Die Brooklyn-Revue
Da er literarische...
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Da er literarische Neigungen und viel Zeit hat, füllt er lose Blätter mit Geschichten menschlicher Torheiten, wie sie ihm das Leben zuträgt. Vor allem sein eigenes.
Eines Tages trifft er bei einem Bummel seinen Neffen Tom Wood, den er Jahre nicht gesehen hat. Tom scheint ziemlich auf den Hund gekommen. Er jobbt bei einem merkwürdigen Antiquar namens Harry Brightman. Auch Nathan beginnt sich öfters in dessen Antiquariat aufzuhalten; Brightman, der Nathans in Vertreterjahren erworbene Menschenkenntnis zu schätzen lernt, zieht ihn ins Vertrauen über einen Coup: Ein gut gefälschtes ''Originalmanuskript'' von Hawthornes ''Scarlet Letter'' soll an einen Millionär verkauft werden.
Nathan rät dringend ab - aber Harry ist nicht zu stoppen. Und so nimmt diese Revue ihren fatalen Lauf. Ein Rolle darin spielen auch ein schweigsames kleines Mädchen, das Tom und Nathan zuläuft, eine radikale Schar christlicher Fundamentalisten, eine Ex-Hippie-Frau mit einem Hang zu harten Drogen und nicht zuletzt eine Nachbarin, die in Nathan das Feuer einer späten Liebe entzündet.
Und alles endet an einem wunderschönen Spätsommermorgen: Die Sonne lacht friedlich vom Himmel über New York, man schreibt den 11. September 2001
Brooklyn Revue von Paul Auster
LESEPROBE
OUVERTÜRE
Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. Jemand empfahl mir Brooklyn, und so brachich am nächsten Morgen von Westchester ausauf, um das Terrain zu sondieren. Ichwar seit sechsundfünfzig Jahren nicht mehr dort gewesen und erinnerte mich an nichts. Meine Eltern waren aus derStadt fortgezogen, als ich drei war, und doch fand ich instinktiv in die Gegend zurück, in der wir damals gewohnt hatten:Wie ein verprügelter Hund schlich ich mich nach Hause, zurück an den Ort meiner Geburt. Ein Makler führte mir sechs oder sieben Apartments inBrownstonehäusern vor, und am Endedes Nachmittags hatte ich eine Zweizimmer-Gartenwohnung in der First Streetgemietet, nur einen halben Block vomProspect Park entfernt. Ich hattekeine Ahnung, wer meine Nachbarn waren, und es kümmerte mich auch nicht. Sie arbeiteten alle ganztags, keiner von ihnen hatte Kinder, daher würde es indem Gebäude relativ ruhig sein. Unddanach sehnte ich mich mehr als nachirgendetwas sonst. Nach einem stillen Ende meines traurigen, lächerlichen Lebens.
Das Haus in Bronxville war bereits verkauft, Ende des Monats sollte esgeräumt werden, und Geld wäre dann kein Problem. Meine Exfrau und ich hattenvor, den Erlös unter uns aufzuteilen, und mit vierhunderttausend Dollar würde ich mehr auf derBank haben, als ich bis zu meinem letzten Atemzug benötigte.
Anfangs wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte.Einunddreißig Jahre lang hatte ich ein Pendlerleben zwischen den Vorstädten und denManhattaner Büros der Mid-Atlantic Accident & Life geführt, und jetzt, ohneArbeit, hatte mein Tag zu viele Stunden.Etwa eine Woche nach meinem Einzugkam meine verheiratete Tochter Rachel aus New Jersey herüber, um michzu besuchen. Sie sagte, ich müsseirgendetwas tun, Pläne machen, mir etwas vornehmen. Rachel ist kein Dummkopf.Sie hat an der University of Chicago in Biochemie promoviert undarbeitet in der Forschungsabteilung einesgroßen Pharmakonzerns in der Nähe vonPrinceton, doch ähnlich wie bei ihrer Mutter vergeht selten ein Tag, andem sie etwas anderes als Platituden von sich gibt - all diese ausgelaugten Phrasen von den Müllhalden zeitgenössischer Weisheit.
Icherklärte, bis zum Jahresende sei ich wahrscheinlich längst tot, also scheiß auf irgendwelche Pläne. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Rachel zuweinen anfangen, aber sie verkniffsich die Tränen und nannte mich stattdesseneinen grausamen und egoistischen Menschen. Kein Wunder, dass «Mom» sich endlich von mir habe scheiden lassen, fügte sie hinzu, kein Wunder, dass siedas nicht mehr ausgehalten habe. DieEhe mit einem wie mir müsse eine endlose Qual gewesen sein, die Hölle aufErden. Die Hölle auf Erden. Ach, arme Rachel - sie kann einfach nicht anders. Seit neunundzwanzig Jahren bewohnt mein einziges Kinddiese Erde, und nicht ein einziges Mal in dieser Zeit hat sie eine originelle Bemerkung von sich gegeben, irgendetwas,das eindeutig und uneingeschränkt von ihr gestammt hätte.
Ja, ich glaube auch, dass ich zuweilen fies sein kann. Aber nicht immer - und nicht aus Prinzip. An guten Tagen bin ich so nett und freundlich wie nur irgendwer.Wer seine Kunden ständig vor den Kopf stößt, kann nicht so erfolgreich Lebensversicherungen verkaufen, wie ich esimmerhin drei Jahrzehnte lang getanhabe. Da muss man einfühlsam sein. Da muss man zuhören können. Da muss man dieMenschen zu bezaubern wissen. Das alles und mehr vermag ich. Ich bestreite nicht, dass ich auch meineschlechten Augenblicke hatte, aberjeder weiß doch, welche Gefahren hinter den geschlossenen Türen desFamilienlebens lauern. Es kann füralle Beteiligten Gift sein, besonders wenn man dahinter kommt, dass manwahrscheinlich von vornherein nicht für die Ehe geschaffen war. Ich hatte sehrgern Sex mit Edith, aber nach vier oder fünfJahren war die Leidenschaftverbraucht, und von da an war ich sicher kein perfekter Gatte mehr. Und wenn ich Rachel so höre, habeich auch als Vater nicht vielgetaugt. Ich möchte ihren Erinnerungen nicht widersprechen, aber dieWahrheit ist, dass ich den beiden auf meine Weise sehr zugetan war, und wennich mich gelegentlich in den Armen andererFrauen fand, habe ich diese Affären doch nie ernst genommen. Die Scheidung war nicht meine Idee. Trotz allem hatte ich vor,bis zum Ende mit Edithzusammenzubleiben. Sie war es, die nicht mehr wollte, und in Anbetracht der Sünden und Fehltritte, die ich im Lauf der Jahre beging, konnte ich ihrdaraus keinen Vorwurf machen. Dreiunddreißig Jahre hatten wir untereinem Dach gelebt, und als wir schließlich auseinander gingen, war unterm Strich kaum noch etwas übrig.
Ich hatteRachel erklärt, meine Tage seien gezählt, aber das war nur eine hitzköpfige Erwiderung auf ihre unerwünschten Ratschläge gewesen, jähzornig und völligübertrieben. Mein Lungenkrebs befand sich in Remission, und nach dem, was der Onkologe mir bei der letztenUntersuchung gesagt hatte, bestandGrund zu verhaltenem Optimismus.Das hieß jedoch nicht, dass ich ihm traute. Der Krebs hatte mir einensolchen Schock versetzt, dass ich immernoch nicht daran glaubte, die Krankheit überleben zu können. Ich hattemich aufgegeben, und nachdem mir der Tumor entfernt worden war und ich dielähmenden Torturen von Strahlenbehandlung und Chemo, die langwierigen Zustände von Übelkeit und Benommenheit, denVerlust meiner Haare, den Verlustmeiner Willenskraft, den Verlust meinerArbeit und den Verlust meiner Frau überstanden hatte, konnte ich mirkaum vorstellen, wie es weitergehen sollte.Daher Brooklyn. Daher meine unbewusste Rückkehr an den Ort, wo meineGeschichte angefangen hatte. Ich war fastsechzig Jahre alt und wusste nicht, wie viel Zeit mir noch blieb. Vielleicht noch zwanzig Jahre, vielleichtnur noch ein paar Monate. Unabhängigvon der ärztlichen Prognose meines Zustands galt für mich die Devise, nichtsmehr als selbstverständlich zu betrachten. Solange ich am Leben war, musste ich einen Weg finden, damit noch einmal vonvorn anzufangen, aber selbst wenn ich nicht mehr lange zu leben hatte, konnte ich nicht bloß herumsitzen und aufdas Ende warten. Wie üblich hattemeine wissenschaftlich ausgebildeteTochter Recht, auch wenn ich zu störrisch gewesen war, das zuzugeben.Ich musste mich beschäftigen. Ich musste meinenlahmen Hintern hochkriegen und etwas tun.
Mein Einzugfand zu Beginn des Frühjahrs statt, und in denersten Wochen füllte ich meine Zeit mit Erkundungsgängen in derNachbarschaft aus, machte lange Spaziergängeim Park und pflanzte Blumen in meinem Garten - einem kleinen, mit Unratübersäten Stückchen Erde, um das sich seitJahren niemand gekümmert hatte. Ich ließ mir im Park Slope Barbershop an derSeventh Avenue die nachgewachsenen Haare schneiden, lieh mir Videos imMovie Heaven und sah mich häufig inBrightman's Attic um, einem voll gestopften,schlecht organisierten Antiquariat, das einem schillernden Homosexuellen namens Harry Brightman gehörte (mehr über ihn später). Das Frühstückmachte ich mir meistens selbst in meiner Wohnung, aber da ich ungern kocheund auch gar kein Talent dafür habe, aß ich mittags und abends in Restaurants - immer allein, immer mit einem aufgeschlagenen Buch vor mir, immer mit großemBedacht kauend, um die Mahlzeit so lange wie möglich hinzuziehen. Nachdem ich einige Alternativen in derNähe ausprobiert hatte, wählte ich den Cosmic Diner zu meinem Stammlokal.Das Essen dort war bestenfalls mittelmäßig, aberes gab eine entzückende Kellnerin, eine Puertoricanerin namens Marina,in die ich mich sofort verknallt hatte. Sie war halb so alt wie ich und schonverheiratet, weshalb eine Affäre mit ihr fürmich nicht in Frage kam, aber sie war so herrlich anzuschauen, sofreundlich im Umgang mit mir, und sie lachteso bereitwillig über meine nicht sehr komischen Witze, dass ich mich anihren freien Tagen buchstäblich nach ihrverzehrte. Streng anthropologisch betrachtet, stellte ich fest, dassBrooklyner weniger abgeneigt sind, mit Fremdenzu sprechen, als jedes andere Völkchen, dem ich je begegnet war. Siemischen sich nach Belieben in anderer LeuteAngelegenheiten ein (alte Frauen, die junge Mütter schelten, weil sie ihre Kinder nicht warm genuganziehen; Passanten, die Hundebesitzeranschnauzen, weil sie zu fest an derLeine zerren); sie zanken sich wie geistesgestörte Vierjährige um einenParkplatz; sie verblüffen einen aus heiteremHimmel mit geistreichen Sprüchen. Eines Sonntagmorgens betrat ich ein überfülltes Deli mit dem absurden Namen La Bagel Delight. Ich wollte einenZimt-Rosinen-Bagel verlangen, aberdie Zunge gehorchte mir nicht, und es kam etwas heraus wie Zimt-Reagan. Postwendend erwiderte der jungeMann hinter der Theke: «Tut mir Leid, dieführen wir nicht. Wie wär's stattdessen mit einem Pumpernixon?» Fix. So verdammt fix, ich hätte mirfast in die Hose gemacht. (...)
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Werner Schmitz
- Autor: Paul Auster
- 2006, 1. Auflage, 352 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498000667
- ISBN-13: 9783498000660
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