Zusammenleben mit Masra Henry und Masra Martin sich anders gestaltete als in Paramaribo.
Auf der Plantage waren die beiden Jungen wie zwei große Brüder für Karini. Masra Henry war nur ein Jahr älter als sie, er war eher nachdenklich, liebte Bücher und konnte viele spannende Geschichten erzählen. Masra Martin hingegen gab sich mit seinen fast sechzehn Jahren schon mächtig erwachsen und war stets auf Abenteuersuche, dabei aber immer darauf bedacht, Masra Henry und sie selbst zu beschützen.
Hier in der Stadt aber war ihr Verhältnis anders. Die Jungen trafen sich mit ihren weißen Freunden, spielten mit ihren Mitschülern und mussten gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen, während Karini arbeitete oder die Schule besuchte. Karini war manchmal traurig, dass sie nicht dabei sein durfte, wenn die Kinder der blanken sich trafen. Sie verbrachte bei Weitem nicht mehr so viel Zeit mit den jungen Masras wie früher. Aber sie waren keine kleinen Kinder mehr, jeder hatte seine Aufgaben zu erfüllen. Sie sahen sich im Moment wirklich nur kurz in den kleinen Schulpausen der Masras. Und da war es Karinis Aufgabe, ihnen das Tablett zu reichen, zu warten, bis die beiden aufgegessen und ausgetrunken hatten, und dann das Geschirr wieder mit nach Hause zu nehmen. Mehr als das Nötigste durfte sie nicht mit ihnen reden, das war hier auf dem Schulhof unerwünscht. In der Stadt waren Kontakte zwischen den blanken und den Schwarzen immer noch nicht gerne gesehen. Die blanken blieben unter sich und hier war Karini eben nur die Tochter der schwarzen Haushälterin. Dabei war ihre Mutter ebenfalls sehr stolz auf sie, immerhin gehörte sie selbst noch zu der Generation, die auf keinen Fall hatte lesen und schreiben lernen dürfen und es bis heute nicht konnte. Nicht einmal Niederländisch hatten die Sklaven bis 1863 sprechen dürfen, obwohl es die offizielle Sprache in der Kolonie war. Auch heute noch hielt Kiri an der Sklavensprache taki-taki fest, sie sprach diese mit ihrer Tochter und mit den blanken.
Karini fiel es manchmal schwer zu verstehen, dass ihre Mutter so stark an traditionellen Sitten festhielt und nicht von sich aus neue Wege ging. So lief sie weiterhin stets barfuß und hatte auch Karini nie Schuhe gekauft. »Die brauchen wir nicht«, hatte sie lapidar geantwortet, als Karini als kleines Mädchen einmal deswegen gequengelt hatte. Sklaven war das Tragen von Schuhen stets verboten gewesen, und wie ihre Mutter hatten viele der Älteren sie später ausprobiert, für unbequem befunden und als Fußbekleidung verworfen. Auf der Plantage störte es Karini nicht, barfuß herumzulaufen, aber in der Stadt beäugte sie die Hausmädchen mit ihren glänzenden schwarzen Lackschuhen manchmal schon mit einem Gefühl von Neid.
Erleichtert bemerkte sie jetzt, dass sich endlich die große Eingangstür öffnete und eine Schar Schüler aus dem Schulgebäude strömte. Sie hüpfte vorsichtig von der Mauer und hielt das Tablett für Masra Henry und Masra Martin bereit.
Nicht mehr lange, dann würde sie nach Hause laufen können und von dort zu ihrem eigenen Unterricht.
Kapitel 2
Wie kommt dieses Tier hier nur immer herauf?« Juliette Riard schnappte sich die große Schildkröte und trug sie mit ausgestreckten Armen vor sich her, die Stufen der vorderen Veranda des Plantagenhauses hinunter. Das Tier wog schwer und strampelte eifrig mit seinen kurzen Beinen. Julie, wie sie in ihrer Kindheit gerufen worden war und heute noch von ihrem Mann genannt wurde, setzte das Reptil in den Schatten unter einen großen Busch und ließ den Blick über die Front des Haupthauses von Rozenburg schweifen. Das weiß gestrichene Holz glänzte in der Sonne und hob den Bau farblich vom satten Grün der umliegenden Landschaft ab. Ein paar Ausbesserungen waren an der Fassade nötig, bemerkte sie wieder einmal, als sie an einer Hausecke leicht grünliche Flecken entdeckte. Das Klima in diesem Land nagte auch an den Bauwerken. Und die starken Regenfälle der letzten Wochen hatten ein Übriges getan. Es war Ende Mai, und die Regenzeit würde noch einige Wochen andauern. Julie beschloss, die Arbeit in Auftrag zu geben, sobald das Wetter es zuließ. Ein paar Gulden würden sie dieses Jahr in das Haus investieren müssen. Dann blieb ihr Blick an ihrem Mann Jean hängen, der auf der Veranda über seine Unterlagen gebeugt saß. Kurz blitzte die Erinnerung an ihre ersten Zusammentreffen auf. Sie musste unwillkürlich lächeln. Damals hatten sie oft stundenlang auf dieser Veranda gesessen, Julie noch als Ehefrau von Karl Leevken und Jean als Buchhalter der Plantage Rozenburg. War es wirklich schon siebzehn Jahre her, seit sie an einem heißen Märztag das Schiff verlassen hatte? Manchmal kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, manchmal aber auch, als wäre es erst gestern gewesen. Und noch jemand war damals auf der Veranda zugegen gewesen: Nico, der Papagei, der Julie in ihren ersten Jahren als einzig guter Geist auf der Plantage begleitet hatte. Julie seufzte. Nico hatte die Plantage verlassen wie andere Geister auch. Dafür gab es nun die Schildkröte, die auf der Plantage herumkroch. Julie beobachtete, wie das Tier sich zwischen die Blätter zurückzog. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Sohn, der der Schildkröte sogar einen Namen gegeben hatte, Monks. Nach einer zwielichtigen Gestalt aus einem Abenteuerbuch, das er gerne las. Julie fand den Namen durchaus passend für das Tier, das die Angewohnheit hatte, immer wieder an Orten aufzutauchen, an denen man eine Schildkröte nicht unbedingt erwartete. Wie das Tier es schaffte, die Veranda zu erklimmen, war Julie nach wie vor ein Rätsel, es gelegentlich irgendwo im großen Plantagenhaus vorzufinden, schon keine Überraschung mehr. Als die Schildkröte es eines Tages sogar bis auf die Arbeitsplatte in Livs Küche geschafft hatte, was die schwarze Haushälterin mit lautem Gezeter und der Drohung quittiert hatte, eine schmackhafte Suppe aus dem Tier zu kochen, dünkte Julie, dass irgendjemand auf der Plantage diesem Tier bei seinen Ausflügen behilflich war. Vielleicht die Jungen? Diese hatten Monks auf jeden Fall mit angstvollem Blick schnell vor Livs Kochtopf gerettet.
Die Jungen. Ging es ihnen in der Stadt gut? Die Monate ohne sie auf der Plantage kamen Julie immer unendlich lang vor; waren sie dann vor Ort, schien die Zeit förmlich zu rasen. Julie vermisste sie schrecklich, und auch wenn sie versuchte, sich abzulenken, erinnerten überall kleine, alltägliche Dinge an die beiden und füllten ihr Herz mit Sehnsucht und, wie sie sich mehr als einmal eingestanden hatte, mit Trauer, begleitet von einem schlechten Gewissen. Julie seufzte leise, raffte ihren Rock und stieg die Stufen der Veranda wieder empor.
»Bald sind sie doch wieder da, Julie.« Jeans Stimme war voller Zärtlichkeit und Julie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er hatte wieder einmal erraten, was sie bedrückte, und hob nun den Blick von seinen Abrechnungsbüchern.
»Ja, ich weiß ... aber die letzten Wochen bis zu ihrer Ankunft kommen mir jedes Jahr wie eine Ewigkeit vor«, sagte sie leise. Sie setzte sich zu ihm und ließ ihren Blick zum Fluss gleiten. Die Regenfälle hatten für heute aufgehört, und die Sonne brachte die Luft über dem Fluss zum Dampfen. Es waren diese kurzen Momente nach den markerschütternden Gewittern der Regenzeit, in denen das Klima sich halbwegs erträglich gestaltete und an einen hitzigen Sommertag in Europa erinnerte. Allerdings würde durch die Trockenzeit schon bald die geballte Wucht der Tropenhitze zurückkommen, an die Julie sich in all den Jahren nur schwer hatte gewöhnen können. Sie brachte in ihren Augen nur ein Gutes: Die Jungen kamen nach Rozenburg.
Ihr war es nicht leichtgefallen, die Jungen in der Stadt in die Schule zu schicken. Aber die Möglichkeit, sie ganzjährig auf der Plantage unterrichten zu lassen, hatte ihr auch missfallen. Kinder in diesem Alter brauchten Kontakt zu Gleichaltrigen. Hier auf der Plantage verlief das Leben in eintönigem Gleichmaß, und Julie hatte oft genug beobachtet, dass sich die Isolation auf den Plantagen bei Heranwachsenden nachteilig auswirkte. Die eigenbrötlerischen und verzogenen Sprösslinge einiger anderer Plantagenbesitzer waren ihr Grund genug gewesen, für ihre Jungen einen anderen Weg zu wählen. Also hatte sie schweren Herzens beschlossen, Henry und Martin zumindest einen Teil des Jahres in Paramaribo wohnen und die dortige Schule besuchen zu lassen. Und sie hatte beide Jungen gleichzeitig eingeschult. Wie schnell sie doch groß geworden waren! Was sie wohl nach ihrer Schulzeit machen würden? Sie konnte sich gut vorstellen, dass Henry auf der Plantage bei Jean in die Ausbildung gehen würde, das hatte er schon mehrfach angesprochen. Aber ob Martin auch auf der Plantage bleiben wollte? Julie wusste es nicht. Es fiel ihr schwer, den Jungen zu deuten, Martin war ihr, obwohl sie ihn aufgezogen hatte, immer ein wenig fremd geblieben. Sosehr sie sich auch bemüht hatte, hatte sich der Junge ihr nie ganz geöffnet und war ein Stück unnahbar geblieben. Sie beide hatten zudem einen schwierigen Start gehabt, trotzdem liebte sie ihn so wie ihren eigenen Sohn.
Martin war damals, als die Schulzeit begann, klaglos in die Stadt gezogen. Julie hatte es nicht anders erwartet, trotzdem hatte seine spürbare Kälte sie verletzt. Henry hingegen war es sichtlich schwergefallen, sich von seinen Eltern und der Plantage zu lösen. Julie selbst ging es nicht anders, und so war sie schon im ersten Jahr zunächst mit in die Stadt gereist, ein Ritual, das sie bis heute beibehalten hatte. Sie blieb dann zumeist einige Wochen, erledigte Geschäftliches und erfüllte gesellschaftliche Verpflichtungen, bevor sie auf die Plantage zurückkehrte, um ihre Aufgaben dort wahrzunehmen. Der Abschied fiel ihr heute noch schwer, auch wenn sie jedes Mal froh war, die Stadt verlassen zu können. Sie fühlte sich dort nie besonders wohl, ließ sich das in Gegenwart der Jungen aber nicht anmerken. Die Erinnerungen an die schwere Zeit ihrer ersten Jahre in Surinam drohten sie in Paramaribo manchmal zu überwältigen, insbesondere im Stadthaus lauerten zuweilen dunkle Schatten, die sie jagten. Erinnerungen an ihren gewalttätigen ersten Mann Karl, dessen Rufe manchmal noch durch die Räume zu hallen schienen. An den Raum, in dem ihre Stieftochter, Martins Mutter Martina, gestorben war, und die Angst, welche die damalige Entführung der Kleinkinder Martin und Henry durch Martins leiblichen Vater wie einen dünnen, aber zähen Nebel hinterlassen hatte. Jean schien das Ganze nicht mehr zu berühren, doch Julie konnte das Geschehene einfach nicht vergessen.
Die Jungen hingegen kamen in der Stadt gut zurecht. Das lag nicht zuletzt an Kiri, die gut für sie sorgte und über sie wachte.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Meter um Meter kämpften sie sich durch die Menschenmenge am Hafen von Kalkutta. Inika stolperte neben ihrer Mutter vorwärts, umgeben von schiebenden und drückenden Körpern, dass ihr angst und bange wurde. Es war laut, es stank und sie würde bald keine Luft mehr bekommen, so pressten sich die vielen Menschen aneinander. Wenn sie doch nur endlich dieses Schiff erreichen würden! Dort hätten sie Platz und Luft zum Atmen und vielleicht, vielleicht gäbe es auch endlich wieder etwas zu essen. Das schmächtige Mädchen spürte plötzlich den starken Arm seines Vaters um sich, der sie fest umklammerte und mitzog. Nun war sie ein wenig von den drängenden Menschen abgeschirmt, viel sicherer fühlte sie sich aber nicht. Die Menschenmasse schob sich unaufhaltsam dem Steg des Schiffes entgegen und Inika krallte sich mit aller Kraft am Arm ihres Vaters fest, als ihr Blick auf die Pierkante direkt neben ihnen fiel. Schwarzes, dreckiges Wasser schwappte zwischen der Mauer und dem Schiff hoch und schien nach ihr greifen zu wollen. Inika spürte die Anstrengung ihres Vaters, der versuchte, sie nach vorne zu schieben. Sie begann zu weinen und blickte sich suchend nach ihrer Mutter um. »Gleich sind wir auf dem Schiff, Liebes, gleich!« Ihr Vater schrie förmlich in ihr Ohr, konnte den Lärm der vielen Menschen aber kaum übertönen. Das Schiff. Wochenlang war dieses Schiff nun ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung gewesen: seit sie ihr kleines Dorf verlassen hatten, auf dem langen Fußmarsch nach Kalkutta, über sumpfige Straßen, in den überfüllten Lagern, in denen es von Ungeziefer wimmelte, und in der Stadt selbst, wo sie nicht einmal mehr einen Schlafplatz bekommen hatten, sondern tagelang auf ihren Gepäckbündeln am Hafen kampieren mussten.
Das Schiff - auf ihm und mit ihm würde alles besser. Sie würden einen trockenen Platz zum Schlafen bekommen, endlich auch Verpflegung - und es würde sie in ein fernes Land bringen, in dem eine sorgenfreie Zukunft auf sie wartete. So hatten es Inikas Eltern ihr immer und immer wieder erzählt.
»Bleib dicht bei mir!«, hörte sie ihren Vater jetzt ihrer Mutter laut zurufen. In seiner Stimme klang Angst mit, und Inika klammerte sich weiter an ihn, als er sich nun dem Strom der drückenden Körper entgegenwandte. Entsetzt bemerkte Inika, wie ihre Mutter mehr und mehr abgedrängt wurde.
»Sarina!« Sie sah, wie ihr Vater mit verbissener Miene versuchte, mit der freien Hand nach ihrer Mutter zu greifen.
Ihre Mutter rief etwas, das Inika aber nicht verstehen konnte, und streckte einen Arm nach ihrer Tochter und ihrem Mann aus.
Inika hörte ihren Vater leise fluchen, dann stieß er barsch ein paar Männer beiseite und bekam im letzten Moment den Arm seiner Frau zu packen. Inika sah, wie ihre Mutter vor Schmerz und Anstrengung das Gesicht verzog, und spürte, wie ihr Vater sie mit dem anderen Arm noch fester an sich drückte. Sein Gesicht war nass von Schweiß, er atmete schwer und ging gebückt unter der zusätzlichen Last des Sackes mit den Habseligkeiten auf seinem Rücken, während er mit aller Kraft seine Familie mit sich zerrte. Erst als sie vom Steg auf das Schiffsdeck gelangten, wo das Gedränge etwas nachließ und von wo aus Matrosen die Passagiere durch eine große Luke und eine steile Stiege hinunter in den Schiffsbau lotsten, lockerte sich sein Griff.
»Sarina, hier, nimm Inika.«
Er löste Inikas angststarren Griff und schob das Mädchen in den Arm ihrer Mutter. Inika war für ihre zwölf Jahre sehr klein und wie ihre Mutter von zarter Statur. Sarina drückte ihre Tochter an sich. Inika lehnte sich an den Sari ihrer Mutter und vergrub das Gesicht in den Falten des üppigen Stoffs. Sarina strich ihr über das lange, schwarze Haar und schob sie sachte weiter.
»Inika, geh, wir müssen noch ein Stück weiter. Irgendwo hier sind unsere Plätze. Kadir?«
»Ich bin hier. Ich glaube, wir müssen bis nach hinten durchgehen. «
Inikas Vater wuchtete den schweren Sack von seinem Rücken. Sie hatten nicht viel mitnehmen können; ein bisschen Kleidung, Mehl und etwas Salz und in weiser Voraussicht einige kleine Säckchen mit Heilkräutern. Die Versorgung sei für die Dauer der Schiffsreise gewährleistet, so hatte man ihnen versprochen, aber wer wusste das schon. Seine letzten Ersparnisse, ein paar Rupien, hatte Kadir sorgsam unter seinen Turban, den pagri, gesteckt.
Schon kam einer der Matrosen und winkte die Passagiere weiter. Nach und nach füllten sich die kleinen, hölzernen Kojen, die in Reihen den Laderaum im Schiffsbauch durchzogen. Für jede Familie gab es nur einen Schlafplatz. Kadir bemerkte Sarinas betroffenen Gesichtsausdruck, zwang sich aber zu einem ermutigenden Lächeln und stopfte den Sack ganz hinten an die Wand. Er wusste, dass man sein Hab und Gut auch hier auf dem Schiff gut bewachen musste.
Sarina bedeutete Inika, in die Koje zu steigen, in der lediglich eine dünne Strohmatte lag, und kletterte dann selbst mit einem Seufzer hinterher. »Komm her ...« Sie zog das verstörte Mädchen an sich und wiegte es sanft.
Kadir sah, dass seine Frau vor Erschöpfung und Angst den Tränen nahe war und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Auf was hatten sie sich da nur eingelassen? Er wusste, dass er seiner Familie in den letzten Wochen viel abverlangt hatte. Erst der lange Fußmarsch nach Kalkutta, dann die trostlosen Umstände und die Warterei am Hafen. Dass jetzt diese kleine Koje für mehrere Wochen ihr Lager sein sollte, verschlimmerte das Ganze für Sarina noch. Er hätte ihr gerne mehr geboten.
Sarina war vom ersten Tag an gegen die Reise gewesen. Kadir hingegen hatte, wie so viele andere Männer auch, dem Mann mit wachsender Begeisterung zugehört, der eines Tages im Dorf erschienen war und im Auftrag der englischen Kolonialverwaltung um Kontraktarbeiter für die niederländische Kolonie Surinam geworben hatte. Er war auf der Suche nach Männern, die bereit waren, sich in dieses ferne Land verschiffen zu lassen, um dort in Lohn und Brot zu gehen. Der Mann hatte die Zukunft in Surinam in den buntesten Farben gezeichnet und in den höchsten Tönen gelobt: Jeder bekäme dort Arbeit und später auch eigenes Land, die Bezahlung der Niederländer sei ausgesprochen gut und die Reise zudem von Anfang bis Ende von den Engländern organisiert.
Kadir hatte nicht lange überlegen müssen. Was hatten sie in Indien schon für Aussichten? Er war der sechstgeborene Sohn einer Bauernfamilie. Seine Eltern waren arm, es gab unzählige Münder zu stopfen. Kadir konnte sich nicht daran erinnern, dass es seiner Mutter, sosehr sie sich auch bemühte, je gelungen war, all ihre Kinder wirklich satt zu bekommen. Kadir hatte dies nicht noch verschlimmern wollen, und sein Vater hatte ihn zur Heirat gedrängt und ihm auch eine Frau gesucht, Sarina. Sie kam aus einem entfernten Dorf und entstammte einer armen Familie, welche die Brautmitgift fast in den Ruin trieb. Aber so konnten sich die Brauteltern wenigstens der Tochter entledigen. Töchter standen in der Hierarchie weitaus niedriger als Söhne, und einen Mann zu finden, der sie übernahm und versorgte, war ein großes Glück. Die beiden Brautleute sahen sich zum ersten Mal während der Hochzeitszeremonie. Kadir befand, dass er Glück gehabt hatte. Sarina war eine hübsche Frau, mit langem blauschwarzem Haar und sanften dunklen Augen. Sie erwies sich schon bald als kluge, demütige Ehefrau.
Kadir hatte, wie seine Brüder vor ihm, ein Haus auf dem Land seines Vaters gebaut, wie es die dörfliche Tradition verlangte, und versucht, sich und seine kleine Familie mit Hilfsarbeiten auf den großen Teeplantagen zu versorgen. Was ihm eher schlecht denn recht gelang. Die Bezahlung war mehr als dürftig, und die Gesamtsituation im Land war bei Weitem nicht mehr so vielversprechend wie dreißig Jahre zuvor.
Kadir hatte fieberhaft nach einem Ausweg gesucht. In einen anderen Teil des Landes zu ziehen war eine Möglichkeit, aber ob dort die Chancen auf Arbeit und gerechten Lohn besser standen, wusste niemand. Und auch dafür brauchte er Geld, das er sich erst einmal mühsam hätte ersparen müssen. Das Angebot der Engländer kam für ihn gerade im richtigen Moment. Er hatte anschließend nächtelang mit den Männern des Dorfes die Möglichkeiten und Risiken diskutiert. Kadirs Vater hingegen zuckte nur die Achseln. Er hätte seinem Sohn gerne geholfen, sah aber keine Lösung. Kadirs Geschwistern ging es schließlich nicht anders.
Sarina war nicht angetan gewesen von Kadirs Idee, aber ihr stand es nicht zu, sich dagegen aufzulehnen. Trotz der ärmlichen Verhältnisse und der Not, die sie alltäglich ertragen musste, war die kleine Hütte dennoch ihr Heim, waren die Menschen um sie herum ihre Familie. Hier fühlte sie sich sicher. Und dann war da ja noch Inika - so eine weite Reise in ein so fernes Land mit einem Kind?
»Und warum kommen sie dann nach Indien und suchen Arbeitskräfte, wenn dort doch alles so gut ist?«, hatte sie skeptisch gefragt.
»Vielleicht gibt es in diesem Niederland nicht genug Arbeitskräfte, und die Engländer helfen nun aus. Oder ... es soll doch ein sehr wohlhabendes Land sein, vielleicht müssen die Menschen dort schon nicht mehr selbst die Arbeit verrichten.«
Kadirs Antwort konnte ihre Zweifel nicht zerstreuen, aber letztendlich musste auch Sarina sich eingestehen, dass die Zukunft nicht viel, sondern eher weniger für sie bereithielt. Und sie hatte ihrem Mann zu folgen, egal, wohin er ging. Sie mussten versuchen, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Also hatte Kadir, gemeinsam mit zwei weiteren Familienvätern aus dem Dorf, den Zweitagesmarsch zur englischen Verwaltung auf sich genommen und sich und seine kleine Familie als Kontraktarbeiter für die niederländische Kolonie Surinam angemeldet.
Ein Vertrag, den Kadir nicht einmal lesen konnte, hatte das Unterfangen besiegelt. Wenige Wochen später waren sie bereits nach Kalkutta aufgebrochen, um das Schiff zu besteigen, das sie ihrer neuen Zukunft im fernen Surinam entgegenbringen würde.
Kapitel 1
Karini Rozenberg wippte mit den Beinen. Heute fiel es ihr wirklich schwer, geduldig zu sein. Wie jeden Tag saß sie auf der kleinen Mauer, die den Schulhof umgab, und wartete darauf, dass es zur Pause läutete. Zweimal am Vormittag war es ihre Aufgabe, vom Stadthaus der Plantage Rozenburg in Paramaribo zur örtlichen Schule zu gehen, um den beiden jungen Masras Martin und Henry die Pausenmahlzeit zu bringen, die Karinis Mutter Kiri zuvor zubereitet hatte. Um zehn Uhr jeweils ein Glas Milch und ein Brot. Um zwölf je ein Glas Saft und eine kleine Mahlzeit. Karini war mit dieser Aufgabe nicht allein, um sie herum warteten jetzt mehrere dunkelhäutige Jungen und Mädchen darauf, dass die blanken, wie die Farbigen in Surinam alle Weißen bezeichneten, in die zweite Pause entlassen wurden. Die Gläser auf dem Tablett, das auf ihren Knien lag, gaben ein leises Klirren von sich, weshalb sie mitten in der Bewegung verharrte und ihren Blick über das Tablett gleiten ließ. Erleichtert stellte sie fest, dass alles noch an Ort und Stelle stand, der Inhalt der Gläser nicht übergeschwappt war und die kleinen Mahlzeiten in ansehnlicher Weise auf den Tellern lagen. Karini seufzte. Gegen Mittag hatte sie es immer besonders eilig. Wenn sie gleich ihren Auftrag erfüllt hatte, würde sie schnell zurück zum Stadthaus laufen, das Geschirr in der Küche abgeben, sich in der kleinen Hütte im Hinterhof, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnte, waschen, umziehen und dann selbst zum Unterricht in der Missionsschule von Pater Benedikt laufen. Karini wusste, dass diese erst nach der Abschaffung der Sklaverei in Surinam vor fast dreizehn Jahren gegründet worden war; seither musste sich jeder Sklave taufen lassen, was ihm den Besuch von Gottesdiensten und den Kindern den Besuch des Schulunterrichts ermöglichte, zumindest bis zum zwölften Lebensjahr. Gewöhnlich fingen die farbigen Kinder im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren an zu arbeiten, und nur wenige Kinder hatten wie Karini das Glück, die Schule noch länger besuchen zu dürfen. Manche Eltern, überwiegend ehemalige Sklaven der Plantagen, schickten ihre Kinder auch gar nicht zur Schule, sondern ließen sie in den Häusern oder auf den Pflanzungen schuften. Die wenigsten Plantagenbesitzer nahmen die Schulpflicht für die schwarzen Kinder ernst, und die Kolonialverwaltung hatte nicht viel Einfluss auf die unzähligen Kinder im Hinterland. Misi Juliette und Masra Jean aber, denen die Zuckerrohrplantage Rozenburg gehörte, der auch sie und ihre Mutter angeschlossen waren, bestanden darauf, dass alle Kinder dort Unterricht erhielten.
Für Karini waren es die letzten Monate in dieser Schule, sie wurde bald vierzehn Jahre alt. Sie liebte den Unterricht und das Lernen und war stolz auf ihre Fortschritte: Sie konnte fließend lesen und schreiben und sogar das Rechnen fiel ihr leicht. Karini war schon immer neidisch auf Masra Henry und Masra Martin gewesen, weil diese jeden Morgen zum Unterricht gehen und den ganzen Vormittag in der Schule verbringen durften. Wie viel Zeit sie zum Lernen hatten! Und wie lange sie lernen durften! Ihr eigener Unterricht beschränkte sich auf wenige Stunden am Nachmittag und das auch nur an drei Tagen in der Woche. Die beiden Jungen allerdings teilten Karinis Begeisterung nur bedingt. Vor allem Masra Martin, der ältere der beiden Jungen, maulte morgens oft, er wäre noch müde und hätte keine Lust. »Ach, nun los«, motivierte Karini ihn dann immer, wenn sie ihm frisches Wasser für die Morgentoilette brachte, die Vorhänge aufzog und den Nachttopf abholte.
»Du hast leicht reden, du musst ja nicht jeden Tag in die Schule«, erwiderte Masra Martin dann oft missmutig.
Karini versetzte diese Antwort immer einen kleinen Stich. Täglichen Unterricht hatte sie nur auf der Plantage.
In der großen Trockenzeit zwischen August und Dezember zog Karini mit ihrer Mutter und den beiden jungen Masras gemeinsam auf die Plantage Rozenburg, die mehrere Stunden flussaufwärts im Hinterland lag. Masra Henry und Masra Martin wurden im Haus von einem eigens dafür eingestellten Hauslehrer unterrichtet, und Karini ging, wie alle Kinder aus dem Arbeiterdorf, bei Tante Fiona zur Schule. Die war nicht ihre leibliche Tante, aber im Plantagendorf sprachen die Kinder alle älteren Frauen mit Tante an.
Vor dem Jahreswechsel, zu Beginn der kleinen Regenzeit, zogen die Jungen mit Karini und ihrer Mutter wieder in das Stadthaus nach Paramaribo, um dort bis August die Schule zu besuchen. Dieser Rhythmus wurde in ganz Surinam vom Klima bestimmt. Die große Regenzeit zwischen Mitte April und August brachte nicht nur schwere Gewitter, sondern auch Heerscharen an Moskitos mit sich, was in der Stadt angenehmer zu ertragen war als auf Rozenburg, das zwischen Wald und Fluss lag. Dort hingegen ließ sich die stetig zunehmende Hitze während der großen Trockenzeit besser aushalten als in der Enge der Stadt. Misi Juliette, die Mutter von Masra Henry und Ziehmutter von Masra Martin, kam zwar im Dezember zunächst mit nach Paramaribo, um die Jungen zu verabschieden und um Geschäftliches zu erledigen, lebte aber die meiste Zeit des Jahres mit ihrem Mann, Masra Jean, auf Rozenburg und reiste nur selten in die Stadt. Der Spagat zwischen Plantagen- und Stadtleben war sicher nicht leicht für die Misi, und die Trennung von den Jungen fiel ihr jedes Mal sichtlich schwer. Aber sich bequem dem gediegenen Stadtleben hinzugeben, wie andere Frauen, ohne auf der Plantage mitzuhelfen, das war nicht die Art von Misi Juliette. Sie bestieg sogar manchmal ihr Pferd und ritt in die Felder. Das war zwar eher unschicklich für eine Dame, aber ihr Einsatz hatte sich gelohnt, das hatte Karini mitbekommen. Rozenburg hielt den schlechten Zeiten in der Kolonie wacker stand. Karini war stolz, den Namen der Pflanzung auch in ihrem Nachnamen tragen zu dürfen. Misi Juliette hatte allen Sklaven Namen mit Rozen... gegeben, und Karini nannte ihren Namen gerne, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Sklaven, deren ehemalige Besitzer ihnen Nachnamen wie Faulermann oder Waschweib gegeben hatten.
Nachnamen trugen die ehemaligen Sklaven überhaupt erst seit ihrer Befreiung, sie waren seither sogar zur Pflicht geworden, auch wenn sich auf der Plantage im Alltag niemand darum scherte. Ebenso wenig wie um die Hautfarbe, die noch zu Zeiten des Sklavenstands eine wichtige Rolle gespielt hatte. In der Stadt hingegen achtete man immer noch sehr darauf, wessen Hautfarbe eine Nuance heller war, hier fühlten sich die hellhäutigeren Mulatten den tiefschwarzen, ehemaligen Arbeitssklaven immer noch überlegen. Trotzdem spürten auch sie den gesellschaftlichen Wandel, denn es ging nicht mehr darum, wer Sklave gewesen oder Mulatte war, sondern vielmehr darum, wer Arbeit hatte und wer nicht. Zumal Mulatten nach wie vor keine niederen Arbeiten und auch, wie schon zur Sklavenzeit, keine Arbeit auf den Plantagenfeldern verrichten durften. Karini wusste nicht genau, warum das so war. Ihre Mutter hatte angedeutet, dass es mit den Vätern der Mischlingskinder zusammenhing, die nicht wollten, dass ihre Kinder Sklavenarbeit verrichteten. Warum das allerdings für die Schwarzen nicht galt, verstand Karini nicht.
Karini fand manche Regelungen in der Kolonie sehr verwirrend. Sie fühlte sich eher den Weißen verbunden, außerdem waren Masra Henry und Masra Martin ihre besten Freunde.
Karinis Mutter Kiri war einmal die Leibsklavin von Misi Juliette gewesen. Nach der Abschaffung der Sklaverei hatte Misi Juliette Kiri einen Arbeitsvertrag angeboten, wie ihn von diesem Zeitpunkt an alle ehemaligen Sklaven für die Übergangszeit von zehn Jahren nachweisen mussten, und Kiri war gerne bei ihr auf Rozenburg geblieben, wie die meisten Sklaven der Plantage. Die Misi hatte einige schlimme Jahre mit ihnen durchgestanden und war immer gut und gerecht zu ihnen gewesen, sie hatte die Lebensbedingungen verbessert und sich sehr um das Allgemeinwohl im Sklavendorf gekümmert. Das war bei Weitem nicht überall so, viele der alteingesessenen Plantagenbesitzer ließen nicht von ihrem brutalen Gebaren gegenüber den ehemaligen Sklaven ab. Die langen, ledernen Peitschen, die noch an vielen Gürteln baumelten, sprachen Bände. Zur Rechenschaft wurde dafür nur selten jemand gezogen, und um die vielen Tausend ehemaligen Sklaven, die weit im Hinterland auf den Pflanzungen lebten, scherte sich in der Stadt und bei der Kolonialverwaltung niemand. Und in den Niederlanden erst recht nicht, denn auch wenn dort, im fernen Europa, die Abschaffung der Sklaverei begrüßt und gefeiert wurde, wie die Zeitungen berichteten, waren die Menschen in den Kolonien am anderen Ende der Welt schnell wieder vergessen.
Mit dem Ende der Vertragspflicht hatten sich die Verhältnisse in den vergangenen drei Jahren weiter verändert. Die ehemaligen Sklaven waren nun nicht mehr an die Plantagen oder ihre Herren gebunden, sie waren freie Einwohner der Kolonie, durften leben, wo sie wollten, und ihre Arbeitgeber selbst wählen.
Kiri war nun Angestellte der Plantage Rozenburg, sie betreute die jungen Masras und führte den Haushalt im Stadthaus. Karinis Vater Dany blieb das ganze Jahr über auf der Plantage, wo er als Vorarbeiter auf den Zuckerrohrfeldern beschäftigt war. Außerdem trieb er Handel mit den Buschnegern, wobei ihm die enge Verbindung zu seinem Vater Aiku zugutekam. Der war ein Maroon, ein freier Buschneger, der als Anführer seines Stammes tief im Regenwald lebte. Karini beschlich in Gegenwart ihres granpapa, den sie nur äußerst selten besuchte, immer ein Gefühl der Unsicherheit. Er war ihr unheimlich, weil er nicht sprach - oder nicht sprechen konnte, das wusste sie nicht so genau. Ihre Eltern verloren nie ein Wort darüber.
Karini mochte sich nicht entscheiden, was ihr besser gefiel: das Leben in der Stadt, wo immer etwas los war, es so viel Neues zu entdecken gab und auch der Unterricht bei Pater Benedikt viel anspruchsvoller war, als der von Tante Fiona, die selbst gerade einmal schreiben und ein wenig rechnen konnte; oder aber das beschauliche Leben auf der Plantage Rozenburg, wenn ihre Familie beisammen war und auch ihr Zusammenleben mit Masra Henry und Masra Martin sich anders gestaltete als in Paramaribo.
Auf der Plantage waren die beiden Jungen wie zwei große Brüder für Karini. Masra Henry war nur ein Jahr älter als sie, er war eher nachdenklich, liebte Bücher und konnte viele spannende Geschichten erzählen. Masra Martin hingegen gab sich mit seinen fast sechzehn Jahren schon mächtig erwachsen und war stets auf Abenteuersuche, dabei aber immer darauf bedacht, Masra Henry und sie selbst zu beschützen.
Hier in der Stadt aber war ihr Verhältnis anders. Die Jungen trafen sich mit ihren weißen Freunden, spielten mit ihren Mitschülern und mussten gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen, während Karini arbeitete oder die Schule besuchte. Karini war manchmal traurig, dass sie nicht dabei sein durfte, wenn die Kinder der blanken sich trafen. Sie verbrachte bei Weitem nicht mehr so viel Zeit mit den jungen Masras wie früher. Aber sie waren keine kleinen Kinder mehr, jeder hatte seine Aufgaben zu erfüllen. Sie sahen sich im Moment wirklich nur kurz in den kleinen Schulpausen der Masras. Und da war es Karinis Aufgabe, ihnen das Tablett zu reichen, zu warten, bis die beiden aufgegessen und ausgetrunken hatten, und dann das Geschirr wieder mit nach Hause zu nehmen. Mehr als das Nötigste durfte sie nicht mit ihnen reden, das war hier auf dem Schulhof unerwünscht. In der Stadt waren Kontakte zwischen den blanken und den Schwarzen immer noch nicht gerne gesehen. Die blanken blieben unter sich und hier war Karini eben nur die Tochter der schwarzen Haushälterin. Dabei war ihre Mutter ebenfalls sehr stolz auf sie, immerhin gehörte sie selbst noch zu der Generation, die auf keinen Fall hatte lesen und schreiben lernen dürfen und es bis heute nicht konnte. Nicht einmal Niederländisch hatten die Sklaven bis 1863 sprechen dürfen, obwohl es die offizielle Sprache in der Kolonie war. Auch heute noch hielt Kiri an der Sklavensprache taki-taki fest, sie sprach diese mit ihrer Tochter und mit den blanken.
Karini fiel es manchmal schwer zu verstehen, dass ihre Mutter so stark an traditionellen Sitten festhielt und nicht von sich aus neue Wege ging. So lief sie weiterhin stets barfuß und hatte auch Karini nie Schuhe gekauft. »Die brauchen wir nicht«, hatte sie lapidar geantwortet, als Karini als kleines Mädchen einmal deswegen gequengelt hatte. Sklaven war das Tragen von Schuhen stets verboten gewesen, und wie ihre Mutter hatten viele der Älteren sie später ausprobiert, für unbequem befunden und als Fußbekleidung verworfen. Auf der Plantage störte es Karini nicht, barfuß herumzulaufen, aber in der Stadt beäugte sie die Hausmädchen mit ihren glänzenden schwarzen Lackschuhen manchmal schon mit einem Gefühl von Neid.
Erleichtert bemerkte sie jetzt, dass sich endlich die große Eingangstür öffnete und eine Schar Schüler aus dem Schulgebäude strömte. Sie hüpfte vorsichtig von der Mauer und hielt das Tablett für Masra Henry und Masra Martin bereit.
Nicht mehr lange, dann würde sie nach Hause laufen können und von dort zu ihrem eigenen Unterricht.
Kapitel 2
Wie kommt dieses Tier hier nur immer herauf?« Juliette Riard schnappte sich die große Schildkröte und trug sie mit ausgestreckten Armen vor sich her, die Stufen der vorderen Veranda des Plantagenhauses hinunter. Das Tier wog schwer und strampelte eifrig mit seinen kurzen Beinen. Julie, wie sie in ihrer Kindheit gerufen worden war und heute noch von ihrem Mann genannt wurde, setzte das Reptil in den Schatten unter einen großen Busch und ließ den Blick über die Front des Haupthauses von Rozenburg schweifen. Das weiß gestrichene Holz glänzte in der Sonne und hob den Bau farblich vom satten Grün der umliegenden Landschaft ab. Ein paar Ausbesserungen waren an der Fassade nötig, bemerkte sie wieder einmal, als sie an einer Hausecke leicht grünliche Flecken entdeckte. Das Klima in diesem Land nagte auch an den Bauwerken. Und die starken Regenfälle der letzten Wochen hatten ein Übriges getan. Es war Ende Mai, und die Regenzeit würde noch einige Wochen andauern. Julie beschloss, die Arbeit in Auftrag zu geben, sobald das Wetter es zuließ. Ein paar Gulden würden sie dieses Jahr in das Haus investieren müssen. Dann blieb ihr Blick an ihrem Mann Jean hängen, der auf der Veranda über seine Unterlagen gebeugt saß. Kurz blitzte die Erinnerung an ihre ersten Zusammentreffen auf. Sie musste unwillkürlich lächeln. Damals hatten sie oft stundenlang auf dieser Veranda gesessen, Julie noch als Ehefrau von Karl Leevken und Jean als Buchhalter der Plantage Rozenburg. War es wirklich schon siebzehn Jahre her, seit sie an einem heißen Märztag das Schiff verlassen hatte? Manchmal kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, manchmal aber auch, als wäre es erst gestern gewesen. Und noch jemand war damals auf der Veranda zugegen gewesen: Nico, der Papagei, der Julie in ihren ersten Jahren als einzig guter Geist auf der Plantage begleitet hatte. Julie seufzte. Nico hatte die Plantage verlassen wie andere Geister auch. Dafür gab es nun die Schildkröte, die auf der Plantage herumkroch. Julie beobachtete, wie das Tier sich zwischen die Blätter zurückzog. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Sohn, der der Schildkröte sogar einen Namen gegeben hatte, Monks. Nach einer zwielichtigen Gestalt aus einem Abenteuerbuch, das er gerne las. Julie fand den Namen durchaus passend für das Tier, das die Angewohnheit hatte, immer wieder an Orten aufzutauchen, an denen man eine Schildkröte nicht unbedingt erwartete. Wie das Tier es schaffte, die Veranda zu erklimmen, war Julie nach wie vor ein Rätsel, es gelegentlich irgendwo im großen Plantagenhaus vorzufinden, schon keine Überraschung mehr. Als die Schildkröte es eines Tages sogar bis auf die Arbeitsplatte in Livs Küche geschafft hatte, was die schwarze Haushälterin mit lautem Gezeter und der Drohung quittiert hatte, eine schmackhafte Suppe aus dem Tier zu kochen, dünkte Julie, dass irgendjemand auf der Plantage diesem Tier bei seinen Ausflügen behilflich war. Vielleicht die Jungen? Diese hatten Monks auf jeden Fall mit angstvollem Blick schnell vor Livs Kochtopf gerettet.
Die Jungen. Ging es ihnen in der Stadt gut? Die Monate ohne sie auf der Plantage kamen Julie immer unendlich lang vor; waren sie dann vor Ort, schien die Zeit förmlich zu rasen. Julie vermisste sie schrecklich, und auch wenn sie versuchte, sich abzulenken, erinnerten überall kleine, alltägliche Dinge an die beiden und füllten ihr Herz mit Sehnsucht und, wie sie sich mehr als einmal eingestanden hatte, mit Trauer, begleitet von einem schlechten Gewissen. Julie seufzte leise, raffte ihren Rock und stieg die Stufen der Veranda wieder empor.
»Bald sind sie doch wieder da, Julie.« Jeans Stimme war voller Zärtlichkeit und Julie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er hatte wieder einmal erraten, was sie bedrückte, und hob nun den Blick von seinen Abrechnungsbüchern.
»Ja, ich weiß ... aber die letzten Wochen bis zu ihrer Ankunft kommen mir jedes Jahr wie eine Ewigkeit vor«, sagte sie leise. Sie setzte sich zu ihm und ließ ihren Blick zum Fluss gleiten. Die Regenfälle hatten für heute aufgehört, und die Sonne brachte die Luft über dem Fluss zum Dampfen. Es waren diese kurzen Momente nach den markerschütternden Gewittern der Regenzeit, in denen das Klima sich halbwegs erträglich gestaltete und an einen hitzigen Sommertag in Europa erinnerte. Allerdings würde durch die Trockenzeit schon bald die geballte Wucht der Tropenhitze zurückkommen, an die Julie sich in all den Jahren nur schwer hatte gewöhnen können. Sie brachte in ihren Augen nur ein Gutes: Die Jungen kamen nach Rozenburg.
Ihr war es nicht leichtgefallen, die Jungen in der Stadt in die Schule zu schicken. Aber die Möglichkeit, sie ganzjährig auf der Plantage unterrichten zu lassen, hatte ihr auch missfallen. Kinder in diesem Alter brauchten Kontakt zu Gleichaltrigen. Hier auf der Plantage verlief das Leben in eintönigem Gleichmaß, und Julie hatte oft genug beobachtet, dass sich die Isolation auf den Plantagen bei Heranwachsenden nachteilig auswirkte. Die eigenbrötlerischen und verzogenen Sprösslinge einiger anderer Plantagenbesitzer waren ihr Grund genug gewesen, für ihre Jungen einen anderen Weg zu wählen. Also hatte sie schweren Herzens beschlossen, Henry und Martin zumindest einen Teil des Jahres in Paramaribo wohnen und die dortige Schule besuchen zu lassen. Und sie hatte beide Jungen gleichzeitig eingeschult. Wie schnell sie doch groß geworden waren! Was sie wohl nach ihrer Schulzeit machen würden? Sie konnte sich gut vorstellen, dass Henry auf der Plantage bei Jean in die Ausbildung gehen würde, das hatte er schon mehrfach angesprochen. Aber ob Martin auch auf der Plantage bleiben wollte? Julie wusste es nicht. Es fiel ihr schwer, den Jungen zu deuten, Martin war ihr, obwohl sie ihn aufgezogen hatte, immer ein wenig fremd geblieben. Sosehr sie sich auch bemüht hatte, hatte sich der Junge ihr nie ganz geöffnet und war ein Stück unnahbar geblieben. Sie beide hatten zudem einen schwierigen Start gehabt, trotzdem liebte sie ihn so wie ihren eigenen Sohn.
Martin war damals, als die Schulzeit begann, klaglos in die Stadt gezogen. Julie hatte es nicht anders erwartet, trotzdem hatte seine spürbare Kälte sie verletzt. Henry hingegen war es sichtlich schwergefallen, sich von seinen Eltern und der Plantage zu lösen. Julie selbst ging es nicht anders, und so war sie schon im ersten Jahr zunächst mit in die Stadt gereist, ein Ritual, das sie bis heute beibehalten hatte. Sie blieb dann zumeist einige Wochen, erledigte Geschäftliches und erfüllte gesellschaftliche Verpflichtungen, bevor sie auf die Plantage zurückkehrte, um ihre Aufgaben dort wahrzunehmen. Der Abschied fiel ihr heute noch schwer, auch wenn sie jedes Mal froh war, die Stadt verlassen zu können. Sie fühlte sich dort nie besonders wohl, ließ sich das in Gegenwart der Jungen aber nicht anmerken. Die Erinnerungen an die schwere Zeit ihrer ersten Jahre in Surinam drohten sie in Paramaribo manchmal zu überwältigen, insbesondere im Stadthaus lauerten zuweilen dunkle Schatten, die sie jagten. Erinnerungen an ihren gewalttätigen ersten Mann Karl, dessen Rufe manchmal noch durch die Räume zu hallen schienen. An den Raum, in dem ihre Stieftochter, Martins Mutter Martina, gestorben war, und die Angst, welche die damalige Entführung der Kleinkinder Martin und Henry durch Martins leiblichen Vater wie einen dünnen, aber zähen Nebel hinterlassen hatte. Jean schien das Ganze nicht mehr zu berühren, doch Julie konnte das Geschehene einfach nicht vergessen.
Die Jungen hingegen kamen in der Stadt gut zurecht. Das lag nicht zuletzt an Kiri, die gut für sie sorgte und über sie wachte.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Linda Belago
- 2013, 1. Aufl., 733 Seiten, Maße: 12,6 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404168089
- ISBN-13: 9783404168088
- Erscheinungsdatum: 19.04.2013
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