Die Bruderschaft der Unsichtbaren
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Ein herrlicher Frühlingstag in einem Pariser Café: Vor den Augen zahlreicher Gäste erschießt sich plötzlich eine Frau. Was hat Mai-Brit - erfolgreiche Historikerin und glücklich verheiratete Mutter zweier Kinder - dazu veranlasst? Ihr Ex-Mann Even, ein angesehener Mathematik-Professor, glaubt nicht an Selbstmord. Erst recht nicht, als er eine an ihn adressierte Botschaft der Toten findet. Offenbar hat Mai-Brit bei ihren Recherchen zu Isaac Newton eine sensationelle Entdeckung gemacht. Even begibt sich auf eine Schnitzeljagd, die ihn quer durch Europa führt. Und schon bald ahnt er, dass Mai-Brit Newtons Geheimnis tatsächlich gelüftet hat - eine Erfindung, für die jeder morden würde ...
Die Bruderschaft der Unsichtbaren von Kurt Aust
LESEPROBE
Kapitel 2
Das Telefonklingelte, als er in der Mittagspause einen Apfel aß.
Der Satzformte sich in Evens Kopf, während er drinnen im Bürodas Läuten hörte. Er starrte auf den Apfel und schnitt eine Grimasse. Aufforderndblickte er Johan an, den Oberassistenten, mit dem er sich das Büro teilte,doch der nahm sich eine weitere Scheibe Brot mit Schinken und italienischem Salat,ohne den Blick von seiner Zeitung zu heben. Tatsächlich kam das Klingeln vonseinem eigenen Schreibtisch.
Das Telefonklingelte, als er in der Mittagspause einen Apfel aß.
DieSituation war absurd. Vermutlich ging ihm deshalb dieser Satz im Kopf herum.Es gab ein Element in diesem Satz, das rein hypothetisch zwar möglich, aberzugleich komplett abwegig war, also jeder Vernunft widersprach. Man konnte sagen,dass die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen eines solchen Ereignisses ebensogering war wie für einen Sechser im Lotto. Nicht, weil er selten angerufenwurde, auch wenn er dafür innerlich eine Rechtfertigung zu formulieren begann. Erüberhörte sie, musste sich aber eingestehen, dass er durchaus mehr Anrufe bekommenkönnte. Das Bemerkenswerte war auch nicht die Tatsache, dass er mitunter keineMittagspause machte, die vergaß er in der Regel nur ein paarmalpro Woche.
Evenblickte auf den halbgegessenen Apfel. Das war der Knackpunkt. Er aß nie Äpfel -so einfach war das.
Es war seinerster seit fünf Jahren. Fünf Jahren, sechs Monaten und siebzehn Tagen, umgenau zu sein.
EineStudentin war unmittelbar vor der Pause zu ihm gekommen, hatte sich lächelndvor ihn gestellt, ihm in die Augen geblickt und ihm dann den roten Apfelgeschenkt. Er hatte darin ein Zeichen gesehen und ihn genommen, was er gleichdarauf wieder bereut hatte, als ihm bewusst geworden war, dass er hineinbeißen sollte, kauen, schmecken ... Aber wer A sagte,musste auch B sagen ... und nun hatte er es ja bald hinter sich. Außerdem wares nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte.
Es warimmerhin schon fünf Jahre her. Und sechs Monate.
DerOberassistent sah ihn resigniert über die Zeitung hinweg an. Even stand aufund ging in sein Büro. Es klingelte zum sechsten Mal, hartnäckig und laut.Seine Hand schwebte einen Augenblick wie eine Möwe über dem Hörer, ehe er sie zueiner Faust ballte.
Mai, sagtedas Klingeln. Der Apfel, das ist ein Zeichen. Mai meldet sich.
Jetzt habeich auch noch telepathische Fähigkeiten, dachte er ärgerlich. Aberglauben undWunder überließ er anderen. Das Kerngehäuse segelte in den Papierkorb, wo essich unter dem Entwurf eines Vorlesungsskripts über Hilberts achtes Problemversteckte. Er nahm den Hörer ab.
«Even Vik.»
Es rauschtein der Leitung, als wehte ein Wind in die Sprechmuschel. Niemand antwortete.
«Hallo»,rief er. «Even Vik hier. Wer ist da? Bist du das,Mai?»
Ein leiser,erstickter Laut war durch den Hörer zu vernehmen, dann wurde es still, dasRauschen verschwand. Aufgelegt. Even ließ sich die Nummer des geradeeingegangenen Anrufs im Display anzeigen, doch die Zahlenkombination sagte ihm
nichts -jedenfalls nicht als Telefonnummer. Aber die letzten vier Ziffern bildeten einePrimzahl, 1729, die er als irgendwie einzigartig in Erinnerung hatte ... nun,egal. Andererseits ... Er nahm einen Bleistift und notierte rasch eineGleichung. Ja, sie war tatsächlich als Summe zweier Kubikzahlen auszudrücken... auf zweierlei Weise ...
Er bremstesich selbst, legte den Bleistift zur Seite und zögerte einen Moment, ehe erdie Nummer wählte. Es klingelte einmal, dann wurde der Hörer abgenommen, ohnedass sich jemand meldete. Even hörte schwere Atemzüge.
«Hallo»,sagte er leise. Er wusste nicht, warum er die Stimme senkte. Es war fast so,als wollte er mit dem Unbekannten ein Geheimnis teilen.
«Even ...»Die Stimme eines Mannes kam gepresst durch den Hörer.
«Ja», sagteEven abwartend.
«Hier ist... Mai-Brit ist tot.» Die Stimme versagte, und derHörer wurde irgendwo abgelegt. Jemand putzte sich die Nase. Even stand wiegelähmt da und wartete, bis der Hörer wieder aufgenommen wurde.
«Finn-Erik?Bist du das? Sag doch was!»
«Sie isttot», wiederholte Finn-Erik und gab sich Mühe, deutlich zu sprechen. Er atmetetief durch. «Sie hat einen Brief geschrieben, der ...»
«Tot?»,unterbrach ihn Even. «Wie ist sie gestorben? Ein Unfall? War sie krank? Jetztsag schon was, verdammt! Wenn sie krank war, warum hat mir das keiner gesagt?Ihr wisst doch, dass ich ...»
«Sie ...»Finn-Erik verstummte, atmete schwer.
Even sah,wie Johan aufstand und die Bürotür schloss. Er hielt den Hörer so fest umklammert,dass seine Hand kreideweiß war.
«Was istpassiert, Finn-Erik?», flüsterte er und spürte es in seinen Schläfen pochen.«Was ist mit ihr passiert?»
«Sie hatsich umgebracht», sagte Finn-Erik. «Sie hat ...»
«Unsinn!Mai würde niemals Selbstmord begehen!» Even versuchte zu lachen. «Sie ist dieLetzte, die so etwas tun würde. Sie ...»
«Haltverdammt nochmal dein Maul!», brüllte Finn-Erik. «Haltdein Maul und hör mir ein einziges Mal zu. Hör mir zu!»
Evenverstummte.
«Mai-Brit hat Selbstmord begangen. Daran gibt es keinen Zweifel.Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.»
Briefe kannman fälschen, dachte Even.
«Es gibtZeugen.»
Ein Zeugekann eine Situation falsch einschätzen.
«VieleZeugen. Neunzehn, sagt die Polizei in Paris.»
Polizei ...Paris? Even rieb sich die Schläfe und dachte: Warum Paris? Er hörte Finn-Erikin der Ferne etwas sagen, denn seine Hand war längst auf dem Weg nach unten, umden Hörer aufzulegen.
«Entschuldigung,ich hab dich nicht verstanden», bekam er heraus.
«Sie hateinen Brief geschrieben, und sie wollte, dass auch du ihn liest», wiederholteFinn-Erik. «Er lag im Hotel. Auf dem Schreibtisch. Ich schicke ihn dir. EineKopie. Hast du noch immer die gleiche Adresse, in Ullevål?»Die Stimme klang plötzlich gefasst, beinahe geschäftlich.
«Äh, was?Ja, natürlich, die gleiche Adresse.»
«Ichschicke ihn dir», sagte Finn-Erik und legte auf.
Even standmit dem Hörer in der Hand da und sah zu Boden. Das Linoleum war schmutzig undabgetreten, die Schreibtischplatte übersät von Brandlöchern unzähliger Zigaretten,uneben, nicht gut als Schreibunterlage. Er blickte auf die Stapel von Papieren,die überall im Zimmer lagen, gelesene, ungelesene,wartende. Er starrte in ein schwarzes Loch. Ein großes, schwarzes Loch, das Mai-Brit Fossen hieß.
© Rowohlt Verlag
Übersetzung:Maike Dörries u. Günther Frauenlob
- Autor: Kurt Aust
- 2008, 544 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Dörries, Maike; Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Maike Dörries, Günther Frauenlob
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499246325
- ISBN-13: 9783499246326
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