Die drei Stigmata des Palmer Eldritch
Roman
In 'Die drei Stigmata des Palmer Eldritch' (1965) entwirft Philip K. Dick eine Welt, in der die Menschen jeden Planeten des Sonnensystems kolonialisiert haben, weil sie die Erde durch die Klimaerwärmung unbewohnbar machten. Aber das außerirdische Leben ist...
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Produktinformationen zu „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch “
Klappentext zu „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch “
In 'Die drei Stigmata des Palmer Eldritch' (1965) entwirft Philip K. Dick eine Welt, in der die Menschen jeden Planeten des Sonnensystems kolonialisiert haben, weil sie die Erde durch die Klimaerwärmung unbewohnbar machten. Aber das außerirdische Leben ist hart, und so ergibt man sich halluzinatorischen Drogen, mit denen man in jede denkbare virtuelle Welt ausweichen kann. Über allem thront ein Drogentycoon mit gottgleicher Macht. Zum ersten Mal in seinem Werk gibt sich Dick religiösen Spekulationen hin: Die Zukunft wird gnostisch und das Böse ein Attribut Gottes.
Lese-Probe zu „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch “
Die drei Stigmata des Palmer Eldritch von Philip K. DickEins
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Barney Mayerson erwachte mit rasenden Kopfschmerzen, in einem fremden Schlafzimmer, in einem fremden Haus. Neben ihm, die Decke bis zu den nackten, runden Schultern hochgezogen, schlief eine fremde junge Frau. Sie atmete leise durch den Mund, ihr Haar ein watteweißer Wirrwarr.
Ich komme bestimmt zu spät zur Arbeit, dachte er, schlüpfte aus dem Bett und rappelte sich hoch, mit geschlossenen Augen, damit ihm nicht übel wurde. Soviel er wusste, war er mehrere Fahrtstunden von seinem Büro entfernt; womöglich war er nicht einmal mehr in den Vereinigten Staaten. Immerhin war er noch auf der Erde; die Schwerkraft, die ihn taumeln ließ, war vertraut und normal.
Und dort, vor dem Sofa im Nebenzimmer, stand auch der vertraute Koffer mit seinem Psychiater Dr. Smile.
Barfuß trottete er ins Wohnzimmer und setzte sich neben den Koffer; er ließ ihn aufschnappen, betätigte einen Schalter, und Dr. Smile sprang an. Zeiger schlugen aus, der Apparat begann zu summen. »Wo bin ich?«, fragte Barney. »Und wie weit bin ich von New York entfernt?« Das war die Hauptsache. Sein Blick fiel auf die Uhr an der Küchenwand; es war halb acht. Von wegen zu spät.
Der Apparat, eine mobile Telekontakteinheit, die per Mikrosender mit Dr. Smile, dem Zentralcomputer im Kellergeschoss von Renown 33, Barneys Eigenwohnhaus in New York, verbunden war, posaunte mit blecherner Stimme: »Ah, Mr. Bayerson.«
»Mayerson«, verbesserte Barney und strich sich mit zitternden Fingern übers Haar. »Was wissen Sie von gestern Abend?« Angewidert starrte er auf die halbleeren Bourbon- und Sprudelflaschen, den Magenbitter, die Eiswürfelschalen und Zitronen auf der Küchenanrichte. »Wer ist das Mädchen?«
»Das Mädchen im Bett ist Miss Rondinella Fugate«, sagte Dr. Smile. »Sie dürfen sie Roni nennen.«
Das kam ihm irgendwie bekannt vor und schien seltsamerweise mit seiner Arbeit in Zusammenhang zu stehen. »Moment mal«, sagte er zu dem Koffer, doch da regte sich das Mädchen im Schlafzimmer; sofort schaltete er Dr. Smile ab und stand auf. Nur mit Unterhose bekleidet, kam er sich klein und hässlich vor.
»Du bist schon wach?«, fragte die junge Frau verschlafen. Sie wälzte sich hin und her, dann setzte sie sich auf und sah ihn an; ganz hübsch, überlegte er, mit wunderschönen großen Augen. »Wie spät ist es, hast du Kaffeewasser aufgesetzt?«
Er marschierte in die Küche und brachte mit einem Knopfdruck den Herd in Gang, der das Kaffeewasser selbsttätig erhitzte. Er hörte eine Tür zufallen; Roni war ins Bad gegangen. Wasser lief. Roni stand unter der Dusche.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und schaltete Dr. Smile wieder ein. »Was hat sie mit P. P. Layouts zu tun?«, fragte er.
»Miss Fugate ist Ihre neue Assistentin; sie ist gestern aus der Volksrepublik China eingetroffen, wo sie für P. P. Layouts als PreFash- Beraterin tätig war. Leider ist Miss Fugate zwar überaus begabt, doch gänzlich unerfahren, deshalb hielt Mr. Bulero es für das Beste, sie eine Zeitlang als Ihre Assistentin, ich würde ja sagen: ›unter Ihnen‹, aber das könnte leicht zu Missverständnissen führen, wenn man bedenkt ...«
»Na danke«, sagte Barney. Er ging ins Schlafzimmer, klaubte seine Kleider zusammen - sie lagen in einem großen Haufen auf dem Fußboden, wo er sie zweifellos selbst hingeworfen hatte - und zog sich vorsichtig an; ihm war noch immer hundeelend, und es kostete ihn einige Mühe, seinem heftigen Brechreiz nicht nachzugeben. »Stimmt«, sagte er zu Dr. Smile, ging ins Wohnzimmer zurück und knöpfte sich das Hemd zu. »Ich habe am Freitag ein Memo bezüglich Miss Fugate bekommen. Ihre Prognosen sind unzuverlässig. Die Panoramafenster mit Bildern aus dem amerikanischen Bürgerkrieg waren ein kolossaler Fehlgriff ... stellen Sie sich vor, sie dachte, damit könnte sie in der Volksrepublik China einen echten Verkaufsschlager landen.« Er lachte.
Die Badezimmertür öffnete sich einen Spalt. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf Roni; rosig, frisch und biegsam, trocknete sie sich ab. »Hast du mich gerufen, Schatz?«
»Nein«, sagte er. »Ich habe mit meinem Arzt gesprochen.«
»Irren ist menschlich«, lautete Dr. Smiles ziemlich nichtssagender Kommentar.
»Wie sind sie und ich ...«, begann Barney. Er wies zum Schlafzimmer. »Nach so kurzer Zeit?«
»Schicksal«, meinte Dr. Smile.
»Wie bitte?«
»Nun ja, Sie sind beide Präkogs. Sie haben vorausgesehen, dass Sie sich prächtig verstehen und irgendwann eine erotische Beziehung eingehen würden. Und da haben Sie sich gedacht - nach ein paar Drinks -, warum nicht gleich? ›Das Leben ist kurz, die Kunst ist ...‹« Der Koffer verstummte, weil Roni Fugate nackt aus dem Bad gekommen war und an ihm und Barney vorbei ins Schlafzimmer tapste. Sie hatte einen schmalen, schlanken Körper - ein erstklassiges Fahrgestell, fand Barney - und kleine, straffe Brüste mit Warzen, die nicht größer waren als ein Paar rosa Erbsen. Oder, besser, ein Paar rosa Perlen.
»Ich wollte dich gestern Abend schon danach fragen«, sagte Roni Fugate. »Warum sprichst du eigentlich dauernd mit deinem Psychiater? Meine Güte, er ist immer dabei; du hast ihn nicht einmal weggestellt - und du hast ihn angelassen, bis wir ...« Sie runzelte die Stirn und sah ihn forschend an.
»Aber dann habe ich ihn ausgemacht«, sagte Barney mit Nachdruck.
»Findest du mich schön?« Sie stieg auf die Zehenspitzen, streckte sich, hob die Arme über den Kopf und vollführte zu seinem Erstaunen eine rasche Folge von Übungen; sie hüpfte auf und ab, und ihre Brüste wippten.
»Allerdings«, murmelte er verblüfft.
»Ich wäre dick und fett«, keuchte Roni Fugate, »wenn ich nicht jeden Morgen die Gymnastik der UN-Kampfgeschwader machen würde. Holst du mir eine Tasse Kaffee, Schatz?«
»Bist du wirklich meine neue Assistentin bei P. P. Layouts?«, fragte Barney.
»Ja, natürlich; hast du das etwa schon vergessen? Aber du bist vermutlich wie die meisten Eins-a-Präkogs: Du kannst so gut in die Zukunft sehen, dass du die Vergangenheit nur verschwommen in Erinnerung behältst. Entsinnst du dich noch an gestern Abend?« Sie hielt inne und schnappte nach Luft.
»Äh«, sagte er geistesabwesend, »ich glaube schon.«
»Also, dass du einen Psychiater mit dir herumschleppst, kann doch eigentlich nur bedeuten, dass du deinen Musterungsbescheid bekommen hast. Nicht wahr?«
Er nickte zögernd. Das hatte er nicht vergessen. Der gefürchtete blaugrüne Umschlag war vor einer Woche eingetroffen; nächsten Mittwoch würde er sich im UN-Militärhospital in der Bronx einem Psychotest unterziehen müssen.
»Hat er dir geholfen? Hat er« - sie deutete auf den Koffer - »dich krank genug gemacht?«
Barney wandte sich an Dr. Smiles mobile Telekontakteinheit und fragte: »Was meinen Sie?«
»Leider sind Sie nach wie vor recht lebenstüchtig, Mr. Mayerson«, antwortete der Koffer. »Sie können zehn Freud Stress verkraften. Es tut mir wirklich leid. Aber wir haben ja noch ein paar Tage Zeit; wir stehen schließlich erst am Anfang.«
Roni Fugate ging ins Schlafzimmer, hob ihre Unterwäsche auf und stieg hinein. »Stell dir vor«, sagte sie nachdenklich, »wenn du eingezogen und in die Kolonien entsandt wirst, Mr.Mayerson ... werde ich vielleicht zu deiner Nachfolgerin ernannt.« Ihr Lächeln entblößte herrliche, ebenmäßige Zähne.
Diese Vorstellung gefiel ihm gar nicht. Und seine Präkog-Fähigkeiten halfen ihm in diesem Fall nicht weiter: Wie es ausgehen würde, hing allein von Ursache und Wirkung in der Zukunft ab.
»Du wärst mit meiner Arbeit völlig überfordert«, meinte er. »Du warst ja schon in China überfordert, und da ist es verhältnismäßig leicht, Prä-Faktoren zu isolieren.« Doch eines Tages wäre sie so weit; das sah er eindeutig voraus. Sie war jung und sprühte nur so vor Talent: Alles, was ihr fehlte, um ihm das Wasser reichen zu können - und er war der Beste in der Branche -, waren ein paar Jahre Erfahrung. Als er sich seiner Situation bewusst wurde, war er mit einem Mal hellwach. Er hatte beste Aussichten, eingezogen zu werden, und selbst wenn er als untauglich eingestuft würde, war es gut möglich, dass Roni Fugate ihm seinen schönen, heißbegehrten Job wegschnappte, einen Job, den er sich im Lauf von dreizehn Jahren Schritt für Schritt erarbeitet hatte.
Angesichts seiner misslichen Lage erschien es ihm reichlich unpassend, dass er mit ihr ins Bett gegangen war; er überlegte, wie es dazu hatte kommen können.
Er beugte sich über den Koffer und fragte Dr. Smile mit leiser Stimme: »Können Sie mir vielleicht erklären, warum ich Hornochse unter diesen Umständen mit ihr ...«
»Das kann ich dir verraten«, rief Roni Fugate aus dem Schlafzimmer; sie hatte einen etwas zu engen hellgrünen Pullover angezogen und knöpfte ihn vor dem Spiegel der Frisierkommode zu. »Du hast es mir gestern Abend selbst gesagt, nach deinem fünften Bourbon mit Wasser. Du hast gesagt ...« Sie hielt inne, ihre Augen glänzten. »Es war ziemlich geschmacklos. Du hast dich folgendermaßen ausgedrückt: ›Wenn man es zu etwas bringen will, muss man mit den Wölfen heulen.‹ Nur das Verb, das du benutzt hast, war, wie ich leider sagen muss, nicht ›heulen‹.«
»Hmm«, machte Barney und ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee einzugießen. Wenn Miss Fugate ebenfalls bei P. P. Layouts arbeitete, war New York bestimmt nicht weit. Sie könnten gemeinsam in die Stadt fahren. Wie reizend. Er fragte sich, ob ihr Chef Leo Bulero dafür Verständnis haben würde. Ob es gegen die Betriebsordnung verstieß, wenn Firmenangestellte miteinander schliefen? Fast alles war klipp und klar geregelt ... wenngleich er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mann, der seine gesamte Zeit an den Urlaubsstränden der Antarktis oder in deutschen E-Therapie-Kliniken zubrachte, Zeit fand, zu allem und jedem eine Vorschrift zu ersinnen.
Eines Tages, sagte er sich, werde auch ich ein Leben führen wie Leo Bulero, statt bei 70 Grad im Schatten in New York City zu vergammeln ...
Unter seinen Füßen fing es an zu pochen; der Boden bebte. Das Kühlsystem war angesprungen. Der Tag hatte begonnen.
Vor dem Küchenfenster, hinter den anderen Häusern, nahm die feindselige Sonne unbarmherzig Gestalt an, und er schloss die Augen. Das wird wieder eine Bullenhitze heute, dachte er, wahrscheinlich an die 20 Wagner. Man brauchte kein Präkog zu sein, um das vorauszusehen.
In dem Eigenwohnhaus mit der elend hohen Nummer 492 am Stadtrand von Marilyn Monroe, New Jersey, nahm Richard Hnatt gleichgültig sein Frühstück ein, wobei er, mehr als gleichgültig, die Wettersyndromdaten vom Vortag in der Morgenausgabe des Homöoblattes überflog.
Der Normalgletscher Ol' Skintop war in den letzten vierundzwanzig Stunden um 4,62 Grable zurückgegangen. Und die in New York gemessene Mittagstemperatur hatte die vom Vortag um 1,46 Wagner überschritten. Zudem war die Feuchtigkeit durch die Verdunstung der Ozeane um 16 Selkirk gestiegen. Es war heißer und schwüler geworden; Mutter Natur schritt unaufhaltsam vorwärts, nur: wohin? Hnatt schob die Zeitung beiseite und widmete sich der Post, die vor Morgengrauen ausgetragen worden war ... bei Tageslicht wagten sich die Postboten schon lange nicht mehr auf die Straße.
Die erste Rechnung, die seine Aufmerksamkeit gefangen nahm, betraf die anteiligen Kosten für die Kühlung des Gebäudes; angeblich schuldete er Eigenwohn 492 für den letzten Monat genau zehneinhalb Schalen - eine dreiviertel Schale mehr als im April. Eines Tages, dachte er, wird es so heiß sein, dass nichts diese Bude vor dem Schmelzen retten kann; er erinnerte sich an den Tag anno '04, als seine LP-Sammlung wegen eines vorübergehenden Ausfalls des Kühlsystems zu einem Klumpen zusammengeschmolzen war. Nun besaß er Eisenoxidbänder; die schmolzen nicht. Damals waren sämtliche Sittiche und venusischen Ming-Vögel im Haus tot von der Stange gefallen. Und die Schildkröte seines Nachbarn schmorte im eigenen Saft. Es war natürlich tagsüber passiert, als alle - zumindest die Männer - bei der Arbeit gewesen waren. Die Frauen hatten sich im tiefsten Untergeschoss verschanzt, in dem Glauben (er konnte sich noch genau entsinnen, wie Emily ihm davon berichtet hatte), ihr letztes Stündlein habe nun geschlagen. Nicht erst in hundert Jahren, sondern jetzt. Die Caltech-Prognosen hätten sich als falsch erwiesen ... aber das war selbstverständlich Unsinn; eine Stromleitung des New Yorker E-Werks war defekt gewesen. Robot-Mechaniker hatten den Fehler schnell ausfindig gemacht und behoben.
Richards Frau saß, in einem blauen Kittel, im Wohnzimmer und bestrich ein ungebranntes Keramikstück sorgfältig mit Glasur; die Zungenspitze klemmte zwischen ihren Lippen, und ihre Augen leuchteten. Sie bewegte den Pinsel geschickt auf und ab, und er konnte jetzt schon erkennen, dass es ein schönes Stück werden würde. Emilys Anblick erinnerte ihn an die Aufgabe, die ihm heute bevorstand: eine Aufgabe, die ihm gar nicht behagte.
»Vielleicht sollten wir noch ein Weilchen warten, bevor wir uns an ihn wenden«, sagte er mürrisch.
»Das ist die beste Kollektion, die wir je hatten. Wir müssen sie ihm vorführen«, erwiderte Emily, ohne aufzublicken.
»Und wenn er nein sagt?«
»Wir geben nicht nach. Oder dachtest du etwa, ich werfe die Flinte ins Korn, nur weil mein Verflossener nicht voraussehen kann - oder will -, dass unsere neuen Stücke ein Renner werden?«
»Du kennst ihn; ich nicht«, sagte Richard. »Er ist dir doch nicht böse, oder? Er trägt dir doch hoffentlich nichts nach?« Was sollte Emilys Exmann ihr auch nachtragen? Niemand hatte ihm etwas getan; nach allem, was Emily ihm erzählt hatte, war es genau umgekehrt gewesen.
Es war merkwürdig. Er hatte so viel von Barney Mayerson gehört und war ihm trotzdem nie begegnet, hatte ihn nie persönlich kennen gelernt. Doch nun war es so weit. Um neun Uhr hatte er einen Termin in Mayersons Büro bei P. P. Layouts. Natürlich hielt Mayerson die Zügel in der Hand; vermutlich würde er nach einem kurzen Blick auf ihre Keramikkollektion rundweg ablehnen. Nein, würde er sagen, P. P. Layouts ist an einer Min-Ausgabe nicht interessiert. Vertrauen Sie auf meine Präkog-Fähigkeiten, meine Erfahrung und mein Pre-Fash-Marketing-Talent. Und: Abgang Richard Hnatt, mit seinen Töpferwaren unter dem Arm - ein Mann, dessen letzte Hoffnung sich zerschlagen hatte.
Er sah aus dem Fenster und stellte missmutig fest, dass die Hitze die Grenze des Erträglichen schon überschritten hatte; die Laufrinnen waren menschenleer, die Leute hatten vor der Sonne Schutz gesucht. Es war halb neun, er musste los; er stand auf, ging in den Flur und holte den Tropenhelm und das obligatorische Kühlaggregat aus dem Garderobenschrank; nach dem Gesetz musste bis Einbruch der Dunkelheit jeder Pendler eines auf dem Rücken tragen.
»Bis dann«, sagte er zu seiner Frau und drehte sich an der Wohnungstür noch einmal um.
»Bis dann, und viel Glück.« Sie war völlig in den komplizierten Glasurvorgang vertieft, und plötzlich wurde ihm bewusst, welche Spannung auf ihr lastete; sie konnte es sich nicht erlauben, auch nur einen Augenblick zu unterbrechen. Als er die Tür aufmachte und in den Korridor hinaustrat, spürte er den kühlen Luftzug des mobilen Aggregats, das auf seinem Rücken vor sich hin tuckerte. »Ach«, sagte Emily, als er die Tür zuziehen wollte; sie hob den Kopf und strich sich das lange braune Haar aus dem Gesicht. »Ruf mich an, wenn du bei Barney warst, sobald du Bescheid weißt.«
»Ist gut«, sagte er und machte die Tür hinter sich zu.
Am Ende der Rampe, in der hauseigenen Bank, öffnete er ihr gemeinsames Schließfach und brachte die Stahlkassette in einen stillen Nebenraum; dort entnahm er ihr den Schaukasten mit dem Keramiksortiment, das er Mayerson vorführen wollte.
Kurz darauf saß er im thermoversiegelten Kurzstrecken-Pendel- Express auf dem Weg zu. P. P. Layouts im Zentrum von New York City, dem großen, farblosen Gebäude aus synthetischem Beton, aus dem Perky Pat und alles Zubehör ihrer Miniaturwelt stammten. Die Puppe, überlegte er, die den Menschen zur selben Zeit erobert hatte wie der Mensch die Planeten des Sol-Systems. Perky Pat, die Kultfigur der Kolonisten. Wie bezeichnend für das Leben in den Kolonien ... was brauchte man mehr zu wissen über jene Unglücksraben, die, im Rahmen der UN-Wehrpflichtgesetze, von der Erde verstoßen worden waren, mit dem Befehl, auf dem Mars, der Venus oder Ganymed - oder wohin auch immer die Bürokraten der UN sie zu verbannen pflegten - ein neues, außerirdisches Leben anzufangen ... und irgendwie zu überleben.
Und wir denken, es ginge uns schlecht, dachte er.
Sein Sitznachbar, ein Mann mittleren Alters mit grauem Tropenhelm, kurzärmeligem Hemd und grellroten Shorts, wie Geschäftsleute sie trugen, sagte: »Das wird wieder ein heißer Tag heute.«
»Ja.«
»Was haben Sie denn da in dem großen Karton? Ein Lunchpaket für eine Grube voller Marskolonisten?«
»Keramiken«, sagte Hnatt.
»Die brauchen Sie zum Brennen ja nur in die Mittagssonne zu legen. « Kichernd schlug der Geschäftsmann die erste Seite seines Morgenblattes auf. »Ein Schiff von außerhalb des Sol-Systems soll auf Pluto notgelandet sein«, sagte er. »Sie haben einen Suchtrupp losgeschickt. Meinen Sie, es sind Dinger? Ich kann diese Dinger aus anderen Sonnensystemen nicht ausstehen.«
»Wohl eher eins unserer Schiffe auf dem Rückflug«, antwortete Hnatt.
»Haben Sie schon mal ein Ding von Proxima gesehen?«
»Nur auf Bildern.«
»Widerwärtig«, sagte der Geschäftsmann. »Wenn sie das Schiffs- wrack auf Pluto finden und es ist ein Ding, werden sie es hoffentlich per Laser ins Jenseits befördern. Schließlich ist es gesetzlich verboten, dass die in unser System eindringen.«
»Ganz recht.«
»Kann ich Ihre Keramiken mal sehen? Ich mache in Krawatten. Werners pseudohandgewirkte Lebendschlipse in verschiedenen Titanfarben - ich habe einen an, sehen Sie? Die Farben sind eigentlich eine primitive Lebensform, die wir importieren und hier auf Terra in Kulturen züchten. Wie wir sie zur Fortpflanzung bewegen, ist allerdings Betriebsgeheimnis, Sie wissen schon, wie das Rezept für Coca-Cola.«
»Aus einem ähnlichen Grund kann ich Ihnen meine Keramiken nicht zeigen, so leid es mir tut. Sie sind ganz neu. Ich bringe sie zu einem Pre-Fash-Präkog bei P. P. Layouts; wenn er sie für die PerkyPat- Layouts miniaturisieren möchte, sind wir im Geschäft: dann brauchen wir die Info nur noch dem P. P.-Discjockey durchzugeben, der den Mars umkreist - wie heißt er noch gleich? - Und so weiter und so fort.«
»Werners handgewirkte Lebendkrawatten sind fester Bestandteil der Perky-Pat-Layouts«, erklärte ihm der Mann. »Ihr Freund Walt hat einen ganzen Schrank voll davon.« Er strahlte. »Als P. P. Layouts sich dazu entschlossen hat, unsere Krawatten im Min-Format auf den Markt zu bringen ...«
»Haben Sie mit Barney Mayerson gesprochen?«
»Ich nicht; unser hiesiger Verkaufsleiter. Mayerson gilt als schwierig. Er verlässt sich ganz auf seine Intuition, und wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hat, steht sie unwiderruflich fest.«
»Irrt er sich gelegentlich? Und lehnt Artikel ab, die dann in Mode kommen?«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Barney Mayerson erwachte mit rasenden Kopfschmerzen, in einem fremden Schlafzimmer, in einem fremden Haus. Neben ihm, die Decke bis zu den nackten, runden Schultern hochgezogen, schlief eine fremde junge Frau. Sie atmete leise durch den Mund, ihr Haar ein watteweißer Wirrwarr.
Ich komme bestimmt zu spät zur Arbeit, dachte er, schlüpfte aus dem Bett und rappelte sich hoch, mit geschlossenen Augen, damit ihm nicht übel wurde. Soviel er wusste, war er mehrere Fahrtstunden von seinem Büro entfernt; womöglich war er nicht einmal mehr in den Vereinigten Staaten. Immerhin war er noch auf der Erde; die Schwerkraft, die ihn taumeln ließ, war vertraut und normal.
Und dort, vor dem Sofa im Nebenzimmer, stand auch der vertraute Koffer mit seinem Psychiater Dr. Smile.
Barfuß trottete er ins Wohnzimmer und setzte sich neben den Koffer; er ließ ihn aufschnappen, betätigte einen Schalter, und Dr. Smile sprang an. Zeiger schlugen aus, der Apparat begann zu summen. »Wo bin ich?«, fragte Barney. »Und wie weit bin ich von New York entfernt?« Das war die Hauptsache. Sein Blick fiel auf die Uhr an der Küchenwand; es war halb acht. Von wegen zu spät.
Der Apparat, eine mobile Telekontakteinheit, die per Mikrosender mit Dr. Smile, dem Zentralcomputer im Kellergeschoss von Renown 33, Barneys Eigenwohnhaus in New York, verbunden war, posaunte mit blecherner Stimme: »Ah, Mr. Bayerson.«
»Mayerson«, verbesserte Barney und strich sich mit zitternden Fingern übers Haar. »Was wissen Sie von gestern Abend?« Angewidert starrte er auf die halbleeren Bourbon- und Sprudelflaschen, den Magenbitter, die Eiswürfelschalen und Zitronen auf der Küchenanrichte. »Wer ist das Mädchen?«
»Das Mädchen im Bett ist Miss Rondinella Fugate«, sagte Dr. Smile. »Sie dürfen sie Roni nennen.«
Das kam ihm irgendwie bekannt vor und schien seltsamerweise mit seiner Arbeit in Zusammenhang zu stehen. »Moment mal«, sagte er zu dem Koffer, doch da regte sich das Mädchen im Schlafzimmer; sofort schaltete er Dr. Smile ab und stand auf. Nur mit Unterhose bekleidet, kam er sich klein und hässlich vor.
»Du bist schon wach?«, fragte die junge Frau verschlafen. Sie wälzte sich hin und her, dann setzte sie sich auf und sah ihn an; ganz hübsch, überlegte er, mit wunderschönen großen Augen. »Wie spät ist es, hast du Kaffeewasser aufgesetzt?«
Er marschierte in die Küche und brachte mit einem Knopfdruck den Herd in Gang, der das Kaffeewasser selbsttätig erhitzte. Er hörte eine Tür zufallen; Roni war ins Bad gegangen. Wasser lief. Roni stand unter der Dusche.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und schaltete Dr. Smile wieder ein. »Was hat sie mit P. P. Layouts zu tun?«, fragte er.
»Miss Fugate ist Ihre neue Assistentin; sie ist gestern aus der Volksrepublik China eingetroffen, wo sie für P. P. Layouts als PreFash- Beraterin tätig war. Leider ist Miss Fugate zwar überaus begabt, doch gänzlich unerfahren, deshalb hielt Mr. Bulero es für das Beste, sie eine Zeitlang als Ihre Assistentin, ich würde ja sagen: ›unter Ihnen‹, aber das könnte leicht zu Missverständnissen führen, wenn man bedenkt ...«
»Na danke«, sagte Barney. Er ging ins Schlafzimmer, klaubte seine Kleider zusammen - sie lagen in einem großen Haufen auf dem Fußboden, wo er sie zweifellos selbst hingeworfen hatte - und zog sich vorsichtig an; ihm war noch immer hundeelend, und es kostete ihn einige Mühe, seinem heftigen Brechreiz nicht nachzugeben. »Stimmt«, sagte er zu Dr. Smile, ging ins Wohnzimmer zurück und knöpfte sich das Hemd zu. »Ich habe am Freitag ein Memo bezüglich Miss Fugate bekommen. Ihre Prognosen sind unzuverlässig. Die Panoramafenster mit Bildern aus dem amerikanischen Bürgerkrieg waren ein kolossaler Fehlgriff ... stellen Sie sich vor, sie dachte, damit könnte sie in der Volksrepublik China einen echten Verkaufsschlager landen.« Er lachte.
Die Badezimmertür öffnete sich einen Spalt. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf Roni; rosig, frisch und biegsam, trocknete sie sich ab. »Hast du mich gerufen, Schatz?«
»Nein«, sagte er. »Ich habe mit meinem Arzt gesprochen.«
»Irren ist menschlich«, lautete Dr. Smiles ziemlich nichtssagender Kommentar.
»Wie sind sie und ich ...«, begann Barney. Er wies zum Schlafzimmer. »Nach so kurzer Zeit?«
»Schicksal«, meinte Dr. Smile.
»Wie bitte?«
»Nun ja, Sie sind beide Präkogs. Sie haben vorausgesehen, dass Sie sich prächtig verstehen und irgendwann eine erotische Beziehung eingehen würden. Und da haben Sie sich gedacht - nach ein paar Drinks -, warum nicht gleich? ›Das Leben ist kurz, die Kunst ist ...‹« Der Koffer verstummte, weil Roni Fugate nackt aus dem Bad gekommen war und an ihm und Barney vorbei ins Schlafzimmer tapste. Sie hatte einen schmalen, schlanken Körper - ein erstklassiges Fahrgestell, fand Barney - und kleine, straffe Brüste mit Warzen, die nicht größer waren als ein Paar rosa Erbsen. Oder, besser, ein Paar rosa Perlen.
»Ich wollte dich gestern Abend schon danach fragen«, sagte Roni Fugate. »Warum sprichst du eigentlich dauernd mit deinem Psychiater? Meine Güte, er ist immer dabei; du hast ihn nicht einmal weggestellt - und du hast ihn angelassen, bis wir ...« Sie runzelte die Stirn und sah ihn forschend an.
»Aber dann habe ich ihn ausgemacht«, sagte Barney mit Nachdruck.
»Findest du mich schön?« Sie stieg auf die Zehenspitzen, streckte sich, hob die Arme über den Kopf und vollführte zu seinem Erstaunen eine rasche Folge von Übungen; sie hüpfte auf und ab, und ihre Brüste wippten.
»Allerdings«, murmelte er verblüfft.
»Ich wäre dick und fett«, keuchte Roni Fugate, »wenn ich nicht jeden Morgen die Gymnastik der UN-Kampfgeschwader machen würde. Holst du mir eine Tasse Kaffee, Schatz?«
»Bist du wirklich meine neue Assistentin bei P. P. Layouts?«, fragte Barney.
»Ja, natürlich; hast du das etwa schon vergessen? Aber du bist vermutlich wie die meisten Eins-a-Präkogs: Du kannst so gut in die Zukunft sehen, dass du die Vergangenheit nur verschwommen in Erinnerung behältst. Entsinnst du dich noch an gestern Abend?« Sie hielt inne und schnappte nach Luft.
»Äh«, sagte er geistesabwesend, »ich glaube schon.«
»Also, dass du einen Psychiater mit dir herumschleppst, kann doch eigentlich nur bedeuten, dass du deinen Musterungsbescheid bekommen hast. Nicht wahr?«
Er nickte zögernd. Das hatte er nicht vergessen. Der gefürchtete blaugrüne Umschlag war vor einer Woche eingetroffen; nächsten Mittwoch würde er sich im UN-Militärhospital in der Bronx einem Psychotest unterziehen müssen.
»Hat er dir geholfen? Hat er« - sie deutete auf den Koffer - »dich krank genug gemacht?«
Barney wandte sich an Dr. Smiles mobile Telekontakteinheit und fragte: »Was meinen Sie?«
»Leider sind Sie nach wie vor recht lebenstüchtig, Mr. Mayerson«, antwortete der Koffer. »Sie können zehn Freud Stress verkraften. Es tut mir wirklich leid. Aber wir haben ja noch ein paar Tage Zeit; wir stehen schließlich erst am Anfang.«
Roni Fugate ging ins Schlafzimmer, hob ihre Unterwäsche auf und stieg hinein. »Stell dir vor«, sagte sie nachdenklich, »wenn du eingezogen und in die Kolonien entsandt wirst, Mr.Mayerson ... werde ich vielleicht zu deiner Nachfolgerin ernannt.« Ihr Lächeln entblößte herrliche, ebenmäßige Zähne.
Diese Vorstellung gefiel ihm gar nicht. Und seine Präkog-Fähigkeiten halfen ihm in diesem Fall nicht weiter: Wie es ausgehen würde, hing allein von Ursache und Wirkung in der Zukunft ab.
»Du wärst mit meiner Arbeit völlig überfordert«, meinte er. »Du warst ja schon in China überfordert, und da ist es verhältnismäßig leicht, Prä-Faktoren zu isolieren.« Doch eines Tages wäre sie so weit; das sah er eindeutig voraus. Sie war jung und sprühte nur so vor Talent: Alles, was ihr fehlte, um ihm das Wasser reichen zu können - und er war der Beste in der Branche -, waren ein paar Jahre Erfahrung. Als er sich seiner Situation bewusst wurde, war er mit einem Mal hellwach. Er hatte beste Aussichten, eingezogen zu werden, und selbst wenn er als untauglich eingestuft würde, war es gut möglich, dass Roni Fugate ihm seinen schönen, heißbegehrten Job wegschnappte, einen Job, den er sich im Lauf von dreizehn Jahren Schritt für Schritt erarbeitet hatte.
Angesichts seiner misslichen Lage erschien es ihm reichlich unpassend, dass er mit ihr ins Bett gegangen war; er überlegte, wie es dazu hatte kommen können.
Er beugte sich über den Koffer und fragte Dr. Smile mit leiser Stimme: »Können Sie mir vielleicht erklären, warum ich Hornochse unter diesen Umständen mit ihr ...«
»Das kann ich dir verraten«, rief Roni Fugate aus dem Schlafzimmer; sie hatte einen etwas zu engen hellgrünen Pullover angezogen und knöpfte ihn vor dem Spiegel der Frisierkommode zu. »Du hast es mir gestern Abend selbst gesagt, nach deinem fünften Bourbon mit Wasser. Du hast gesagt ...« Sie hielt inne, ihre Augen glänzten. »Es war ziemlich geschmacklos. Du hast dich folgendermaßen ausgedrückt: ›Wenn man es zu etwas bringen will, muss man mit den Wölfen heulen.‹ Nur das Verb, das du benutzt hast, war, wie ich leider sagen muss, nicht ›heulen‹.«
»Hmm«, machte Barney und ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee einzugießen. Wenn Miss Fugate ebenfalls bei P. P. Layouts arbeitete, war New York bestimmt nicht weit. Sie könnten gemeinsam in die Stadt fahren. Wie reizend. Er fragte sich, ob ihr Chef Leo Bulero dafür Verständnis haben würde. Ob es gegen die Betriebsordnung verstieß, wenn Firmenangestellte miteinander schliefen? Fast alles war klipp und klar geregelt ... wenngleich er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mann, der seine gesamte Zeit an den Urlaubsstränden der Antarktis oder in deutschen E-Therapie-Kliniken zubrachte, Zeit fand, zu allem und jedem eine Vorschrift zu ersinnen.
Eines Tages, sagte er sich, werde auch ich ein Leben führen wie Leo Bulero, statt bei 70 Grad im Schatten in New York City zu vergammeln ...
Unter seinen Füßen fing es an zu pochen; der Boden bebte. Das Kühlsystem war angesprungen. Der Tag hatte begonnen.
Vor dem Küchenfenster, hinter den anderen Häusern, nahm die feindselige Sonne unbarmherzig Gestalt an, und er schloss die Augen. Das wird wieder eine Bullenhitze heute, dachte er, wahrscheinlich an die 20 Wagner. Man brauchte kein Präkog zu sein, um das vorauszusehen.
In dem Eigenwohnhaus mit der elend hohen Nummer 492 am Stadtrand von Marilyn Monroe, New Jersey, nahm Richard Hnatt gleichgültig sein Frühstück ein, wobei er, mehr als gleichgültig, die Wettersyndromdaten vom Vortag in der Morgenausgabe des Homöoblattes überflog.
Der Normalgletscher Ol' Skintop war in den letzten vierundzwanzig Stunden um 4,62 Grable zurückgegangen. Und die in New York gemessene Mittagstemperatur hatte die vom Vortag um 1,46 Wagner überschritten. Zudem war die Feuchtigkeit durch die Verdunstung der Ozeane um 16 Selkirk gestiegen. Es war heißer und schwüler geworden; Mutter Natur schritt unaufhaltsam vorwärts, nur: wohin? Hnatt schob die Zeitung beiseite und widmete sich der Post, die vor Morgengrauen ausgetragen worden war ... bei Tageslicht wagten sich die Postboten schon lange nicht mehr auf die Straße.
Die erste Rechnung, die seine Aufmerksamkeit gefangen nahm, betraf die anteiligen Kosten für die Kühlung des Gebäudes; angeblich schuldete er Eigenwohn 492 für den letzten Monat genau zehneinhalb Schalen - eine dreiviertel Schale mehr als im April. Eines Tages, dachte er, wird es so heiß sein, dass nichts diese Bude vor dem Schmelzen retten kann; er erinnerte sich an den Tag anno '04, als seine LP-Sammlung wegen eines vorübergehenden Ausfalls des Kühlsystems zu einem Klumpen zusammengeschmolzen war. Nun besaß er Eisenoxidbänder; die schmolzen nicht. Damals waren sämtliche Sittiche und venusischen Ming-Vögel im Haus tot von der Stange gefallen. Und die Schildkröte seines Nachbarn schmorte im eigenen Saft. Es war natürlich tagsüber passiert, als alle - zumindest die Männer - bei der Arbeit gewesen waren. Die Frauen hatten sich im tiefsten Untergeschoss verschanzt, in dem Glauben (er konnte sich noch genau entsinnen, wie Emily ihm davon berichtet hatte), ihr letztes Stündlein habe nun geschlagen. Nicht erst in hundert Jahren, sondern jetzt. Die Caltech-Prognosen hätten sich als falsch erwiesen ... aber das war selbstverständlich Unsinn; eine Stromleitung des New Yorker E-Werks war defekt gewesen. Robot-Mechaniker hatten den Fehler schnell ausfindig gemacht und behoben.
Richards Frau saß, in einem blauen Kittel, im Wohnzimmer und bestrich ein ungebranntes Keramikstück sorgfältig mit Glasur; die Zungenspitze klemmte zwischen ihren Lippen, und ihre Augen leuchteten. Sie bewegte den Pinsel geschickt auf und ab, und er konnte jetzt schon erkennen, dass es ein schönes Stück werden würde. Emilys Anblick erinnerte ihn an die Aufgabe, die ihm heute bevorstand: eine Aufgabe, die ihm gar nicht behagte.
»Vielleicht sollten wir noch ein Weilchen warten, bevor wir uns an ihn wenden«, sagte er mürrisch.
»Das ist die beste Kollektion, die wir je hatten. Wir müssen sie ihm vorführen«, erwiderte Emily, ohne aufzublicken.
»Und wenn er nein sagt?«
»Wir geben nicht nach. Oder dachtest du etwa, ich werfe die Flinte ins Korn, nur weil mein Verflossener nicht voraussehen kann - oder will -, dass unsere neuen Stücke ein Renner werden?«
»Du kennst ihn; ich nicht«, sagte Richard. »Er ist dir doch nicht böse, oder? Er trägt dir doch hoffentlich nichts nach?« Was sollte Emilys Exmann ihr auch nachtragen? Niemand hatte ihm etwas getan; nach allem, was Emily ihm erzählt hatte, war es genau umgekehrt gewesen.
Es war merkwürdig. Er hatte so viel von Barney Mayerson gehört und war ihm trotzdem nie begegnet, hatte ihn nie persönlich kennen gelernt. Doch nun war es so weit. Um neun Uhr hatte er einen Termin in Mayersons Büro bei P. P. Layouts. Natürlich hielt Mayerson die Zügel in der Hand; vermutlich würde er nach einem kurzen Blick auf ihre Keramikkollektion rundweg ablehnen. Nein, würde er sagen, P. P. Layouts ist an einer Min-Ausgabe nicht interessiert. Vertrauen Sie auf meine Präkog-Fähigkeiten, meine Erfahrung und mein Pre-Fash-Marketing-Talent. Und: Abgang Richard Hnatt, mit seinen Töpferwaren unter dem Arm - ein Mann, dessen letzte Hoffnung sich zerschlagen hatte.
Er sah aus dem Fenster und stellte missmutig fest, dass die Hitze die Grenze des Erträglichen schon überschritten hatte; die Laufrinnen waren menschenleer, die Leute hatten vor der Sonne Schutz gesucht. Es war halb neun, er musste los; er stand auf, ging in den Flur und holte den Tropenhelm und das obligatorische Kühlaggregat aus dem Garderobenschrank; nach dem Gesetz musste bis Einbruch der Dunkelheit jeder Pendler eines auf dem Rücken tragen.
»Bis dann«, sagte er zu seiner Frau und drehte sich an der Wohnungstür noch einmal um.
»Bis dann, und viel Glück.« Sie war völlig in den komplizierten Glasurvorgang vertieft, und plötzlich wurde ihm bewusst, welche Spannung auf ihr lastete; sie konnte es sich nicht erlauben, auch nur einen Augenblick zu unterbrechen. Als er die Tür aufmachte und in den Korridor hinaustrat, spürte er den kühlen Luftzug des mobilen Aggregats, das auf seinem Rücken vor sich hin tuckerte. »Ach«, sagte Emily, als er die Tür zuziehen wollte; sie hob den Kopf und strich sich das lange braune Haar aus dem Gesicht. »Ruf mich an, wenn du bei Barney warst, sobald du Bescheid weißt.«
»Ist gut«, sagte er und machte die Tür hinter sich zu.
Am Ende der Rampe, in der hauseigenen Bank, öffnete er ihr gemeinsames Schließfach und brachte die Stahlkassette in einen stillen Nebenraum; dort entnahm er ihr den Schaukasten mit dem Keramiksortiment, das er Mayerson vorführen wollte.
Kurz darauf saß er im thermoversiegelten Kurzstrecken-Pendel- Express auf dem Weg zu. P. P. Layouts im Zentrum von New York City, dem großen, farblosen Gebäude aus synthetischem Beton, aus dem Perky Pat und alles Zubehör ihrer Miniaturwelt stammten. Die Puppe, überlegte er, die den Menschen zur selben Zeit erobert hatte wie der Mensch die Planeten des Sol-Systems. Perky Pat, die Kultfigur der Kolonisten. Wie bezeichnend für das Leben in den Kolonien ... was brauchte man mehr zu wissen über jene Unglücksraben, die, im Rahmen der UN-Wehrpflichtgesetze, von der Erde verstoßen worden waren, mit dem Befehl, auf dem Mars, der Venus oder Ganymed - oder wohin auch immer die Bürokraten der UN sie zu verbannen pflegten - ein neues, außerirdisches Leben anzufangen ... und irgendwie zu überleben.
Und wir denken, es ginge uns schlecht, dachte er.
Sein Sitznachbar, ein Mann mittleren Alters mit grauem Tropenhelm, kurzärmeligem Hemd und grellroten Shorts, wie Geschäftsleute sie trugen, sagte: »Das wird wieder ein heißer Tag heute.«
»Ja.«
»Was haben Sie denn da in dem großen Karton? Ein Lunchpaket für eine Grube voller Marskolonisten?«
»Keramiken«, sagte Hnatt.
»Die brauchen Sie zum Brennen ja nur in die Mittagssonne zu legen. « Kichernd schlug der Geschäftsmann die erste Seite seines Morgenblattes auf. »Ein Schiff von außerhalb des Sol-Systems soll auf Pluto notgelandet sein«, sagte er. »Sie haben einen Suchtrupp losgeschickt. Meinen Sie, es sind Dinger? Ich kann diese Dinger aus anderen Sonnensystemen nicht ausstehen.«
»Wohl eher eins unserer Schiffe auf dem Rückflug«, antwortete Hnatt.
»Haben Sie schon mal ein Ding von Proxima gesehen?«
»Nur auf Bildern.«
»Widerwärtig«, sagte der Geschäftsmann. »Wenn sie das Schiffs- wrack auf Pluto finden und es ist ein Ding, werden sie es hoffentlich per Laser ins Jenseits befördern. Schließlich ist es gesetzlich verboten, dass die in unser System eindringen.«
»Ganz recht.«
»Kann ich Ihre Keramiken mal sehen? Ich mache in Krawatten. Werners pseudohandgewirkte Lebendschlipse in verschiedenen Titanfarben - ich habe einen an, sehen Sie? Die Farben sind eigentlich eine primitive Lebensform, die wir importieren und hier auf Terra in Kulturen züchten. Wie wir sie zur Fortpflanzung bewegen, ist allerdings Betriebsgeheimnis, Sie wissen schon, wie das Rezept für Coca-Cola.«
»Aus einem ähnlichen Grund kann ich Ihnen meine Keramiken nicht zeigen, so leid es mir tut. Sie sind ganz neu. Ich bringe sie zu einem Pre-Fash-Präkog bei P. P. Layouts; wenn er sie für die PerkyPat- Layouts miniaturisieren möchte, sind wir im Geschäft: dann brauchen wir die Info nur noch dem P. P.-Discjockey durchzugeben, der den Mars umkreist - wie heißt er noch gleich? - Und so weiter und so fort.«
»Werners handgewirkte Lebendkrawatten sind fester Bestandteil der Perky-Pat-Layouts«, erklärte ihm der Mann. »Ihr Freund Walt hat einen ganzen Schrank voll davon.« Er strahlte. »Als P. P. Layouts sich dazu entschlossen hat, unsere Krawatten im Min-Format auf den Markt zu bringen ...«
»Haben Sie mit Barney Mayerson gesprochen?«
»Ich nicht; unser hiesiger Verkaufsleiter. Mayerson gilt als schwierig. Er verlässt sich ganz auf seine Intuition, und wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hat, steht sie unwiderruflich fest.«
»Irrt er sich gelegentlich? Und lehnt Artikel ab, die dann in Mode kommen?«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Philip K. Dick
Philip K. Dick hat die Science-Fiction nicht erfunden, aber aus ihr eine Kunst gemacht. Mit prophetischem Blick und genialischer Phantasie sah er Szenarien voraus, in denen unsere Gegenwart zum Albtraum wird: »Blade Runner«, »Minority Report«, »Total Recall«, »Impostor«, »Paycheck«, »Der dunkle Schirm« - all diese Filme basieren auf seinen Büchern. 1928 in Chicago geboren, rettete er sich aus seiner psychotischen Jugend nach Berkeley. Er nahm so ziemlich alle Aufputschmittel und Drogen, die es gab, hatte Visionen und göttliche Erscheinungen, schrieb bis zu 60 Seiten am Tag und fühlte sich von FBI und KGB verfolgt. 1982 starb er wenige Wochen vor der Filmpremiere von »Blade Runner«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Philip K. Dick
- 2014, 3. Aufl., Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Mohr, Thomas
- Übersetzer: Thomas Mohr
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905680
- ISBN-13: 9783596905683
- Erscheinungsdatum: 26.06.2014
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