Die drei Leben des Michele Sparacino
Illustriert von Roberto Innocenti
Eine wunderschöne Geschichte zum Lachen und zum Weinen
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Produktinformationen zu „Die drei Leben des Michele Sparacino “
Eine wunderschöne Geschichte zum Lachen und zum Weinen
Klappentext zu „Die drei Leben des Michele Sparacino “
Michele Sparacino wird Schlag Mitternacht im Januar des Jahres 1898 in einem kleinen Ort auf Sizilien geboren. Als sein Vater am nächsten Tag die Geburt des Sohnes melden möchte, löst die Frage nach der genauen Uhrzeit einen handfesten Skandal aus, der für die Menschen im Ort, besonders aber für das Leben des kleinen Michele ungeahnte Folgen haben soll. Die Geschichte eines kleinen Jungen, der unfreiwillig zur Legende wurde - ein Meisterwerk des Autors.Andrea Camilleri im Gespräch mit Francesco Piccolo - das gesamte Interview lesen Sie hier.
Lese-Probe zu „Die drei Leben des Michele Sparacino “
Die drei Leben des Michele Sparacino von Andrea CamilleriI
MICHELE S PARACINO ERBLICKTE Punkt Mitternacht zwischen dem dritten und dem vierten Januar 1898 das Licht der Welt. Wenn man sagt, er erblickte das Licht der Welt, ist das nicht wörtlich zu nehmen, denn abgesehen davon, dass es tiefe Nacht war, war das Einzige, was einen schwachen Lichtschein in diesem einen Raum gab, in dem die Familie Sparacino zusammenwohnte, Vater, Mutter und sieben Kinder, einschließlich Michele, eine angezündete, in einen Flaschenhals gepfropfte Kerze. Doch auch dieses Mal waren Signora Ersilia, die Mutter, wie auch ihre älteste Tochter Tonina von vierzehn Jahren durchaus imstande, alleine zurechtzukommen, weil Nanà, das Familienoberhaupt, sturzbetrunken eingeschlafen war, so wie jeden Abend.
Und die anderen Kinder waren keine Hilfe. Das erste Problem, das Michele der Gesellschaft zumutete, ergab sich, als sein Vater ihn ins Geburtenregister eintragen lassen wollte.
»Wann wurde der Junge geboren?«, fragte der Beamte. »Meine Frau sagt mir Punkt Mitternacht zwischen dem Dritten und dem Vierten.«
»Habt ihr im Haus einen Wecker, eine Uhr?«
»Neenich.«
»Wie will sie dann wissen, dass es Punkt Mitternacht war?«
»Nu ja.«
»Was soll ich denn schreiben? Den Dritten oder den Vierten?«
»Nu ja.«
»Ich schreib den Dritten.« Nanà dachte einen Augenblick nach, während der Beamte die Feder ins Tintenfass tunkte.
»'tschuldigung vielmals, aber warum wollen Sie ihn einen Tag älter machen?«
»Ich will niemanden zu gar nichts machen. Entscheiden Sie sich: den Dritten oder den Vierten?«
»Nu ja.«
»Dann schreib ich also den Vierten.« Nanà redete, während der andere die Feder wieder ins Tintenfass tunkte: »Hören Sie bitte,
... mehr
können Sie nicht bis morgen warten, damit ich erst mal mit meiner Frau darüber reden kann?«
Der Beamte warf den Federhalter in die Luft, der, als er wieder herunterfiel, einen Klecks auf dieser Seite im Register machte. Der Beamte fluchte blind drauflos. Nanà kehrte nach Hause zurück und war wütend auf Ersilia.
»Da hast du mich ja ganz schön blöd aussehen lassen! Was soll ich denn dem vom Geburtenregister jetzt sagen? Am Dritten oder am Vierten?«
»Besser am Vierten.« Am nächsten Morgen kehrte Nanà wieder zum Geburtenregister zurück. »Signore mio, meine Frau hat mir erklärt, dass, während mein Sohn auf die Welt kam, die Uhr des Rathauses Mitternacht schlug. Und weil wir's uns daher aussuchen können, haben wir beschlossen, dass er am Vierten geboren wurde.«
Der Beamte sagte nichts, doch ins Register schrieb er eine Drei. Nanà, der die Zahlen bis zehn kannte, wurde wütend.
»Vier habe ich Euch gesagt!«
»Amico mio, die Uhr des Rathauses geht reichlich zehn Minuten vor. Somit ...«
»Und woher wollt Ihr das wissen?«
»Weil ich die hier habe.«
Aus seiner Westentasche zog der Beamte eine große Taschenuhr, auf deren Deckel ein qualmender Zug eingraviert war.
»Diese hier«, fuhr der Beamte fort, »ist eine Uhr der Staatsbahnen. Die geht auf die Sekunde genau.« Am selben Abend gab Nanà eine Runde für die Freunde aus der Taverne von Bonsignore aus, um Micheles Geburt zu feiern. Ein Junge ist doch immer wieder ein großes Ereignis, auch wenn er nach sechs anderen Kindern eintrifft. Und so kam es, dass er die Geschichte erzählte, die auf dem Geburtenregister geschehen war.
Da fragte Oreste Pilocco: »Bist du dir auch sicher, dass die Rathausuhr zehn Minuten vorgeht?«
»Ich bin mir über gar nichts sicher. Doch als der Beamte mir seine Uhr gezeigt hat, fehlten noch zehn Minuten bis halb, wohingegen die Rathausuhr bereits halb schlug.«
»Wie spät ist es?«, fragte Oreste wieder. »Bis Mitternacht ist's noch 'ne halbe Stunde«, antwortete ihm Bonsignore. Daraufhin trank Oreste noch zwei Glas Wein, und um Viertel vor Mitternacht ging er, nachdem er sich von seinen Freunden verabschiedet hatte, zum Hafen.
Das Postschiff Vigatà-Lampedusa war schon bereit auszulaufen. Die Abfahrtszeit war Punkt Mitternacht. Nach einer Weile hörte Oreste, wie die Rathausuhr zwölf schlug.
Doch das Postschiff machte keine Anstalten abzulegen. Nachdem zehn Minuten vergangen waren, ließ das Dampfschiff ein langes Pfeifen seiner Sirene ertönen und begann mit den Auslaufmanövern. Also hatte der Beamte recht, die Rathausuhr ging zehn Minuten vor. Vor fünf Jahren hatte Oreste Pilocco sich eineinhalb Jahre Gefängnis eingehandelt, weil er alle, die im Hafen arbeiteten, dazu anhielt, bei den Streiks der sizilianischen Bündler mitzumachen, und war als »gefährlich subversiv« in die Kartei eingegangen.
In jener Nacht gönnte er sich zwei Stunden Schlaf und machte sich dann zu dem weitläufigen Marstall der Marchesi Giannertoni auf, der außerhalb des Ortes, in der Nähe des Friedhofs lag. In dem Marstall waren zweihundert Karren und zweihundert Maultiere untergebracht. Sobald die Rathausuhr die dritte Stunde in der Frühe schlug, stellten die Karrenkutscher Karren und Maultiere zusammen und machten sich zur Mine Trabonella auf, um den geförderten Schwefel aufzuladen und zu den Lagerhallen am Hafen zu fahren.
Oreste sah die Karrenkutscher hineingehen, doch sobald es Viertel nach drei war und die ersten Karren bereit waren wegzufahren, sprang er auf einen schon gerichteten Karren und rief mit gewaltiger Stimme: »Hört alle her! Die Rathausuhr geht zehn Minuten vor!«
Nachdem die erste Verwunderung vorüber war, fragte einer der Karrenkutscher: »Was zum Teufel geht uns das an?«
»Nein, nicht so! Denn das geht euch sehr wohl was an! Denkt doch nach! Wenn ihr Schlag drei mit eurer Arbeit anfangt, bedeutet das, dass ihr zehn Minuten früher angefangen habt. Und das bedeutet, dass ihr an sechs Arbeitstagen eurem Padrone eine Stunde geschenkt habt! In einem Monat habt ihr ihm vier Stunden geschenkt! In drei Monaten einen ganzen Arbeitstag, der euch weder anerkannt noch bezahlt wird!«
»Verdammt! Das ist richtig!«, sagte der eine und der andere. Zufrieden mit dem Ergebnis sprang Oreste von dem Karren herunter und ging wieder schlafen. Ein wildes Durcheinander brach los. Die Karrenkutscher verlangten vom Marchese die Bezahlung des zusätzlichen Tages, und zwar von Beginn an, was bedeutete: seit fünf Jahren, das heißt seit dem letzten Mal, als die Uhr überprüft worden war. Der Marchese weigerte sich. Die Karrenkutscher streikten. Aus Solidarität mit den Karrenkutschern streikten auch die Bergleute. Und aus Solidarität mit den Bergleuten streikten auch die Träger, das waren diejenigen, die sich den Schwefel auf die Schultern luden und ihn bis zu den Booten trugen. Und es streikten auch alle die, die in Vigatà zu den Stunden arbeiten gingen, zu denen die Uhr schlug: alle, die in den Backstuben das Brot machten, die den Müll wegschafften, die Lehrer in den Grundschulen, alle städtischen Angestellten und andere ...
Mit einem Wort: ein einziges Chaos. Von Palermo wurde eilig ein Journalist nach Vigatà geschickt, der sich informieren sollte, was sich in dieser Gegend da tat. Und vor lauter Fragen bei diesen und bei jenen verstand der Journalist am Ende überhaupt nichts mehr und brachte alles durcheinander. Und so schrieb er einen Artikel, der die ganze Schuld an diesem Zustand »dem allgemein bekannten subversiven Aufhetzer Michele Sparacino« gab.
Daraus entstand sogar eine subtile juristische Frage, die Rechtsanwälte von Rang und Namen beschäftigte.
Vier Jahre zuvor nämlich war dem Barone Giuggiù Malatesta um fünf Uhr fünf ein Junge geboren worden. Bei der Geburt war auch der Notar Carmelo Lòllaro zugegen, denn diese Geburt war eine außerordentlich heikle Angelegenheit. Das Testament des Barons Malatesta senior legte nämlich fest, dass, sofern sein Erstgeborener Giuggiù keinen Sohn innerhalb und nicht später als fünf Uhr morgens am Tag des fünfzehnten März achtzehnhundertvierundneunzig habe, sein Erbteil an den Zweitgeborenen Attilio übergehen würde. Und es war Attilio, der den Notar Lòllaro geschickt hatte, denn er befürchtete, dass Giuggiù ihn betrügen könnte. Um nun aber festlegen zu können, dass der Junge nach fünf Uhr geboren wurde, hatte sich der Notar auf die Rathausuhr verlassen. Und weil der Beamte des Geburtenregisters nicht derselbe mit der Eisenbahneruhr war, war Giuggiùs Sohn mit der Geburtszeit fünf Uhr fünf eingetragen worden. Und Giuggiù Malatesta hatte das Erbe verloren.
Doch jetzt, da man erfahren hatte, dass die Uhr zehn Minuten vor ging, hatte Giuggiùs Rechtsanwalt einen Antrag eingebracht und die Rückgabe des Erbes verlangt, weil der Junge ja eigentlich um fünf Minuten vor fünf geboren worden war. Der Rechtsanwalt von Attilio Malatesta brachte einen Gegenantrag ein und begründete ihn mit dem Umstand, dass keiner in der Lage sei zu sagen, ob die Rathausuhr schon vor vier Jahren zehn Minuten vor ging oder ob sie diese zehn Minuten nach und nach im Lauf der fünf Jahre seit der Überprüfung angesammelt habe. Und dann gab er zu bedenken, dass, wenn der Antrag der Gegenpartei positiv beschieden würde, ein Durcheinander ohnegleichen ausbrechen würde, weil jeder in den zurückliegenden fünf Jahren abgeschlossene Vertrag angefochten werden könne.
Um ein Ende des Streiks herbeizuführen, hatte Marchese Giannertoni unterdessen eine Vereinbarung auf der Grundlage getroffen, dass er den Karrenkutschern die Hälfte von ihren Forderungen zahlte. Und gleichzeitig reichte sein Rechtsanwalt Klage gegen die Gemeinde ein. In nicht einmal zwei Wochen erhielt die Gemeindeverwaltung von Vigatà zwölf vorerst gütliche Forderungen auf Schadensersatz. Sollte die Antwort jedoch negativ ausfallen, würde man vor Gericht ziehen.
Bevor der Bürgermeister seinen Rücktritt einreichte, tat er zwei Dinge. Als Erstes forderte er von der Firma, die den Zuschlag für die Instandhaltung der Uhr bekommen hatte, eine exorbitante Summe als Schadensersatz. Und als Zweites feuerte er den Beamten des Geburtenregisters wegen »Störung der öffentlichen Ordnung«.
Der schon erwähnte Journalist aus Palermo traf ein, ließ sich die Dinge erzählen, verstand nichts von dem, was er hörte, und schrieb einen Artikel mit der Überschrift: Der bekannte Aufhetzer Michele Sparacino sorgt für weiteren sozialen Schaden in Vigatà. Er wollte schon nach Palermo zurückkehren, als ihn ein Telegramm seines Chefredakteurs erreichte: »Dringend Interview mit Sparacino«.
Der Journalist, welcher Liborio Sparuto hieß, begann zu fragen, wo er diesen Sparacino finden könne. Doch keiner von denen, die er angesprochen hatte, wusste auf Ehr und Gewissen etwas über ihn. Da schrieb er einen weiteren Artikel, in welchem er erzählte, wie die gesamte Bevölkerung von Vigatà Sparacino schütze, indem sie eine Mauer des Schweigens um ihn errichte.
Der Chefredakteur schickte wutentbrannt ein zweites Telegramm: »Betrachten Sie sich als gefeuert, sollte das Interview nicht zustande kommen«. Was konnte der arme Sparuto also machen? Er schrieb das Interview. Darin sagte er, er sei mit verbundenen Augen von zwei geheimnisvollen Männern in eine Grotte geführt worden. Hier hätten die beiden ihm die Binde abgenommen und alleine gelassen. In der Grotte habe er ein Strohlager zum Schlafen gesehen, eine Petroleumlampe, einen kleinen Tisch und zwei Stühle. An einer Wand habe ein Schriftzug gestanden, der besagte: »Tod den Bonzen!« Nachdem er ungefähr fünf Minuten gewartet habe, sei Sparacino mit zwei Luparas bewaffnet aufgetaucht.
Sparuto beschrieb ihn als einen noch nicht einmal zwanzigjährigen Jungen, mit finsteren Augen, die einem Angst und Schrecken einjagen würden. Das Gespräch sei nur kurz gewesen. Sparacino habe gesagt, dass er keine Zeit mit Zeitungen zu verlieren habe, dass er nur eine sehr genaue Vorstellung habe: den Tod aller Bonzen und die Gleichheit aller Menschen.
Und für dieses Ziel würde er kämpfen und die ganze Provinz mit Eisen und Feuer überziehen, bis zum Tode, vor welchem er sich nicht fürchte, weil er nicht an Gott glaube.
Am Ende des Interviews fügte der Journalist nur einen Kommentar an: »Von einem Mann dieses Schlags kann für alle nur großer Schaden kommen.« Fast hätte den Präfekten von Montelusa, zu dessen Provinz Vigatà gehörte, der Schlag getroffen, als er die Zeitung las. Und er gab Befehl, den Sparacino unverzüglich zu verhaften, und dem Journalisten Sparuto gab er Anweisung, sich nicht von Vigatà zu entfernen, weil er als Einziger imstande sei, den subversiven Schreckensmenschen zu erkennen. Natürlich fand man auch nach drei Tagen, in denen das gesamte Land rings um Vigatà Zentillimeter für Zentillimeter abgesucht worden war, die bewusste Grotte nicht.
Die Carabinieri verhafteten bei dieser Gelegenheit aber drei Untergetauchte. Allerdings hatte keiner von ihnen jemals den gefährlichen Umstürzler kennengelernt. Sparutos Artikel titelte: Sparacino nicht zu fassen. Bei den Wahlen gingen zum ersten Mal die Sozialisten als Sieger hervor.
Und Sparuto schrieb, Sparacino habe die Gemeinde von Vigatà der Linken ausgeliefert. Unterdessen trank Michele Sparacino die Milch seiner Mutter und wuchs zusehends vor den Augen aller. Und ganz sicher sollte er einmal ein schöner, kräftiger Junge werden.
Der Beamte warf den Federhalter in die Luft, der, als er wieder herunterfiel, einen Klecks auf dieser Seite im Register machte. Der Beamte fluchte blind drauflos. Nanà kehrte nach Hause zurück und war wütend auf Ersilia.
»Da hast du mich ja ganz schön blöd aussehen lassen! Was soll ich denn dem vom Geburtenregister jetzt sagen? Am Dritten oder am Vierten?«
»Besser am Vierten.« Am nächsten Morgen kehrte Nanà wieder zum Geburtenregister zurück. »Signore mio, meine Frau hat mir erklärt, dass, während mein Sohn auf die Welt kam, die Uhr des Rathauses Mitternacht schlug. Und weil wir's uns daher aussuchen können, haben wir beschlossen, dass er am Vierten geboren wurde.«
Der Beamte sagte nichts, doch ins Register schrieb er eine Drei. Nanà, der die Zahlen bis zehn kannte, wurde wütend.
»Vier habe ich Euch gesagt!«
»Amico mio, die Uhr des Rathauses geht reichlich zehn Minuten vor. Somit ...«
»Und woher wollt Ihr das wissen?«
»Weil ich die hier habe.«
Aus seiner Westentasche zog der Beamte eine große Taschenuhr, auf deren Deckel ein qualmender Zug eingraviert war.
»Diese hier«, fuhr der Beamte fort, »ist eine Uhr der Staatsbahnen. Die geht auf die Sekunde genau.« Am selben Abend gab Nanà eine Runde für die Freunde aus der Taverne von Bonsignore aus, um Micheles Geburt zu feiern. Ein Junge ist doch immer wieder ein großes Ereignis, auch wenn er nach sechs anderen Kindern eintrifft. Und so kam es, dass er die Geschichte erzählte, die auf dem Geburtenregister geschehen war.
Da fragte Oreste Pilocco: »Bist du dir auch sicher, dass die Rathausuhr zehn Minuten vorgeht?«
»Ich bin mir über gar nichts sicher. Doch als der Beamte mir seine Uhr gezeigt hat, fehlten noch zehn Minuten bis halb, wohingegen die Rathausuhr bereits halb schlug.«
»Wie spät ist es?«, fragte Oreste wieder. »Bis Mitternacht ist's noch 'ne halbe Stunde«, antwortete ihm Bonsignore. Daraufhin trank Oreste noch zwei Glas Wein, und um Viertel vor Mitternacht ging er, nachdem er sich von seinen Freunden verabschiedet hatte, zum Hafen.
Das Postschiff Vigatà-Lampedusa war schon bereit auszulaufen. Die Abfahrtszeit war Punkt Mitternacht. Nach einer Weile hörte Oreste, wie die Rathausuhr zwölf schlug.
Doch das Postschiff machte keine Anstalten abzulegen. Nachdem zehn Minuten vergangen waren, ließ das Dampfschiff ein langes Pfeifen seiner Sirene ertönen und begann mit den Auslaufmanövern. Also hatte der Beamte recht, die Rathausuhr ging zehn Minuten vor. Vor fünf Jahren hatte Oreste Pilocco sich eineinhalb Jahre Gefängnis eingehandelt, weil er alle, die im Hafen arbeiteten, dazu anhielt, bei den Streiks der sizilianischen Bündler mitzumachen, und war als »gefährlich subversiv« in die Kartei eingegangen.
In jener Nacht gönnte er sich zwei Stunden Schlaf und machte sich dann zu dem weitläufigen Marstall der Marchesi Giannertoni auf, der außerhalb des Ortes, in der Nähe des Friedhofs lag. In dem Marstall waren zweihundert Karren und zweihundert Maultiere untergebracht. Sobald die Rathausuhr die dritte Stunde in der Frühe schlug, stellten die Karrenkutscher Karren und Maultiere zusammen und machten sich zur Mine Trabonella auf, um den geförderten Schwefel aufzuladen und zu den Lagerhallen am Hafen zu fahren.
Oreste sah die Karrenkutscher hineingehen, doch sobald es Viertel nach drei war und die ersten Karren bereit waren wegzufahren, sprang er auf einen schon gerichteten Karren und rief mit gewaltiger Stimme: »Hört alle her! Die Rathausuhr geht zehn Minuten vor!«
Nachdem die erste Verwunderung vorüber war, fragte einer der Karrenkutscher: »Was zum Teufel geht uns das an?«
»Nein, nicht so! Denn das geht euch sehr wohl was an! Denkt doch nach! Wenn ihr Schlag drei mit eurer Arbeit anfangt, bedeutet das, dass ihr zehn Minuten früher angefangen habt. Und das bedeutet, dass ihr an sechs Arbeitstagen eurem Padrone eine Stunde geschenkt habt! In einem Monat habt ihr ihm vier Stunden geschenkt! In drei Monaten einen ganzen Arbeitstag, der euch weder anerkannt noch bezahlt wird!«
»Verdammt! Das ist richtig!«, sagte der eine und der andere. Zufrieden mit dem Ergebnis sprang Oreste von dem Karren herunter und ging wieder schlafen. Ein wildes Durcheinander brach los. Die Karrenkutscher verlangten vom Marchese die Bezahlung des zusätzlichen Tages, und zwar von Beginn an, was bedeutete: seit fünf Jahren, das heißt seit dem letzten Mal, als die Uhr überprüft worden war. Der Marchese weigerte sich. Die Karrenkutscher streikten. Aus Solidarität mit den Karrenkutschern streikten auch die Bergleute. Und aus Solidarität mit den Bergleuten streikten auch die Träger, das waren diejenigen, die sich den Schwefel auf die Schultern luden und ihn bis zu den Booten trugen. Und es streikten auch alle die, die in Vigatà zu den Stunden arbeiten gingen, zu denen die Uhr schlug: alle, die in den Backstuben das Brot machten, die den Müll wegschafften, die Lehrer in den Grundschulen, alle städtischen Angestellten und andere ...
Mit einem Wort: ein einziges Chaos. Von Palermo wurde eilig ein Journalist nach Vigatà geschickt, der sich informieren sollte, was sich in dieser Gegend da tat. Und vor lauter Fragen bei diesen und bei jenen verstand der Journalist am Ende überhaupt nichts mehr und brachte alles durcheinander. Und so schrieb er einen Artikel, der die ganze Schuld an diesem Zustand »dem allgemein bekannten subversiven Aufhetzer Michele Sparacino« gab.
Daraus entstand sogar eine subtile juristische Frage, die Rechtsanwälte von Rang und Namen beschäftigte.
Vier Jahre zuvor nämlich war dem Barone Giuggiù Malatesta um fünf Uhr fünf ein Junge geboren worden. Bei der Geburt war auch der Notar Carmelo Lòllaro zugegen, denn diese Geburt war eine außerordentlich heikle Angelegenheit. Das Testament des Barons Malatesta senior legte nämlich fest, dass, sofern sein Erstgeborener Giuggiù keinen Sohn innerhalb und nicht später als fünf Uhr morgens am Tag des fünfzehnten März achtzehnhundertvierundneunzig habe, sein Erbteil an den Zweitgeborenen Attilio übergehen würde. Und es war Attilio, der den Notar Lòllaro geschickt hatte, denn er befürchtete, dass Giuggiù ihn betrügen könnte. Um nun aber festlegen zu können, dass der Junge nach fünf Uhr geboren wurde, hatte sich der Notar auf die Rathausuhr verlassen. Und weil der Beamte des Geburtenregisters nicht derselbe mit der Eisenbahneruhr war, war Giuggiùs Sohn mit der Geburtszeit fünf Uhr fünf eingetragen worden. Und Giuggiù Malatesta hatte das Erbe verloren.
Doch jetzt, da man erfahren hatte, dass die Uhr zehn Minuten vor ging, hatte Giuggiùs Rechtsanwalt einen Antrag eingebracht und die Rückgabe des Erbes verlangt, weil der Junge ja eigentlich um fünf Minuten vor fünf geboren worden war. Der Rechtsanwalt von Attilio Malatesta brachte einen Gegenantrag ein und begründete ihn mit dem Umstand, dass keiner in der Lage sei zu sagen, ob die Rathausuhr schon vor vier Jahren zehn Minuten vor ging oder ob sie diese zehn Minuten nach und nach im Lauf der fünf Jahre seit der Überprüfung angesammelt habe. Und dann gab er zu bedenken, dass, wenn der Antrag der Gegenpartei positiv beschieden würde, ein Durcheinander ohnegleichen ausbrechen würde, weil jeder in den zurückliegenden fünf Jahren abgeschlossene Vertrag angefochten werden könne.
Um ein Ende des Streiks herbeizuführen, hatte Marchese Giannertoni unterdessen eine Vereinbarung auf der Grundlage getroffen, dass er den Karrenkutschern die Hälfte von ihren Forderungen zahlte. Und gleichzeitig reichte sein Rechtsanwalt Klage gegen die Gemeinde ein. In nicht einmal zwei Wochen erhielt die Gemeindeverwaltung von Vigatà zwölf vorerst gütliche Forderungen auf Schadensersatz. Sollte die Antwort jedoch negativ ausfallen, würde man vor Gericht ziehen.
Bevor der Bürgermeister seinen Rücktritt einreichte, tat er zwei Dinge. Als Erstes forderte er von der Firma, die den Zuschlag für die Instandhaltung der Uhr bekommen hatte, eine exorbitante Summe als Schadensersatz. Und als Zweites feuerte er den Beamten des Geburtenregisters wegen »Störung der öffentlichen Ordnung«.
Der schon erwähnte Journalist aus Palermo traf ein, ließ sich die Dinge erzählen, verstand nichts von dem, was er hörte, und schrieb einen Artikel mit der Überschrift: Der bekannte Aufhetzer Michele Sparacino sorgt für weiteren sozialen Schaden in Vigatà. Er wollte schon nach Palermo zurückkehren, als ihn ein Telegramm seines Chefredakteurs erreichte: »Dringend Interview mit Sparacino«.
Der Journalist, welcher Liborio Sparuto hieß, begann zu fragen, wo er diesen Sparacino finden könne. Doch keiner von denen, die er angesprochen hatte, wusste auf Ehr und Gewissen etwas über ihn. Da schrieb er einen weiteren Artikel, in welchem er erzählte, wie die gesamte Bevölkerung von Vigatà Sparacino schütze, indem sie eine Mauer des Schweigens um ihn errichte.
Der Chefredakteur schickte wutentbrannt ein zweites Telegramm: »Betrachten Sie sich als gefeuert, sollte das Interview nicht zustande kommen«. Was konnte der arme Sparuto also machen? Er schrieb das Interview. Darin sagte er, er sei mit verbundenen Augen von zwei geheimnisvollen Männern in eine Grotte geführt worden. Hier hätten die beiden ihm die Binde abgenommen und alleine gelassen. In der Grotte habe er ein Strohlager zum Schlafen gesehen, eine Petroleumlampe, einen kleinen Tisch und zwei Stühle. An einer Wand habe ein Schriftzug gestanden, der besagte: »Tod den Bonzen!« Nachdem er ungefähr fünf Minuten gewartet habe, sei Sparacino mit zwei Luparas bewaffnet aufgetaucht.
Sparuto beschrieb ihn als einen noch nicht einmal zwanzigjährigen Jungen, mit finsteren Augen, die einem Angst und Schrecken einjagen würden. Das Gespräch sei nur kurz gewesen. Sparacino habe gesagt, dass er keine Zeit mit Zeitungen zu verlieren habe, dass er nur eine sehr genaue Vorstellung habe: den Tod aller Bonzen und die Gleichheit aller Menschen.
Und für dieses Ziel würde er kämpfen und die ganze Provinz mit Eisen und Feuer überziehen, bis zum Tode, vor welchem er sich nicht fürchte, weil er nicht an Gott glaube.
Am Ende des Interviews fügte der Journalist nur einen Kommentar an: »Von einem Mann dieses Schlags kann für alle nur großer Schaden kommen.« Fast hätte den Präfekten von Montelusa, zu dessen Provinz Vigatà gehörte, der Schlag getroffen, als er die Zeitung las. Und er gab Befehl, den Sparacino unverzüglich zu verhaften, und dem Journalisten Sparuto gab er Anweisung, sich nicht von Vigatà zu entfernen, weil er als Einziger imstande sei, den subversiven Schreckensmenschen zu erkennen. Natürlich fand man auch nach drei Tagen, in denen das gesamte Land rings um Vigatà Zentillimeter für Zentillimeter abgesucht worden war, die bewusste Grotte nicht.
Die Carabinieri verhafteten bei dieser Gelegenheit aber drei Untergetauchte. Allerdings hatte keiner von ihnen jemals den gefährlichen Umstürzler kennengelernt. Sparutos Artikel titelte: Sparacino nicht zu fassen. Bei den Wahlen gingen zum ersten Mal die Sozialisten als Sieger hervor.
Und Sparuto schrieb, Sparacino habe die Gemeinde von Vigatà der Linken ausgeliefert. Unterdessen trank Michele Sparacino die Milch seiner Mutter und wuchs zusehends vor den Augen aller. Und ganz sicher sollte er einmal ein schöner, kräftiger Junge werden.
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Autoren-Porträt von Andrea Camilleri
Camilleri, AndreaAndrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat Camilleri sich inzwischen einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und lebt in Rom.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Camilleri
- 2010, 96 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Kahn, Moshe; Illustration: Innocenti, Roberto
- Übersetzer: Moshe Kahn
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548609856
- ISBN-13: 9783548609850
Rezension zu „Die drei Leben des Michele Sparacino “
»Andrea Camilleri - ein großer Fabulierer und begnadeter Erzähler.« Focus
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