Die Bucht des grünen Mondes
Roman. Originalausgabe
Manaus, 1896: Gegen ihren Willen wird die junge Berlinerin Amely mit einem reichen, aber brutalen Verwandten in Brasilien verheiratet. Als sie von Indianern entführt wird, lernt Amely im Urwald, was Liebe bedeutet. Sie...
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Produktinformationen zu „Die Bucht des grünen Mondes “
Manaus, 1896: Gegen ihren Willen wird die junge Berlinerin Amely mit einem reichen, aber brutalen Verwandten in Brasilien verheiratet. Als sie von Indianern entführt wird, lernt Amely im Urwald, was Liebe bedeutet. Sie beschließt, um ihr Glück zu kämpfen.
Klappentext zu „Die Bucht des grünen Mondes “
Eine Liebe, so mächtig wie der Amazonas.Berlin, 1896: Für die junge Fabrikantentochter Amely bricht eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass ihr Vater sie mit einem deutlich älteren Verwandten verheiraten will. Kilian Wittstock ist märchenhaft reich - und er lebt am anderen Ende der Welt. Als einer der mächtigsten Kautschukbarone beherrscht er das Amazonasgebiet. Schweren Herzens macht sich Amely auf die Reise über den Ozean. In Manaus erwartet sie ein fremdes, exotisches Leben voller Luxus und ein ebenso exzentrischer wie brutaler Ehemann. Erst als ein dramatisches Ereignis sie mit dem Indianer Aymáho zusammenführt, erfährt Amely, was Liebe bedeutet. Aymáho weckt in ihr tiefe Gefühle und nie geahnte Leidenschaft. Doch ihr gemeinsames Glück ist bedroht durch ein Geheimnis, das Aymáho in sich trägt.
Eine Liebe, so mächtig wie der Amazonas.
Berlin, 1896: Für die junge Fabrikantentochter Amely bricht eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass ihr Vater sie mit einem deutlich älteren Verwandten verheiraten will. Kilian Wittstock ist märchenhaft reich - und er lebt am anderen Ende der Welt. Als einer der mächtigsten Kautschukbarone beherrscht er das Amazonasgebiet. Schweren Herzens macht sich Amely auf die Reise über den Ozean. In Manaus erwartet sie ein fremdes, exotisches Leben voller Luxus und ein ebenso exzentrischer wie brutaler Ehemann. Erst als ein dramatisches Ereignis sie mit dem Indianer Aymáho zusammenführt, erfährt Amely, was Liebe bedeutet. Aymáho weckt in ihr tiefe Gefühle und nie geahnte Leidenschaft. Doch ihr gemeinsames Glück ist bedroht durch ein Geheimnis, das Aymáho in sich trägt.
Berlin, 1896: Für die junge Fabrikantentochter Amely bricht eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass ihr Vater sie mit einem deutlich älteren Verwandten verheiraten will. Kilian Wittstock ist märchenhaft reich - und er lebt am anderen Ende der Welt. Als einer der mächtigsten Kautschukbarone beherrscht er das Amazonasgebiet. Schweren Herzens macht sich Amely auf die Reise über den Ozean. In Manaus erwartet sie ein fremdes, exotisches Leben voller Luxus und ein ebenso exzentrischer wie brutaler Ehemann. Erst als ein dramatisches Ereignis sie mit dem Indianer Aymáho zusammenführt, erfährt Amely, was Liebe bedeutet. Aymáho weckt in ihr tiefe Gefühle und nie geahnte Leidenschaft. Doch ihr gemeinsames Glück ist bedroht durch ein Geheimnis, das Aymáho in sich trägt.
Lese-Probe zu „Die Bucht des grünen Mondes “
Die Bucht des grünen Mondes von Isabel BetoPROLOG
... mehr
Hier in dieser Bucht war das Wasser ungewöhnlich klar. So sehr, dass Amely im Licht des vollen Mondes und der unzähligen Sterne die Augen der Piranhas sehen konnte, die vor ihren nackten Füßen davonstoben.
Der Stachelrochen jedoch hielt sich gerne im sandigen Grund auf. Besonders hier, wo der Sand so feinkörnig war. Bewegte sich dort drüben nicht der Grund verdächtig? Langsam ging Amely in die Knie, hob das Nachthemd und wusch sich das Blut von den Unterschenkeln. Die Piranhas witterten es und kehrten zurück, doch Amelys Hand, die das Wasser in Aufruhr brachte, verscheuchte sie. Vielleicht begriffen sie auch, dass Amely unverletzt war. Es war nicht ihr Blut.
Sie erhob sich und wrang den Saum des Nachthemdes aus. Der riesige Mond stand tief. Er näherte sich den Baumwipfeln und ließ grüne Schatten über das Wasser wandern. Es war ungewöhnlich still. Nur die Flügel der Zikadenweibchen klickten unentwegt. Und ein Fisch ließ das Wasser plätschern. Wann kam der Morgen?
Oft schon hatte sie am Tage diesen Ort gesehen - aus der Ferne, vom Fluss aus. Sie hatte an Deck ihres kleinen Dampfschiffes gesessen und sich gedacht, dass diese kleine Bucht, umgeben von aus dem Wasser ragenden Weidenstämmen, der schönste Fleck der Welt war. Nirgends auf der Welt ist es wie in Brasilien, pflegte Herr Oliveira zu sagen. Und nirgends sonst trifft einen das Leben so oft so plötzlich.
Oh, es war so wahr. So wahr ...
So viel hatte sie in den Monaten, seit sie hier war, gesehen. Doch niemals den Boto. Ein Lied kann ihn rufen, sagten die Caboclos, die Mestizen, die an den Ufern des Rio Negro hausten. Und manchmal, des Nachts, wenn eines ihrer Mädchen ans Ufer ging, um sich zu waschen, verwandelte sich der einzelgängerische Flussdelfin in einen Mann. Betörend und schön. Dann stieg er, sämtliche Stachelrochen fortscheuchend, ans Ufer. Verführte das Mädchen und lockte es hinab in die Fluten, wo die verzauberte Stadt Encante lag.
Und jetzt ist es Nacht, und ich bin hier.
Amely wandte sich vom Wasser ab, um nach ihrer Violine zu suchen. Die halb im Sand vergrabene Pistole stieß sie mit dem Fuß beiseite. Erleichterung durchflutete sie, als sie ihr geliebtes Instrument in den Händen hielt. Sorgsam wischte und blies sie den Sand herunter, tupfte mit dem Nachthemd einige Wassertropfen vom Holz. Hoffentlich hatte es keinen Schaden genommen. Bogen und Saiten waren zumindest trocken.
Sie vermied es, in das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes zu ihren Füßen zu blicken. Aus dem Augenwinkel sah sie blonde, verschwitzte Strähnen über den weit aufgerissenen Augen liegen. Mit zitternder Hand versuchte er sie fortzustreichen. Sein Bauch hob und senkte sich in heftigen Stößen. Die andere Hand krampfte sich über der blutenden Schusswunde.
«Amely», flüsterte er. «Lass mich nicht sterben.»
Amely kehrte zum Wassersaum zurück. Sanft bettete sie die Geige in der Halsbeuge und hob den Bogen. Nur das schönste Lied würde den Boto locken. Sie war entschlossen, so schön zu spielen wie noch nie.
DIE STADT DES BRENNENDEN GELDES
1896
1. Kapitel
Noch hatte der Wilde sie nicht entdeckt. Gottlob trug sie dunkle Kleidung, und das fremdartige Gebüsch, hinter dem sie sich versteckt hatte, war dicht belaubt. Er bewegte sich geschmeidig. Seine dichten Brauen auf vorgewölbten Wülsten ließen ihn bedrohlich wirken. Seine Faust umklammerte den Wurfspieß, bereit, zu erlegen, was immer sich ihm näherte. Die andere Hand befingerte nervös ein flötenähnliches Instrument, das von seinem Hals hing: ein Blasrohr - eine Waffe, die so leise wie tödlich war.
Ihr Herz schlug schnell. Hatte sie je eine furchterregendere Gestalt erblickt? Durch die Nase hatte er einen Tierzahn gestochen, der so dick war, dass sie sich fragte, wie er atmen konnte. Sogar seine Stirn verunstalteten beinerne Nadeln. Blaue und grüne Tätowierungen bedeckten die Wangen; lederne Stränge mit bunten Holzperlen umwanden Oberarme und Handgelenke. Und die Schnüre und Lappen um seine Lenden betonten sein Geschlecht. War dies überhaupt ein Mensch?
«Julius», wisperte Amely. «Julius, wo bist du?» «Nur zwei Schritte hinter dir. Bleib ganz ruhig.» Der Kopf des Indios fuhr herum, und sein Blick schien sie zu treffen. Aus dem fremdartigen Gesicht sprach Feindseligkeit. Sah er sie? Oder witterte er sie?
«Knie dich hin», flüsterte Julius.
Amely raffte den Rock. Der Stoff knisterte unnatürlich laut, dessen war sie sich sicher. Auch das Korsett saß plötzlich noch enger als sonst. Langsam ging sie in die Knie. Auf der Schulter spürte sie Julius' schweißfeuchte Hand. Sein Atem strich über ihren Nacken.
«Keine Angst, Liebes.» Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr. «Das Scheusal wird dir nichts antun. Vorher hole ich ihm nämlich mit der Flinte die Knochen aus dem Gesicht.»
«Aber wenn ... wenn du nicht triffst? Er ist bestimmt nicht allein. Hier sind noch mehr Wilde. Sie sind überall!»
«Schscht. Hast du so wenig Vertrauen in deinen Großwildjäger? Wenn's sein muss, nehme ich es mit einer ganzen Horde auf.»
Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Täuschte sie sich, oder hatte Julius tatsächlich einen Kuss auf ihre bloße Haut gehaucht, unterhalb ihres Ohrs? In dieser Situation? Sie sehnte sich danach, sich umzuwenden und ihn zu umarmen. Mehr noch, seinen Kuss zu erwidern. Aber dann spürte sie, wie er sich auf seinen Schuss zu konzentrieren begann. Sie durfte sich nicht rühren, ja, nicht einmal atmen ... Auch der Wilde war erstarrt. Er umklammerte seine Waffen, doch er machte keine Anstalten, sie zu nutzen. Als wüsste er, dass er sich dem Stärkeren zu beugen hatte.
«Was machen Sie denn da?»
Amely fuhr auf den Knien herum. Ein Schutzmann stand wie aus dem Boden gewachsen wenige Schritte entfernt. Mit seinem Schlagstock tippte er gegen ein blechernes Schild, sodass es schepperte. «Sehen Sie nicht, was hier steht? ‹Füttern und Ärgern der Exoten verboten.› Also weg mit dem Stecken, junger Mann!»
Julius ließ den Ast fallen und rückte verlegen seine Nickelbrille zurecht. Eilends half er Amely auf die Füße. Sie strich sich den bodenlangen Rock glatt, ordnete ihren Herbstpaletot und das verrutschte Barettchen auf der Hochsteckfrisur. Ihr Gesicht war vermutlich rot wie das eines Kindes, das mit den Fingern im Marmeladetopf erwischt wird. Trotzdem konnte sie das Lachen nur mit Mühe unterdrücken. Eine Entschuldigung murmelnd, traten sie durch ein Türchen zurück auf den Kiesweg. Nun erst merkte Amely, dass es nieselte, und ihre Knie fühlten sich klamm an. Sie nahm den Schirm, den sie an den Zaun gehängt hatte, und spannte ihn auf. Über die Schulter blickte sie zurück. Das Gelände dahinter war kein Dschungel mehr, sondern eine Wiese, vollgestellt mit riesigen Kübeln, in denen tropische Pflanzen wuchsen. Der Wilde hatte sich eine Decke um die Schultern geworfen. Sein Blick in den wolkenverhangenen Himmel war trübselig. Er stapfte, seinen Spieß als Stock nutzend, zu den drei Strohhütten, vor denen eine Frau und ein paar Kinder um ein Kochfeuer hockten. Auch sie trugen beinerne Schmucknadeln im Gesicht und wenig Stoff an den milchkaffeebraunen Leibern. Sie rieben ihre Füße aneinander, während sie dicke Wurzeln schnitten. Ihre Lider waren tief gesenkt. Auch als sich zwei Jungen in Matrosenanzügen näherten, um in den Kessel zu glotzen und sich gegenseitig lachend die Ellbogen in die Seiten zu hauen, hoben sie nicht den Blick.
«Sie frieren», murmelte Amely.
«Das ist ja auch ein Mistwetter heute.» Julius drehte sie an der Schulter zu sich um. «Sollen wir rüber nach Afrika? Da scheint zwar auch nicht die Sonne, aber es wird gleich ein Stammestanz aufgeführt.»
Sie dachte, dass in seinen hellen Augen, unter denen die Sommersprossen tanzten, immer die Sonne stand. Dass er tagein, tagaus im düsteren Kontor ihres Vaters, des Fahrradfabrikanten Theodor Wehmeyer, die Ärmelschoner am Schreibtisch abnutzte, konnte daran auch nichts ändern. Großwildjäger, dachte sie lächelnd. Ich war deine einzige Beute, und so bleibt's auch für den Rest unseres Lebens. «Ich möchte lieber ins Terrarium. Da soll es Pfeilgiftfrösche geben, so bunt wie Edelsteine. Oder doch erst ins Tansania-Café? Ich brauche etwas Warmes.»
«Ganz, wie du möchtest, wertes Fräulein.» Er bot ihr den Arm, und sie hakte sich unter. Die Menschen strömten über die Wege, sammelten sich an den Zäunen um die nachgebauten Neger- und Indiodörfer, schnatterten und klatschten, wenn es irgendwo wieder eine völkerkundliche Sensation zu bestaunen gab. An der Seite des Liebsten zu spazieren ließ Amely sich ungemein erwachsen fühlen. Zwar bestaunte niemand das Pärchen, denn überall gab es wesentlich Interessanteres zu sehen. Aber gerade das machte es so wahr. Plötzlich zog Julius sie hinter eines der mannshohen Plakate, die überall an den Wegen Carl Hagenbecks Exotenschau hier in Berlin anpriesen. Er war so schnell, dass sie seines Mundes erst gewahr wurde, als er fast schon ihre Lippen berührte. Hastig schob Amely die Ellbogen vor.
«Nicht! In aller Öffentlichkeit - das geht doch nicht!»
«Aber hier ist das Plakat.» Justus klopfte gegen den hölzernen Aufsteller. «Und da dein Schirm. Niemand kann uns sehen.»
Er machte Anstalten für einen zweiten Versuch. Amely erwehrte sich seiner Hände um ihre Taille. «Hör auf. Wenn nun mein Vater zufällig herschaut! Er muss ganz in der Nähe sein. Und dann ist uns ein Donnerwetter gewiss. Er hat in letzter Zeit ohnehin so eine komische Laune.»
Mit einem entsagungsvollen Seufzer ließ Julius sie los. «Gut, das Gewitter möchte ich gerne verpassen. Obwohl, in letzter Zeit wirft er gar keine Blitze mehr. Gestern hat der Lehrjunge den Ofen im Kontor mit wichtigen Papieren angefeuert, und da hat's nicht mal eine Backpfeife gesetzt. Herr Wehmeyers Kopf ist von den neuen Zeichnungen und Plänen und Listen nicht mehr wegzukriegen.»
Amely hakte sich wieder bei ihm unter, und sie flanierten weiter. «Er lebt ja schon seit jeher fürs Geschäft. Aber in letzter Zeit ist es besonders schlimm.»
«Kautschuk boomt. Da muss er mithalten, das ist heute so.»
«Kautschuk macht was?»
«Das nennt man so. Kautschuk hat Konjunktur. Das ist schon seit Jahrzehnten so, seit Charles Goodyear die Vulkanisation erfunden hat, aber im Moment sind die Preise besonders hoch. Überall braucht man heutzutage Gummi - für Reifen, Motoren, Kleidung ...»
«Schon, aber muss er jetzt diesen neumodischen Unfug bauen? Ein Fahrrad ist nützlich, aber eine Kraftdroschke? Wer soll diese teuren Dinger denn kaufen? Und wozu?»
«Also, ich habe von ein paar reichen Leuten gehört, die sich ein Automobil zugelegt haben.»
«Eben, das ist ein Spielzeug für Männer, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Und so viele gibt's davon leider nicht. Darauf will er jetzt sein Geschäft aufbauen? Und warum? Nur, weil ein Automobil im Gegensatz zu einer Pferdekutsche in zehn Minuten startbereit ist? Wann hat man es schon so eilig?»
«Liebes, die Welt will stets schneller werden, auch wenn sie es nicht muss.» Er grinste, weil sie sich so ereiferte. «Das jedenfalls hat dein Herr Papa neulich zu mir gesagt.»
«Kannst du ihn denn nicht von diesem Automobilistenunsinn abhalten?»
«Ich?» Er tat, was er täglich tausendmal tat: Er schob sich die Nickelbrille hoch. «Ich bin doch nur sein Kontorist. Aber tät er mich nach Brasilien schicken, um einen Kautschukwald für die Firma zu erschließen, ich würd's machen.»
«Du? Im Leben nicht.» Sie knuffte ihn in die Seite. «Du könntest es sowieso nicht ertragen, ohne mich zu leben.» «Du würdest natürlich mitkommen.»
«Niemals!» Sie rief es so inbrünstig, dass er sie festhielt, als fürchte er, sie könne ihm weglaufen. «So eine Völkerschau ist ja ganz spannend, aber im wahren Leben muss ich nicht auf einen Regenwaldindianer treffen. Wirklich nicht. Bleib du schön hier, du Möchtegerngroßwildjäger. Deine Zukunft sind Papiere, Tinte und Stempel.»
«Wenn es dein Wille ist, Holde, werde ich auf ewig Aktenwagen durchs Wehmeyer'sche Kontor schieben. Schau, dort ist der Herr.»
Amely winkte dem Vater, und Theodor Wehmeyer schwenkte zur Begrüßung den Hut. Er saß unter einem großen Strohdach, wo zwischen kleinen Rundtischen Neger in weißen Burnussen herumliefen und Kaffee und Kuchen servierten. Julius machte einen Diener und schob Amely formvollendet den Korbstuhl zurecht. Der Vater zog eine Zigarre aus der Westentasche und reichte sie ihm. Zu Tisch bat er ihn jedoch nicht; es gehörte sich nicht, dass ein Angestellter beim Firmeninhaber saß. Auch nicht, wenn es der zukünftige Schwiegersohn war. Julius schob die Zigarre in seine Rocktasche und wartete in angemessenem Abstand.
«Nun, Amely-Kind? Eine Fassbrause?»
«Lieber einen Kaffee. Ich hab kalte Knie.»
«Das sehe ich, dein Rock ist schmutzig. Habt ihr euch schön amüsiert, ja? Gefällt dir die Ausstellung?»
«O ja.» Sie reckte sich nach ihrem Vater und drückte einen Kuss auf seine Wange. «Danke, Papa, das ist ein schönes Geburtstagsgeschenk.»
«Die Dame hat Geburtstag?», platzte ein fliegender Händler dazwischen. Auf einem Bauchladen schob er allerlei exotischen Krimskrams vor sich her. An seiner Schulter flatterten Luftballons. «Na, da muss doch een janz besonderet Jeschenk her, nich' wahr, der Herr?»
«Möchtest du etwas, Amely?»
Amely war überrascht. Normalerweise hätte er einen so aufdringlichen Menschen mit einer ärgerlichen Handbewegung fortgeschickt. Dieser plötzliche Anflug von Freundlichkeit schürte ihre Sorge um ihn. Aber wahrscheinlich arbeitete er nur zu viel. «Gerne, Papa. Dies hier ist wunderschön.» Sie ergriff ein gläsernes Kästchen. Ein blauer Schmetterling war darin, fast größer als ihr Handteller.
«Ah, det werte Frollein kennt sich aus. Ein Morpho menelaus. Janz, janz selten. Vom Amazonas.»
Amely kannte sich kein bisschen aus, aber das Prachtstück schien wie aus einer Phantasiewelt gekommen zu sein. Wie mochte es ausgesehen haben, als es noch lebendig gewesen war - flirrend und flatternd? Es glänzte in Farben, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Allein die Größe war atemberaubend. Ihr Vater zückte sein Portemonnaie, und sie drückte das Kästchen an die Brust. Während sie ihren Kaffee trank, konnte sie den Blick kaum davon losreißen.
«So, meine Tochter», sagte der Vater, den Rauch seiner Zigarre ausstoßend. «Für die nächste Stunde gehöre ich ganz dir.»
«Eine ganze Stunde? Das glaube ich nicht.»
«Doch, doch. Was sollen wir machen? Bei den Löwen und Elefanten vorbeischauen?»
«Riesenrad fahren!» Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Von dort kannst du wenigstens nicht plötzlich ins Kontor flüchten.»
Sein Schmunzeln wirkte so unglücklich, dass ihre gute Laune augenblicklich verflog. Aber die Sonne brach zwischen den heller werdenden Wolken hervor, vielleicht war das ja ein gutes Zeichen. Sie stopfte den Schmetterling in ihr Handtäschchen und ließ den Schirm in Julius' Obhut zurück. «Ich bin solange beim Stammestanz, hörst du, die trommeln schon», sagte er. Seine Hand umschloss ihre, und sie befürchtete, dass er sie im Beisein des Vaters umarmen wollte. Doch er beschied sich damit, höflich seine Mütze zu heben. Amely lief mit Theodor Wehmeyer an der Seite hinüber zum Riesenrad. Auch dieses Abenteuer war neu für sie. Ihr Vater hingegen stieg ganz gelassen in die Gondel. Sogar hier schienen seine Gedanken weit fort zu sein.
Als die Gondel abhob, beschwerte sich ihr Magen. «Huch! Papa!» Sie schob die Hand in seine Manteltasche und lachte nervös auf. Rasch wurden die Wege, Buden und Menschen kleiner und der Septemberwind noch kühler. Zwischen den bereits herbstbunten Bäumen wirkten die Schaudörfer mit ihren großblättrigen Pflanzen wie tropische Inseln. Amely wollte Julius winken, fand ihn aber nicht mehr. Sie lehnte sich in die gepolsterte Bank, lauschte dem Stimmengemurmel und dem Knarren des Radwerks.
«Weißt du noch, die Affaire Sauciere?»
«O Gott, ja», sagte sie. «Ich spüre ja jetzt noch meinen Hintern.»
Nun, ganz so präsent war ihr die anderthalb Jahrzehnte zurückliegende Angelegenheit nicht mehr. Sie war schließlich erst sechs gewesen, als sie bei irgendeiner großen Familienfestlichkeit die Bratensoße mitsamt Soßenschüssel über den Schoß des Tischnachbarn gekippt hatte, weil er ihr unterm Tisch ständig gegen das Bein getreten hatte. «Ruben hat geheult wie ein Schlosshund, weil die Soße so heiß war, und ich hab ordentlich Dresche gekriegt. Vor allem, weil die Sauciere aus teurem Meißner gewesen war. Stimmt's?»
«So war es. Kannst du dich auch an seinen Vater erinnern? »
An Ruben erinnerte sie sich besser, weil der Fünfjährige so laut geplärrt hatte. Aber der Mann, der sich nach ihrer Schandtat über sie gebeugt, ihr in die Wange gekniffen und schallend gelacht hatte? Onkel Kilian hatte sie ihn nennen müssen, obwohl er nur der Cousin des Schwagers ihres Vaters war. Sie meinte sich an ein scharfgeschnittenes Gesicht zu erinnern, blonde strähnige Haare, einen Mund, der groß und wulstig war. «Sein Schnauzbart saß tadellos, und er hat ständig daran herumgefingert. Das weiß ich noch.»
...
Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Hier in dieser Bucht war das Wasser ungewöhnlich klar. So sehr, dass Amely im Licht des vollen Mondes und der unzähligen Sterne die Augen der Piranhas sehen konnte, die vor ihren nackten Füßen davonstoben.
Der Stachelrochen jedoch hielt sich gerne im sandigen Grund auf. Besonders hier, wo der Sand so feinkörnig war. Bewegte sich dort drüben nicht der Grund verdächtig? Langsam ging Amely in die Knie, hob das Nachthemd und wusch sich das Blut von den Unterschenkeln. Die Piranhas witterten es und kehrten zurück, doch Amelys Hand, die das Wasser in Aufruhr brachte, verscheuchte sie. Vielleicht begriffen sie auch, dass Amely unverletzt war. Es war nicht ihr Blut.
Sie erhob sich und wrang den Saum des Nachthemdes aus. Der riesige Mond stand tief. Er näherte sich den Baumwipfeln und ließ grüne Schatten über das Wasser wandern. Es war ungewöhnlich still. Nur die Flügel der Zikadenweibchen klickten unentwegt. Und ein Fisch ließ das Wasser plätschern. Wann kam der Morgen?
Oft schon hatte sie am Tage diesen Ort gesehen - aus der Ferne, vom Fluss aus. Sie hatte an Deck ihres kleinen Dampfschiffes gesessen und sich gedacht, dass diese kleine Bucht, umgeben von aus dem Wasser ragenden Weidenstämmen, der schönste Fleck der Welt war. Nirgends auf der Welt ist es wie in Brasilien, pflegte Herr Oliveira zu sagen. Und nirgends sonst trifft einen das Leben so oft so plötzlich.
Oh, es war so wahr. So wahr ...
So viel hatte sie in den Monaten, seit sie hier war, gesehen. Doch niemals den Boto. Ein Lied kann ihn rufen, sagten die Caboclos, die Mestizen, die an den Ufern des Rio Negro hausten. Und manchmal, des Nachts, wenn eines ihrer Mädchen ans Ufer ging, um sich zu waschen, verwandelte sich der einzelgängerische Flussdelfin in einen Mann. Betörend und schön. Dann stieg er, sämtliche Stachelrochen fortscheuchend, ans Ufer. Verführte das Mädchen und lockte es hinab in die Fluten, wo die verzauberte Stadt Encante lag.
Und jetzt ist es Nacht, und ich bin hier.
Amely wandte sich vom Wasser ab, um nach ihrer Violine zu suchen. Die halb im Sand vergrabene Pistole stieß sie mit dem Fuß beiseite. Erleichterung durchflutete sie, als sie ihr geliebtes Instrument in den Händen hielt. Sorgsam wischte und blies sie den Sand herunter, tupfte mit dem Nachthemd einige Wassertropfen vom Holz. Hoffentlich hatte es keinen Schaden genommen. Bogen und Saiten waren zumindest trocken.
Sie vermied es, in das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes zu ihren Füßen zu blicken. Aus dem Augenwinkel sah sie blonde, verschwitzte Strähnen über den weit aufgerissenen Augen liegen. Mit zitternder Hand versuchte er sie fortzustreichen. Sein Bauch hob und senkte sich in heftigen Stößen. Die andere Hand krampfte sich über der blutenden Schusswunde.
«Amely», flüsterte er. «Lass mich nicht sterben.»
Amely kehrte zum Wassersaum zurück. Sanft bettete sie die Geige in der Halsbeuge und hob den Bogen. Nur das schönste Lied würde den Boto locken. Sie war entschlossen, so schön zu spielen wie noch nie.
DIE STADT DES BRENNENDEN GELDES
1896
1. Kapitel
Noch hatte der Wilde sie nicht entdeckt. Gottlob trug sie dunkle Kleidung, und das fremdartige Gebüsch, hinter dem sie sich versteckt hatte, war dicht belaubt. Er bewegte sich geschmeidig. Seine dichten Brauen auf vorgewölbten Wülsten ließen ihn bedrohlich wirken. Seine Faust umklammerte den Wurfspieß, bereit, zu erlegen, was immer sich ihm näherte. Die andere Hand befingerte nervös ein flötenähnliches Instrument, das von seinem Hals hing: ein Blasrohr - eine Waffe, die so leise wie tödlich war.
Ihr Herz schlug schnell. Hatte sie je eine furchterregendere Gestalt erblickt? Durch die Nase hatte er einen Tierzahn gestochen, der so dick war, dass sie sich fragte, wie er atmen konnte. Sogar seine Stirn verunstalteten beinerne Nadeln. Blaue und grüne Tätowierungen bedeckten die Wangen; lederne Stränge mit bunten Holzperlen umwanden Oberarme und Handgelenke. Und die Schnüre und Lappen um seine Lenden betonten sein Geschlecht. War dies überhaupt ein Mensch?
«Julius», wisperte Amely. «Julius, wo bist du?» «Nur zwei Schritte hinter dir. Bleib ganz ruhig.» Der Kopf des Indios fuhr herum, und sein Blick schien sie zu treffen. Aus dem fremdartigen Gesicht sprach Feindseligkeit. Sah er sie? Oder witterte er sie?
«Knie dich hin», flüsterte Julius.
Amely raffte den Rock. Der Stoff knisterte unnatürlich laut, dessen war sie sich sicher. Auch das Korsett saß plötzlich noch enger als sonst. Langsam ging sie in die Knie. Auf der Schulter spürte sie Julius' schweißfeuchte Hand. Sein Atem strich über ihren Nacken.
«Keine Angst, Liebes.» Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr. «Das Scheusal wird dir nichts antun. Vorher hole ich ihm nämlich mit der Flinte die Knochen aus dem Gesicht.»
«Aber wenn ... wenn du nicht triffst? Er ist bestimmt nicht allein. Hier sind noch mehr Wilde. Sie sind überall!»
«Schscht. Hast du so wenig Vertrauen in deinen Großwildjäger? Wenn's sein muss, nehme ich es mit einer ganzen Horde auf.»
Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Täuschte sie sich, oder hatte Julius tatsächlich einen Kuss auf ihre bloße Haut gehaucht, unterhalb ihres Ohrs? In dieser Situation? Sie sehnte sich danach, sich umzuwenden und ihn zu umarmen. Mehr noch, seinen Kuss zu erwidern. Aber dann spürte sie, wie er sich auf seinen Schuss zu konzentrieren begann. Sie durfte sich nicht rühren, ja, nicht einmal atmen ... Auch der Wilde war erstarrt. Er umklammerte seine Waffen, doch er machte keine Anstalten, sie zu nutzen. Als wüsste er, dass er sich dem Stärkeren zu beugen hatte.
«Was machen Sie denn da?»
Amely fuhr auf den Knien herum. Ein Schutzmann stand wie aus dem Boden gewachsen wenige Schritte entfernt. Mit seinem Schlagstock tippte er gegen ein blechernes Schild, sodass es schepperte. «Sehen Sie nicht, was hier steht? ‹Füttern und Ärgern der Exoten verboten.› Also weg mit dem Stecken, junger Mann!»
Julius ließ den Ast fallen und rückte verlegen seine Nickelbrille zurecht. Eilends half er Amely auf die Füße. Sie strich sich den bodenlangen Rock glatt, ordnete ihren Herbstpaletot und das verrutschte Barettchen auf der Hochsteckfrisur. Ihr Gesicht war vermutlich rot wie das eines Kindes, das mit den Fingern im Marmeladetopf erwischt wird. Trotzdem konnte sie das Lachen nur mit Mühe unterdrücken. Eine Entschuldigung murmelnd, traten sie durch ein Türchen zurück auf den Kiesweg. Nun erst merkte Amely, dass es nieselte, und ihre Knie fühlten sich klamm an. Sie nahm den Schirm, den sie an den Zaun gehängt hatte, und spannte ihn auf. Über die Schulter blickte sie zurück. Das Gelände dahinter war kein Dschungel mehr, sondern eine Wiese, vollgestellt mit riesigen Kübeln, in denen tropische Pflanzen wuchsen. Der Wilde hatte sich eine Decke um die Schultern geworfen. Sein Blick in den wolkenverhangenen Himmel war trübselig. Er stapfte, seinen Spieß als Stock nutzend, zu den drei Strohhütten, vor denen eine Frau und ein paar Kinder um ein Kochfeuer hockten. Auch sie trugen beinerne Schmucknadeln im Gesicht und wenig Stoff an den milchkaffeebraunen Leibern. Sie rieben ihre Füße aneinander, während sie dicke Wurzeln schnitten. Ihre Lider waren tief gesenkt. Auch als sich zwei Jungen in Matrosenanzügen näherten, um in den Kessel zu glotzen und sich gegenseitig lachend die Ellbogen in die Seiten zu hauen, hoben sie nicht den Blick.
«Sie frieren», murmelte Amely.
«Das ist ja auch ein Mistwetter heute.» Julius drehte sie an der Schulter zu sich um. «Sollen wir rüber nach Afrika? Da scheint zwar auch nicht die Sonne, aber es wird gleich ein Stammestanz aufgeführt.»
Sie dachte, dass in seinen hellen Augen, unter denen die Sommersprossen tanzten, immer die Sonne stand. Dass er tagein, tagaus im düsteren Kontor ihres Vaters, des Fahrradfabrikanten Theodor Wehmeyer, die Ärmelschoner am Schreibtisch abnutzte, konnte daran auch nichts ändern. Großwildjäger, dachte sie lächelnd. Ich war deine einzige Beute, und so bleibt's auch für den Rest unseres Lebens. «Ich möchte lieber ins Terrarium. Da soll es Pfeilgiftfrösche geben, so bunt wie Edelsteine. Oder doch erst ins Tansania-Café? Ich brauche etwas Warmes.»
«Ganz, wie du möchtest, wertes Fräulein.» Er bot ihr den Arm, und sie hakte sich unter. Die Menschen strömten über die Wege, sammelten sich an den Zäunen um die nachgebauten Neger- und Indiodörfer, schnatterten und klatschten, wenn es irgendwo wieder eine völkerkundliche Sensation zu bestaunen gab. An der Seite des Liebsten zu spazieren ließ Amely sich ungemein erwachsen fühlen. Zwar bestaunte niemand das Pärchen, denn überall gab es wesentlich Interessanteres zu sehen. Aber gerade das machte es so wahr. Plötzlich zog Julius sie hinter eines der mannshohen Plakate, die überall an den Wegen Carl Hagenbecks Exotenschau hier in Berlin anpriesen. Er war so schnell, dass sie seines Mundes erst gewahr wurde, als er fast schon ihre Lippen berührte. Hastig schob Amely die Ellbogen vor.
«Nicht! In aller Öffentlichkeit - das geht doch nicht!»
«Aber hier ist das Plakat.» Justus klopfte gegen den hölzernen Aufsteller. «Und da dein Schirm. Niemand kann uns sehen.»
Er machte Anstalten für einen zweiten Versuch. Amely erwehrte sich seiner Hände um ihre Taille. «Hör auf. Wenn nun mein Vater zufällig herschaut! Er muss ganz in der Nähe sein. Und dann ist uns ein Donnerwetter gewiss. Er hat in letzter Zeit ohnehin so eine komische Laune.»
Mit einem entsagungsvollen Seufzer ließ Julius sie los. «Gut, das Gewitter möchte ich gerne verpassen. Obwohl, in letzter Zeit wirft er gar keine Blitze mehr. Gestern hat der Lehrjunge den Ofen im Kontor mit wichtigen Papieren angefeuert, und da hat's nicht mal eine Backpfeife gesetzt. Herr Wehmeyers Kopf ist von den neuen Zeichnungen und Plänen und Listen nicht mehr wegzukriegen.»
Amely hakte sich wieder bei ihm unter, und sie flanierten weiter. «Er lebt ja schon seit jeher fürs Geschäft. Aber in letzter Zeit ist es besonders schlimm.»
«Kautschuk boomt. Da muss er mithalten, das ist heute so.»
«Kautschuk macht was?»
«Das nennt man so. Kautschuk hat Konjunktur. Das ist schon seit Jahrzehnten so, seit Charles Goodyear die Vulkanisation erfunden hat, aber im Moment sind die Preise besonders hoch. Überall braucht man heutzutage Gummi - für Reifen, Motoren, Kleidung ...»
«Schon, aber muss er jetzt diesen neumodischen Unfug bauen? Ein Fahrrad ist nützlich, aber eine Kraftdroschke? Wer soll diese teuren Dinger denn kaufen? Und wozu?»
«Also, ich habe von ein paar reichen Leuten gehört, die sich ein Automobil zugelegt haben.»
«Eben, das ist ein Spielzeug für Männer, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Und so viele gibt's davon leider nicht. Darauf will er jetzt sein Geschäft aufbauen? Und warum? Nur, weil ein Automobil im Gegensatz zu einer Pferdekutsche in zehn Minuten startbereit ist? Wann hat man es schon so eilig?»
«Liebes, die Welt will stets schneller werden, auch wenn sie es nicht muss.» Er grinste, weil sie sich so ereiferte. «Das jedenfalls hat dein Herr Papa neulich zu mir gesagt.»
«Kannst du ihn denn nicht von diesem Automobilistenunsinn abhalten?»
«Ich?» Er tat, was er täglich tausendmal tat: Er schob sich die Nickelbrille hoch. «Ich bin doch nur sein Kontorist. Aber tät er mich nach Brasilien schicken, um einen Kautschukwald für die Firma zu erschließen, ich würd's machen.»
«Du? Im Leben nicht.» Sie knuffte ihn in die Seite. «Du könntest es sowieso nicht ertragen, ohne mich zu leben.» «Du würdest natürlich mitkommen.»
«Niemals!» Sie rief es so inbrünstig, dass er sie festhielt, als fürchte er, sie könne ihm weglaufen. «So eine Völkerschau ist ja ganz spannend, aber im wahren Leben muss ich nicht auf einen Regenwaldindianer treffen. Wirklich nicht. Bleib du schön hier, du Möchtegerngroßwildjäger. Deine Zukunft sind Papiere, Tinte und Stempel.»
«Wenn es dein Wille ist, Holde, werde ich auf ewig Aktenwagen durchs Wehmeyer'sche Kontor schieben. Schau, dort ist der Herr.»
Amely winkte dem Vater, und Theodor Wehmeyer schwenkte zur Begrüßung den Hut. Er saß unter einem großen Strohdach, wo zwischen kleinen Rundtischen Neger in weißen Burnussen herumliefen und Kaffee und Kuchen servierten. Julius machte einen Diener und schob Amely formvollendet den Korbstuhl zurecht. Der Vater zog eine Zigarre aus der Westentasche und reichte sie ihm. Zu Tisch bat er ihn jedoch nicht; es gehörte sich nicht, dass ein Angestellter beim Firmeninhaber saß. Auch nicht, wenn es der zukünftige Schwiegersohn war. Julius schob die Zigarre in seine Rocktasche und wartete in angemessenem Abstand.
«Nun, Amely-Kind? Eine Fassbrause?»
«Lieber einen Kaffee. Ich hab kalte Knie.»
«Das sehe ich, dein Rock ist schmutzig. Habt ihr euch schön amüsiert, ja? Gefällt dir die Ausstellung?»
«O ja.» Sie reckte sich nach ihrem Vater und drückte einen Kuss auf seine Wange. «Danke, Papa, das ist ein schönes Geburtstagsgeschenk.»
«Die Dame hat Geburtstag?», platzte ein fliegender Händler dazwischen. Auf einem Bauchladen schob er allerlei exotischen Krimskrams vor sich her. An seiner Schulter flatterten Luftballons. «Na, da muss doch een janz besonderet Jeschenk her, nich' wahr, der Herr?»
«Möchtest du etwas, Amely?»
Amely war überrascht. Normalerweise hätte er einen so aufdringlichen Menschen mit einer ärgerlichen Handbewegung fortgeschickt. Dieser plötzliche Anflug von Freundlichkeit schürte ihre Sorge um ihn. Aber wahrscheinlich arbeitete er nur zu viel. «Gerne, Papa. Dies hier ist wunderschön.» Sie ergriff ein gläsernes Kästchen. Ein blauer Schmetterling war darin, fast größer als ihr Handteller.
«Ah, det werte Frollein kennt sich aus. Ein Morpho menelaus. Janz, janz selten. Vom Amazonas.»
Amely kannte sich kein bisschen aus, aber das Prachtstück schien wie aus einer Phantasiewelt gekommen zu sein. Wie mochte es ausgesehen haben, als es noch lebendig gewesen war - flirrend und flatternd? Es glänzte in Farben, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Allein die Größe war atemberaubend. Ihr Vater zückte sein Portemonnaie, und sie drückte das Kästchen an die Brust. Während sie ihren Kaffee trank, konnte sie den Blick kaum davon losreißen.
«So, meine Tochter», sagte der Vater, den Rauch seiner Zigarre ausstoßend. «Für die nächste Stunde gehöre ich ganz dir.»
«Eine ganze Stunde? Das glaube ich nicht.»
«Doch, doch. Was sollen wir machen? Bei den Löwen und Elefanten vorbeischauen?»
«Riesenrad fahren!» Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Von dort kannst du wenigstens nicht plötzlich ins Kontor flüchten.»
Sein Schmunzeln wirkte so unglücklich, dass ihre gute Laune augenblicklich verflog. Aber die Sonne brach zwischen den heller werdenden Wolken hervor, vielleicht war das ja ein gutes Zeichen. Sie stopfte den Schmetterling in ihr Handtäschchen und ließ den Schirm in Julius' Obhut zurück. «Ich bin solange beim Stammestanz, hörst du, die trommeln schon», sagte er. Seine Hand umschloss ihre, und sie befürchtete, dass er sie im Beisein des Vaters umarmen wollte. Doch er beschied sich damit, höflich seine Mütze zu heben. Amely lief mit Theodor Wehmeyer an der Seite hinüber zum Riesenrad. Auch dieses Abenteuer war neu für sie. Ihr Vater hingegen stieg ganz gelassen in die Gondel. Sogar hier schienen seine Gedanken weit fort zu sein.
Als die Gondel abhob, beschwerte sich ihr Magen. «Huch! Papa!» Sie schob die Hand in seine Manteltasche und lachte nervös auf. Rasch wurden die Wege, Buden und Menschen kleiner und der Septemberwind noch kühler. Zwischen den bereits herbstbunten Bäumen wirkten die Schaudörfer mit ihren großblättrigen Pflanzen wie tropische Inseln. Amely wollte Julius winken, fand ihn aber nicht mehr. Sie lehnte sich in die gepolsterte Bank, lauschte dem Stimmengemurmel und dem Knarren des Radwerks.
«Weißt du noch, die Affaire Sauciere?»
«O Gott, ja», sagte sie. «Ich spüre ja jetzt noch meinen Hintern.»
Nun, ganz so präsent war ihr die anderthalb Jahrzehnte zurückliegende Angelegenheit nicht mehr. Sie war schließlich erst sechs gewesen, als sie bei irgendeiner großen Familienfestlichkeit die Bratensoße mitsamt Soßenschüssel über den Schoß des Tischnachbarn gekippt hatte, weil er ihr unterm Tisch ständig gegen das Bein getreten hatte. «Ruben hat geheult wie ein Schlosshund, weil die Soße so heiß war, und ich hab ordentlich Dresche gekriegt. Vor allem, weil die Sauciere aus teurem Meißner gewesen war. Stimmt's?»
«So war es. Kannst du dich auch an seinen Vater erinnern? »
An Ruben erinnerte sie sich besser, weil der Fünfjährige so laut geplärrt hatte. Aber der Mann, der sich nach ihrer Schandtat über sie gebeugt, ihr in die Wange gekniffen und schallend gelacht hatte? Onkel Kilian hatte sie ihn nennen müssen, obwohl er nur der Cousin des Schwagers ihres Vaters war. Sie meinte sich an ein scharfgeschnittenes Gesicht zu erinnern, blonde strähnige Haare, einen Mund, der groß und wulstig war. «Sein Schnauzbart saß tadellos, und er hat ständig daran herumgefingert. Das weiß ich noch.»
...
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Autoren-Porträt von Isabel Beto
Beto, IsabelIsabel Beto arbeitete als Malerin, bevor sie anfing zu schreiben. Die Farben Südamerikas haben sie schon immer besonders fasziniert, und sie liebt es, ganz in ihren Geschichten und Bildern abzutauchen und so fremde, exotische Welten erleben zu können.
Bibliographische Angaben
- Autor: Isabel Beto
- 2012, 2. Aufl., 541 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499257017
- ISBN-13: 9783499257018
- Erscheinungsdatum: 01.12.2011
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