Die Einsamkeit des Bösen
Kriminalroman
Herbert Dutzler, bekannt durch seinen sympathischen Ermittler Gasperlmaier, liefert den Beweis, dass er auch ganz anders kann - viel düsterer!
Alexandra, die Protagonistin in „Die Einsamkeit des Bösen", ist eine sehr...
Alexandra, die Protagonistin in „Die Einsamkeit des Bösen", ist eine sehr...
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Produktinformationen zu „Die Einsamkeit des Bösen “
Herbert Dutzler, bekannt durch seinen sympathischen Ermittler Gasperlmaier, liefert den Beweis, dass er auch ganz anders kann - viel düsterer!
Alexandra, die Protagonistin in „Die Einsamkeit des Bösen", ist eine sehr nachvollziehbare Buchheldin, ein Mensch wie jeder andere auch. Umso tiefer ist das Unbehagen, das während dem Lesen erwacht, denn wir wissen ja nicht, ob es nicht in den Leuten um uns herum ebenso brodelt. Ein sehr gruseliger Gedanke, der sich durchzieht und diesen feinen Kriminalroman umso spannender macht.
Alexandra war ein wütendes Kind, doch aus ihr wurde eine Erwachsene, der ihre schwere Kindheit nicht anzumerken ist. Doch ein Lottogewinn weckt die Dämonen der Vergangenheit und bringt den Zorn von damals wieder ans Licht.
Ein außergewöhnlicher Krimi, düstere Unterhaltung vom Feinsten, die dem österreichischen Autor Herbert Dutzler da gelungen ist. Jedem Krimi-Liebhaber schwer ans Herz gelegt!
Bestellen Sie „Die Einsamkeit des Bösen" jetzt bequem und portofrei hier online und lassen Sie sich auf das alltägliche Grauen in uns allen ein.
Alexandra, die Protagonistin in „Die Einsamkeit des Bösen", ist eine sehr nachvollziehbare Buchheldin, ein Mensch wie jeder andere auch. Umso tiefer ist das Unbehagen, das während dem Lesen erwacht, denn wir wissen ja nicht, ob es nicht in den Leuten um uns herum ebenso brodelt. Ein sehr gruseliger Gedanke, der sich durchzieht und diesen feinen Kriminalroman umso spannender macht.
Alexandra war ein wütendes Kind, doch aus ihr wurde eine Erwachsene, der ihre schwere Kindheit nicht anzumerken ist. Doch ein Lottogewinn weckt die Dämonen der Vergangenheit und bringt den Zorn von damals wieder ans Licht.
Ein außergewöhnlicher Krimi, düstere Unterhaltung vom Feinsten, die dem österreichischen Autor Herbert Dutzler da gelungen ist. Jedem Krimi-Liebhaber schwer ans Herz gelegt!
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Klappentext zu „Die Einsamkeit des Bösen “
DIE WURZELN DES BÖSEN REICHEN TIEF Das kleine Mädchen Alexandra musste schon früh lernen, was es heißt, wenn jemand GRUNDLOS BÖSE ist, wenn jemand voll von HASSE, FRUST UND AGGRESSION ist. Die erwachsene Frau Alexandra scheint die schwere Kindheit völlig hinter sich gelassen zu haben - doch wirkt es nur an der Oberfläche so. Von den düsteren Geheimnissen, die in ihr schlummern, wissen weder ihr Mann noch ihre beiden Kinder. Manchmal sind sie so weit weg, dass selbst Alexandra sie vergisst. EIN LOTTERIEGEWINN: ÜBERRASCHENDER GELDSEGEN ODER FLUCH? Eines Tages gerät Alexandras heile Welt aus den Fugen: Ein Millionengewinn entpuppt sich mehr als Fluch denn als Segen. Plötzlich fühlt Alexandra sich allein. Ihr Ehemann wird ihr von Tag zu Tag fremder, Heimlichkeiten vor Freunden sind an der Tagesordnung, die Kinder stellen materielle Ansprüche, nichts ist mehr so, wie es war - da beginnt Alexandras Fassade zu bröckeln. Sie spürt: Die Schatten ihrer Vergangenheit fallen noch immer düster auf ihre Seele. Und dann regt sich in ihr jenes zornige kleine Mädchen, das damals dem Bösen direkt ins Auge geblickt hat ... HERBERT DUTZLER ZEIGT DIE DUNKLE SEITE SEINES KÖNNENS Herbert Dutzler, bisher vor allem durch die sensationell erfolgreiche Krimiserie um Kultfigur Franz Gasperlmaier bekannt, legt einen Kriminalroman vor, der einen packt und nicht mehr loslässt. Seine Figuren zeichnet Dutzler präzise und mit viel psychologischem Tiefgang - kein menschlicher Abgrund bleibt hier unentdeckt. Menschen wie du und ich sind es, die hier handeln, und ihre Taten sind so nachvollziehbar, dass man sie sogar den eigenen Freunden zutrauen würde. Das Böse liegt oft bedrohlich nah ... **************************************************************************************** "der heiße Name für temperierte Sommerzeiten" NEWS, Susanne Zobl "Der neue Dutzler - typisch und doch anders. Fans werden ihren Bestsellerautor neu kennenlernen und Dutzler-'Erstleser' begeistert sein." Stefan Mödritscher,
... mehr
Buchhandlung Morawa, Wien "Toll, wie sich die Geschichte entwickelt, großartig der Schluss. Ich werde das Buch allen empfehlen, die einen spannenden Krimi lesen wollen!" Helga Pamminger, Thalia, Wiener Neustadt
... weniger
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Die Einsamkeit des Bösen “
Herbert Dutzler - Die Einsamkeit des Bösen1
Alexandra war spät dran. Trotzdem parkte sie nicht direkt vor der Schule. „Ich mag aber nicht zu Fuß
gehen", maulte Annika von der Rückbank. „Die anderen ..." „Die anderen sind mir egal! Und vor der
Schule stehen zu bleiben ist verboten! Ich hab dir schon oft genug erklärt, dass man da die Kinder
gefährdet, die zu Fuß unterwegs sind", rügte sie etwas zu laut und zu ungehalten, während sie auf
den Parkplatz eines Supermarktes einbog, von dem aus Annika höchstens noch drei Minuten bis zum
Schultor zu gehen hatte. „Tschüs! Und vergiss nicht, dass du mit dem Bus nach Hause fahren musst,
wir haben heute im Verlag eine Besprechung." Annika hörte nicht auf zu maulen, murmelte
Unverständliches vor sich hin und stieg grußlos aus dem Auto. Erziehung konnte manchmal schwierig
sein. Vor allem bei einer Elfjährigen, die schon deutliche Anzeichen pubertärer Launen zeigte.
Sie selbst wäre ja am liebsten mit dem Rad in den Verlag gefahren, die Busfahrt zur Schule war
Annika zuzumuten, auch wenn es regnete, fand sie. Leider war sie mit dieser Ansicht zu Hause in der
Minderheit geblieben, denn ihr Mann ging viel zu oft bereitwillig auch auf unnötige Forderungen der
Kinder ein. „Natürlich bring ich dich, Max!" Dankbar hatte sich der achtjährige Sohn an Antons Bein
geklammert. Die Volksschule war allerdings nur fünf Gehminuten entfernt, und wozu hatten sie
eigentlich die teure Regenjacke gekauft ...
Sie stellte ihr Auto in der Tiefgarage ab. Sie hasste es, dafür unnötig Geld auszugeben. Nächstes Mal
würde sie sich durchsetzen. Was stand heute auf dem Programm? Sie wollte endlich das Manuskript
dieses schrecklich untalentierten Autors fertig lektorieren, der sich noch dazu Starallüren wie ein
Bestsellerautor
... mehr
leistete. Es war eine Heidenarbeit gewesen, es einigermaßen publikationsfähig zu
machen. Gut, sie hatte es in einer ersten Euphorie auch befürwortet, es mit ihm zu versuchen - aber
nach hundert Seiten war ihm echt die Power ausgegangen. Nachmittags gab's dann eine
Programmkonferenz. Und sie hoffte, danach noch mit ihrer Übersetzungsarbeit weiterzukommen. Es
war zwar nur ein Band aus einer Softporno-Serie, an dem sie arbeitete, aber gerade das musste
schnell gehen. Und, so versicherte sie sich selbst, es gab auch gutes Geld dafür.
„Hallo, Morgen!" Sophie, deren Schreibtisch dem ihren gegenüberstand, war schon in ihre
Bildschirmarbeit vertieft. Und auch eine angebrochene Tafel Schokolade lag, wie üblich, neben ihrer
Tastatur. Alexandra fragte sich, wie man bei einem derartigen Schokoladenkonsum so schlank
bleiben konnte. Kaum hatte sie ihre Arbeit aufgenommen, konnte sie ein Stöhnen nicht
unterdrücken, obwohl sie wusste, dass sie Sophie damit störte. Dieser Autor litt wirklich unter derart
ausgeprägter erzählerischer Impotenz, dass sie am liebsten ganze Passagen gestrichen oder neu
geschrieben hätte. Ob dieser Krimi ein Erfolg werden würde? Sehr zweifelhaft. Und erst die
unglaublich gestelzten direkten Reden! So sprach doch kein Mensch!
Sophie reagierte schließlich auf ihr Gestöhn. „Vielleicht sollten wir das Manuskript doch noch einmal
vor die Konferenz bringen." Sie blickte an ihrem Bildschirm vorbei und schob sich die schwarze Brille
auf der Nase hoch. Seit dreieinhalb Jahren saßen sie nun schon einander gegenüber und waren in
dieser Zeit leidlich gute Freundinnen geworden. Obwohl Alexandra eigentlich nicht leicht
Freundschaften schloss, überhaupt nur wenige Menschen an sich heranließ. Man plauderte beim
Mittagessen oft über gemeinsame Probleme. Während Alexandra mit ihrem Mann und den Kindern
im durchaus renovierungsbedürftigen Elternhaus Antons wohnte und oft nicht wusste, wo das Geld
für eine neue Dachrinne herkommen sollte, wenn die alte zunächst monatelang leckte und
schließlich zu Boden krachte, hatte Sophie gerade eine neue Eigentumswohnung gekauft und tat sich
mit den Kreditraten recht schwer. Im Mediengeschäft waren eben keine Reichtümer zu verdienen,
nicht einmal, wenn man eine erstklassige akademische Ausbildung hatte.
„Wir haben es schon in der Halbjahresvorschau drinnen. Und der Außendienst hat schon
Bestellungen aufgenommen, wir können das Projekt nicht mehr aufgeben." Sophie zog abschätzig die
Mundwinkel nach unten. „Dann solltest du aber wenigstens als Mitautorin genannt werden, finde
ich." Sie lachte. „Wäre zu schön!"
Beide widmeten sich wieder ihren eigenen Bildschirmen. Ein eigenes Buch - davon hatte Alexandra
schon lange geträumt. Aber selbst, wenn man Ideen und Begabung hatte - wenn man andauernd mit
den Manuskripten anderer beschäftigt war, ging unterwegs irgendwo die eigene Kreativität verloren.
Und mit einem Fulltimejob und zwei Kindern sowieso.
Ihr Handy summte. „Frau Heidegger, wegen dem Rohrbruch. Wir kämen dann jetzt." Sie seufzte. „Ich
hab Ihnen doch gesagt, am Vormittag ist niemand zu Hause. Ich hab mit Ihrem Chef extra
ausgemacht, dass Sie am Nachmittag kommen." „Wie Sie meinen!" Die Stimme am anderen Ende
klang arrogant. „Dann können wir aber nicht mehr garantieren, dass wir heute ..." „Natürlich!",
antwortete Alexandra. So heftig, dass Sophie aufsah. „Sie können nie irgendetwas garantieren." Sie
legte auf. Es war zwar nicht extrem dringend, aber ein zweites Klo war in einer vierköpfigen Familie
wirklich kein Luxus. Und den Wasserzufluss zu ebendieser Zweittoilette im Erdgeschoss hatten sie
abriegeln müssen, irgendwo musste es ein Leck geben, die Mauer neben dem Spülkasten war immer
feucht. Wenn sie nur daran dachte, dass es eigentlich höchste Zeit wäre, die gesamten Installationen
im Haus zu erneuern, wurde ihr übel. Außerdem, fand sie, sollte sich eigentlich Anton um solche
Dinge kümmern. Wozu war er schließlich Architekt? Allerdings schmetterte er ihre Einwände in der
Regel ab. „Man muss auch nicht Mathematik studiert haben, um einen Kassenzettel zu überprüfen.
Genauso wenig muss man Architekt sein, um einen Handwerker zu bestellen." Manchmal war er
schon ein fürchterlicher Klugscheißer. Obwohl - sie musste zugeben, dass er tatsächlich klug war.
Wenn man sich seine Entwürfe ansah, von denen allerdings nur wenige umgesetzt wurden ... Vor
allem aber war er witzig, konnte sie zum Lachen bringen. Man konnte ihm manches verzeihen.
Einmal wurde sie an diesem Vormittag noch unterbrochen. „Wenn du bitte einmal zu mir kommen
könntest ..." Martin Sorger, der Verleger, bat sie zu sich ins Büro. Martin war lang, dünn und ein
wirklich guter Arbeitgeber. Wenn er auch manchmal dazu neigte, zu sehr zu drängen, wenn Aufträge
sich länger hinzogen als geplant. „Deine Softporno-Reihe ... Sie hat schon wieder einen geschrieben.
Er kommt im November raus." Alexandra stöhnte auf. Das bedeutete, dass die Übersetzung bis
spätestens Weihnachten fertig sein musste. Für das Weihnachtsgeschäft würde es sich nicht mehr
ausgehen, aber da mittlerweile Millionen Menschen Büchergutscheine geschenkt bekamen, mussten
unmittelbar nach dem Fest ebenfalls neue Titel auf den Markt.
„Du müsstest mich dann aber von allen anderen Aufgaben freistellen", forderte Alexandra. „Und ich
müsste hauptsächlich zu Hause arbeiten. Damit ich nicht mit dem Hin- und Herfahren auch noch Zeit
verliere. Sonst geht sich das nicht aus." Sie legte einen Finger an die Lippen. Es dauerte oft ein paar
Stunden, bis sie mit solchen neuen Anforderungen seelisch zurechtkam, bis sie sich einen Plan
zurechtgeschustert hatte, wie doch alles unter Dach und Fach gebracht werden konnte.
„Darüber lässt sich reden. Magst du einen Kaffee?" „Schon", antwortete Alexandra. „Aber ich trink
ihn lieber vor meinem PC. Damit ich weiterkomme. Das Manuskript, übrigens, wird heute fertig. Soll
ich es selber an den Autor zurückschicken, oder willst du ...?" Martin seufzte. „Wird es was?" „Meiner
Meinung nach - eher nicht. Und wenn du es dir anschaust, der Autor hat auf alter Rechtschreibung
bestanden. Eher unüblich für Krimis, aber er kommt sich halt vor wie Heinrich Böll." „Schick es mir,
wenn du fertig bist. Ich kümmere mich darum. Und um ihn." Alexandra nahm es als Entlassung und
kehrte an ihren PC zurück.
Alexandra stand in der Küche, mit einem Espresso vor sich, und blickte versonnen durch das
Küchenfenster, das Aussicht auf die ganze Stadt bot. Na ja, die halbe. In einer Hand hielt sie ihr
Mobiltelefon. Anton war dran. „Ich muss noch mit einem wichtigen Kunden essen gehen. Rechne
also nicht zu früh mit mir." Alexandra seufzte. Ihr Mann bot ihr zwar wenig Anlass zum Misstrauen,
dennoch hoffte sie, dass der Kunde keine attraktive Kundin war. Man konnte Männern doch nie
gänzlich trauen.
„Mami, was gibt's heute?" Max versetzte der Küchentür einen Stoß, dass sie mit Schwung gegen den
Küchenschrank knallte. „Du hast doch in der Schule schon eine warme Mahlzeit bekommen",
erinnerte ihn Alexandra. Er klammerte sich schon wieder an ihr Bein. „Lass los, Max!" So gern sie mit
ihm kuschelte, das ständige Festhalten, während sie mit etwas anderem beschäftigt war, ging ihr auf
die Nerven. Sie hob Max hoch. Schwer war er geworden. Ihre Wirbelsäule würde ihr das nicht
verzeihen. „Runter!" Gott sei Dank. „Was hättest du denn gern?" „Spaghetti!" „Max, du kannst nicht
jeden Tag Spaghetti essen. Vor allem, wenn du schon in der Schule zu Mittag ein komplettes Menü
verdrückt hast. Was hat's denn gegeben?" „Was Grünes, das hat man nicht essen können, das war
eklig! Und Suppe mit nix drinnen!" Max zog einen Schmollmund, und Alexandra holte den Nudeltopf
aus dem Schrank, denn für lange Diskussionen hatte sie heute keine Nerven mehr. Es musste eine
Spaghettisoße aus dem Glas reichen, nur durfte Max das nicht sehen. Blubberte sie im Kochtopf vor
sich hin, gab es mit der Soße kein Problem. Bekam er aber mit, wie Alexandra sie aus dem Glas in den
Topf schüttete, war es vorbei mit seinem Appetit, dann verweigerte er die Nudeln. Sie hatte sich
früher niemals vorstellen können, wie heikel Kinder sein konnten. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie
alles gern gemocht, was ihre Mutter gekocht hatte.
„Hallo!" Annika stürmte zur Tür herein und ließ ihre Schultasche auf den Boden plumpsen. Alexandra
hörte sie darin herumkramen. „Gibt‘s was Neues?" „Gleich!", rief Annika. Sie kam in die Küche und
hielt ihr ein Heft unter die Nase. „Nicht! Das kriegt Tomatenflecken!" Sie legte den Kochlöffel
beiseite, wischte sich die Finger an den Jeans ab und nahm das Heft zur Hand. „Wow! Schon wieder
ein Einser!" Sie wuschelte Annika durch die Haare. „Ich bin stolz auf mein kleines Genie!" „Sogar mit
voller Punktezahl! Darf ich mir jetzt ein Schminkset kaufen?" Alexandra seufzte. „Darüber reden wir
später. Jetzt essen wir erst mal!"
„Aua!" Sie setzte den Nudeltopf auf dem Tisch ab und drehte sich um. Annika versuchte gerade, Max
eine Ohrfeige zu verpassen, doch der duckte sich weg. „Er hat mich an den Haaren gerissen!"
„Schluss jetzt! Sonst geht ihr ohne Essen ins Bett! Dann gibt's nur mehr eine Banane mit Joghurt!" Sie
wusste, es war keine gute Idee, mit gesundem Essen zu drohen - doch wahrscheinlich war sie selbst
schuld. Max musste gehört haben, dass sie Annika ein Genie genannt hatte - und da er sich selbst
mit dem Lernen etwas schwerer tat ...
Während des Essens wenigstens herrschte Ruhe. Irgendwie war das ungerecht. Anton saß
wahrscheinlich in einem Haubenlokal in der Stadt, und sie musste sich mit Spaghetti mit Fertigsoße
begnügen. Der einzige Vorteil des Gerichts war, dass beide Kinder es mochten und so wenigstens
über das Essen nicht Krieg geführt werden musste.
„Was ist jetzt wegen dem Schminkset?", fragte Annika, als sie das Geschirr zum Spüler trugen und
einräumten. Das Kind konnte hartnäckig sein. Alexandra seufzte. „Du kennst meinen Standpunkt. Ich
finde es nicht in Ordnung, wenn sich Elfjährige schminken. Ich selbst habe erst mit sechzehn ..." „Du
hast keine Ahnung!" Annikas Ton wurde vorwurfsvoll und patzig. „Alle schminken sich! Und ich bin
schon fast zwölf!" Alexandra schloss die Klappe des Geschirrspülers und stützte die Fäuste in die
Hüften. „Ich bin für dich verantwortlich, und solche Fragen werden unter uns ausgehandelt. Es spielt
keine Rolle, was andere angeblich dürfen oder auch nicht."
Wie oft hatten sie diese Debatten schon durch! Wie sollte man einer Elfjährigen erklären, dass sie in
den Augen von Männern als sexuell aktiv erscheinen konnte, wenn sie sich schminkte? Dass sie
zusätzlich zu ihren zumindest bereits sichtbaren Brüsten ein weiteres Merkmal zeigte, das sie älter
und somit als potentielle Beute erscheinen ließ? Aber wenn sie sich weiterhin stur stellte, würde
Annika wohl beginnen, sich hinter ihrem Rücken zu schminken, auf der Schultoilette wahrscheinlich.
Jeder Widerstand trug auch seine Risiken in sich. Annika floh mit einem Wutschrei aus der Küche und
stürmte die Stiege hinauf. Oben hörte Alexandra nur mehr die Tür ihres Zimmers knallen.
Zeit für Max, sich in den Vordergrund zu spielen. „Ist die Annika böse? Was hat sie gemacht?" „Nix!"
Alexandra strich ihm mit dem Finger über die Wange. „Erwachsen wird sie halt!" „Die blöde Gans
wird nicht erwachsen!", widersprach er.
Alexandra wollte das Thema mit ihm nicht weiter vertiefen. „Was habt ihr denn heute in der Schule
gemacht?" Max ließ sich leicht ablenken. „Ich hab einen Eishockeyspieler gezeichnet!" „Aber die
Saison ist doch schon vorbei?" Max hatte ein erstes Jahr beim Eishockeyverein hinter sich gebracht
und war Feuer und Flamme für den Sport. „Nächstes Jahr spiele ich bei den Großen!" Alexandra
hatte wohl oder übel bei sechs Spielen auf der Zuschauertribüne frieren müssen. Es saßen ohnehin
nur die Eltern der Spielerinnen und Spieler auf den Rängen, und manche feuerten ihre Kinder wie
besessen an. Nicht einmal vor Beschimpfungen gegnerischer Spieler schreckten manche Väter
zurück. Aber auch eine Mutter gab es, die über ein ansehnliches Repertoire an ordinären Ausdrücken
verfügte. Alexandra war der Sport nicht nur deswegen zu derb, sie hatte dazu noch ständig Angst,
dass Max sich verletzen würde, und sah gar nicht gern hin. Anton machte sich oft ein wenig lustig
über sie, wenn sie die Hände vor die Augen schlug, sobald ein Zusammenstoß drohte. „Das macht
einen richtigen Mann aus ihm!", sagte Anton dann. Sie war sich da nicht so sicher.
Now, naked, the knight stood in the dark. Only a few candles behind a column offered some dim,
flickering light to the hall. The servant made him sit down, asked him to put his hands behind his back
and bound him. The sweet perfume of the servant began to seep through his nostrils, and her hair
brushed lightly over his shoulders. His sword began to rise.
Dass das Zeug kreativ wäre, das sie hier zu übersetzen hatte, konnte man nicht behaupten.
Andererseits, einfache und klischeehafte Darstellungen waren leichter ins Deutsche zu bringen.
Manchmal allerdings konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, holprig dargestellte Sexszenen
wenigstens um die billigsten Bilder und schwülstigsten Adjektive zu erleichtern. Und was noch
erstaunlicher war - manchmal versetzten sie die Texte sogar in Stimmung. Ein paarmal hatte sie
Anton schon nach nächtlicher Übersetzungsarbeit verführt. Die ewig gleichen Fesselungsspiele und
flotten Dreier allerdings, die in den Büchern die Hauptrolle zu spielen schienen, hingen ihr allmählich
zum Hals heraus. Ein Wunder, dass es den Leserinnen nicht ebenso ging - denn wenn man der
Marktforschung glauben durfte, wurden diese Werke vornehmlich von Frauen gelesen. Ein wenig
Stolz empfand sie dann doch bei dem Wissen, dass Hunderttausende das lesen würden, was sie
geschrieben hatte, zumindest in ihrer Sprache. Erfahren würden das die Leserinnen allerdings nicht -
als Übersetzerin dieser Werke gebrauchte sie ein Pseudonym.
Mehr als drei Seiten waren aber nicht mehr drinnen, ihr drohten schon die Augen zuzufallen.
Manchmal dachte sie, es wäre Zeit, ein erotisches Wörterbuch zu schreiben - wenn es auch dünn
ausfallen würde, der Wortschatz, den Autoren zur Beschreibung aller nur denkbaren sexuellen
Vorgänge benutzten, schien äußerst begrenzt zu sein, egal, ob die Szenen im Mittelalter oder in
einem Raumschiff angesiedelt waren.
Es war bereits elf. Von Anton keine Spur, kein Anruf. Sie ging zu Bett, nahm sich das Buch vor, das sie
zu ihrem Vergnügen gerade las, überflog eine Seite, merkte, dass sie nichts mitbekommen hatte, weil
ihre Gedanken schon bei der Organisation des morgigen Tages waren, las die Seite nochmals, bekam
wieder nichts mit, legte das Buch beiseite und schlief ein.
2
Sie wurde von einem Knall wach. Knall? Sie schrak hoch, setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Durch die Vorhänge drang gedämpft das Sonnenlicht des frühen Morgens. Anton saß ihr gegenüber.
Im Anzug? Und er hatte gerade eine Sektflasche geöffnet? Was war los? Hatte sie Geburtstag?
Hochzeitstag? „Champagner!", rief Anton, stand auf und näherte sich ihr. Er stand auf wackeligen
Füßen und schwankte. Hatte er etwa die Nacht durchgezecht? Bei einem Kundentermin? Sie ließ sich
zurück aufs Bett sinken. „Wie spät ist es? Was willst du?"
„Hoch mit dir!" Er griff unter ihren Rücken und versuchte sie hochzuschieben. Gleichzeitig setzte er
ihr die Champagnerflasche an die Lippen. Weder zielte er gut, noch war sie bereit zu trinken. Der
Champagner floss ihr über das Kinn, rann zwischen ihren Brüsten hinab. „Was ist denn mit dir los?"
Ärger kam hoch. Sie wollte schlafen. Ihr Tag würde anstrengend werden, seiner anscheinend nicht.
Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? „Verschwinde!", zischte sie. „Und schlaf deinen
Rausch in deinem Arbeitszimmer aus!"
„Heute wird nicht gearbeitet, mein Schatz! Heute wird gefeiert!" Er nahm noch einen Schluck aus der
Flasche. Sie ließ sich auf ihr Polster zurücksinken. „Weck wenigstens die Kinder nicht auf!" Ihr
Nachthemd war völlig durchnässt. Sie fror. Hoffentlich würde er sich bald beruhigen und das Licht
wieder ausschalten.
„Was feierst du eigentlich?" „Ich hatte schon gedacht, du fragst nie!" Die Flasche in der einen Hand
haltend, tanzte Anton durchs Zimmer, in einem etwas wackeligen Sirtaki-Schritt. Dabei zählte er.
„Eins, zwei, drei und vier und fünf und sechs, sieben!" Alexandra beobachtete ihn stirnrunzelnd.
Drehte er durch, oder gab es wirklich etwas zu feiern? Er hielt bei 24 inne. „24 Millionen!", hauchte
er. „24 Millionen Euro! Ich habe 24 Millionen Euro gewonnen! Wir haben gewonnen! Bei den
Euromillionen! 24 Millionen Euro!" Er kniete am Bettrand nieder, zog die Decke von ihren Füßen und
nahm die kleine Zehe zwischen zwei Finger. „Eine Million für die Zehe", rief er, „und eine Million für
die nächste!" „Lass das!", stöhnte Alexandra. Wer konnte wissen, was er sich in seinem Suff
zusammenphantasierte. 24 Millionen gewann man nicht einfach so.
„Du spinnst ja. Lass mich schlafen. Und geh auf das Sofa in dein Arbeitszimmer, ich bin müde." Sie
drehte sich zur Seite und zog die Decke über den Kopf. 24 Millionen. Was für ein Unsinn. Sie hasste
seine dummen Scherze.
„Nein, Schatz, es ist wahr!" Die Decke wurde ihr weggezogen. „Fünf Zahlen - zwei Sterne!" Er zog
einen ausgedruckten Beleg aus der Innentasche seines Sakkos und entfaltete ihn. „Fünf Zahlen - zwei
Sterne! Jackpot! 24 Millionen!" Er reichte ihr den Beleg, nahm einen weiteren Schluck und tanzte
neuerlich durchs Zimmer. Sie besah sich, nun doch neugierig geworden, den Zettel. Es war tatsächlich
ein Lotterie-Beleg. Sie wusste zwar, dass Anton regelmäßig Geld in diese Form des Glücksspiels
investierte, hatte sich aber kein einziges Mal eine Ziehung mit ihm angesehen. Sie hatte für Lotto und
dergleichen nichts übrig, sie hielt das für eine schlechte Angewohnheit der Unterschicht, die ihr
mageres Einkommen weiter beschnitt, indem sie es hoffnungslosem Glücksspiel in den Rachen warf.
Anton aber hatte ihr immer wieder vorgeschwärmt, was man mit einer Million alles machen könnte.
Und dabei hatte er immer von einer, genau einer Million gesprochen. Jetzt sollte er 24 Millionen
gewonnen haben? Wahrscheinlich hatte sich Anton getäuscht, er war wohl schon während der
Ziehung angetrunken gewesen. Niemand gewann 24 Millionen Euro, schon gar nicht mit einem
einzigen Schein. Wahrscheinlich waren es 24.000 oder so.
Sie zog einen Bademantel über und setzte sich vor ihren Laptop. Die Gewinnzahlen konnte man mit
Sicherheit im Internet nachlesen. Wenige Minuten später hatte sie die gewünschte Antwort. Die
Zahlen, die gezogen worden waren, stimmten mit einer der Zahlenreihen auf ihrem Beleg überein.
Anton hatte die entsprechende Kolonne mit Textmarker gekennzeichnet. Aber von einer
Gewinnsumme stand da nichts.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. „Die Zahlen stimmen. Aber da steht keine Gewinnsumme." Sie
runzelte die Stirn. „Ein Anruf! Ich hab einen Anruf bekommen! Und natürlich die ganze Nacht kein
Auge zugemacht! 24 Millionen!"
Alexandra war verwirrt. Was war in einer derartigen Situation zu tun? Hinlegen und schlafen, am
besten, aber ob sie jetzt noch einschlafen konnte? 24 Millionen? Was machte man mit 24 Millionen?
Wenn es denn stimmte. Anton hatte etwas von einem Anruf gesagt. Er konnte auch auf einen Scherz
hereingefallen sein. Anton war inzwischen samt Anzug neben ihr in das Bett gesunken und hatte zu
singen aufgehört. Sie schaltete das Licht ab. Vorläufig, so sagte sie sich, würde alles weitergehen wie
bisher. Vor allem, solange alles derartig ungewiss war. Sie würde morgen natürlich pünktlich im Büro
erscheinen, sie wollte keinesfalls als unzuverlässige Mitarbeiterin dastehen, die wegen ein bisschen
Geld gleich den Kopf verlor. Ebenso würden die Kinder in die Schule gehen, die sollten vorläufig am
besten überhaupt nichts von dem Gewinn erfahren.
Anton lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Anscheinend war er soeben eingeschlafen.
Leises Schnarchen verriet ihr, dass er auch nicht so schnell wieder aufwachen würde. Die
Champagnerflasche hatte er nicht losgelassen, sie hing an seinem Arm über den Bettrand. Alexandra
löste sie aus seinen Fingern. Es musste nicht auch noch der Boden überschwemmt werden, wenn er
losließ. Sie besah die Flasche. Etwa ein Viertel war noch drinnen. Schnell nahm sie einen Schluck,
stellte die Flasche beiseite und sah auf die Uhr. Viel Zeit blieb nicht mehr, bis der Wecker läutete, sie
brauchte sich erst gar nicht bemühen, noch einmal einzuschlafen, legte sich wieder neben Anton und
wartete, bis sie die Kinder wecken musste.
Erst als sich Max beschwerte, dass der Kakao zu wenig süß war, wurde ihr bewusst, dass sie das
Frühstück der Kinder völlig in Gedanken versunken zubereitet hatte. Was war als Nächstes zu tun?
Jausenbrote herrichten. Wie viele Jausenbrote konnte man für 24 Millionen Euro kaufen? Ihr wurde
schwindelig bei dem Gedanken. Millionen hin oder her, rief sie sich zur Ordnung. Die Kinder mussten
zur Schule, und die Jausenbrote mussten in die Schultaschen.
„Wo ist denn Papa?" Annika rümpfte misstrauisch die Nase. „Er ..." Alexandra zögerte. „Er hat in der
Nacht lange gearbeitet. Er geht heute später ins Büro." „Und wer bringt mich dann ..." Max begann
bereits, ein weinerliches Gesicht zu ziehen. So weit war es also schon gekommen - wenn er fünf
Minuten zu Fuß gehen sollte, fühlte er sich bereits zurückgesetzt und glaubte, wenn er ein bisschen
Theater machte, würden automatisch seine Ansprüche erfüllt. „Du gehst heute zu Fuß. Und wenn dir
das nicht passt, kannst du gerne Papa aufwecken. Der wird eine Riesenfreude haben!" Das war jetzt
etwas zu scharf gekommen. Max' Mundwinkel zuckten, wanderten nach unten, und er begann
bereits, in Vorbereitung eines Heulkonzerts, Rotz aufzuziehen. Schnell setzte sich Alexandra neben
ihn, hielt ihm ein Taschentuch unter die Nase und strich ihm übers Haar. „Schau, Max. Die fünf
Minuten zu Fuß, das tut dir gut! Heute ist schönes Wetter, und ein bisschen Bewegung vor der
Schule, das macht dich munter!" Max schniefte immer noch. Es ging wohl nicht um den kurzen
Fußweg, sondern einfach darum, dass er seine Ansprüche durchsetzen wollte. Alexandra seufzte.
Dieses Problem konnte man jedenfalls nicht mit Geld lösen, im Gegensatz zu einer kaputten
Dachrinne, zum Beispiel. Wenn der Kleine mitbekam, dass sie nun reich waren, viel zu reich, was für
Ansprüche würde er dann wohl erheben? Sie stellte ernüchtert fest, dass sie jetzt zumindest eine
Sorge mehr hatte. Ob es auf der anderen Seite vielleicht eine Sorge weniger werden würde, war
abzuwarten.
Als die Kinder endlich weg waren, hatte sie sich natürlich mit jeweils einem Euro für eine Süßigkeit
erpressen lassen, damit endlich Schluss mit dem Geraunze war. Sollte sie Anton jetzt wecken oder
ihn einfach in Ruhe seinen Rausch ausschlafen lassen? Sie entschied sich für einen Mittelweg, ging ins
Schlafzimmer und suchte sich eine Bluse, einen Rock und frische Unterwäsche aus dem Kasten, ohne
besonders darauf zu achten, leise zu sein. An Antons gleichmäßigen Atemzügen hörte sie jedoch,
dass er tief schlief. Sollte sie ihn zudecken? Nein. So würde er wenigstens irgendwann zu frieren
beginnen und wieder aufwachen.
Sie legte vor dem Badezimmerspiegel eine Halskette um, die, so erinnerte sie sich, weniger als
50 Euro gekostet hatte, und ertappte sich bei dem wohligen Gedanken an den echten, wertvollen
Schmuck, den sie nun kaufen würde können. Zunichte allerdings wurde der wohlige Gedanke bei der
Vorstellung, von ihren Kolleginnen im Verlag wegen der teuren Neuanschaffungen argwöhnisch
gemustert zu werden.
Sie seufzte, als Antons Handy läutete. Sie fand es in seiner Sakkotasche auf dem Boden des
Schlafzimmers, ohne dass Anton aufgewacht wäre. Es war Mirko, ein Kollege aus seinem Büro. „Du,
Alexandra? Was ist mit Anton? Wir hätten einen Termin zusammen, in einer Stunde. Wir müssten
jetzt gleich wegfahren!" Mirko klang ungeduldig. Er war nicht nur Antons bester Freund und Kollege,
auch als Paar verstanden sie sich gut mit ihm, sie alle kannten sich seit ihrer Studienzeit. Oft waren
sie zu viert ausgegangen - sie mit Anton, Mirko mit einer seiner häufig wechselnden
Bekanntschaften. Die hatten meist glamourös, aber gelangweilt gewirkt. Manchmal hatte ihr Mirko
während dieser Zusammenkünfte Blicke zugeworfen, die ihr verrieten, dass er an ihr mehr als nur
oberflächlich interessiert war.
Alexandra verließ das Schlafzimmer und antwortete leise: „Es geht ihm nicht gut. Er wird wohl heute
nicht ins Büro kommen, zumindest am Vormittag nicht." „Kannst du ihn mir geben?" Alexandra
zögerte. Sie wollte nicht verraten, dass Anton betrunken eingeschlafen war. „Er hat irgendwas
eingenommen und schläft jetzt." Mirko seufzte. „Richt ihm bitte wenigstens aus, dass er sich sofort
melden soll, wenn er wach wird. Es wäre dringend." „Okay, mach ich!" Sie legte auf, stellte den
Klingelton lauter und deponierte das Handy auf Antons Nachttisch. Beim nächsten Klingeln würde er
selber drangehen müssen.
Ein neues Rad, das wäre schon etwas. Alexandra fuhr gerne Rad, wann immer sie Gelegenheit dazu
fand. Ein Rad fürs Büro, eines für die Straße und eines für das Gelände. Momentan erledigte sie alles
mit demselben nicht ganz taufrischen Mountainbike. Wie viele Räder konnte man für 24 Millionen
kaufen? Sie überschlug im Kopf die Zahlen, während sie in einer leichten Brise am Fluss
entlangradelte. Sie kam zu dem Schluss, dass es selbst bei teuren Geräten für 12.000 oder mehr
Räder reichen würde. 12.000 Räder, das konnte man sich nicht einmal vorstellen. Ob 12.000 Räder
auf einem Fußballfeld Platz hatten?
„Hallo, Alexandra!" Sophie saß schon auf ihrem Platz und lächelte ihr zu. „Wie geht's?" „Ja, äh ..."
Nicht einmal darauf fiel ihr heute spontan eine passende Antwort ein. „Super, eigentlich!" Das
konnte nicht überzeugend geklungen haben. Sophie zog die Augenbrauen hoch. „Ist was?" Sie hatte
ein Gespür dafür, wenn etwas anders war als sonst, das hatte sie schon mehrfach bewiesen.
Alexandra bemühte sich um eine möglichst glaubwürdige Ausrede. „Die Mama, du weißt ja. Sie ist
wieder ..." „Oh Gott!" Sophie nickte verständnisvoll und drang nicht weiter in sie. Oft genug hatten
sie sich schon über die labile Psyche von Alexandras Mutter unterhalten. Sie verfiel immer wieder in
tiefe Depressionen, musste manchmal Tage oder sogar Wochen in einer psychiatrischen Klinik
verbringen und meist starke Medikamente einnehmen. Sophie hatte sicher Verständnis dafür, dass
sie jetzt, am Beginn eines Arbeitstages, nicht darüber sprechen wollte. Dabei ging es ihrer Mutter in
Wirklichkeit seit drei, vier Monaten überraschend gut.
Großartig war das, dachte Alexandra bei sich. Sie war jetzt zwar reich, dafür aber musste sie gleich in
der Früh ihre Freundin hinters Licht führen. Ganz zu schweigen von den Kindern, denen hatte sie
nämlich auch ein Märchen aufgetischt - die angebliche Nachtarbeit von Anton. Würde sie jetzt zur
notorischen Lügnerin werden, nur um einen Millionengewinn geheim zu halten? Sie dachte an
Sophies Eigentumswohnung. Sie konnte deren Schulden mit ein paar Mausklicks begleichen, sobald
das Geld auf dem Konto eingegangen war. Sollte sie das tun, konnte man so etwas tun? Würde sich
Sophie darüber überhaupt freuen?
Nach einer Stunde merkte sie, dass ihre Arbeit am Manuskript oberflächlich und unkonzentriert
gewesen war. Am besten, sie fing noch einmal dort an, wo sie gestern aufgehört hatte. Ihre Leistung,
so entschied sie, durfte keinesfalls unter dem Lottogewinn leiden. Obwohl, eigentlich hatte sie es
jetzt gar nicht mehr nötig zu arbeiten, überlegte sie. Ob es nicht auch Spaß machen würde, den Tag
mit Shoppen und im Kaffeehaus zu verbringen? Sie schob den Gedanken beiseite.
Der Vormittag verlief mühsam, die Konzentration auf ihre Arbeit fiel ihr weiterhin schwer. Sie
überlegte schon, ob sie sich nachmittags freinehmen sollte, als ihr Handy summte. Anton. War er
doch noch einmal aufgewacht. „Willst du nicht mit mir feiern? Wir müssen doch feiern!", rief er so
laut ins Telefon, dass Alexandra das Gerät unwillkürlich etwas von ihrem Ohr entfernte. Sophie hob
interessiert den Kopf. Sie musste mitbekommen haben, was Anton gesagt hatte. Alexandra aber war
nicht nach Feiern, eine ihr sonst kaum bekannte Beklemmung hatte sich um ihre Brust gelegt. Sie
konnte sich nicht freuen, oder zumindest noch nicht. Sie seufzte und antwortete leise: „Ich frage, ob
ich nachmittags freibekomme." Es musste ja nicht die gesamte Belegschaft darüber informiert
werden, worüber sie redeten.
Anton jedoch dachte gar nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. „Was heißt fragen? Du brauchst nie
mehr jemanden zu fragen, du kannst tun, was du willst!" Er hatte sicher recht, so konnte man ihre
Situation natürlich auch sehen, aber es gelang ihr eben im Moment nicht, so geradlinig wie er zu
denken. Anton hatte anscheinend schon wieder getrunken, man konnte es an seinem undeutlichen
Sprechen hören.
„Was will er denn feiern?" Sophie war, natürlich, hellhörig geworden. Laut genug war Anton ja
gewesen, sie hatte gar keine Möglichkeit gehabt, etwas zu überhören. Alexandra entschloss sich
spontan, das Lügen sein zu lassen. Sie würde es ohnehin nicht durchhalten können. „Er hat Geld
gewonnen, in einer Lotterie. Ich weiß nicht, wie viel." Schon wieder eine Lüge. „Na ja", lächelte
Sophie. „Viel wird's nicht gewesen sein. Das wär ja mehr als unwahrscheinlich. Ist wenigstens ein
neues Rad für dich drin?" Alexandra nickte schuldbewusst und hoffte, dass sie nicht rot geworden
war. Es würde mühsam werden, dachte Alexandra, Sophie zu erklären, warum sie nicht gleich mit der
Wahrheit herausgerückt war. Und wenn sie Sophie Geld gab, musste sie dann nicht auch den
anderen Kolleginnen ... Am Ende war es doch das Beste, sich nachmittags freizunehmen, um einen
klaren Kopf zu bekommen. „Ja, ich werde mich bemühen. Gehen wir irgendwohin essen. Reservier
was. Ich kümmere mich." Sie legte auf.
„Lieber wäre mir, das Manuskript endlich zu Ende zu bringen. Was ich jetzt nicht schaffe, muss ich
dann am Abend machen." Alexandra schüttelte den Kopf. „Mach dir keinen Stress!", beruhigte
Sophie. „Es wird schon werden. Ich wär froh, wenn ich einen Mann hätte, der mal spontan feiern
will!" Alexandra runzelte die Stirn. „Ist was mit Leo?" Sophie winkte ab. „Nein, nein! Nur, du weißt ja,
er muss immer alles mindestens drei Monate im Voraus planen. Und Essenszeiten müssen
eingehalten werden und so ..." Sie ließ ihren Satz ausklingen. Alexandra wusste, dass Sophies Freund
ein wenig zur Pedanterie neigte und eigentlich zu konservativ für Sophie war. Dazu kam, dass er
religiös war, sie aber mit einem Kirchenaustritt liebäugelte. Vielleicht hatte sie es mit Anton doch
ganz gut erwischt. Wenn er sich auch im Moment ein wenig kindisch aufführte.
Ihr Handy läutete wieder. Der Installateur. „Frau Heidegger ..." Seine Stimme hatte einen klagenden
Unterton. Er würde auch heute den Rohrbruch nicht reparieren. Doch diesmal hatte Alexandra
genug. „Wissen Sie was, Herr Hofmann? Wir planen eine umfangreiche Renovierung unseres Hauses,
wir haben uns endlich dazu durchgerungen. Neue Bäder, Heizung, alles. Und wenn Sie auch nur den
Funken einer Chance haben wollen, diesen Auftrag zu bekommen, dann ist die Reparatur heute
Abend erledigt!" Sie drückte die rote Taste. Für etwas musste das viele Geld doch gut sein. Das mit
der Renovierung war ihr ganz spontan eingefallen. Aber es war auch irgendwie naheliegend: Wann,
wenn nicht jetzt, sollten sie das Haus gründlich renovieren? Sie hatten jahrelang schon darüber
geredet und auch dafür gespart, jetzt war das alles kein Problem mehr.
„Martin, könntest du mir heute Nachmittag freigeben? Mein Mann hat gerade angerufen ... Er hat
einen ..." Sie überlegte, wie sie die Neuigkeit am besten formulieren sollte. „Einen Gewinn hat er
gemacht, und er möchte mit mir ein bisschen feiern. Ich mach dann das Manuskript heute Abend
fertig." Martin runzelte die Stirn, nickte aber. „Ich kann mich darauf verlassen? Was hat er denn
gewonnen? Ein Kochbuch vielleicht? Oder eine Gewürzmühle?" Das war ein Scherz, den nur Insider
verstehen konnten - ein bekannter Koch, der auch in ihrem Verlag ein Kochbuch herausgebracht
hatte, moderierte jetzt eine Quizshow, und als Preis für die richtige Antwort konnte man dort eine
Gewürzmühle gewinnen. Oder eben das Kochbuch. Alexandra lächelte. „Hoffentlich!" Sie ließ im
Unklaren, worauf sie hoffte.
Auf dem Weg zum Restaurant gingen ihr so viele Gedanken durch den Kopf, dass sie einmal eine rote
Ampel überfuhr und schließlich abstieg und das Rad schob, um sich nicht selbst zu gefährden. Wie sie
den Gewinn ihrer Familie beibringen konnte? Ihre Mutter, so vermutete sie, würde es nicht wichtig
nehmen, sie hatte keine Bedürfnisse, die mit Geld befriedigt werden konnten. Sie bezweifelte, ob sie
überhaupt aus ihrer kleinen, etwas schäbigen Wohnung ausziehen würde, wenn sie ihr etwas viel
Schöneres in Aussicht stellen konnte. Mutter lebte in einer spartanisch eingerichteten
Zweizimmerwohnung, die auf Alexandra so kalt wirkte, dass sie es nie lange dort aushielt. Neue
Möbel, eine schöne Aussicht oder überhaupt eine Gestaltung ihrer Umgebung interessierten ihre
Mutter nicht. Oder nicht mehr. Wichtig war ihr, dass alles blieb, wie es immer gewesen war. Und das
war schwierig genug, wenn man ihre gesundheitliche Situation nüchtern betrachtete.
Zu ihrem Bruder Walter hatte sie vor Jahren schon den Kontakt verloren. Er hatte die Familie früh
verlassen, war unstet herumgezogen. Von einer Berufsausbildung oder einem Arbeitsplatz wusste
Alexandra nichts. Auch nicht von einer Familie. Kaum hatte sie eine Adresse oder eine
Telefonnummer von ihm, war sie auch schon nicht mehr aktuell. Nicht einmal über das Internet und
soziale Netzwerke war es ihr in den letzten Jahren gelungen, mit Walter Kontakt aufzunehmen. Was
aber, wenn er erfuhr, dass sie nun reich war? Walter war der Typ Mensch, der von Geld angezogen
wurde wie die Motten vom Licht. Leider hatte er sich dabei schon mehr als einmal die Finger
gründlich verbrannt.
Tobi würde etwas Geld dringend brauchen können. Er arbeitete in einer Einrichtung, die psychisch
Kranke betreute, jedoch nur als Teilzeitkraft, mehr traute er sich nicht zu. Für Alexandra war es nur
eine Frage der Zeit, bis er in seiner Einrichtung auf die Seite der Klienten wechselte, er klagte sowohl
über Leistungsdruck während der Arbeit als auch über Einsamkeit in seiner Freizeit. Er hatte sich
selbst aufgegeben, ließ sich hängen und litt - ähnlich wie ihre Mutter - gelegentlich unter
Depressionen. Sie fragte sich, ob ihrer Familie mit Geld wirklich zu helfen war. Sie war bisher schon
die Einzige gewesen, die es zu einem einigermaßen stabilen Familienleben mit einem ausreichenden
Einkommen gebracht hatte, und sie war auch die Einzige mit einer guten Ausbildung. Das Geld, so
sagte sie sich, bedeutete jetzt auch mehr Verantwortung ihrer Familie gegenüber.
Das Mittagessen verlief unharmonisch. Anton war überdreht, zu laut, lobte das Menü in den
höchsten Tönen und trank zu viel Alkohol. Was Alexandra besonders missfiel, war, dass er möglichst
teuren Wein und Champagner bestellte. Guter Wein war ihr zwar wichtig, doch im Restaurant
achtete sie darauf, eine eher bescheidene Auswahl zu treffen, damit der Geschmack nicht den der
Speisen übertönte oder zunichtemachte. Sie hasste angeberische Trinker, die allein durch die Wahl
der Weine ihren Status darstellen mussten. Darüber war mit Anton zu reden, und zwar bald. Es
konnte nicht angehen, dass er zum protzigen Angeber mutierte. Sie hing so sehr ihren Gedanken
nach, dass sie das gute Essen kaum wahrnahm und gedankenlos in sich hineinschaufelte.
„Wir müssen auch mit den Kindern reden", warf sie ein, als das Dessert serviert wurde. Natürlich
musste Anton dazu einen sündteuren Süßwein serviert bekommen. „Haben Sie einen Sauternes?",
fragte er die Kellnerin, die seinen Heiterkeitsausbrüchen amüsiert lächelnd standgehalten hatte.
„Natürlich, der Herr!" Wahrscheinlich hoffte sie auf ein üppiges Trinkgeld. Ein ebenso üppiges, wie
ihr Dekolleté war, dachte Alexandra gehässig. „Für dich auch, Schatz?" Sie schüttelte den Kopf.
Merkte er nicht, dass sie überhaupt nicht in der richtigen Stimmung für ein ausgelassenes
Gourmetmenü war?
„Was sagen wir den Kindern?", wiederholte sie, als sie merkte, dass Anton ihre Frage entweder
ignoriert oder überhört hatte. Er wedelte mit der Dessertgabel in der Luft herum. „Du machst dir
über alles viel zu viele Gedanken, Schätzchen!" Außerdem sprach er zu laut, fand sie. „Kommt Zeit,
kommt Rat! Sie werden sicher nicht schwer leiden müssen, wegen dem ... du weißt schon!" Er
zwinkerte ihr verschwörerisch zu, ohne zu merken, dass sie immer schweigsamer wurde.
Er ging ihr auf die Nerven. Kein ernstes Wort war seit heute früh mit ihm zu wechseln gewesen, er
merkte nicht, wie es ihr ging, und schien ihre Sorgen nicht zu verstehen. Von seinem trockenen
Humor war heute nichts zu merken. Sie nahm einen Löffel Zitronensorbet und zerdrückte es
zwischen Zunge und Gaumen. Morgen. Morgen würde man wieder vernünftig mit ihm reden können.
Es musste ja auch ihm klar sein, dass diese gewaltige Summe auch eine unglaubliche Verantwortung
bedeutete. „Und den alten Kasten, den verkaufen wir! Ich bau uns ein neues Haus, in der besten
Lage, und bis es fertig ist, mieten wir uns ein Penthouse!" Sie verzichtete auf eine Entgegnung und
dachte an Herrn Hofmann, der hoffentlich schon in ihrer Toilette an der Arbeit war.
3
He smelled some expensive, sweet perfume on the servant's fingers. She giggled, while she put the
blindfold over his eyes. He wondered if she was naked like him. She had appeared behind him out of
nowhere. He could not help but feel that his sword was rising. Suddenly the servant stopped giggling.
He could hear a dark voice in front of him. „I am here, Lancelot. Right before you. I do not wear any
clothes, like you." It was, he now registered, the voice of his queen.
Schon kühn, dachte sie, aus den Artus-Epen einen Softporno zu stricken. Aber nicht ganz ohne
Charme. Heute allerdings verfehlten die Geschichten der englischen Autorin ihren Zweck, sie
erregten sie kein bisschen, denn es kostete sie fast übermenschliche Anstrengung, sich auf den Text
zu konzentrieren. Noch dazu, wo Anton immer wieder herüberkam und sie störte. Sonst respektierte
er, dass sie während der Übersetzungsarbeit nicht gestört werden durfte. Aber heute anscheinend
war ihm das Herz so voll, dass sein Mund ständig überging. Ihr dagegen lag der Gewinn wie ein Stein
im Magen. Sie hatten mit den Kindern noch nicht gesprochen, nicht einmal geklärt, was sie ihnen
sagen würden. Ihre Mutter, der Verleger, die Kolleginnen - mit allen waren Gespräche zu führen, vor
denen ihr graute.
„Schatz, ich schau gerade nach Grundstücken! Da hätte ich was!" Er hielt ihr sein Tablet vor die Nase.
„Stadtrandlage", las sie. „Unverbaubarer Gebirgsblick." Sie suchte nach einem Preis. „Was soll es
denn kosten?", fragte sie, weil sie keinen finden konnte. „400.000 Euro!", rief Anton. „Ein Klacks!"
„Damit könnten wir aber auch das Haus hier ganz toll renovieren!", warf sie ein. „Wo ist das denn
eigentlich?" „Nur fünfzehn Autominuten vom Stadtzentrum entfernt!" Anton war geradezu
euphorisch. „Aber, ich fahr doch gerne mit dem Rad in den Verlag ..." „Unsinn!", unterbrach Anton
sie. „Du kannst dir ein Cabrio kaufen oder von mir aus ein E-Bike, was du willst!" Alexandra schüttelte
den Kopf. „Und die Kinder, wegen der Schule ..." Doch kein Einwand schien bei Anton zu verfangen.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung verschwand er aus dem Arbeitszimmer. „Du kannst einem
aber auch alles vermiesen!", murmelte er noch vor sich hin.
Tat sie das tatsächlich? Ihm alles vermiesen? Was sprach eigentlich gegen ein neues Haus? Man
konnte einen Pool einbauen, dafür hatten sie jetzt genug Geld. Sogar einen mit Überdachung,
eigentlich hatte sie immer von so etwas geschwärmt. Oft hatte sie sehnsüchtig Traumhäuser in
Fernsehmagazinen und Katalogen betrachtet und sich über den alten Kasten geärgert, den ihnen
Antons Eltern hinterlassen hatten. Die lebten jetzt in einer feinen Dachwohnung mit Rundblick, die
ihnen Anton ausgebaut hatte. Warum eigentlich war sie so negativ eingestellt? Wahrscheinlich hatte
Anton recht, sie musste erst lernen, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Es dauerte bei ihr
halt länger als bei ihm. Sie blickte aus dem Fenster. Für einen Pool war eigentlich auch hier genug
Platz. Sogar mit einem Whirlpool dazu ...
Am Samstag wachte Alexandra ungewöhnlich früh auf. Die Sonne schien durch die Ritzen der
Jalousie, und sie horchte in sich hinein. Fühlte sie sich schon wohler bei dem Gedanken, um
24 Millionen Euro reicher zu sein? Ihr Bauch gab ihr keine Antwort. Gestern Nacht war Anton beim
wöchentlichen Sex ebenso euphorisch gewesen wie beim Suchen nach Grundstücken, er hatte an ihr
herumgezerrt und -geleckt, wie er es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sogar Champagner
hatte er über ihren Körper geschüttet, und nach Anlaufschwierigkeiten war es ihr gelungen, seiner
Begeisterung zu folgen, und auch sie war gekommen, gleich zweimal. Aber jetzt ... Sie musste Anton
aufwecken, bevor es Zeit war, mit den Kindern zu sprechen. Sie mussten sich eine Strategie
zurechtlegen, was man ihnen sagen sollte und wie. Welche Antworten konnten sie geben, wenn die
Kinder jetzt meinten, ihre unverschämtesten Wünsche müssten auf der Stelle erfüllt werden?
Einstweilen aber wollte sie noch ein paar Minuten Ruhe genießen. Draußen zwitscherten die Vögel,
und das wenige Sonnenlicht, das durch die Jalousie fiel, flackerte durch die Äste, die sich vor dem
Fenster im Wind bewegten. Sollte sie ihre Arbeit hinschmeißen? Aufhören, seltsame erotische
Romane zu übersetzen? Unbegabte, übergewichtige Krimiautoren und von ihrer Genialität
eingenommene spindeldürre Lyrikerinnen hinter sich lassen? Was würde sie den ganzen Tag tun?
Schuhe und Taschen kaufen? Beides tat sie nicht ungern. Wenn sie sich auch eingestehen musste -
das Stöbern nach interessanten Schnäppchen war der größere Genuss als das Besitzen. Würde es ihr
tatsächlich Spaß machen, einfach etwas auszusuchen, was ihr gefiel, darauf zu zeigen, es einpacken
zu lassen und nach Hause zu schleppen, ohne überhaupt auf den Preis zu sehen? Oder würde es ihr
vielleicht Spaß machen, einen eigenen Verlag zu gründen? Am Ende doch zu viel Verantwortung. Mit
unbedachten Geschäften konnte man sogar Millionen sehr schnell verlieren. Sie erinnerte sich an
eine Fernsehdoku, in der Millionengewinner vorgestellt worden waren, die nach wenigen Jahren
weniger als zuvor besaßen.
Die ganze Situation bedeutete zu viel Stress, zu viel Verantwortung, zu viele Entscheidungen und, vor
allem, zu viele Lügen. Bis gestern war ihr klar gewesen: Familie, Haus, Job, Mutter und Tobi, das war
alles schon Aufgabe genug, sie konnte und wollte nicht mehr bewältigen. Jetzt aber schien es, dass
sie sich neue Lasten aufgeladen hatte, um die sie nicht gebeten hatte.
„Krieg ich dann ein Pferd?" Mit dieser Frage hatte Alexandra gerechnet. „Warum nicht?" Anton biss
in sein Marmeladebrot. Natürlich hielt er sich nicht an die gerade noch getroffenen Vereinbarungen.
Keine voreiligen Versprechungen, hatten sie abgemacht. Alexandra stöhnte. „Juhu! Ein Pferd!" Sie
warf Anton einen vernichtenden Blick zu. Natürlich war es jetzt wieder an ihr, die verfrühten
Hoffnungen zu dämpfen. „Wir werden weiterhin leben wie bisher, Annika." Sie musste sich räuspern.
„Und solche Entscheidungen müssen überlegt und gemeinsam getroffen werden. Ein Pferd bedeutet
nicht nur Kosten, sondern auch Verantwortung und Arbeit." Sie runzelte die Stirn. Wie kam sie dazu,
jetzt die Kassandra zu spielen, die den Kindern jede Freude verdarb?
Prompt kam Antons Konter. „Lass ihr doch die Freude. Natürlich nicht gleich. Später mal." Annika
verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Grimasse. „Aber du hast doch gesagt ..." „Ja, dann
sag ich halt nichts mehr, wenn hier jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird!", rief Anton, plötzlich
zornig. Etliche Marmeladebröckchen aus seinem Mund landeten auf Alexandras Pullover, während er
zur Bekräftigung seiner Entscheidung noch mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
„Und ich will ein Schlagzeug! Und eine Playstation!" Max musste natürlich beim Konsumwettbewerb
in der ersten Reihe dabei sein. „Darüber reden wir ein anderes Mal!" Eigentlich hatte sie etwas ganz
anderes besprechen wollen als eine exklusive Einkaufstour. „Es gibt viel wichtigere Dinge, die ihr
verstehen müsst", erklärte Alexandra in möglichst beruhigendem Ton und legte beiden Kindern eine
Hand auf die Unterarme. „Ihr sollt möglichst wenig darüber sprechen, dass wir Geld gewonnen
haben. Am besten mit gar niemandem. Und vor allem sollt ihr keine Summen nennen. Und
gegenüber niemandem angeben damit, dass wir jetzt mehr Geld haben als früher." Sie hoffte, dass
die Botschaft angekommen war. Zumindest für Max würde sie aber noch zahllose Male wiederholt
werden müssen.
„Du sagst immer, man soll die Wahrheit sagen!", maulte Annika, die die Hoffnung auf ihr eigenes
Pferd entschwinden sah. „Manchmal kann man den Leuten nicht die ganze Wahrheit zumuten",
mischte Anton sich ein. „Was glaubst du, was los ist, wenn die Leute erfahren, wie viel Geld wir
haben?" „Ist doch egal!", plärrte Max. „Wir können uns alles kaufen!" „Freunde nicht", warnte
Alexandra. „Im Gegenteil, das kann ganz schnell gehen. Deine Freunde merken, dass wir viel Geld
haben. Sie erwarten, dass du ihnen was davon abgibst, Geschenke machst, große Partys
veranstaltest." „Können wir ja dann auch!", strahlte Annika. „Du wirst gar nicht glauben, wie viele
falsche Freunde du dann hast. Die nur an deinem Geld interessiert sind. Mama hat schon recht!"
Endlich waren sie einmal einer Meinung. Was selten vorgekommen war seit der Nachricht von dem
Gewinn.
Anton fasste die Kinder an den Händen. „Wir sind uns also einig? Großes Ehrenwort! Großes
Geheimnis!" „Großes Geheimnis!", stimmten sie im Chor ein. „Und was ist mit Opa und den Omas?",
fragte Annika. „Mit meiner Mutter rede ich, und Papa wird mit seinen Eltern reden", entschied
Alexandra. „Ihr haltet den Schnabel, bis wir den Großeltern erklärt haben, was los ist."
Antons Handy läutete. „Ja? Ach so. Möchten Sie? Ich weiß aber nicht, ob ich möchte. Ich glaube ..."
Alexandra wurde nicht schlau aus dem Gespräch, von dem sie nichts weiter mitbekam, weil Anton
aus der Küche auf die Terrasse trat. „Was ist jetzt mit der Playstation?" Max zog sie am
Pulloverärmel. „Wenn, dann zum Geburtstag. Da hat sich nichts geändert, da muss darüber geredet
werden. Du sitzt ja jetzt schon zu lange vor dem Bildschirm!" Max starrte auf sein Frühstücksbrot.
Ihm schien langsam zu dämmern, dass der unverhoffte Reichtum der Familie ihm nicht unmittelbar
zugutekommen würde. Annika flüsterte: „Und wegen dem Schminkset?" Alexandra seufzte.
„Wer war denn dran?" „Ach, nur der Gewinnbetreuer der Lotteriegesellschaft. Sie haben da so
Berater für Leute, die große Gewinne gemacht haben. Er wollte uns besuchen. Brauch ich aber
nicht." Alexandra schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht ich? Ich würde gern einmal mit jemandem
reden, der Erfahrung mit einer solchen Situation hat!" „Quatsch! Das weiß ich schon selber, wie man
mit Geld umgeht!" Anton schien richtiggehend verärgert und zog sich mit seinem Tablet auf das
Wohnzimmersofa zurück.
„Ich geh raus!", kündigte Max an. „Jonas kommt auch." Jonas war der Sohn der Nachbarn, ein halbes
Jahr älter als Max. „Vielleicht gehen wir ins Baumhaus." Er schien die Debatten um den Gewinn
schon vergessen zu haben und verschwand im Vorraum. Bevor die Haustür ins Schloss fiel, klirrte
noch der Schuhlöffel auf dem Fliesenboden.
„Wie viel ist es denn genau?" Sie hatten den Kindern noch keine Summe genannt, doch Annika
schien mit allgemeinen Auskünften nicht zufrieden zu sein. „Wir haben vereinbart, euch das nicht zu
sagen. Erst müssen wir sehen, dass ihr wirklich dichthaltet." Annika zog schon wieder ein beleidigtes
Gesicht. „Max vielleicht, ich doch nicht! Ich bin doch keine Tratschtante!" „Es bleibt dabei!", ließ sich
Anton vom Sofa aus vernehmen. Annika sprang auf und ließ nach einigen Sekunden, die sie brauchte,
um die Stiegen hinaufzutrampeln, ihre Zimmertür knallen. Ein bereits gewohntes Geräusch, dachte
Alexandra.
„Gibst du mir mal dein Handy? Ich möchte den Herrn von der Lotteriegesellschaft zurückrufen."
„Wieso?" Anton sah kurz auf. „Ich möchte beraten werden, und ich sehe nicht ein, warum ich mich in
dieser Frage nach deinen Wünschen richten soll." „Na, vielleicht, weil ich gewonnen habe? Du hast
dich ja standhaft geweigert, jemals einen Schein auszufüllen!" „Red nicht so blöd daher! Das ist eine
Familienangelegenheit!", zischte sie.
Als Anton ihr widerwillig das Handy reichte, sah sie, dass er auf seinem Tablet gerade die Homepage
eines Herstellers von Luxus-Pkw geöffnet hatte. Mitten auf der Seite prangte das Bild eines weißen
Cabrios.
4
Alexandra verstand sich auf Anhieb mit der Betreuerin für Großgewinner. Als sie die Nummer, die sie
von Antons Handy abgelesen hatte, in ihr Handy eingab, meldete sich eine Frauenstimme. „Hallo,
Heidegger hier. Mein Mann hat vorhin einen Anruf ..." Die Frau lachte. „Ja, ich weiß schon, wer Sie
sind. Wir hatten noch nie einen so großen Gewinn, Ihr Name ist hier bei uns bekannt. Der Anruf
vorhin kam von einem Kollegen. Allerdings hat Ihr Mann einen Kontakt mit uns abgelehnt." „Ich aber
nicht!", sagte Alexandra. Sie klang ein wenig zu heftig, fast beleidigt. Die Dame am anderen Ende
zögerte kurz. Sie hatte sicherlich schnell gemerkt, dass es in ihrer Familie
Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Gewinn gab. „Ja, wollen Sie sich dann mit mir treffen?"
Alexandra fand die Stimme sympathisch. „Ja, gerne. Am besten so bald wie möglich." „Gut. Mein
Name ist Barbara, Barbara Ferny."
Sie hatte mit der Beraterin schließlich einen Termin nach der Arbeit vereinbart. Alexandra musste
eine Ausrede erfinden, denn Anton wollte sie keinesfalls von dem Treffen erzählen, zumindest jetzt
noch nicht. Schon wieder gelogen, schon wieder Heimlichkeiten. All das nahm in erschreckendem
Ausmaß zu, seit sie den Gewinn gemacht hatten.
„Hier sollten wir keinesfalls reden!", warnte Frau Ferny, als sie an einem Cafétisch Platz nahmen. „Es
gehört zu unseren Grundregeln, Gespräche nur an einem Ort zu führen, wo man nicht belauscht
werden kann. Sie würden gar nicht glauben, wie viele Wände Ohren haben!" Sie lächelte. Frau Ferny
war etwa im gleichen Alter wie Alexandra, trug ihre dunklen Haare schulterlang und schob alle paar
Sekunden ihre ebenfalls dunkle Brille ein Stück die Nase hinauf. Obwohl sie dazwischen nicht
herunterrutschte.
Alexandra nickte. „Wie war die Fahrt?", fragte sie, um ein unverfängliches Gesprächsthema zu
wählen. „Ein wenig abenteuerlich. Ich habe vergessen, einen Platz zu reservieren, und der Zug war
total voll. Und im selben Waggon eine Gesellschaft etwas angetrunkener, sehr lauter Männer.
Anscheinend gibt es hier heute ein äußerst wichtiges Fußballspiel." „Das tut mir leid!"
Nachdem der Kaffee getrunken war, setzten sie sich auf eine Bank in einem kleinen Park am
Nordufer des Flusses. Ein Brunnen plätscherte sanft vor sich hin, und zwei Bänke weiter lagen zwei
Japanerinnen auf ihren Rucksäcken und dösten vor sich hin. Sonst war der Park leer.
„Erste Regel: Sagen Sie niemandem, wie viel Sie gewonnen haben. Geben Sie etwa zehn Prozent der
Gewinnsumme zu. In Ihrem Fall ist natürlich auch das noch sehr viel." Alexandra nickte. „Mir fällt es
allerdings schwer, die Heimlichtuerei. Vor allem mit den Kindern ist es ein Problem." Frau Ferny
nickte. „Haben Sie Ihren Kindern von dem Gewinn erzählt?" „Ja", antwortete Alexandra. „Wie hätten
wir es verheimlichen sollen? Ich habe ja schon gesagt, mir fällt es schwer, wichtige Ereignisse einfach
so zu verschweigen, zu lügen." „Wir empfehlen normalerweise, Kinder, auch Halbwüchsige, nicht zu
informieren. Sie können das nicht für sich behalten, in den meisten Fällen." „Aber wie sollte man so
etwas auf Dauer geheim halten? Es hat ja Auswirkungen auf uns alle!" Alexandra fuchtelte ratlos mit
den Händen in der Luft herum. „Na ja, nun ist es ohnehin schon zu spät. Dennoch würde ich Ihnen
raten, nicht sofort Ihren Lebensstil zu ändern. Vor allem im Interesse Ihrer Kinder." „Das haben wir
auch so besprochen." Alexandra verschwieg, dass Anton in diesem Punkt nicht ganz die vereinbarte
Linie einzuhalten bereit schien.
„Generell habe ich nicht ausschließlich gute Nachrichten für Sie. Sehr viele Großgewinner sind nach
wenigen Jahren schlechter dran als vorher. Vor allem Männer investieren oft hohe Summen in
Luxusgüter, viele geben ihren Beruf auf und versuchen, in große Geschäfte einzusteigen. Da sind
allerdings auch 24 Millionen schnell weg. Bedenken Sie nur - Sie kaufen vielleicht ein Hotel,
renovieren es gründlich und gehen dann pleite. Weg ist das Geld, und zwar das ganze. Vor solchen
Experimenten möchte ich Sie warnen."
Alexandra stützte den Kopf in ihre Hände. Ihre Schuhe waren vom Kies unter der Bank grau
gesprenkelt. „Genau das befürchte ich bei meinem Mann. Es sind noch keine zwei Tage vergangen,
und wir diskutieren schon über teure Grundstücke und Luxuslimousinen." Frau Ferny runzelte die
Stirn. „Wenigstens versteht er von Grundstücken und Häusern was, er ist Architekt", schränkte
Alexandra ein.
„Sie müssen sich einfach klar darüber werden, dass sich Ihr Leben ab jetzt ändern wird. Sie haben es
allerdings selbst in der Hand, in welche Richtung. Zum Beispiel müssen Sie sich auch eine Strategie
zurechtlegen, wie Sie mit Verwandten und Freunden umgehen. Sie werden in Versuchung geraten,
manchen mit Geld unter die Arme zu greifen. Tun Sie es nicht!" Alexandra sah erstaunt auf. Frau
Ferny erklärte: „Ganz egal, wem Sie wie viel Geld geben - einige werden sich immer ungerecht
behandelt vorkommen, Gerüchte werden die Runde machen, und am Schluss haben Sie keine
Freunde mehr! Beziehungsweise die falschen. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich an Sie
erinnern werden, sobald die Neuigkeit die Runde macht. Und alle werden es bedauern, dass sie den
Kontakt zu Ihnen haben abreißen lassen." Alexandra schüttelte den Kopf. „Und wenn ich niemandem
etwas gebe, habe ich auch keine Freunde mehr!"
Frau Ferny schwieg und schien zu überlegen. „Eigentlich könnten wir uns duzen", schlug sie dann vor.
„Es ist zwar gegen unseren Kodex, aber ... Ich heiße Barbara!" „Alexandra." Barbara streckte ihren
Kopf mit gespitztem Mund vor, und sie tauschten zwei Wangenküsse aus. „Ich habe das Gefühl, ich
habe jetzt mehr Probleme als vorher", klagte Alexandra. „Eigentlich will ich das Geld gar nicht. Gibt
es irgendeine Möglichkeit, den Gewinn abzulehnen? Oder nur einen Teil zu behalten?" Barbara
schüttelte den Kopf. „Zurückgeben geht nicht. Ihr könntet allenfalls eine Stiftung einrichten, für einen
bestimmten Zweck. Aber dafür ist es jetzt noch zu früh. Vor allem müsst ihr euch da einig sein!" Zwei
dunkelhäutige Kinder kamen herangelaufen und stellten sich an den Brunnenrand. Der Junge griff
nach dem Wasserspeier, der aus einem Fischkopf herausragte, und drückte seinen Zeigefinger hinein.
Sofort spritzten scharfe Wasserstrahlen in alle Richtungen, vor allem auf seine Schwester, aber auch
auf Alexandra und Barbara. „Verschwinde!", drohte sie lachend, „Sonst ..." Kichernd verschwand das
Duo, gefolgt von einer Frau mit Kopftuch und Kinderwagen.
„Ich habe gleich bei unserem Telefongespräch gespürt, dass zwischen dir und deinem Mann etwas
nicht stimmt, dass ihr euch uneinig über den Umgang mit dem Geld seid." Alexandra nickte. „Ich
glaube, er hat genau das vor, wovor du mich gewarnt hast." Gemeinsam starrten sie wortlos in die
Wasserstrahlen des Brunnens, die in der Abendsonne zu leuchten begannen. „Ihr müsst euch
ohnehin noch einmal offiziell mit mir treffen: Dein Mann muss mir, als Vertreterin der Lotterien,
seinen Gewinnbeleg übergeben, bevor ihr Anspruch auf das Geld habt. Vielleicht ist ja bei dieser
Gelegenheit auch ein Gespräch mit ihm möglich."
Auf dem Heimweg ließ sich Alexandra Barbaras Ratschläge noch einmal durch den Kopf gehen. Es
klang ja alles sehr vernünftig - aber doch auch ziemlich theoretisch. Wie sollte man praktisch
vorgehen, ohne dass man den Tag mit Heimlichkeiten und Lügen zubrachte? Ohne dass man dauernd
überlegen musste, mit wem wie zu reden war?
Einmal wollte sie es zumindest ausprobieren. Sich etwas Extravagantes leisten, etwas, wonach sie im
Internet gesucht, was sie insgeheim in Auslagen bewundert hatte. Schöne Schuhe waren eine
Schwäche von ihr, aber keine, die sie bisher ausgelebt hatte. Am Ende kam sie doch immer wieder
mit fahrradtauglichen Tretern nach Hause, in denen man zur Not auch ein paar Kilometer Gehsteig
mit Anstand hinter sich bringen konnte. Vorsichtig schlich sie am Schaufenster vorbei, niemand sollte
merken, dass sie die ausgestellten Schuhe genauer begutachten, sogar welche kaufen wollte. Konnte
sie mit Sportschuhen überhaupt in so ein Geschäft? Sie konnte! Die Verkäuferinnen würden froh
sein, Schuhe um ein paar Hundert Euro loszuwerden.
Tatsächlich allerdings maß die Verkäuferin Alexandra mit argwöhnischen Blicken, als sie das Geschäft
betrat. Sie kam sich gemustert vor, von oben bis unten. Die Verkäuferin trug ein blaues Kostüm mit
einem sehr kurzen Rock, engelsgleiche blonde Locken und, natürlich, ein paar von diesen sündhaft
teuren Pumps. Die sind wahrscheinlich ohnehin nur geliehen, dachte Alexandra, schließlich ist sie nur
eine kleine Verkäuferin und verdient weniger als ich selbst. Entschlossen zeigte sie auf die
strassbesetzten graubraunen Pumps, die sie im Schaufenster gesehen hatte. Salvatore Ferragamo.
Die Verkäuferin zog die Augenbrauen hoch. „Denken Sie ..." Alexandra holte tief Luft. Mit solchen
arroganten Ziegen musste man Klartext reden. „Was ich denke, überlassen Sie lieber mir. Größe 38."
Sie atmete tief aus, doch die Verkäuferin hatte die Botschaft verstanden und trippelte davon.
Wenig später zog sie den rechten Schuh aus dem Karton. Alexandra nahm den Schuhlöffel zu Hilfe,
um in den Schuh hineinzugleiten. Es war tatsächlich ein ganz anderes Gefühl als in einem billigen
Schuh. Trotz der Zierlichkeit des Schuhs schmiegte sich das Leder angenehm kühl an ihre Füße. „Den
linken auch, bitte!" Die Verkäuferin gehorchte wortlos. Ihr Rock war durch das Niederknien so weit
hochgerutscht, dass Alexandra ihre Unterwäsche hätte sehen können, hätte sie Interesse daran
gezeigt. Sie richtete sich auf. Die Verkäuferin würde sich wundern - vielleicht hatte sie geglaubt,
einen Bauerntrampel vor sich zu haben, doch nicht umsonst hatte Alexandra während ihres Studiums
zwar viel zu spät, aber dennoch mit Begeisterung jahrelang Ballett trainiert. Sie wusste sehr wohl,
wie man auf High Heels eine gute Figur machte.
Und tatsächlich - als sie auf ihr Spiegelbild zuging, fühlte sie sich erhöht, nicht nur im wörtlichen,
sondern auch im übertragenen Sinn. Sogar der Verkäuferin entschlüpfte angesichts ihres Gangs ein
„Wow!". Über einen großen Wortschatz schien sie nicht zu verfügen. Um sie ein wenig zu
beschäftigen, gab sich Alexandra zickig. „Hinten rutsche ich raus. Eine halbe Nummer kleiner, bitte!"
Schließlich stand sie dann doch mit den ursprünglich probierten Schuhen vor der Tür des Ladens und
war um 310 Euro ärmer.
War es ein gutes Gefühl? Ja, das war es. Sie würde Freude daran haben, diese Schuhe zu tragen.
Immer wieder. Am Ende war es vielleicht doch keine so schlechte Idee, reich zu sein.
5
Es dauerte nur Tage, bis Alexandras positive Stimmung wieder mehrere Dämpfer versetzt bekam. Es
begann mit Max. Mittwochs machte seine Klasse früher Schluss, und die letzten beiden Stunden
waren Werken. Max baute in der Regel Fahrzeuge, Bagger oder Schubraupen zum Beispiel. Ganz
egal, wie das Objekt aussah, ob es aus Pappe zusammengeleimt oder aus Holz genagelt war, fast
immer schob er etwas auf dem Küchentisch herum und gab dazu brummende Geräusche von sich,
wenn Alexandra etwa eine halbe Stunde nach ihm nach Hause kam.
Diesmal aber kein Max. Alexandra legte die Einkäufe auf die Küchenplatte und rief nach ihm. Er war
wohl in sein Zimmer gegangen. „Max?" Kein Geräusch. Unruhig geworden, stürmte sie die Treppe
hinauf. Auch dort kein Max, weder in seinem noch in einem der beiden anderen Schlafzimmer.
Garage, Keller, kein Max. Alexandras Herz begann zu rasen. Anton anrufen? Schule anrufen?
Krankenhäuser? Schulweg kontrollieren? Schulweg! Sie raste aus dem Haus.
Keine drei Minuten später stand sie abgehetzt vor dem Schultor. Nachfragen? Natürlich! Sie klopfte
am Lehrerzimmer. Da kam niemand! War denn das möglich? Neuerliches Klopfen, energischer.
Endlich öffnete sich die Tür. „Sie müssen ja nicht gleich die Tür einschlagen!", brummte die Lehrerin
unwirsch, die öffnete. „Ich muss unbedingt Frau Tannhauser sprechen. Ist sie noch da?" „Was gibt es
denn Eiliges?" Die Frau machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Mein Sohn ist nicht nach Hause
gekommen!", brach es aus Alexandra heraus, obwohl sie das eigentlich nur Frau Tannhauser hatte
mitteilen wollen.
Die Lehrerin maß Alexandra mit skeptischen Blicken. „Da muss doch nicht gleich etwas passiert sein.
Schauen Sie doch noch einmal ..." Alexandra verkrampfte sich. „Frau Tannhauser! Bitte!" „Ich werde
mich bemühen!" Ein eisiger Blick traf Alexandra. Sie war sich dessen bewusst, dass die Lehrerin sie
für eine hysterische Helikoptermutter halten musste. Sie machte sich selbst oft über Frauen lustig,
die ihren Kindern jede Selbstständigkeit absprachen. Aber Max war noch nie mittwochs zu spät
gekommen! Schulterzuckend kehrte ihr die Lehrerin den Rücken zu und schlenderte in aller Ruhe den
Gang hinunter.
„Ja?" Mit besorgter Miene kam Frau Tannhauser auf sie zu. Max' Klassenlehrerin. Jung, aber mit
kräftiger Stimme und einer allzeit bereiten senkrechten Falte auf der Stirn. „Max ist nicht nach Hause
gekommen!", stotterte Alexandra atemlos und schämte sich selber dafür, dass sie so hysterisch
reagierte. Schließlich war Max schon fast neun Jahre alt und normalerweise zuverlässig. „Kommen
Sie!" Frau Tannhauser fasste sie an der Schulter und schob sie vor sich her. „Wir fragen seine
Werklehrerin!" Wenig später standen sie vor dem Werkraum, aus dem ohrenbetäubendes Hämmern
dröhnte, selbst durch die geschlossene Tür. „Warten Sie einen Moment!" Frau Tannhauser schlüpfte
durch die Tür. Für einen Moment schwoll das Gehämmer auf Infernolautstärke an.
„Er war im Werkunterricht und ist am Ende der Stunde wie immer gegangen." Alexandra schämte
sich ihrer Tränen, die bereits in den Augenhöhlen brannten und drohten, hervorzuquellen und die
Wangen hinunterzulaufen. „Wo kann er nur sein?" Das war schon mehr Flennen als Reden. Frau
Tannhauser legte ihr beschwichtigend den Arm um die Schultern. „Sie wissen doch, Kinder
verbummeln sich oft einmal auf dem Heimweg. Vielleicht ist er auch mit einem Freund mitgegangen
und hat noch keine Gelegenheit gehabt, sich bei Ihnen zu melden." „Nein, nein!" Ihre Stimme musste
hysterisch klingen. „Das macht er nie, das ist komplett ungewöhnlich!" Frau Tannhauser nahm
Alexandras Rechte in beide Hände. „Wissen Sie was? Ich muss jetzt zurück in die Klasse. Sobald die
Stunde aus ist, rufe ich Sie an. Inzwischen kontrollieren Sie noch einmal den Schulweg. Auch mit Um-
und Abwegen!" Alexandra nickte. Sie wollte ohnehin nichts als raus hier, denn wo Max nicht war,
hatte auch sie nichts verloren.
Um- und Abwege? Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass es tatsächlich einen Umweg gab, den Max
manchmal nahm. Es gab da einen Elektroladen, der oft laufende Fernseher in die Schaufenster
stellte. Es kam vor, dass Max vor der Auslage stand, in den Fernseher guckte und alles um sich herum
vergaß. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Sie hastete durch die Straßen, bemerkte aber
schon von Weitem, dass kein Kind gebannt ins Schaufenster starrte.
Sobald sie zu Hause ankam, würde sie Anton anrufen. Sie mussten gemeinsam nach Max suchen. Sie
drehte den Schlüssel im Schloss und hörte jemanden schniefen. „Max?" Keine Antwort. Lauteres
Schniefen. Sie stürmte die Treppe hinauf. Hatte er sich womöglich verletzt?
In der Küche saß Max mit verquollenem Gesicht am Tisch. Als er Alexandra sah, legte er den Kopf auf
die verschränkten Arme, sein Rücken zuckte, er atmete stoßweise. „Max! Ich hab mir solche Sorgen
gemacht! Wo warst du?" Sie versuchte, seinen Kopf anzuheben, um ihm in die Augen zu blicken,
doch Max wehrte sich. „Komm, lass mich sehen!" Noch bevor sie ihm ins Gesicht schauen konnte,
bemerkte sie, dass seine Jeans über und über mit braunen Farbspritzern bekleckert waren. Endlich
wandte er sich ihr zu, nur um gleich wieder seinen Kopf an ihrer Brust zu vergraben. Sie schob ihn
von sich. „Um Gottes willen!" Über und unter dem rechten Auge war Max böse aufgeschürft, ein
wenig Blut quoll aus den Wunden. Seine Oberlippe war dick angeschwollen, und auch das Kinn war
zerkratzt. „Was ist denn passiert?" Sie drückte ihn an sich, Max wurde von seinen Tränen
durchgeschüttelt, gab aber keine Antwort.
„Komm ins Bad. Wir bringen das in Ordnung." Sie strich ihm begütigend über den Rücken, und
langsam ebbte das Schluchzen ab. Max stand auf. Erst jetzt erkannte Alexandra die ganze
Bescherung. Das gesamte Gesäß von Max' Hose war von brauner Farbe durchtränkt, auch der
Küchenstuhl hatte einiges abbekommen. Was war da passiert? Sie beschloss, zuerst einmal Max zu
beruhigen. Sonst war ohnehin nichts aus ihm herauszubekommen. „Wir müssen die Hose
ausziehen!" Folgsam ließ sich Max Gürtel, Knopf und Reißverschluss öffnen. Die Farbe war bis auf die
Unterhose durchgedrungen. Alexandra seufzte. „Komm ins Bad!"
Es dauerte etwas, bis sie Max in der Badewanne stehen hatte. Keines seiner Kleidungsstücke war von
der braunen Farbe verschont geblieben, nicht einmal Socken und Schuhe. Zuerst wollte sie die
Sachen gleich in die Waschmaschine stecken, doch dann überlegte sie kurz. Wenn das kein Unfall
gewesen war, sondern ... Sie räumte die schmutzigen Sachen beiseite. „Wart einmal kurz!" Sie holte
ihr Handy aus der Handtasche. Als Max mitbekam, dass er fotografiert werden sollte, begann er
wieder zu brüllen und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Alexandra wartete ab. „Max, wir kriegen
den, der dir das angetan hat. Und jetzt müssen wir Beweise sichern. Dazu muss ich dich
fotografieren. So, wie du nach Hause gekommen bist." „Hat niemand getan! Bin in den Kübel
gefallen! Ganz allein!"
Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, bis Max die Hände vom Gesicht nahm. Die Wunden waren
nun noch weiter angeschwollen. Sie würde mit ihm zum Arzt gehen, sobald er gewaschen und
erstversorgt war. Während sie mit der Rechten einen Waschlappen hielt und vorsichtig über seine
farbverkrustete Nase fuhr, drängte sie mit der Linken seinen Arm zur Seite, hielt ihm das Handy vors
Gesicht und drückte ab, bevor er sich abwenden konnte. Wutgeheul war die Folge. Man konnte von
einem Achtjährigen auch nicht erwarten, gestand sich Alexandra ein, dass er etwas von
Beweissicherung verstand. Aber sie selbst hatte aus den Krimis gelernt, die sie seit Jahren lektorierte.
Sogar ein paar True-Crime-Titel waren dabei gewesen, da bekam man mit, was im Fall eines
Verbrechens zu tun war.
„Max, wer war das? Was ist genau passiert? Und wo?" Max war endlich frisch angezogen und schob
ein Modellauto auf dem Tisch hin und her. Dazu erklangen die üblichen Brummgeräusche, er schien
sein schlimmes Erlebnis bereits vergessen zu haben. Alexandra musste noch einmal nachfragen,
bevor sie eine Antwort bekam. „Ich bin auf die Baustelle geschlichen. Da war ein Eimer mit Farbe."
Max tat desinteressiert. „Was gibt es zu essen?" „Max!", insistierte Alexandra. „Schau mich an!
Welche Baustelle?" „Um die Ecke. In der Kranzlstraße." Die hieß eigentlich Rosenkranzstraße, trug
aber seit Menschengedenken diesen Spitznamen. „Was hast du auf einer Baustelle verloren? Kannst
du nicht lesen? Da darf man nicht rein!" Max zuckte mit den Achseln. „Bin halt rein." „Und?" „Weiß
nicht." So kamen sie nicht weiter. Sie musste zu einem Arzt. Und Anton anrufen.
„Mach doch wegen so einer Kleinigkeit kein solches Theater! Jungen raufen eben!" Sie hätte es sich
denken können, dass Anton alles verharmlosen würde. Er nahm ihre Sorgen einfach nicht ernst. „Er
ist da nicht selber rein und in einen Farbkübel gefallen. Da hat ihn jemand angegriffen!" „Gerangelt
werden sie halt haben!" Sie konnte seinen väterlich-begütigenden Ton nicht länger ertragen und
legte auf. So redete man mit einer Irren. Er hatte Max ja nicht gesehen. „Wir fahren jetzt zu deinem
Kinderarzt!" Doktor Jelinek würde sie ernst nehmen, dessen war sie sich sicher. Der hatte sogar
schon im Fernsehen darüber gesprochen, dass Anzeichen von Gewalt, egal ob häuslich oder nicht, an
Kindern auf jeden Fall ernst genommen werden müssten.
Blieb nur noch die schwierige Aufgabe, Max zu überzeugen, dass ein Arztbesuch unabdingbar war.
„Max, wir fahren jetzt zu Doktor Jelinek." „Will aber nicht!" Wie konnte man sich einem blöden
Spielzeugauto nur mit solcher Konzentration widmen? In Alexandra stieg Zorn hoch. Sie hatte ja
schließlich etwas anderes auch noch zu tun. Essen kochen, beispielsweise. Und dann, wahrscheinlich
schon übermüdet, mit einer Kanne Kaffee vor dem PC den nächsten Sexualakt übersetzen.
„Du kriegst auch ..." Schon tat es ihr leid, dass sie die Erpressungskeule schwingen musste. „Die
Playstation?" Er sah zu ihr auf. Seine Lippen waren noch mehr angeschwollen als zuvor. Sie mussten
dringend zum Doktor. „Das nicht ... aber eine Belohnung, ganz sicher. Hängt davon ab, wie du dich
beim Doktor aufführst!" Max stand maulend auf, ließ sich aber folgsam eine Jacke überstreifen und
im Auto festschnallen.
„Das hier sieht nicht wie eine Sturzverletzung aus!" Doktor Jelinek hatte Max' Blessuren nochmals
fotografiert, gereinigt und verbunden. Und zwar ohne große Widerstände. Ein Arzt, dachte sich
Alexandra, war eben doch eine Autorität. Sogar für ihre Kinder. „Du bist ganz sicher in den Farbkübel
gefallen?" Max nickte. „Und wobei hast du dich dann an der Oberlippe verletzt?" Max zögerte.
„Umgefallen. Und da draufgefallen!" Er zeigte auf seine Oberlippe. „Und das Kinn?" Max' Augen
sprangen zwischen Alexandra und Doktor Jelinek hin und her. „Zuerst da drauf." Er zeigte auf seine
Oberlippe. „Und dann hierher!" Sein Daumen wies auf das Kinn. Alexandra und der Arzt warfen sich
vielsagende Blicke zu. Es war klar, dass Max log. Er hatte sich das alles zusammengereimt. „Kannst du
mal kurz draußen warten? Du kennst ja das Spielzimmer?" Max nickte, rutschte vom
Behandlungstisch und war wenige Sekunden später verschwunden.
„Der junge Mann ist eindeutig verprügelt worden! Und die Täter haben ihn dann in einen Farbkübel
gesetzt. Danach wahrscheinlich noch mit irgendeinem Werkzeug, einem Stock oder einem Brett, das
sie in Farbe getaucht haben, geschlagen." Alexandra seufzte. „Die Frage ist nur, warum er das nicht
zugibt." Doktor Jelinek legte die Hand ans Kinn und kraulte seinen kurz geschorenen grauen Bart. „Er
steht unter Druck. Jemand hat ihm gedroht, ihm noch etwas Ärgeres anzutun, wenn er redet. Diese
Strategie funktioniert bei Kindern in seinem Alter noch recht gut." „Aber er war bisher noch nie ein
Mobbing-Opfer. Warum jetzt?" Doktor Jelinek nahm seine Brille ab und wischte mit einem Putztuch
daran herum. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht redet er ja morgen. Gab es in
Ihrer Familie irgendeine dramatische Veränderung? Ein Todesfall vielleicht?" Alexandra war wie vom
Blitz getroffen. „Kein Todesfall!" Sie schnappte nach Luft, Doktor Jelinek zog die Augenbrauen hoch.
Natürlich hatte es eine dramatische Veränderung gegeben, und sie hatten von Max verlangt, sie
geheim zu halten. Aber er hatte sich wahrscheinlich verplappert, dafür Prügel bezogen und traute
sich nun nicht, ihr die Wahrheit einzugestehen. So musste es sein.
Der Arzt drang nicht weiter in Alexandra und erhob sich. „Jedenfalls sollten Sie die Kleidung nicht
waschen, da müssten Spuren der Schläge drauf sein. Das ist immerhin der Tatbestand der
Körperverletzung, ich würde das anzeigen. Eigentlich sollte ich das selber tun, aber ich möchte Ihrer
Entscheidung nicht vorgreifen ..."
Vor dem Einsteigen ins Auto kniete sich Alexandra hin und blickte Max ins Gesicht. Er sah wirklich
zum Fürchten aus. „Du hast jemand von dem Lottogewinn erzählt, und dann bist du verprügelt
worden, weil du angegeben hast, stimmt's?" Max schüttelte den Kopf, aber in seinen Augen konnte
Alexandra sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
Anstatt nach Hause zu fahren, hielt Alexandra nochmals vor Max' Schule. Dass sie den Parkplatz für
Lehrerinnen benutzte, war ihr in diesem Fall egal. Sie hoffte, wenigstens die Direktorin noch
anzutreffen. Die Sache, fand sie, war gleich zu klären und duldete keinen Aufschub.
Ihr Handy dudelte. Sie hatte völlig auf Annika vergessen. „Ja, bitte mach dir selber was Einfaches zu
essen. Ich bin mit Max unterwegs, es hat da ein kleines Problem gegeben." Sie wimmelte die Fragen
Annikas ab, legte auf und klopfte am Direktionsbüro, während Max an ihrer Hand zerrte. „Nicht! Ich
will heim!" Doch ihre Hand schloss sich fest um die seine. Es kam gar nicht infrage, jetzt
unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren.
„Ja?" Wintersteller hieß die Direktorin, das konnte Alexandra schnell noch von einem Schild ablesen,
bevor sie eintrat. „Oh Gott!", rief die, als sie Max erblickte. „Darf ich aus Ihrem Besuch und dem
Aussehen Ihres Sohnes schließen, dass da Gewalt im Spiel war?" Schwer von Begriff war die Frau
Direktorin nicht. Alexandra war erleichtert. „Nehmen Sie bitte Platz. Was kann ich für Sie tun?"
Alexandra begann zu erzählen.
„Und das Problem ist, dass wir von den Kindern verlangt haben, nicht über den Gewinn zu sprechen.
Wahrscheinlich hat sich Max verplappert, das war einfach zu viel verlangt von ihm." Sie strich ihm
durch die Haare. Max schien das Gespräch unangenehm zu sein. Er hatte ein winziges Spielzeugauto
aus einer Hosentasche gezogen und fuhr damit unter Brummgeräuschen auf dem Schreibtisch der
Direktorin herum. Rund um den Radiergummi.
Frau Wintersteller nickte und legte einen Finger an die Lippen. „Tolles Auto, Max. Hast du noch mehr
davon?" Max nickte, ohne aufzusehen. „Weißt du, Max, so etwas kommt leider oft vor. Dass einer
von Älteren verprügelt wird. Und die drohen dann. Sie sagen zum Beispiel, dass sie dir dein Handy
wegnehmen und es in den Fluss werfen, wenn du zu Hause was erzählst." „Hab kein Handy!" Max
schob weiter sein Auto. Die Direktorin lächelte und nickte Alexandra zu. „Oder sie sagen, dass sie
dich einsperren und windelweich prügeln. Oder sie verlangen, dass du ihnen dein Taschengeld gibst."
Beim letzten Satz horchte Max auf. Alexandra wartete gespannt. Plötzlich schüttelte Max den Kopf.
„Hat Basti nicht getan!" Das Auto umrundete ein weiteres Mal den Radiergummi, während die
Direktorin und Alexandra einander in die Augen sahen. Frau Wintersteller ließ sich zu einem
siegesgewissen Lächeln verleiten. „Was genau hat Basti nicht getan?"
Ein paar Minuten später kannten sie die ganze Geschichte. Sebastian, ein Schüler aus der vierten
Klasse, hatte Max abgepasst. „Sebastian ist groß und kräftig, fast ein Jahr älter als seine Mitschüler,
er war in der Vorschule", erklärte Frau Wintersteller. Zwei weitere Burschen aus seiner Klasse hatten
ihm Rückendeckung gegeben. Dann hatten sie Geld gefordert. Max sei reich, er habe Millionen
gewonnen.
„Warum hast du denn erzählt, dass ihr jetzt viel Geld habt?", fragte Frau Wintersteller ruhig. Max
zuckte mit den Schultern. „Der Flo hat so angegeben. Dass sich sein Vater einen Porsche kauft und
so. Und einen Pool und alles. Und dass er eine Riesenparty schmeißt, zu seinem Geburtstag. Und da
hab ich gesagt ..." Schon begann er zu schluchzen. Alexandra nahm ihn in den Arm. „... dass wir auch
ganz viel Geld haben. Hundert Milliarden oder so. Hat Papa in der Lotterie gewonnen." „Hundert
Milliarden?", fragte Alexandra erstaunt nach. Max schluchzte. „Weil doch der Flo gesagt hat, dass
sein Papa ein Millionär ist und ..." Max heulte und barg sein Gesicht in Alexandras Schoß. „Und weil
du ein kluger Bursche bist und weißt, dass eine Milliarde mehr ist als eine Million ..." Frau
Wintersteller lächelte. Max nickte, ohne den Kopf anzuheben. Alexandra streichelte ihm Haar und
Rücken.
Sie hatten Max auf die Baustelle gedrängt und gefordert, er müsse ihnen am nächsten Tag hundert
Euro bringen, sonst würden sie ihn von der Eisenbahnbrücke werfen. Dann hatten sie ihn mit
Faustschlägen zu dem Farbeimer gedrängt, der auf der Baustelle zufällig herumgestanden war.
Nachdem sie ihn hineingeschubst hatte, hatten sie selbst noch herumliegende Bretter in die Farbe
getaucht und Max damit geschlagen.
„Max, kannst du kurz einmal draußen warten?" Max sah auf. Die Aussicht, dem unangenehmen
Gespräch zu entkommen, schien ihm zu gefallen. „Und vergiss das Auto nicht!" Er griff rasch danach,
sprang von seinem Stuhl und verließ das Direktionszimmer.
Als die Tür zufiel, seufzte die Direktorin. „Sebastian also. Wir haben gerade erst eine
Klassenkonferenz hinter uns, in der wir überlegt haben, das Jugendamt einzuschalten. Extrem
schlechte Arbeitshaltung, keine Schulsachen, keine Hausübungen, Gewaltausbrüche, mangelhafte
Konzentration. Kein Kontakt mit den Eltern herzustellen. Selbst Anrufe bringen nichts - sie
versprechen, demnächst zu kommen, tauchen aber nicht auf. Soziale Verwahrlosung."
„Max hat von dem Kind nie etwas erzählt ...", warf Alexandra ein. „Er ist auch nicht in Max' Klasse.
Wahrscheinlich hat er irgendwie mitbekommen, dass Sie viel Geld gewonnen haben, so was spricht
sich ja rasch herum." „Aber die Summe ...?", bemerkte Alexandra. „Da machen Sie sich einmal keine
Gedanken!" Frau Wintersteller machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kinder sind fürchterliche
Klatschbasen, hören nicht genau zu und übertreiben beim Weitererzählen, dass sich die Balken
biegen. Nur, damit sie die Aufmerksamkeit der anderen möglichst lange halten können. Tatsachen
spielen dabei keine Rolle." Alexandra hatte den Eindruck, dass die Direktorin wusste, wovon sie
sprach.
„Ich denke, dieses Mal werden wir nicht umhinkommen, dem Jugendamt Meldung zu erstatten.
Allerdings wird es für Max in den nächsten Wochen dennoch nicht leicht werden. Sorgen Sie bitte
dafür, dass er keine teuren Konsumartikel bekommt oder in die Schule mitbringt. Und, auch wenn es
möglicherweise Ihren Prinzipien widerspricht - reden Sie nochmals mit ihm. Es wäre wirklich besser,
wenn er nicht mehr über den Gewinn spricht." Alexandra traten schon wieder die Tränen in die
Augen. War sie etwa eine Heulsuse geworden? „Ich will, ich wollte das Geld gar nicht!", winselte sie.
„Am liebsten wäre es mir, wenn wir es zurückgeben könnten. Mein Mann ..." Sie brach ab, als ihr
Frau Wintersteller beruhigend die Hand auf den Unterarm legte.
Da war aber noch etwas, das sie mit der Direktorin besprechen wollte. „Eigentlich wollte ich sofort
zur Polizei, um den Überfall anzuzeigen. Denn das war es ja. Ein Überfall." Frau Wintersteller legte ihr
Kinn in die linke Hand. „Hm. Überlegen Sie sich das noch einmal. Strafmündig ist der Basti ja ohnehin
nicht, und wenn die Polizei bei ihm zu Hause auftaucht, bezieht er wahrscheinlich wieder Prügel von
seinen Eltern. Gewaltspirale." Alexandra brauste auf. „Soll der denn völlig ungeschoren
davonkommen?" Das sah sie nicht ein. Frau Wintersteller schüttelte den Kopf. „Wenn wir das
Jugendamt einschalten, hat die Familie genug Ärger am Hals. Mehr erreichen wir mit der Polizei auch
nicht. Außer, es geht Ihnen um Schadenersatz oder Schmerzensgeld." Alexandra schämte sich
plötzlich. Um Geld konnte, durfte es nicht gehen. Hatte sie in den Augen der Direktorin diesen
Eindruck erweckt? Andererseits - wer viel Geld hatte, durfte keinen Ersatz für erlittenen Schaden
verlangen? Sie war, wie so oft in den letzten Tagen, völlig verunsichert.
„Guten Morgen!" Alexandra legte ihre Handtasche auf dem Schreibtisch ab, als sie ein eiskalter Blick
von Sophie traf. „Morgen!", murmelte die, um sofort wieder auf ihren Monitor zu starren. „Ist was?"
Alexandra war ratlos. Was war nur in Sophie gefahren? Konnte es sein, dass sie auch ... „Was ist
los?", fragte sie noch einmal. Am besten war es, das Problem sofort und direkt anzusprechen.
„Nichts!" Sophie wandte keinen Blick von ihrem Bildschirm ab. „Nur, dass ich gedacht habe, wir
wären Freundinnen!", zischte sie, als Alexandra ihr gegenüber vor ihrem Bildschirm Platz genommen
hatte. „Sind wir auch!" Alexandra rückte ein Stück nach links, um Sophie in die Augen sehen zu
können. „Einer Freundin erzählt man aber, wenn etwas Wichtiges passiert!"
Alexandra seufzte und stützte sich mit den Ellbogen auf ihre Schreibtischplatte. „Du hast von
unserem Gewinn gehört?" „Wer nicht?", gab Sophie giftig zurück. Noch immer hatte sie ihre Blicke
stur auf den Monitor geheftet. „Sophie ...", begann sie, doch sie konnte nicht weiter. Was sollte sie
ihrer Freundin erklären und wie? Dass sie selbst nur Ärger gehabt hatte, seit die Gewinnnachricht ins
Haus getrudelt war? Dass man Max verprügelt hatte, nur wegen des Geldes? Dass sie das ganze Geld
am liebsten zurückgeben würde? Kein Mensch würde ihr glauben, auch nicht Sophie.
„Ich wollte es dir ja sagen, ich wusste nur nicht, wann und wie. Ich hab einfach noch keine passende
Gelegenheit dazu gefunden. Ich bin ja selber noch ganz durcheinander!" „Anscheinend nicht so
durcheinander, dass du nicht die halbe Stadt darüber informieren hast können. Man hört, du kaufst
sämtliche Designerläden leer!" „Sophie ...!" Es war sinnlos, diese Debatte jetzt zu führen. Vielleicht
konnte sie in aller Ruhe einmal mit Sophie darüber reden, wie es ihr in den letzten Tagen ergangen
war. Aber wann hatten sie diese Ruhe, und vor allem, würde Sophie ihr zuhören und dann auch noch
glauben?
Resigniert machte sie sich an ihre Arbeit, doch mit der Konzentration war es nicht weiter her als an
den letzten Tagen. Die Texte perlten an ihr ab, sodass sie jede Seite mehrmals lesen musste, ohne
danach brauchbare Änderungs- oder Streichungsvorschläge machen zu können. Dabei war ihre
Arbeit das, was ihr noch am meisten Halt bot, weil sich daran nichts geändert hatte. Nur alles
andere ...
In Gedanken rekapitulierte sie. Was hatte sie bis jetzt von dem Gewinn gehabt? Ein Paar schöne
Schuhe, die sie nicht anzuziehen wagte, weil jedem, zumindest jeder Frau, auffallen musste, dass sie
wesentlich teurer waren als die Schuhe, die sie gewöhnlich trug. Das allein hatte schon genügt, um
Gerüchte über ihren Kaufrausch in Umlauf zu setzen. Nun würde man natürlich genau darauf achten,
was sie in Zukunft trug. Weitere Folgen des Gewinns waren: schlaflose Nächte, ein Mann, der sich
nur mehr für kostspielige Konsumwünsche interessierte, ein verprügeltes Kind, miserable
Arbeitsleistung, schlaflose Nächte und eine Freundin weniger. Ach ja, eins hatte sie auf der Haben-
Seite vergessen: Das Klo war repariert worden. Wenigstens was.
„Kommst du bitte einmal zu mir ins Büro?" Martins Miene war ernst. Was war jetzt schon wieder los?
Sie setzte sich in den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch. „Alexandra, zum einen: Du wirkst in den
letzten Tagen sehr unkonzentriert. Wenn man dich anspricht, weichst du aus, du flatterst hektisch
herum. Ist dir das nicht selbst aufgefallen?" Alexandra nickte. Ihr kamen schon wieder die Tränen.
„Könnte das alles mit eurem Lottogewinn zu tun haben?" Martin faltete die Hände über seinen
aufgestützten Ellbogen ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin. Wieder nickte sie, die Tränen
begannen zu fließen. „Ich halt es nicht mehr aus!", hauchte sie. Und dann erzählte sie, ohne dass
Martin sie unterbrach, was in den letzten paar Tagen alles schiefgelaufen war. Sie ließ nichts aus, und
Martin unterbrach sie nicht. Seine Miene blieb ernst.
„Eigentlich wollte ich dir ja gratulieren, jetzt, wo ich weiß, dass ihr mehr gewonnen habt als bloß eine
Gewürzmühle", sagte er schließlich. „Aber es hört sich nicht so an, als ob du dafür empfänglich
wärst." Alexandra wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Martin reichte ihr ein Taschentuch.
„Danke. Aber warum hast du mich eigentlich hergeholt?" Er seufzte. „Erstens müssen wir reinen
Tisch machen. Du musst mich und alle anderen Mitarbeiter korrekt informieren, allein schon, damit
die Gerüchte aufhören zu blühen." „Aber die Beraterin hat gemeint, ich solle das nicht tun!", wehrte
sich Alexandra. Martin zuckte mit den Schultern. „Ich halte das für das Betriebsklima für unerlässlich.
Außerdem könnte ich verstehen, wenn du angesichts der Umstände eine gewisse Auszeit ..." Das
Wort war noch nicht verklungen, als Alexandra aufsprang. „Du willst mir meinen Job wegnehmen?
Weil ich jetzt Geld habe?" Sie sank wieder auf den Stuhl und begann, diesmal hemmungslos, zu
schluchzen. „Die Arbeit ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält! Das, was noch normal ist in
meinem Leben! Und jetzt ziehst du mir den Boden unter den Füßen weg. Du und Sophie! Dabei hab
ich doch nur versucht, alles richtig zu machen!"
Heulend floh sie aus Martins Büro, schnappte ihre Handtasche, ohne zu Sophie aufzusehen, und
stürmte aus dem hinaus. „Alex!", schrie ihr Sophie noch hinterher. Aber sie konnte jetzt nicht
umkehren, jetzt nicht.
© Haymon Verlag
machen. Gut, sie hatte es in einer ersten Euphorie auch befürwortet, es mit ihm zu versuchen - aber
nach hundert Seiten war ihm echt die Power ausgegangen. Nachmittags gab's dann eine
Programmkonferenz. Und sie hoffte, danach noch mit ihrer Übersetzungsarbeit weiterzukommen. Es
war zwar nur ein Band aus einer Softporno-Serie, an dem sie arbeitete, aber gerade das musste
schnell gehen. Und, so versicherte sie sich selbst, es gab auch gutes Geld dafür.
„Hallo, Morgen!" Sophie, deren Schreibtisch dem ihren gegenüberstand, war schon in ihre
Bildschirmarbeit vertieft. Und auch eine angebrochene Tafel Schokolade lag, wie üblich, neben ihrer
Tastatur. Alexandra fragte sich, wie man bei einem derartigen Schokoladenkonsum so schlank
bleiben konnte. Kaum hatte sie ihre Arbeit aufgenommen, konnte sie ein Stöhnen nicht
unterdrücken, obwohl sie wusste, dass sie Sophie damit störte. Dieser Autor litt wirklich unter derart
ausgeprägter erzählerischer Impotenz, dass sie am liebsten ganze Passagen gestrichen oder neu
geschrieben hätte. Ob dieser Krimi ein Erfolg werden würde? Sehr zweifelhaft. Und erst die
unglaublich gestelzten direkten Reden! So sprach doch kein Mensch!
Sophie reagierte schließlich auf ihr Gestöhn. „Vielleicht sollten wir das Manuskript doch noch einmal
vor die Konferenz bringen." Sie blickte an ihrem Bildschirm vorbei und schob sich die schwarze Brille
auf der Nase hoch. Seit dreieinhalb Jahren saßen sie nun schon einander gegenüber und waren in
dieser Zeit leidlich gute Freundinnen geworden. Obwohl Alexandra eigentlich nicht leicht
Freundschaften schloss, überhaupt nur wenige Menschen an sich heranließ. Man plauderte beim
Mittagessen oft über gemeinsame Probleme. Während Alexandra mit ihrem Mann und den Kindern
im durchaus renovierungsbedürftigen Elternhaus Antons wohnte und oft nicht wusste, wo das Geld
für eine neue Dachrinne herkommen sollte, wenn die alte zunächst monatelang leckte und
schließlich zu Boden krachte, hatte Sophie gerade eine neue Eigentumswohnung gekauft und tat sich
mit den Kreditraten recht schwer. Im Mediengeschäft waren eben keine Reichtümer zu verdienen,
nicht einmal, wenn man eine erstklassige akademische Ausbildung hatte.
„Wir haben es schon in der Halbjahresvorschau drinnen. Und der Außendienst hat schon
Bestellungen aufgenommen, wir können das Projekt nicht mehr aufgeben." Sophie zog abschätzig die
Mundwinkel nach unten. „Dann solltest du aber wenigstens als Mitautorin genannt werden, finde
ich." Sie lachte. „Wäre zu schön!"
Beide widmeten sich wieder ihren eigenen Bildschirmen. Ein eigenes Buch - davon hatte Alexandra
schon lange geträumt. Aber selbst, wenn man Ideen und Begabung hatte - wenn man andauernd mit
den Manuskripten anderer beschäftigt war, ging unterwegs irgendwo die eigene Kreativität verloren.
Und mit einem Fulltimejob und zwei Kindern sowieso.
Ihr Handy summte. „Frau Heidegger, wegen dem Rohrbruch. Wir kämen dann jetzt." Sie seufzte. „Ich
hab Ihnen doch gesagt, am Vormittag ist niemand zu Hause. Ich hab mit Ihrem Chef extra
ausgemacht, dass Sie am Nachmittag kommen." „Wie Sie meinen!" Die Stimme am anderen Ende
klang arrogant. „Dann können wir aber nicht mehr garantieren, dass wir heute ..." „Natürlich!",
antwortete Alexandra. So heftig, dass Sophie aufsah. „Sie können nie irgendetwas garantieren." Sie
legte auf. Es war zwar nicht extrem dringend, aber ein zweites Klo war in einer vierköpfigen Familie
wirklich kein Luxus. Und den Wasserzufluss zu ebendieser Zweittoilette im Erdgeschoss hatten sie
abriegeln müssen, irgendwo musste es ein Leck geben, die Mauer neben dem Spülkasten war immer
feucht. Wenn sie nur daran dachte, dass es eigentlich höchste Zeit wäre, die gesamten Installationen
im Haus zu erneuern, wurde ihr übel. Außerdem, fand sie, sollte sich eigentlich Anton um solche
Dinge kümmern. Wozu war er schließlich Architekt? Allerdings schmetterte er ihre Einwände in der
Regel ab. „Man muss auch nicht Mathematik studiert haben, um einen Kassenzettel zu überprüfen.
Genauso wenig muss man Architekt sein, um einen Handwerker zu bestellen." Manchmal war er
schon ein fürchterlicher Klugscheißer. Obwohl - sie musste zugeben, dass er tatsächlich klug war.
Wenn man sich seine Entwürfe ansah, von denen allerdings nur wenige umgesetzt wurden ... Vor
allem aber war er witzig, konnte sie zum Lachen bringen. Man konnte ihm manches verzeihen.
Einmal wurde sie an diesem Vormittag noch unterbrochen. „Wenn du bitte einmal zu mir kommen
könntest ..." Martin Sorger, der Verleger, bat sie zu sich ins Büro. Martin war lang, dünn und ein
wirklich guter Arbeitgeber. Wenn er auch manchmal dazu neigte, zu sehr zu drängen, wenn Aufträge
sich länger hinzogen als geplant. „Deine Softporno-Reihe ... Sie hat schon wieder einen geschrieben.
Er kommt im November raus." Alexandra stöhnte auf. Das bedeutete, dass die Übersetzung bis
spätestens Weihnachten fertig sein musste. Für das Weihnachtsgeschäft würde es sich nicht mehr
ausgehen, aber da mittlerweile Millionen Menschen Büchergutscheine geschenkt bekamen, mussten
unmittelbar nach dem Fest ebenfalls neue Titel auf den Markt.
„Du müsstest mich dann aber von allen anderen Aufgaben freistellen", forderte Alexandra. „Und ich
müsste hauptsächlich zu Hause arbeiten. Damit ich nicht mit dem Hin- und Herfahren auch noch Zeit
verliere. Sonst geht sich das nicht aus." Sie legte einen Finger an die Lippen. Es dauerte oft ein paar
Stunden, bis sie mit solchen neuen Anforderungen seelisch zurechtkam, bis sie sich einen Plan
zurechtgeschustert hatte, wie doch alles unter Dach und Fach gebracht werden konnte.
„Darüber lässt sich reden. Magst du einen Kaffee?" „Schon", antwortete Alexandra. „Aber ich trink
ihn lieber vor meinem PC. Damit ich weiterkomme. Das Manuskript, übrigens, wird heute fertig. Soll
ich es selber an den Autor zurückschicken, oder willst du ...?" Martin seufzte. „Wird es was?" „Meiner
Meinung nach - eher nicht. Und wenn du es dir anschaust, der Autor hat auf alter Rechtschreibung
bestanden. Eher unüblich für Krimis, aber er kommt sich halt vor wie Heinrich Böll." „Schick es mir,
wenn du fertig bist. Ich kümmere mich darum. Und um ihn." Alexandra nahm es als Entlassung und
kehrte an ihren PC zurück.
Alexandra stand in der Küche, mit einem Espresso vor sich, und blickte versonnen durch das
Küchenfenster, das Aussicht auf die ganze Stadt bot. Na ja, die halbe. In einer Hand hielt sie ihr
Mobiltelefon. Anton war dran. „Ich muss noch mit einem wichtigen Kunden essen gehen. Rechne
also nicht zu früh mit mir." Alexandra seufzte. Ihr Mann bot ihr zwar wenig Anlass zum Misstrauen,
dennoch hoffte sie, dass der Kunde keine attraktive Kundin war. Man konnte Männern doch nie
gänzlich trauen.
„Mami, was gibt's heute?" Max versetzte der Küchentür einen Stoß, dass sie mit Schwung gegen den
Küchenschrank knallte. „Du hast doch in der Schule schon eine warme Mahlzeit bekommen",
erinnerte ihn Alexandra. Er klammerte sich schon wieder an ihr Bein. „Lass los, Max!" So gern sie mit
ihm kuschelte, das ständige Festhalten, während sie mit etwas anderem beschäftigt war, ging ihr auf
die Nerven. Sie hob Max hoch. Schwer war er geworden. Ihre Wirbelsäule würde ihr das nicht
verzeihen. „Runter!" Gott sei Dank. „Was hättest du denn gern?" „Spaghetti!" „Max, du kannst nicht
jeden Tag Spaghetti essen. Vor allem, wenn du schon in der Schule zu Mittag ein komplettes Menü
verdrückt hast. Was hat's denn gegeben?" „Was Grünes, das hat man nicht essen können, das war
eklig! Und Suppe mit nix drinnen!" Max zog einen Schmollmund, und Alexandra holte den Nudeltopf
aus dem Schrank, denn für lange Diskussionen hatte sie heute keine Nerven mehr. Es musste eine
Spaghettisoße aus dem Glas reichen, nur durfte Max das nicht sehen. Blubberte sie im Kochtopf vor
sich hin, gab es mit der Soße kein Problem. Bekam er aber mit, wie Alexandra sie aus dem Glas in den
Topf schüttete, war es vorbei mit seinem Appetit, dann verweigerte er die Nudeln. Sie hatte sich
früher niemals vorstellen können, wie heikel Kinder sein konnten. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie
alles gern gemocht, was ihre Mutter gekocht hatte.
„Hallo!" Annika stürmte zur Tür herein und ließ ihre Schultasche auf den Boden plumpsen. Alexandra
hörte sie darin herumkramen. „Gibt‘s was Neues?" „Gleich!", rief Annika. Sie kam in die Küche und
hielt ihr ein Heft unter die Nase. „Nicht! Das kriegt Tomatenflecken!" Sie legte den Kochlöffel
beiseite, wischte sich die Finger an den Jeans ab und nahm das Heft zur Hand. „Wow! Schon wieder
ein Einser!" Sie wuschelte Annika durch die Haare. „Ich bin stolz auf mein kleines Genie!" „Sogar mit
voller Punktezahl! Darf ich mir jetzt ein Schminkset kaufen?" Alexandra seufzte. „Darüber reden wir
später. Jetzt essen wir erst mal!"
„Aua!" Sie setzte den Nudeltopf auf dem Tisch ab und drehte sich um. Annika versuchte gerade, Max
eine Ohrfeige zu verpassen, doch der duckte sich weg. „Er hat mich an den Haaren gerissen!"
„Schluss jetzt! Sonst geht ihr ohne Essen ins Bett! Dann gibt's nur mehr eine Banane mit Joghurt!" Sie
wusste, es war keine gute Idee, mit gesundem Essen zu drohen - doch wahrscheinlich war sie selbst
schuld. Max musste gehört haben, dass sie Annika ein Genie genannt hatte - und da er sich selbst
mit dem Lernen etwas schwerer tat ...
Während des Essens wenigstens herrschte Ruhe. Irgendwie war das ungerecht. Anton saß
wahrscheinlich in einem Haubenlokal in der Stadt, und sie musste sich mit Spaghetti mit Fertigsoße
begnügen. Der einzige Vorteil des Gerichts war, dass beide Kinder es mochten und so wenigstens
über das Essen nicht Krieg geführt werden musste.
„Was ist jetzt wegen dem Schminkset?", fragte Annika, als sie das Geschirr zum Spüler trugen und
einräumten. Das Kind konnte hartnäckig sein. Alexandra seufzte. „Du kennst meinen Standpunkt. Ich
finde es nicht in Ordnung, wenn sich Elfjährige schminken. Ich selbst habe erst mit sechzehn ..." „Du
hast keine Ahnung!" Annikas Ton wurde vorwurfsvoll und patzig. „Alle schminken sich! Und ich bin
schon fast zwölf!" Alexandra schloss die Klappe des Geschirrspülers und stützte die Fäuste in die
Hüften. „Ich bin für dich verantwortlich, und solche Fragen werden unter uns ausgehandelt. Es spielt
keine Rolle, was andere angeblich dürfen oder auch nicht."
Wie oft hatten sie diese Debatten schon durch! Wie sollte man einer Elfjährigen erklären, dass sie in
den Augen von Männern als sexuell aktiv erscheinen konnte, wenn sie sich schminkte? Dass sie
zusätzlich zu ihren zumindest bereits sichtbaren Brüsten ein weiteres Merkmal zeigte, das sie älter
und somit als potentielle Beute erscheinen ließ? Aber wenn sie sich weiterhin stur stellte, würde
Annika wohl beginnen, sich hinter ihrem Rücken zu schminken, auf der Schultoilette wahrscheinlich.
Jeder Widerstand trug auch seine Risiken in sich. Annika floh mit einem Wutschrei aus der Küche und
stürmte die Stiege hinauf. Oben hörte Alexandra nur mehr die Tür ihres Zimmers knallen.
Zeit für Max, sich in den Vordergrund zu spielen. „Ist die Annika böse? Was hat sie gemacht?" „Nix!"
Alexandra strich ihm mit dem Finger über die Wange. „Erwachsen wird sie halt!" „Die blöde Gans
wird nicht erwachsen!", widersprach er.
Alexandra wollte das Thema mit ihm nicht weiter vertiefen. „Was habt ihr denn heute in der Schule
gemacht?" Max ließ sich leicht ablenken. „Ich hab einen Eishockeyspieler gezeichnet!" „Aber die
Saison ist doch schon vorbei?" Max hatte ein erstes Jahr beim Eishockeyverein hinter sich gebracht
und war Feuer und Flamme für den Sport. „Nächstes Jahr spiele ich bei den Großen!" Alexandra
hatte wohl oder übel bei sechs Spielen auf der Zuschauertribüne frieren müssen. Es saßen ohnehin
nur die Eltern der Spielerinnen und Spieler auf den Rängen, und manche feuerten ihre Kinder wie
besessen an. Nicht einmal vor Beschimpfungen gegnerischer Spieler schreckten manche Väter
zurück. Aber auch eine Mutter gab es, die über ein ansehnliches Repertoire an ordinären Ausdrücken
verfügte. Alexandra war der Sport nicht nur deswegen zu derb, sie hatte dazu noch ständig Angst,
dass Max sich verletzen würde, und sah gar nicht gern hin. Anton machte sich oft ein wenig lustig
über sie, wenn sie die Hände vor die Augen schlug, sobald ein Zusammenstoß drohte. „Das macht
einen richtigen Mann aus ihm!", sagte Anton dann. Sie war sich da nicht so sicher.
Now, naked, the knight stood in the dark. Only a few candles behind a column offered some dim,
flickering light to the hall. The servant made him sit down, asked him to put his hands behind his back
and bound him. The sweet perfume of the servant began to seep through his nostrils, and her hair
brushed lightly over his shoulders. His sword began to rise.
Dass das Zeug kreativ wäre, das sie hier zu übersetzen hatte, konnte man nicht behaupten.
Andererseits, einfache und klischeehafte Darstellungen waren leichter ins Deutsche zu bringen.
Manchmal allerdings konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, holprig dargestellte Sexszenen
wenigstens um die billigsten Bilder und schwülstigsten Adjektive zu erleichtern. Und was noch
erstaunlicher war - manchmal versetzten sie die Texte sogar in Stimmung. Ein paarmal hatte sie
Anton schon nach nächtlicher Übersetzungsarbeit verführt. Die ewig gleichen Fesselungsspiele und
flotten Dreier allerdings, die in den Büchern die Hauptrolle zu spielen schienen, hingen ihr allmählich
zum Hals heraus. Ein Wunder, dass es den Leserinnen nicht ebenso ging - denn wenn man der
Marktforschung glauben durfte, wurden diese Werke vornehmlich von Frauen gelesen. Ein wenig
Stolz empfand sie dann doch bei dem Wissen, dass Hunderttausende das lesen würden, was sie
geschrieben hatte, zumindest in ihrer Sprache. Erfahren würden das die Leserinnen allerdings nicht -
als Übersetzerin dieser Werke gebrauchte sie ein Pseudonym.
Mehr als drei Seiten waren aber nicht mehr drinnen, ihr drohten schon die Augen zuzufallen.
Manchmal dachte sie, es wäre Zeit, ein erotisches Wörterbuch zu schreiben - wenn es auch dünn
ausfallen würde, der Wortschatz, den Autoren zur Beschreibung aller nur denkbaren sexuellen
Vorgänge benutzten, schien äußerst begrenzt zu sein, egal, ob die Szenen im Mittelalter oder in
einem Raumschiff angesiedelt waren.
Es war bereits elf. Von Anton keine Spur, kein Anruf. Sie ging zu Bett, nahm sich das Buch vor, das sie
zu ihrem Vergnügen gerade las, überflog eine Seite, merkte, dass sie nichts mitbekommen hatte, weil
ihre Gedanken schon bei der Organisation des morgigen Tages waren, las die Seite nochmals, bekam
wieder nichts mit, legte das Buch beiseite und schlief ein.
2
Sie wurde von einem Knall wach. Knall? Sie schrak hoch, setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Durch die Vorhänge drang gedämpft das Sonnenlicht des frühen Morgens. Anton saß ihr gegenüber.
Im Anzug? Und er hatte gerade eine Sektflasche geöffnet? Was war los? Hatte sie Geburtstag?
Hochzeitstag? „Champagner!", rief Anton, stand auf und näherte sich ihr. Er stand auf wackeligen
Füßen und schwankte. Hatte er etwa die Nacht durchgezecht? Bei einem Kundentermin? Sie ließ sich
zurück aufs Bett sinken. „Wie spät ist es? Was willst du?"
„Hoch mit dir!" Er griff unter ihren Rücken und versuchte sie hochzuschieben. Gleichzeitig setzte er
ihr die Champagnerflasche an die Lippen. Weder zielte er gut, noch war sie bereit zu trinken. Der
Champagner floss ihr über das Kinn, rann zwischen ihren Brüsten hinab. „Was ist denn mit dir los?"
Ärger kam hoch. Sie wollte schlafen. Ihr Tag würde anstrengend werden, seiner anscheinend nicht.
Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? „Verschwinde!", zischte sie. „Und schlaf deinen
Rausch in deinem Arbeitszimmer aus!"
„Heute wird nicht gearbeitet, mein Schatz! Heute wird gefeiert!" Er nahm noch einen Schluck aus der
Flasche. Sie ließ sich auf ihr Polster zurücksinken. „Weck wenigstens die Kinder nicht auf!" Ihr
Nachthemd war völlig durchnässt. Sie fror. Hoffentlich würde er sich bald beruhigen und das Licht
wieder ausschalten.
„Was feierst du eigentlich?" „Ich hatte schon gedacht, du fragst nie!" Die Flasche in der einen Hand
haltend, tanzte Anton durchs Zimmer, in einem etwas wackeligen Sirtaki-Schritt. Dabei zählte er.
„Eins, zwei, drei und vier und fünf und sechs, sieben!" Alexandra beobachtete ihn stirnrunzelnd.
Drehte er durch, oder gab es wirklich etwas zu feiern? Er hielt bei 24 inne. „24 Millionen!", hauchte
er. „24 Millionen Euro! Ich habe 24 Millionen Euro gewonnen! Wir haben gewonnen! Bei den
Euromillionen! 24 Millionen Euro!" Er kniete am Bettrand nieder, zog die Decke von ihren Füßen und
nahm die kleine Zehe zwischen zwei Finger. „Eine Million für die Zehe", rief er, „und eine Million für
die nächste!" „Lass das!", stöhnte Alexandra. Wer konnte wissen, was er sich in seinem Suff
zusammenphantasierte. 24 Millionen gewann man nicht einfach so.
„Du spinnst ja. Lass mich schlafen. Und geh auf das Sofa in dein Arbeitszimmer, ich bin müde." Sie
drehte sich zur Seite und zog die Decke über den Kopf. 24 Millionen. Was für ein Unsinn. Sie hasste
seine dummen Scherze.
„Nein, Schatz, es ist wahr!" Die Decke wurde ihr weggezogen. „Fünf Zahlen - zwei Sterne!" Er zog
einen ausgedruckten Beleg aus der Innentasche seines Sakkos und entfaltete ihn. „Fünf Zahlen - zwei
Sterne! Jackpot! 24 Millionen!" Er reichte ihr den Beleg, nahm einen weiteren Schluck und tanzte
neuerlich durchs Zimmer. Sie besah sich, nun doch neugierig geworden, den Zettel. Es war tatsächlich
ein Lotterie-Beleg. Sie wusste zwar, dass Anton regelmäßig Geld in diese Form des Glücksspiels
investierte, hatte sich aber kein einziges Mal eine Ziehung mit ihm angesehen. Sie hatte für Lotto und
dergleichen nichts übrig, sie hielt das für eine schlechte Angewohnheit der Unterschicht, die ihr
mageres Einkommen weiter beschnitt, indem sie es hoffnungslosem Glücksspiel in den Rachen warf.
Anton aber hatte ihr immer wieder vorgeschwärmt, was man mit einer Million alles machen könnte.
Und dabei hatte er immer von einer, genau einer Million gesprochen. Jetzt sollte er 24 Millionen
gewonnen haben? Wahrscheinlich hatte sich Anton getäuscht, er war wohl schon während der
Ziehung angetrunken gewesen. Niemand gewann 24 Millionen Euro, schon gar nicht mit einem
einzigen Schein. Wahrscheinlich waren es 24.000 oder so.
Sie zog einen Bademantel über und setzte sich vor ihren Laptop. Die Gewinnzahlen konnte man mit
Sicherheit im Internet nachlesen. Wenige Minuten später hatte sie die gewünschte Antwort. Die
Zahlen, die gezogen worden waren, stimmten mit einer der Zahlenreihen auf ihrem Beleg überein.
Anton hatte die entsprechende Kolonne mit Textmarker gekennzeichnet. Aber von einer
Gewinnsumme stand da nichts.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. „Die Zahlen stimmen. Aber da steht keine Gewinnsumme." Sie
runzelte die Stirn. „Ein Anruf! Ich hab einen Anruf bekommen! Und natürlich die ganze Nacht kein
Auge zugemacht! 24 Millionen!"
Alexandra war verwirrt. Was war in einer derartigen Situation zu tun? Hinlegen und schlafen, am
besten, aber ob sie jetzt noch einschlafen konnte? 24 Millionen? Was machte man mit 24 Millionen?
Wenn es denn stimmte. Anton hatte etwas von einem Anruf gesagt. Er konnte auch auf einen Scherz
hereingefallen sein. Anton war inzwischen samt Anzug neben ihr in das Bett gesunken und hatte zu
singen aufgehört. Sie schaltete das Licht ab. Vorläufig, so sagte sie sich, würde alles weitergehen wie
bisher. Vor allem, solange alles derartig ungewiss war. Sie würde morgen natürlich pünktlich im Büro
erscheinen, sie wollte keinesfalls als unzuverlässige Mitarbeiterin dastehen, die wegen ein bisschen
Geld gleich den Kopf verlor. Ebenso würden die Kinder in die Schule gehen, die sollten vorläufig am
besten überhaupt nichts von dem Gewinn erfahren.
Anton lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Anscheinend war er soeben eingeschlafen.
Leises Schnarchen verriet ihr, dass er auch nicht so schnell wieder aufwachen würde. Die
Champagnerflasche hatte er nicht losgelassen, sie hing an seinem Arm über den Bettrand. Alexandra
löste sie aus seinen Fingern. Es musste nicht auch noch der Boden überschwemmt werden, wenn er
losließ. Sie besah die Flasche. Etwa ein Viertel war noch drinnen. Schnell nahm sie einen Schluck,
stellte die Flasche beiseite und sah auf die Uhr. Viel Zeit blieb nicht mehr, bis der Wecker läutete, sie
brauchte sich erst gar nicht bemühen, noch einmal einzuschlafen, legte sich wieder neben Anton und
wartete, bis sie die Kinder wecken musste.
Erst als sich Max beschwerte, dass der Kakao zu wenig süß war, wurde ihr bewusst, dass sie das
Frühstück der Kinder völlig in Gedanken versunken zubereitet hatte. Was war als Nächstes zu tun?
Jausenbrote herrichten. Wie viele Jausenbrote konnte man für 24 Millionen Euro kaufen? Ihr wurde
schwindelig bei dem Gedanken. Millionen hin oder her, rief sie sich zur Ordnung. Die Kinder mussten
zur Schule, und die Jausenbrote mussten in die Schultaschen.
„Wo ist denn Papa?" Annika rümpfte misstrauisch die Nase. „Er ..." Alexandra zögerte. „Er hat in der
Nacht lange gearbeitet. Er geht heute später ins Büro." „Und wer bringt mich dann ..." Max begann
bereits, ein weinerliches Gesicht zu ziehen. So weit war es also schon gekommen - wenn er fünf
Minuten zu Fuß gehen sollte, fühlte er sich bereits zurückgesetzt und glaubte, wenn er ein bisschen
Theater machte, würden automatisch seine Ansprüche erfüllt. „Du gehst heute zu Fuß. Und wenn dir
das nicht passt, kannst du gerne Papa aufwecken. Der wird eine Riesenfreude haben!" Das war jetzt
etwas zu scharf gekommen. Max' Mundwinkel zuckten, wanderten nach unten, und er begann
bereits, in Vorbereitung eines Heulkonzerts, Rotz aufzuziehen. Schnell setzte sich Alexandra neben
ihn, hielt ihm ein Taschentuch unter die Nase und strich ihm übers Haar. „Schau, Max. Die fünf
Minuten zu Fuß, das tut dir gut! Heute ist schönes Wetter, und ein bisschen Bewegung vor der
Schule, das macht dich munter!" Max schniefte immer noch. Es ging wohl nicht um den kurzen
Fußweg, sondern einfach darum, dass er seine Ansprüche durchsetzen wollte. Alexandra seufzte.
Dieses Problem konnte man jedenfalls nicht mit Geld lösen, im Gegensatz zu einer kaputten
Dachrinne, zum Beispiel. Wenn der Kleine mitbekam, dass sie nun reich waren, viel zu reich, was für
Ansprüche würde er dann wohl erheben? Sie stellte ernüchtert fest, dass sie jetzt zumindest eine
Sorge mehr hatte. Ob es auf der anderen Seite vielleicht eine Sorge weniger werden würde, war
abzuwarten.
Als die Kinder endlich weg waren, hatte sie sich natürlich mit jeweils einem Euro für eine Süßigkeit
erpressen lassen, damit endlich Schluss mit dem Geraunze war. Sollte sie Anton jetzt wecken oder
ihn einfach in Ruhe seinen Rausch ausschlafen lassen? Sie entschied sich für einen Mittelweg, ging ins
Schlafzimmer und suchte sich eine Bluse, einen Rock und frische Unterwäsche aus dem Kasten, ohne
besonders darauf zu achten, leise zu sein. An Antons gleichmäßigen Atemzügen hörte sie jedoch,
dass er tief schlief. Sollte sie ihn zudecken? Nein. So würde er wenigstens irgendwann zu frieren
beginnen und wieder aufwachen.
Sie legte vor dem Badezimmerspiegel eine Halskette um, die, so erinnerte sie sich, weniger als
50 Euro gekostet hatte, und ertappte sich bei dem wohligen Gedanken an den echten, wertvollen
Schmuck, den sie nun kaufen würde können. Zunichte allerdings wurde der wohlige Gedanke bei der
Vorstellung, von ihren Kolleginnen im Verlag wegen der teuren Neuanschaffungen argwöhnisch
gemustert zu werden.
Sie seufzte, als Antons Handy läutete. Sie fand es in seiner Sakkotasche auf dem Boden des
Schlafzimmers, ohne dass Anton aufgewacht wäre. Es war Mirko, ein Kollege aus seinem Büro. „Du,
Alexandra? Was ist mit Anton? Wir hätten einen Termin zusammen, in einer Stunde. Wir müssten
jetzt gleich wegfahren!" Mirko klang ungeduldig. Er war nicht nur Antons bester Freund und Kollege,
auch als Paar verstanden sie sich gut mit ihm, sie alle kannten sich seit ihrer Studienzeit. Oft waren
sie zu viert ausgegangen - sie mit Anton, Mirko mit einer seiner häufig wechselnden
Bekanntschaften. Die hatten meist glamourös, aber gelangweilt gewirkt. Manchmal hatte ihr Mirko
während dieser Zusammenkünfte Blicke zugeworfen, die ihr verrieten, dass er an ihr mehr als nur
oberflächlich interessiert war.
Alexandra verließ das Schlafzimmer und antwortete leise: „Es geht ihm nicht gut. Er wird wohl heute
nicht ins Büro kommen, zumindest am Vormittag nicht." „Kannst du ihn mir geben?" Alexandra
zögerte. Sie wollte nicht verraten, dass Anton betrunken eingeschlafen war. „Er hat irgendwas
eingenommen und schläft jetzt." Mirko seufzte. „Richt ihm bitte wenigstens aus, dass er sich sofort
melden soll, wenn er wach wird. Es wäre dringend." „Okay, mach ich!" Sie legte auf, stellte den
Klingelton lauter und deponierte das Handy auf Antons Nachttisch. Beim nächsten Klingeln würde er
selber drangehen müssen.
Ein neues Rad, das wäre schon etwas. Alexandra fuhr gerne Rad, wann immer sie Gelegenheit dazu
fand. Ein Rad fürs Büro, eines für die Straße und eines für das Gelände. Momentan erledigte sie alles
mit demselben nicht ganz taufrischen Mountainbike. Wie viele Räder konnte man für 24 Millionen
kaufen? Sie überschlug im Kopf die Zahlen, während sie in einer leichten Brise am Fluss
entlangradelte. Sie kam zu dem Schluss, dass es selbst bei teuren Geräten für 12.000 oder mehr
Räder reichen würde. 12.000 Räder, das konnte man sich nicht einmal vorstellen. Ob 12.000 Räder
auf einem Fußballfeld Platz hatten?
„Hallo, Alexandra!" Sophie saß schon auf ihrem Platz und lächelte ihr zu. „Wie geht's?" „Ja, äh ..."
Nicht einmal darauf fiel ihr heute spontan eine passende Antwort ein. „Super, eigentlich!" Das
konnte nicht überzeugend geklungen haben. Sophie zog die Augenbrauen hoch. „Ist was?" Sie hatte
ein Gespür dafür, wenn etwas anders war als sonst, das hatte sie schon mehrfach bewiesen.
Alexandra bemühte sich um eine möglichst glaubwürdige Ausrede. „Die Mama, du weißt ja. Sie ist
wieder ..." „Oh Gott!" Sophie nickte verständnisvoll und drang nicht weiter in sie. Oft genug hatten
sie sich schon über die labile Psyche von Alexandras Mutter unterhalten. Sie verfiel immer wieder in
tiefe Depressionen, musste manchmal Tage oder sogar Wochen in einer psychiatrischen Klinik
verbringen und meist starke Medikamente einnehmen. Sophie hatte sicher Verständnis dafür, dass
sie jetzt, am Beginn eines Arbeitstages, nicht darüber sprechen wollte. Dabei ging es ihrer Mutter in
Wirklichkeit seit drei, vier Monaten überraschend gut.
Großartig war das, dachte Alexandra bei sich. Sie war jetzt zwar reich, dafür aber musste sie gleich in
der Früh ihre Freundin hinters Licht führen. Ganz zu schweigen von den Kindern, denen hatte sie
nämlich auch ein Märchen aufgetischt - die angebliche Nachtarbeit von Anton. Würde sie jetzt zur
notorischen Lügnerin werden, nur um einen Millionengewinn geheim zu halten? Sie dachte an
Sophies Eigentumswohnung. Sie konnte deren Schulden mit ein paar Mausklicks begleichen, sobald
das Geld auf dem Konto eingegangen war. Sollte sie das tun, konnte man so etwas tun? Würde sich
Sophie darüber überhaupt freuen?
Nach einer Stunde merkte sie, dass ihre Arbeit am Manuskript oberflächlich und unkonzentriert
gewesen war. Am besten, sie fing noch einmal dort an, wo sie gestern aufgehört hatte. Ihre Leistung,
so entschied sie, durfte keinesfalls unter dem Lottogewinn leiden. Obwohl, eigentlich hatte sie es
jetzt gar nicht mehr nötig zu arbeiten, überlegte sie. Ob es nicht auch Spaß machen würde, den Tag
mit Shoppen und im Kaffeehaus zu verbringen? Sie schob den Gedanken beiseite.
Der Vormittag verlief mühsam, die Konzentration auf ihre Arbeit fiel ihr weiterhin schwer. Sie
überlegte schon, ob sie sich nachmittags freinehmen sollte, als ihr Handy summte. Anton. War er
doch noch einmal aufgewacht. „Willst du nicht mit mir feiern? Wir müssen doch feiern!", rief er so
laut ins Telefon, dass Alexandra das Gerät unwillkürlich etwas von ihrem Ohr entfernte. Sophie hob
interessiert den Kopf. Sie musste mitbekommen haben, was Anton gesagt hatte. Alexandra aber war
nicht nach Feiern, eine ihr sonst kaum bekannte Beklemmung hatte sich um ihre Brust gelegt. Sie
konnte sich nicht freuen, oder zumindest noch nicht. Sie seufzte und antwortete leise: „Ich frage, ob
ich nachmittags freibekomme." Es musste ja nicht die gesamte Belegschaft darüber informiert
werden, worüber sie redeten.
Anton jedoch dachte gar nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. „Was heißt fragen? Du brauchst nie
mehr jemanden zu fragen, du kannst tun, was du willst!" Er hatte sicher recht, so konnte man ihre
Situation natürlich auch sehen, aber es gelang ihr eben im Moment nicht, so geradlinig wie er zu
denken. Anton hatte anscheinend schon wieder getrunken, man konnte es an seinem undeutlichen
Sprechen hören.
„Was will er denn feiern?" Sophie war, natürlich, hellhörig geworden. Laut genug war Anton ja
gewesen, sie hatte gar keine Möglichkeit gehabt, etwas zu überhören. Alexandra entschloss sich
spontan, das Lügen sein zu lassen. Sie würde es ohnehin nicht durchhalten können. „Er hat Geld
gewonnen, in einer Lotterie. Ich weiß nicht, wie viel." Schon wieder eine Lüge. „Na ja", lächelte
Sophie. „Viel wird's nicht gewesen sein. Das wär ja mehr als unwahrscheinlich. Ist wenigstens ein
neues Rad für dich drin?" Alexandra nickte schuldbewusst und hoffte, dass sie nicht rot geworden
war. Es würde mühsam werden, dachte Alexandra, Sophie zu erklären, warum sie nicht gleich mit der
Wahrheit herausgerückt war. Und wenn sie Sophie Geld gab, musste sie dann nicht auch den
anderen Kolleginnen ... Am Ende war es doch das Beste, sich nachmittags freizunehmen, um einen
klaren Kopf zu bekommen. „Ja, ich werde mich bemühen. Gehen wir irgendwohin essen. Reservier
was. Ich kümmere mich." Sie legte auf.
„Lieber wäre mir, das Manuskript endlich zu Ende zu bringen. Was ich jetzt nicht schaffe, muss ich
dann am Abend machen." Alexandra schüttelte den Kopf. „Mach dir keinen Stress!", beruhigte
Sophie. „Es wird schon werden. Ich wär froh, wenn ich einen Mann hätte, der mal spontan feiern
will!" Alexandra runzelte die Stirn. „Ist was mit Leo?" Sophie winkte ab. „Nein, nein! Nur, du weißt ja,
er muss immer alles mindestens drei Monate im Voraus planen. Und Essenszeiten müssen
eingehalten werden und so ..." Sie ließ ihren Satz ausklingen. Alexandra wusste, dass Sophies Freund
ein wenig zur Pedanterie neigte und eigentlich zu konservativ für Sophie war. Dazu kam, dass er
religiös war, sie aber mit einem Kirchenaustritt liebäugelte. Vielleicht hatte sie es mit Anton doch
ganz gut erwischt. Wenn er sich auch im Moment ein wenig kindisch aufführte.
Ihr Handy läutete wieder. Der Installateur. „Frau Heidegger ..." Seine Stimme hatte einen klagenden
Unterton. Er würde auch heute den Rohrbruch nicht reparieren. Doch diesmal hatte Alexandra
genug. „Wissen Sie was, Herr Hofmann? Wir planen eine umfangreiche Renovierung unseres Hauses,
wir haben uns endlich dazu durchgerungen. Neue Bäder, Heizung, alles. Und wenn Sie auch nur den
Funken einer Chance haben wollen, diesen Auftrag zu bekommen, dann ist die Reparatur heute
Abend erledigt!" Sie drückte die rote Taste. Für etwas musste das viele Geld doch gut sein. Das mit
der Renovierung war ihr ganz spontan eingefallen. Aber es war auch irgendwie naheliegend: Wann,
wenn nicht jetzt, sollten sie das Haus gründlich renovieren? Sie hatten jahrelang schon darüber
geredet und auch dafür gespart, jetzt war das alles kein Problem mehr.
„Martin, könntest du mir heute Nachmittag freigeben? Mein Mann hat gerade angerufen ... Er hat
einen ..." Sie überlegte, wie sie die Neuigkeit am besten formulieren sollte. „Einen Gewinn hat er
gemacht, und er möchte mit mir ein bisschen feiern. Ich mach dann das Manuskript heute Abend
fertig." Martin runzelte die Stirn, nickte aber. „Ich kann mich darauf verlassen? Was hat er denn
gewonnen? Ein Kochbuch vielleicht? Oder eine Gewürzmühle?" Das war ein Scherz, den nur Insider
verstehen konnten - ein bekannter Koch, der auch in ihrem Verlag ein Kochbuch herausgebracht
hatte, moderierte jetzt eine Quizshow, und als Preis für die richtige Antwort konnte man dort eine
Gewürzmühle gewinnen. Oder eben das Kochbuch. Alexandra lächelte. „Hoffentlich!" Sie ließ im
Unklaren, worauf sie hoffte.
Auf dem Weg zum Restaurant gingen ihr so viele Gedanken durch den Kopf, dass sie einmal eine rote
Ampel überfuhr und schließlich abstieg und das Rad schob, um sich nicht selbst zu gefährden. Wie sie
den Gewinn ihrer Familie beibringen konnte? Ihre Mutter, so vermutete sie, würde es nicht wichtig
nehmen, sie hatte keine Bedürfnisse, die mit Geld befriedigt werden konnten. Sie bezweifelte, ob sie
überhaupt aus ihrer kleinen, etwas schäbigen Wohnung ausziehen würde, wenn sie ihr etwas viel
Schöneres in Aussicht stellen konnte. Mutter lebte in einer spartanisch eingerichteten
Zweizimmerwohnung, die auf Alexandra so kalt wirkte, dass sie es nie lange dort aushielt. Neue
Möbel, eine schöne Aussicht oder überhaupt eine Gestaltung ihrer Umgebung interessierten ihre
Mutter nicht. Oder nicht mehr. Wichtig war ihr, dass alles blieb, wie es immer gewesen war. Und das
war schwierig genug, wenn man ihre gesundheitliche Situation nüchtern betrachtete.
Zu ihrem Bruder Walter hatte sie vor Jahren schon den Kontakt verloren. Er hatte die Familie früh
verlassen, war unstet herumgezogen. Von einer Berufsausbildung oder einem Arbeitsplatz wusste
Alexandra nichts. Auch nicht von einer Familie. Kaum hatte sie eine Adresse oder eine
Telefonnummer von ihm, war sie auch schon nicht mehr aktuell. Nicht einmal über das Internet und
soziale Netzwerke war es ihr in den letzten Jahren gelungen, mit Walter Kontakt aufzunehmen. Was
aber, wenn er erfuhr, dass sie nun reich war? Walter war der Typ Mensch, der von Geld angezogen
wurde wie die Motten vom Licht. Leider hatte er sich dabei schon mehr als einmal die Finger
gründlich verbrannt.
Tobi würde etwas Geld dringend brauchen können. Er arbeitete in einer Einrichtung, die psychisch
Kranke betreute, jedoch nur als Teilzeitkraft, mehr traute er sich nicht zu. Für Alexandra war es nur
eine Frage der Zeit, bis er in seiner Einrichtung auf die Seite der Klienten wechselte, er klagte sowohl
über Leistungsdruck während der Arbeit als auch über Einsamkeit in seiner Freizeit. Er hatte sich
selbst aufgegeben, ließ sich hängen und litt - ähnlich wie ihre Mutter - gelegentlich unter
Depressionen. Sie fragte sich, ob ihrer Familie mit Geld wirklich zu helfen war. Sie war bisher schon
die Einzige gewesen, die es zu einem einigermaßen stabilen Familienleben mit einem ausreichenden
Einkommen gebracht hatte, und sie war auch die Einzige mit einer guten Ausbildung. Das Geld, so
sagte sie sich, bedeutete jetzt auch mehr Verantwortung ihrer Familie gegenüber.
Das Mittagessen verlief unharmonisch. Anton war überdreht, zu laut, lobte das Menü in den
höchsten Tönen und trank zu viel Alkohol. Was Alexandra besonders missfiel, war, dass er möglichst
teuren Wein und Champagner bestellte. Guter Wein war ihr zwar wichtig, doch im Restaurant
achtete sie darauf, eine eher bescheidene Auswahl zu treffen, damit der Geschmack nicht den der
Speisen übertönte oder zunichtemachte. Sie hasste angeberische Trinker, die allein durch die Wahl
der Weine ihren Status darstellen mussten. Darüber war mit Anton zu reden, und zwar bald. Es
konnte nicht angehen, dass er zum protzigen Angeber mutierte. Sie hing so sehr ihren Gedanken
nach, dass sie das gute Essen kaum wahrnahm und gedankenlos in sich hineinschaufelte.
„Wir müssen auch mit den Kindern reden", warf sie ein, als das Dessert serviert wurde. Natürlich
musste Anton dazu einen sündteuren Süßwein serviert bekommen. „Haben Sie einen Sauternes?",
fragte er die Kellnerin, die seinen Heiterkeitsausbrüchen amüsiert lächelnd standgehalten hatte.
„Natürlich, der Herr!" Wahrscheinlich hoffte sie auf ein üppiges Trinkgeld. Ein ebenso üppiges, wie
ihr Dekolleté war, dachte Alexandra gehässig. „Für dich auch, Schatz?" Sie schüttelte den Kopf.
Merkte er nicht, dass sie überhaupt nicht in der richtigen Stimmung für ein ausgelassenes
Gourmetmenü war?
„Was sagen wir den Kindern?", wiederholte sie, als sie merkte, dass Anton ihre Frage entweder
ignoriert oder überhört hatte. Er wedelte mit der Dessertgabel in der Luft herum. „Du machst dir
über alles viel zu viele Gedanken, Schätzchen!" Außerdem sprach er zu laut, fand sie. „Kommt Zeit,
kommt Rat! Sie werden sicher nicht schwer leiden müssen, wegen dem ... du weißt schon!" Er
zwinkerte ihr verschwörerisch zu, ohne zu merken, dass sie immer schweigsamer wurde.
Er ging ihr auf die Nerven. Kein ernstes Wort war seit heute früh mit ihm zu wechseln gewesen, er
merkte nicht, wie es ihr ging, und schien ihre Sorgen nicht zu verstehen. Von seinem trockenen
Humor war heute nichts zu merken. Sie nahm einen Löffel Zitronensorbet und zerdrückte es
zwischen Zunge und Gaumen. Morgen. Morgen würde man wieder vernünftig mit ihm reden können.
Es musste ja auch ihm klar sein, dass diese gewaltige Summe auch eine unglaubliche Verantwortung
bedeutete. „Und den alten Kasten, den verkaufen wir! Ich bau uns ein neues Haus, in der besten
Lage, und bis es fertig ist, mieten wir uns ein Penthouse!" Sie verzichtete auf eine Entgegnung und
dachte an Herrn Hofmann, der hoffentlich schon in ihrer Toilette an der Arbeit war.
3
He smelled some expensive, sweet perfume on the servant's fingers. She giggled, while she put the
blindfold over his eyes. He wondered if she was naked like him. She had appeared behind him out of
nowhere. He could not help but feel that his sword was rising. Suddenly the servant stopped giggling.
He could hear a dark voice in front of him. „I am here, Lancelot. Right before you. I do not wear any
clothes, like you." It was, he now registered, the voice of his queen.
Schon kühn, dachte sie, aus den Artus-Epen einen Softporno zu stricken. Aber nicht ganz ohne
Charme. Heute allerdings verfehlten die Geschichten der englischen Autorin ihren Zweck, sie
erregten sie kein bisschen, denn es kostete sie fast übermenschliche Anstrengung, sich auf den Text
zu konzentrieren. Noch dazu, wo Anton immer wieder herüberkam und sie störte. Sonst respektierte
er, dass sie während der Übersetzungsarbeit nicht gestört werden durfte. Aber heute anscheinend
war ihm das Herz so voll, dass sein Mund ständig überging. Ihr dagegen lag der Gewinn wie ein Stein
im Magen. Sie hatten mit den Kindern noch nicht gesprochen, nicht einmal geklärt, was sie ihnen
sagen würden. Ihre Mutter, der Verleger, die Kolleginnen - mit allen waren Gespräche zu führen, vor
denen ihr graute.
„Schatz, ich schau gerade nach Grundstücken! Da hätte ich was!" Er hielt ihr sein Tablet vor die Nase.
„Stadtrandlage", las sie. „Unverbaubarer Gebirgsblick." Sie suchte nach einem Preis. „Was soll es
denn kosten?", fragte sie, weil sie keinen finden konnte. „400.000 Euro!", rief Anton. „Ein Klacks!"
„Damit könnten wir aber auch das Haus hier ganz toll renovieren!", warf sie ein. „Wo ist das denn
eigentlich?" „Nur fünfzehn Autominuten vom Stadtzentrum entfernt!" Anton war geradezu
euphorisch. „Aber, ich fahr doch gerne mit dem Rad in den Verlag ..." „Unsinn!", unterbrach Anton
sie. „Du kannst dir ein Cabrio kaufen oder von mir aus ein E-Bike, was du willst!" Alexandra schüttelte
den Kopf. „Und die Kinder, wegen der Schule ..." Doch kein Einwand schien bei Anton zu verfangen.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung verschwand er aus dem Arbeitszimmer. „Du kannst einem
aber auch alles vermiesen!", murmelte er noch vor sich hin.
Tat sie das tatsächlich? Ihm alles vermiesen? Was sprach eigentlich gegen ein neues Haus? Man
konnte einen Pool einbauen, dafür hatten sie jetzt genug Geld. Sogar einen mit Überdachung,
eigentlich hatte sie immer von so etwas geschwärmt. Oft hatte sie sehnsüchtig Traumhäuser in
Fernsehmagazinen und Katalogen betrachtet und sich über den alten Kasten geärgert, den ihnen
Antons Eltern hinterlassen hatten. Die lebten jetzt in einer feinen Dachwohnung mit Rundblick, die
ihnen Anton ausgebaut hatte. Warum eigentlich war sie so negativ eingestellt? Wahrscheinlich hatte
Anton recht, sie musste erst lernen, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Es dauerte bei ihr
halt länger als bei ihm. Sie blickte aus dem Fenster. Für einen Pool war eigentlich auch hier genug
Platz. Sogar mit einem Whirlpool dazu ...
Am Samstag wachte Alexandra ungewöhnlich früh auf. Die Sonne schien durch die Ritzen der
Jalousie, und sie horchte in sich hinein. Fühlte sie sich schon wohler bei dem Gedanken, um
24 Millionen Euro reicher zu sein? Ihr Bauch gab ihr keine Antwort. Gestern Nacht war Anton beim
wöchentlichen Sex ebenso euphorisch gewesen wie beim Suchen nach Grundstücken, er hatte an ihr
herumgezerrt und -geleckt, wie er es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sogar Champagner
hatte er über ihren Körper geschüttet, und nach Anlaufschwierigkeiten war es ihr gelungen, seiner
Begeisterung zu folgen, und auch sie war gekommen, gleich zweimal. Aber jetzt ... Sie musste Anton
aufwecken, bevor es Zeit war, mit den Kindern zu sprechen. Sie mussten sich eine Strategie
zurechtlegen, was man ihnen sagen sollte und wie. Welche Antworten konnten sie geben, wenn die
Kinder jetzt meinten, ihre unverschämtesten Wünsche müssten auf der Stelle erfüllt werden?
Einstweilen aber wollte sie noch ein paar Minuten Ruhe genießen. Draußen zwitscherten die Vögel,
und das wenige Sonnenlicht, das durch die Jalousie fiel, flackerte durch die Äste, die sich vor dem
Fenster im Wind bewegten. Sollte sie ihre Arbeit hinschmeißen? Aufhören, seltsame erotische
Romane zu übersetzen? Unbegabte, übergewichtige Krimiautoren und von ihrer Genialität
eingenommene spindeldürre Lyrikerinnen hinter sich lassen? Was würde sie den ganzen Tag tun?
Schuhe und Taschen kaufen? Beides tat sie nicht ungern. Wenn sie sich auch eingestehen musste -
das Stöbern nach interessanten Schnäppchen war der größere Genuss als das Besitzen. Würde es ihr
tatsächlich Spaß machen, einfach etwas auszusuchen, was ihr gefiel, darauf zu zeigen, es einpacken
zu lassen und nach Hause zu schleppen, ohne überhaupt auf den Preis zu sehen? Oder würde es ihr
vielleicht Spaß machen, einen eigenen Verlag zu gründen? Am Ende doch zu viel Verantwortung. Mit
unbedachten Geschäften konnte man sogar Millionen sehr schnell verlieren. Sie erinnerte sich an
eine Fernsehdoku, in der Millionengewinner vorgestellt worden waren, die nach wenigen Jahren
weniger als zuvor besaßen.
Die ganze Situation bedeutete zu viel Stress, zu viel Verantwortung, zu viele Entscheidungen und, vor
allem, zu viele Lügen. Bis gestern war ihr klar gewesen: Familie, Haus, Job, Mutter und Tobi, das war
alles schon Aufgabe genug, sie konnte und wollte nicht mehr bewältigen. Jetzt aber schien es, dass
sie sich neue Lasten aufgeladen hatte, um die sie nicht gebeten hatte.
„Krieg ich dann ein Pferd?" Mit dieser Frage hatte Alexandra gerechnet. „Warum nicht?" Anton biss
in sein Marmeladebrot. Natürlich hielt er sich nicht an die gerade noch getroffenen Vereinbarungen.
Keine voreiligen Versprechungen, hatten sie abgemacht. Alexandra stöhnte. „Juhu! Ein Pferd!" Sie
warf Anton einen vernichtenden Blick zu. Natürlich war es jetzt wieder an ihr, die verfrühten
Hoffnungen zu dämpfen. „Wir werden weiterhin leben wie bisher, Annika." Sie musste sich räuspern.
„Und solche Entscheidungen müssen überlegt und gemeinsam getroffen werden. Ein Pferd bedeutet
nicht nur Kosten, sondern auch Verantwortung und Arbeit." Sie runzelte die Stirn. Wie kam sie dazu,
jetzt die Kassandra zu spielen, die den Kindern jede Freude verdarb?
Prompt kam Antons Konter. „Lass ihr doch die Freude. Natürlich nicht gleich. Später mal." Annika
verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Grimasse. „Aber du hast doch gesagt ..." „Ja, dann
sag ich halt nichts mehr, wenn hier jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird!", rief Anton, plötzlich
zornig. Etliche Marmeladebröckchen aus seinem Mund landeten auf Alexandras Pullover, während er
zur Bekräftigung seiner Entscheidung noch mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
„Und ich will ein Schlagzeug! Und eine Playstation!" Max musste natürlich beim Konsumwettbewerb
in der ersten Reihe dabei sein. „Darüber reden wir ein anderes Mal!" Eigentlich hatte sie etwas ganz
anderes besprechen wollen als eine exklusive Einkaufstour. „Es gibt viel wichtigere Dinge, die ihr
verstehen müsst", erklärte Alexandra in möglichst beruhigendem Ton und legte beiden Kindern eine
Hand auf die Unterarme. „Ihr sollt möglichst wenig darüber sprechen, dass wir Geld gewonnen
haben. Am besten mit gar niemandem. Und vor allem sollt ihr keine Summen nennen. Und
gegenüber niemandem angeben damit, dass wir jetzt mehr Geld haben als früher." Sie hoffte, dass
die Botschaft angekommen war. Zumindest für Max würde sie aber noch zahllose Male wiederholt
werden müssen.
„Du sagst immer, man soll die Wahrheit sagen!", maulte Annika, die die Hoffnung auf ihr eigenes
Pferd entschwinden sah. „Manchmal kann man den Leuten nicht die ganze Wahrheit zumuten",
mischte Anton sich ein. „Was glaubst du, was los ist, wenn die Leute erfahren, wie viel Geld wir
haben?" „Ist doch egal!", plärrte Max. „Wir können uns alles kaufen!" „Freunde nicht", warnte
Alexandra. „Im Gegenteil, das kann ganz schnell gehen. Deine Freunde merken, dass wir viel Geld
haben. Sie erwarten, dass du ihnen was davon abgibst, Geschenke machst, große Partys
veranstaltest." „Können wir ja dann auch!", strahlte Annika. „Du wirst gar nicht glauben, wie viele
falsche Freunde du dann hast. Die nur an deinem Geld interessiert sind. Mama hat schon recht!"
Endlich waren sie einmal einer Meinung. Was selten vorgekommen war seit der Nachricht von dem
Gewinn.
Anton fasste die Kinder an den Händen. „Wir sind uns also einig? Großes Ehrenwort! Großes
Geheimnis!" „Großes Geheimnis!", stimmten sie im Chor ein. „Und was ist mit Opa und den Omas?",
fragte Annika. „Mit meiner Mutter rede ich, und Papa wird mit seinen Eltern reden", entschied
Alexandra. „Ihr haltet den Schnabel, bis wir den Großeltern erklärt haben, was los ist."
Antons Handy läutete. „Ja? Ach so. Möchten Sie? Ich weiß aber nicht, ob ich möchte. Ich glaube ..."
Alexandra wurde nicht schlau aus dem Gespräch, von dem sie nichts weiter mitbekam, weil Anton
aus der Küche auf die Terrasse trat. „Was ist jetzt mit der Playstation?" Max zog sie am
Pulloverärmel. „Wenn, dann zum Geburtstag. Da hat sich nichts geändert, da muss darüber geredet
werden. Du sitzt ja jetzt schon zu lange vor dem Bildschirm!" Max starrte auf sein Frühstücksbrot.
Ihm schien langsam zu dämmern, dass der unverhoffte Reichtum der Familie ihm nicht unmittelbar
zugutekommen würde. Annika flüsterte: „Und wegen dem Schminkset?" Alexandra seufzte.
„Wer war denn dran?" „Ach, nur der Gewinnbetreuer der Lotteriegesellschaft. Sie haben da so
Berater für Leute, die große Gewinne gemacht haben. Er wollte uns besuchen. Brauch ich aber
nicht." Alexandra schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht ich? Ich würde gern einmal mit jemandem
reden, der Erfahrung mit einer solchen Situation hat!" „Quatsch! Das weiß ich schon selber, wie man
mit Geld umgeht!" Anton schien richtiggehend verärgert und zog sich mit seinem Tablet auf das
Wohnzimmersofa zurück.
„Ich geh raus!", kündigte Max an. „Jonas kommt auch." Jonas war der Sohn der Nachbarn, ein halbes
Jahr älter als Max. „Vielleicht gehen wir ins Baumhaus." Er schien die Debatten um den Gewinn
schon vergessen zu haben und verschwand im Vorraum. Bevor die Haustür ins Schloss fiel, klirrte
noch der Schuhlöffel auf dem Fliesenboden.
„Wie viel ist es denn genau?" Sie hatten den Kindern noch keine Summe genannt, doch Annika
schien mit allgemeinen Auskünften nicht zufrieden zu sein. „Wir haben vereinbart, euch das nicht zu
sagen. Erst müssen wir sehen, dass ihr wirklich dichthaltet." Annika zog schon wieder ein beleidigtes
Gesicht. „Max vielleicht, ich doch nicht! Ich bin doch keine Tratschtante!" „Es bleibt dabei!", ließ sich
Anton vom Sofa aus vernehmen. Annika sprang auf und ließ nach einigen Sekunden, die sie brauchte,
um die Stiegen hinaufzutrampeln, ihre Zimmertür knallen. Ein bereits gewohntes Geräusch, dachte
Alexandra.
„Gibst du mir mal dein Handy? Ich möchte den Herrn von der Lotteriegesellschaft zurückrufen."
„Wieso?" Anton sah kurz auf. „Ich möchte beraten werden, und ich sehe nicht ein, warum ich mich in
dieser Frage nach deinen Wünschen richten soll." „Na, vielleicht, weil ich gewonnen habe? Du hast
dich ja standhaft geweigert, jemals einen Schein auszufüllen!" „Red nicht so blöd daher! Das ist eine
Familienangelegenheit!", zischte sie.
Als Anton ihr widerwillig das Handy reichte, sah sie, dass er auf seinem Tablet gerade die Homepage
eines Herstellers von Luxus-Pkw geöffnet hatte. Mitten auf der Seite prangte das Bild eines weißen
Cabrios.
4
Alexandra verstand sich auf Anhieb mit der Betreuerin für Großgewinner. Als sie die Nummer, die sie
von Antons Handy abgelesen hatte, in ihr Handy eingab, meldete sich eine Frauenstimme. „Hallo,
Heidegger hier. Mein Mann hat vorhin einen Anruf ..." Die Frau lachte. „Ja, ich weiß schon, wer Sie
sind. Wir hatten noch nie einen so großen Gewinn, Ihr Name ist hier bei uns bekannt. Der Anruf
vorhin kam von einem Kollegen. Allerdings hat Ihr Mann einen Kontakt mit uns abgelehnt." „Ich aber
nicht!", sagte Alexandra. Sie klang ein wenig zu heftig, fast beleidigt. Die Dame am anderen Ende
zögerte kurz. Sie hatte sicherlich schnell gemerkt, dass es in ihrer Familie
Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Gewinn gab. „Ja, wollen Sie sich dann mit mir treffen?"
Alexandra fand die Stimme sympathisch. „Ja, gerne. Am besten so bald wie möglich." „Gut. Mein
Name ist Barbara, Barbara Ferny."
Sie hatte mit der Beraterin schließlich einen Termin nach der Arbeit vereinbart. Alexandra musste
eine Ausrede erfinden, denn Anton wollte sie keinesfalls von dem Treffen erzählen, zumindest jetzt
noch nicht. Schon wieder gelogen, schon wieder Heimlichkeiten. All das nahm in erschreckendem
Ausmaß zu, seit sie den Gewinn gemacht hatten.
„Hier sollten wir keinesfalls reden!", warnte Frau Ferny, als sie an einem Cafétisch Platz nahmen. „Es
gehört zu unseren Grundregeln, Gespräche nur an einem Ort zu führen, wo man nicht belauscht
werden kann. Sie würden gar nicht glauben, wie viele Wände Ohren haben!" Sie lächelte. Frau Ferny
war etwa im gleichen Alter wie Alexandra, trug ihre dunklen Haare schulterlang und schob alle paar
Sekunden ihre ebenfalls dunkle Brille ein Stück die Nase hinauf. Obwohl sie dazwischen nicht
herunterrutschte.
Alexandra nickte. „Wie war die Fahrt?", fragte sie, um ein unverfängliches Gesprächsthema zu
wählen. „Ein wenig abenteuerlich. Ich habe vergessen, einen Platz zu reservieren, und der Zug war
total voll. Und im selben Waggon eine Gesellschaft etwas angetrunkener, sehr lauter Männer.
Anscheinend gibt es hier heute ein äußerst wichtiges Fußballspiel." „Das tut mir leid!"
Nachdem der Kaffee getrunken war, setzten sie sich auf eine Bank in einem kleinen Park am
Nordufer des Flusses. Ein Brunnen plätscherte sanft vor sich hin, und zwei Bänke weiter lagen zwei
Japanerinnen auf ihren Rucksäcken und dösten vor sich hin. Sonst war der Park leer.
„Erste Regel: Sagen Sie niemandem, wie viel Sie gewonnen haben. Geben Sie etwa zehn Prozent der
Gewinnsumme zu. In Ihrem Fall ist natürlich auch das noch sehr viel." Alexandra nickte. „Mir fällt es
allerdings schwer, die Heimlichtuerei. Vor allem mit den Kindern ist es ein Problem." Frau Ferny
nickte. „Haben Sie Ihren Kindern von dem Gewinn erzählt?" „Ja", antwortete Alexandra. „Wie hätten
wir es verheimlichen sollen? Ich habe ja schon gesagt, mir fällt es schwer, wichtige Ereignisse einfach
so zu verschweigen, zu lügen." „Wir empfehlen normalerweise, Kinder, auch Halbwüchsige, nicht zu
informieren. Sie können das nicht für sich behalten, in den meisten Fällen." „Aber wie sollte man so
etwas auf Dauer geheim halten? Es hat ja Auswirkungen auf uns alle!" Alexandra fuchtelte ratlos mit
den Händen in der Luft herum. „Na ja, nun ist es ohnehin schon zu spät. Dennoch würde ich Ihnen
raten, nicht sofort Ihren Lebensstil zu ändern. Vor allem im Interesse Ihrer Kinder." „Das haben wir
auch so besprochen." Alexandra verschwieg, dass Anton in diesem Punkt nicht ganz die vereinbarte
Linie einzuhalten bereit schien.
„Generell habe ich nicht ausschließlich gute Nachrichten für Sie. Sehr viele Großgewinner sind nach
wenigen Jahren schlechter dran als vorher. Vor allem Männer investieren oft hohe Summen in
Luxusgüter, viele geben ihren Beruf auf und versuchen, in große Geschäfte einzusteigen. Da sind
allerdings auch 24 Millionen schnell weg. Bedenken Sie nur - Sie kaufen vielleicht ein Hotel,
renovieren es gründlich und gehen dann pleite. Weg ist das Geld, und zwar das ganze. Vor solchen
Experimenten möchte ich Sie warnen."
Alexandra stützte den Kopf in ihre Hände. Ihre Schuhe waren vom Kies unter der Bank grau
gesprenkelt. „Genau das befürchte ich bei meinem Mann. Es sind noch keine zwei Tage vergangen,
und wir diskutieren schon über teure Grundstücke und Luxuslimousinen." Frau Ferny runzelte die
Stirn. „Wenigstens versteht er von Grundstücken und Häusern was, er ist Architekt", schränkte
Alexandra ein.
„Sie müssen sich einfach klar darüber werden, dass sich Ihr Leben ab jetzt ändern wird. Sie haben es
allerdings selbst in der Hand, in welche Richtung. Zum Beispiel müssen Sie sich auch eine Strategie
zurechtlegen, wie Sie mit Verwandten und Freunden umgehen. Sie werden in Versuchung geraten,
manchen mit Geld unter die Arme zu greifen. Tun Sie es nicht!" Alexandra sah erstaunt auf. Frau
Ferny erklärte: „Ganz egal, wem Sie wie viel Geld geben - einige werden sich immer ungerecht
behandelt vorkommen, Gerüchte werden die Runde machen, und am Schluss haben Sie keine
Freunde mehr! Beziehungsweise die falschen. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich an Sie
erinnern werden, sobald die Neuigkeit die Runde macht. Und alle werden es bedauern, dass sie den
Kontakt zu Ihnen haben abreißen lassen." Alexandra schüttelte den Kopf. „Und wenn ich niemandem
etwas gebe, habe ich auch keine Freunde mehr!"
Frau Ferny schwieg und schien zu überlegen. „Eigentlich könnten wir uns duzen", schlug sie dann vor.
„Es ist zwar gegen unseren Kodex, aber ... Ich heiße Barbara!" „Alexandra." Barbara streckte ihren
Kopf mit gespitztem Mund vor, und sie tauschten zwei Wangenküsse aus. „Ich habe das Gefühl, ich
habe jetzt mehr Probleme als vorher", klagte Alexandra. „Eigentlich will ich das Geld gar nicht. Gibt
es irgendeine Möglichkeit, den Gewinn abzulehnen? Oder nur einen Teil zu behalten?" Barbara
schüttelte den Kopf. „Zurückgeben geht nicht. Ihr könntet allenfalls eine Stiftung einrichten, für einen
bestimmten Zweck. Aber dafür ist es jetzt noch zu früh. Vor allem müsst ihr euch da einig sein!" Zwei
dunkelhäutige Kinder kamen herangelaufen und stellten sich an den Brunnenrand. Der Junge griff
nach dem Wasserspeier, der aus einem Fischkopf herausragte, und drückte seinen Zeigefinger hinein.
Sofort spritzten scharfe Wasserstrahlen in alle Richtungen, vor allem auf seine Schwester, aber auch
auf Alexandra und Barbara. „Verschwinde!", drohte sie lachend, „Sonst ..." Kichernd verschwand das
Duo, gefolgt von einer Frau mit Kopftuch und Kinderwagen.
„Ich habe gleich bei unserem Telefongespräch gespürt, dass zwischen dir und deinem Mann etwas
nicht stimmt, dass ihr euch uneinig über den Umgang mit dem Geld seid." Alexandra nickte. „Ich
glaube, er hat genau das vor, wovor du mich gewarnt hast." Gemeinsam starrten sie wortlos in die
Wasserstrahlen des Brunnens, die in der Abendsonne zu leuchten begannen. „Ihr müsst euch
ohnehin noch einmal offiziell mit mir treffen: Dein Mann muss mir, als Vertreterin der Lotterien,
seinen Gewinnbeleg übergeben, bevor ihr Anspruch auf das Geld habt. Vielleicht ist ja bei dieser
Gelegenheit auch ein Gespräch mit ihm möglich."
Auf dem Heimweg ließ sich Alexandra Barbaras Ratschläge noch einmal durch den Kopf gehen. Es
klang ja alles sehr vernünftig - aber doch auch ziemlich theoretisch. Wie sollte man praktisch
vorgehen, ohne dass man den Tag mit Heimlichkeiten und Lügen zubrachte? Ohne dass man dauernd
überlegen musste, mit wem wie zu reden war?
Einmal wollte sie es zumindest ausprobieren. Sich etwas Extravagantes leisten, etwas, wonach sie im
Internet gesucht, was sie insgeheim in Auslagen bewundert hatte. Schöne Schuhe waren eine
Schwäche von ihr, aber keine, die sie bisher ausgelebt hatte. Am Ende kam sie doch immer wieder
mit fahrradtauglichen Tretern nach Hause, in denen man zur Not auch ein paar Kilometer Gehsteig
mit Anstand hinter sich bringen konnte. Vorsichtig schlich sie am Schaufenster vorbei, niemand sollte
merken, dass sie die ausgestellten Schuhe genauer begutachten, sogar welche kaufen wollte. Konnte
sie mit Sportschuhen überhaupt in so ein Geschäft? Sie konnte! Die Verkäuferinnen würden froh
sein, Schuhe um ein paar Hundert Euro loszuwerden.
Tatsächlich allerdings maß die Verkäuferin Alexandra mit argwöhnischen Blicken, als sie das Geschäft
betrat. Sie kam sich gemustert vor, von oben bis unten. Die Verkäuferin trug ein blaues Kostüm mit
einem sehr kurzen Rock, engelsgleiche blonde Locken und, natürlich, ein paar von diesen sündhaft
teuren Pumps. Die sind wahrscheinlich ohnehin nur geliehen, dachte Alexandra, schließlich ist sie nur
eine kleine Verkäuferin und verdient weniger als ich selbst. Entschlossen zeigte sie auf die
strassbesetzten graubraunen Pumps, die sie im Schaufenster gesehen hatte. Salvatore Ferragamo.
Die Verkäuferin zog die Augenbrauen hoch. „Denken Sie ..." Alexandra holte tief Luft. Mit solchen
arroganten Ziegen musste man Klartext reden. „Was ich denke, überlassen Sie lieber mir. Größe 38."
Sie atmete tief aus, doch die Verkäuferin hatte die Botschaft verstanden und trippelte davon.
Wenig später zog sie den rechten Schuh aus dem Karton. Alexandra nahm den Schuhlöffel zu Hilfe,
um in den Schuh hineinzugleiten. Es war tatsächlich ein ganz anderes Gefühl als in einem billigen
Schuh. Trotz der Zierlichkeit des Schuhs schmiegte sich das Leder angenehm kühl an ihre Füße. „Den
linken auch, bitte!" Die Verkäuferin gehorchte wortlos. Ihr Rock war durch das Niederknien so weit
hochgerutscht, dass Alexandra ihre Unterwäsche hätte sehen können, hätte sie Interesse daran
gezeigt. Sie richtete sich auf. Die Verkäuferin würde sich wundern - vielleicht hatte sie geglaubt,
einen Bauerntrampel vor sich zu haben, doch nicht umsonst hatte Alexandra während ihres Studiums
zwar viel zu spät, aber dennoch mit Begeisterung jahrelang Ballett trainiert. Sie wusste sehr wohl,
wie man auf High Heels eine gute Figur machte.
Und tatsächlich - als sie auf ihr Spiegelbild zuging, fühlte sie sich erhöht, nicht nur im wörtlichen,
sondern auch im übertragenen Sinn. Sogar der Verkäuferin entschlüpfte angesichts ihres Gangs ein
„Wow!". Über einen großen Wortschatz schien sie nicht zu verfügen. Um sie ein wenig zu
beschäftigen, gab sich Alexandra zickig. „Hinten rutsche ich raus. Eine halbe Nummer kleiner, bitte!"
Schließlich stand sie dann doch mit den ursprünglich probierten Schuhen vor der Tür des Ladens und
war um 310 Euro ärmer.
War es ein gutes Gefühl? Ja, das war es. Sie würde Freude daran haben, diese Schuhe zu tragen.
Immer wieder. Am Ende war es vielleicht doch keine so schlechte Idee, reich zu sein.
5
Es dauerte nur Tage, bis Alexandras positive Stimmung wieder mehrere Dämpfer versetzt bekam. Es
begann mit Max. Mittwochs machte seine Klasse früher Schluss, und die letzten beiden Stunden
waren Werken. Max baute in der Regel Fahrzeuge, Bagger oder Schubraupen zum Beispiel. Ganz
egal, wie das Objekt aussah, ob es aus Pappe zusammengeleimt oder aus Holz genagelt war, fast
immer schob er etwas auf dem Küchentisch herum und gab dazu brummende Geräusche von sich,
wenn Alexandra etwa eine halbe Stunde nach ihm nach Hause kam.
Diesmal aber kein Max. Alexandra legte die Einkäufe auf die Küchenplatte und rief nach ihm. Er war
wohl in sein Zimmer gegangen. „Max?" Kein Geräusch. Unruhig geworden, stürmte sie die Treppe
hinauf. Auch dort kein Max, weder in seinem noch in einem der beiden anderen Schlafzimmer.
Garage, Keller, kein Max. Alexandras Herz begann zu rasen. Anton anrufen? Schule anrufen?
Krankenhäuser? Schulweg kontrollieren? Schulweg! Sie raste aus dem Haus.
Keine drei Minuten später stand sie abgehetzt vor dem Schultor. Nachfragen? Natürlich! Sie klopfte
am Lehrerzimmer. Da kam niemand! War denn das möglich? Neuerliches Klopfen, energischer.
Endlich öffnete sich die Tür. „Sie müssen ja nicht gleich die Tür einschlagen!", brummte die Lehrerin
unwirsch, die öffnete. „Ich muss unbedingt Frau Tannhauser sprechen. Ist sie noch da?" „Was gibt es
denn Eiliges?" Die Frau machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Mein Sohn ist nicht nach Hause
gekommen!", brach es aus Alexandra heraus, obwohl sie das eigentlich nur Frau Tannhauser hatte
mitteilen wollen.
Die Lehrerin maß Alexandra mit skeptischen Blicken. „Da muss doch nicht gleich etwas passiert sein.
Schauen Sie doch noch einmal ..." Alexandra verkrampfte sich. „Frau Tannhauser! Bitte!" „Ich werde
mich bemühen!" Ein eisiger Blick traf Alexandra. Sie war sich dessen bewusst, dass die Lehrerin sie
für eine hysterische Helikoptermutter halten musste. Sie machte sich selbst oft über Frauen lustig,
die ihren Kindern jede Selbstständigkeit absprachen. Aber Max war noch nie mittwochs zu spät
gekommen! Schulterzuckend kehrte ihr die Lehrerin den Rücken zu und schlenderte in aller Ruhe den
Gang hinunter.
„Ja?" Mit besorgter Miene kam Frau Tannhauser auf sie zu. Max' Klassenlehrerin. Jung, aber mit
kräftiger Stimme und einer allzeit bereiten senkrechten Falte auf der Stirn. „Max ist nicht nach Hause
gekommen!", stotterte Alexandra atemlos und schämte sich selber dafür, dass sie so hysterisch
reagierte. Schließlich war Max schon fast neun Jahre alt und normalerweise zuverlässig. „Kommen
Sie!" Frau Tannhauser fasste sie an der Schulter und schob sie vor sich her. „Wir fragen seine
Werklehrerin!" Wenig später standen sie vor dem Werkraum, aus dem ohrenbetäubendes Hämmern
dröhnte, selbst durch die geschlossene Tür. „Warten Sie einen Moment!" Frau Tannhauser schlüpfte
durch die Tür. Für einen Moment schwoll das Gehämmer auf Infernolautstärke an.
„Er war im Werkunterricht und ist am Ende der Stunde wie immer gegangen." Alexandra schämte
sich ihrer Tränen, die bereits in den Augenhöhlen brannten und drohten, hervorzuquellen und die
Wangen hinunterzulaufen. „Wo kann er nur sein?" Das war schon mehr Flennen als Reden. Frau
Tannhauser legte ihr beschwichtigend den Arm um die Schultern. „Sie wissen doch, Kinder
verbummeln sich oft einmal auf dem Heimweg. Vielleicht ist er auch mit einem Freund mitgegangen
und hat noch keine Gelegenheit gehabt, sich bei Ihnen zu melden." „Nein, nein!" Ihre Stimme musste
hysterisch klingen. „Das macht er nie, das ist komplett ungewöhnlich!" Frau Tannhauser nahm
Alexandras Rechte in beide Hände. „Wissen Sie was? Ich muss jetzt zurück in die Klasse. Sobald die
Stunde aus ist, rufe ich Sie an. Inzwischen kontrollieren Sie noch einmal den Schulweg. Auch mit Um-
und Abwegen!" Alexandra nickte. Sie wollte ohnehin nichts als raus hier, denn wo Max nicht war,
hatte auch sie nichts verloren.
Um- und Abwege? Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass es tatsächlich einen Umweg gab, den Max
manchmal nahm. Es gab da einen Elektroladen, der oft laufende Fernseher in die Schaufenster
stellte. Es kam vor, dass Max vor der Auslage stand, in den Fernseher guckte und alles um sich herum
vergaß. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Sie hastete durch die Straßen, bemerkte aber
schon von Weitem, dass kein Kind gebannt ins Schaufenster starrte.
Sobald sie zu Hause ankam, würde sie Anton anrufen. Sie mussten gemeinsam nach Max suchen. Sie
drehte den Schlüssel im Schloss und hörte jemanden schniefen. „Max?" Keine Antwort. Lauteres
Schniefen. Sie stürmte die Treppe hinauf. Hatte er sich womöglich verletzt?
In der Küche saß Max mit verquollenem Gesicht am Tisch. Als er Alexandra sah, legte er den Kopf auf
die verschränkten Arme, sein Rücken zuckte, er atmete stoßweise. „Max! Ich hab mir solche Sorgen
gemacht! Wo warst du?" Sie versuchte, seinen Kopf anzuheben, um ihm in die Augen zu blicken,
doch Max wehrte sich. „Komm, lass mich sehen!" Noch bevor sie ihm ins Gesicht schauen konnte,
bemerkte sie, dass seine Jeans über und über mit braunen Farbspritzern bekleckert waren. Endlich
wandte er sich ihr zu, nur um gleich wieder seinen Kopf an ihrer Brust zu vergraben. Sie schob ihn
von sich. „Um Gottes willen!" Über und unter dem rechten Auge war Max böse aufgeschürft, ein
wenig Blut quoll aus den Wunden. Seine Oberlippe war dick angeschwollen, und auch das Kinn war
zerkratzt. „Was ist denn passiert?" Sie drückte ihn an sich, Max wurde von seinen Tränen
durchgeschüttelt, gab aber keine Antwort.
„Komm ins Bad. Wir bringen das in Ordnung." Sie strich ihm begütigend über den Rücken, und
langsam ebbte das Schluchzen ab. Max stand auf. Erst jetzt erkannte Alexandra die ganze
Bescherung. Das gesamte Gesäß von Max' Hose war von brauner Farbe durchtränkt, auch der
Küchenstuhl hatte einiges abbekommen. Was war da passiert? Sie beschloss, zuerst einmal Max zu
beruhigen. Sonst war ohnehin nichts aus ihm herauszubekommen. „Wir müssen die Hose
ausziehen!" Folgsam ließ sich Max Gürtel, Knopf und Reißverschluss öffnen. Die Farbe war bis auf die
Unterhose durchgedrungen. Alexandra seufzte. „Komm ins Bad!"
Es dauerte etwas, bis sie Max in der Badewanne stehen hatte. Keines seiner Kleidungsstücke war von
der braunen Farbe verschont geblieben, nicht einmal Socken und Schuhe. Zuerst wollte sie die
Sachen gleich in die Waschmaschine stecken, doch dann überlegte sie kurz. Wenn das kein Unfall
gewesen war, sondern ... Sie räumte die schmutzigen Sachen beiseite. „Wart einmal kurz!" Sie holte
ihr Handy aus der Handtasche. Als Max mitbekam, dass er fotografiert werden sollte, begann er
wieder zu brüllen und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Alexandra wartete ab. „Max, wir kriegen
den, der dir das angetan hat. Und jetzt müssen wir Beweise sichern. Dazu muss ich dich
fotografieren. So, wie du nach Hause gekommen bist." „Hat niemand getan! Bin in den Kübel
gefallen! Ganz allein!"
Es bedurfte langwieriger Verhandlungen, bis Max die Hände vom Gesicht nahm. Die Wunden waren
nun noch weiter angeschwollen. Sie würde mit ihm zum Arzt gehen, sobald er gewaschen und
erstversorgt war. Während sie mit der Rechten einen Waschlappen hielt und vorsichtig über seine
farbverkrustete Nase fuhr, drängte sie mit der Linken seinen Arm zur Seite, hielt ihm das Handy vors
Gesicht und drückte ab, bevor er sich abwenden konnte. Wutgeheul war die Folge. Man konnte von
einem Achtjährigen auch nicht erwarten, gestand sich Alexandra ein, dass er etwas von
Beweissicherung verstand. Aber sie selbst hatte aus den Krimis gelernt, die sie seit Jahren lektorierte.
Sogar ein paar True-Crime-Titel waren dabei gewesen, da bekam man mit, was im Fall eines
Verbrechens zu tun war.
„Max, wer war das? Was ist genau passiert? Und wo?" Max war endlich frisch angezogen und schob
ein Modellauto auf dem Tisch hin und her. Dazu erklangen die üblichen Brummgeräusche, er schien
sein schlimmes Erlebnis bereits vergessen zu haben. Alexandra musste noch einmal nachfragen,
bevor sie eine Antwort bekam. „Ich bin auf die Baustelle geschlichen. Da war ein Eimer mit Farbe."
Max tat desinteressiert. „Was gibt es zu essen?" „Max!", insistierte Alexandra. „Schau mich an!
Welche Baustelle?" „Um die Ecke. In der Kranzlstraße." Die hieß eigentlich Rosenkranzstraße, trug
aber seit Menschengedenken diesen Spitznamen. „Was hast du auf einer Baustelle verloren? Kannst
du nicht lesen? Da darf man nicht rein!" Max zuckte mit den Achseln. „Bin halt rein." „Und?" „Weiß
nicht." So kamen sie nicht weiter. Sie musste zu einem Arzt. Und Anton anrufen.
„Mach doch wegen so einer Kleinigkeit kein solches Theater! Jungen raufen eben!" Sie hätte es sich
denken können, dass Anton alles verharmlosen würde. Er nahm ihre Sorgen einfach nicht ernst. „Er
ist da nicht selber rein und in einen Farbkübel gefallen. Da hat ihn jemand angegriffen!" „Gerangelt
werden sie halt haben!" Sie konnte seinen väterlich-begütigenden Ton nicht länger ertragen und
legte auf. So redete man mit einer Irren. Er hatte Max ja nicht gesehen. „Wir fahren jetzt zu deinem
Kinderarzt!" Doktor Jelinek würde sie ernst nehmen, dessen war sie sich sicher. Der hatte sogar
schon im Fernsehen darüber gesprochen, dass Anzeichen von Gewalt, egal ob häuslich oder nicht, an
Kindern auf jeden Fall ernst genommen werden müssten.
Blieb nur noch die schwierige Aufgabe, Max zu überzeugen, dass ein Arztbesuch unabdingbar war.
„Max, wir fahren jetzt zu Doktor Jelinek." „Will aber nicht!" Wie konnte man sich einem blöden
Spielzeugauto nur mit solcher Konzentration widmen? In Alexandra stieg Zorn hoch. Sie hatte ja
schließlich etwas anderes auch noch zu tun. Essen kochen, beispielsweise. Und dann, wahrscheinlich
schon übermüdet, mit einer Kanne Kaffee vor dem PC den nächsten Sexualakt übersetzen.
„Du kriegst auch ..." Schon tat es ihr leid, dass sie die Erpressungskeule schwingen musste. „Die
Playstation?" Er sah zu ihr auf. Seine Lippen waren noch mehr angeschwollen als zuvor. Sie mussten
dringend zum Doktor. „Das nicht ... aber eine Belohnung, ganz sicher. Hängt davon ab, wie du dich
beim Doktor aufführst!" Max stand maulend auf, ließ sich aber folgsam eine Jacke überstreifen und
im Auto festschnallen.
„Das hier sieht nicht wie eine Sturzverletzung aus!" Doktor Jelinek hatte Max' Blessuren nochmals
fotografiert, gereinigt und verbunden. Und zwar ohne große Widerstände. Ein Arzt, dachte sich
Alexandra, war eben doch eine Autorität. Sogar für ihre Kinder. „Du bist ganz sicher in den Farbkübel
gefallen?" Max nickte. „Und wobei hast du dich dann an der Oberlippe verletzt?" Max zögerte.
„Umgefallen. Und da draufgefallen!" Er zeigte auf seine Oberlippe. „Und das Kinn?" Max' Augen
sprangen zwischen Alexandra und Doktor Jelinek hin und her. „Zuerst da drauf." Er zeigte auf seine
Oberlippe. „Und dann hierher!" Sein Daumen wies auf das Kinn. Alexandra und der Arzt warfen sich
vielsagende Blicke zu. Es war klar, dass Max log. Er hatte sich das alles zusammengereimt. „Kannst du
mal kurz draußen warten? Du kennst ja das Spielzimmer?" Max nickte, rutschte vom
Behandlungstisch und war wenige Sekunden später verschwunden.
„Der junge Mann ist eindeutig verprügelt worden! Und die Täter haben ihn dann in einen Farbkübel
gesetzt. Danach wahrscheinlich noch mit irgendeinem Werkzeug, einem Stock oder einem Brett, das
sie in Farbe getaucht haben, geschlagen." Alexandra seufzte. „Die Frage ist nur, warum er das nicht
zugibt." Doktor Jelinek legte die Hand ans Kinn und kraulte seinen kurz geschorenen grauen Bart. „Er
steht unter Druck. Jemand hat ihm gedroht, ihm noch etwas Ärgeres anzutun, wenn er redet. Diese
Strategie funktioniert bei Kindern in seinem Alter noch recht gut." „Aber er war bisher noch nie ein
Mobbing-Opfer. Warum jetzt?" Doktor Jelinek nahm seine Brille ab und wischte mit einem Putztuch
daran herum. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht redet er ja morgen. Gab es in
Ihrer Familie irgendeine dramatische Veränderung? Ein Todesfall vielleicht?" Alexandra war wie vom
Blitz getroffen. „Kein Todesfall!" Sie schnappte nach Luft, Doktor Jelinek zog die Augenbrauen hoch.
Natürlich hatte es eine dramatische Veränderung gegeben, und sie hatten von Max verlangt, sie
geheim zu halten. Aber er hatte sich wahrscheinlich verplappert, dafür Prügel bezogen und traute
sich nun nicht, ihr die Wahrheit einzugestehen. So musste es sein.
Der Arzt drang nicht weiter in Alexandra und erhob sich. „Jedenfalls sollten Sie die Kleidung nicht
waschen, da müssten Spuren der Schläge drauf sein. Das ist immerhin der Tatbestand der
Körperverletzung, ich würde das anzeigen. Eigentlich sollte ich das selber tun, aber ich möchte Ihrer
Entscheidung nicht vorgreifen ..."
Vor dem Einsteigen ins Auto kniete sich Alexandra hin und blickte Max ins Gesicht. Er sah wirklich
zum Fürchten aus. „Du hast jemand von dem Lottogewinn erzählt, und dann bist du verprügelt
worden, weil du angegeben hast, stimmt's?" Max schüttelte den Kopf, aber in seinen Augen konnte
Alexandra sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
Anstatt nach Hause zu fahren, hielt Alexandra nochmals vor Max' Schule. Dass sie den Parkplatz für
Lehrerinnen benutzte, war ihr in diesem Fall egal. Sie hoffte, wenigstens die Direktorin noch
anzutreffen. Die Sache, fand sie, war gleich zu klären und duldete keinen Aufschub.
Ihr Handy dudelte. Sie hatte völlig auf Annika vergessen. „Ja, bitte mach dir selber was Einfaches zu
essen. Ich bin mit Max unterwegs, es hat da ein kleines Problem gegeben." Sie wimmelte die Fragen
Annikas ab, legte auf und klopfte am Direktionsbüro, während Max an ihrer Hand zerrte. „Nicht! Ich
will heim!" Doch ihre Hand schloss sich fest um die seine. Es kam gar nicht infrage, jetzt
unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren.
„Ja?" Wintersteller hieß die Direktorin, das konnte Alexandra schnell noch von einem Schild ablesen,
bevor sie eintrat. „Oh Gott!", rief die, als sie Max erblickte. „Darf ich aus Ihrem Besuch und dem
Aussehen Ihres Sohnes schließen, dass da Gewalt im Spiel war?" Schwer von Begriff war die Frau
Direktorin nicht. Alexandra war erleichtert. „Nehmen Sie bitte Platz. Was kann ich für Sie tun?"
Alexandra begann zu erzählen.
„Und das Problem ist, dass wir von den Kindern verlangt haben, nicht über den Gewinn zu sprechen.
Wahrscheinlich hat sich Max verplappert, das war einfach zu viel verlangt von ihm." Sie strich ihm
durch die Haare. Max schien das Gespräch unangenehm zu sein. Er hatte ein winziges Spielzeugauto
aus einer Hosentasche gezogen und fuhr damit unter Brummgeräuschen auf dem Schreibtisch der
Direktorin herum. Rund um den Radiergummi.
Frau Wintersteller nickte und legte einen Finger an die Lippen. „Tolles Auto, Max. Hast du noch mehr
davon?" Max nickte, ohne aufzusehen. „Weißt du, Max, so etwas kommt leider oft vor. Dass einer
von Älteren verprügelt wird. Und die drohen dann. Sie sagen zum Beispiel, dass sie dir dein Handy
wegnehmen und es in den Fluss werfen, wenn du zu Hause was erzählst." „Hab kein Handy!" Max
schob weiter sein Auto. Die Direktorin lächelte und nickte Alexandra zu. „Oder sie sagen, dass sie
dich einsperren und windelweich prügeln. Oder sie verlangen, dass du ihnen dein Taschengeld gibst."
Beim letzten Satz horchte Max auf. Alexandra wartete gespannt. Plötzlich schüttelte Max den Kopf.
„Hat Basti nicht getan!" Das Auto umrundete ein weiteres Mal den Radiergummi, während die
Direktorin und Alexandra einander in die Augen sahen. Frau Wintersteller ließ sich zu einem
siegesgewissen Lächeln verleiten. „Was genau hat Basti nicht getan?"
Ein paar Minuten später kannten sie die ganze Geschichte. Sebastian, ein Schüler aus der vierten
Klasse, hatte Max abgepasst. „Sebastian ist groß und kräftig, fast ein Jahr älter als seine Mitschüler,
er war in der Vorschule", erklärte Frau Wintersteller. Zwei weitere Burschen aus seiner Klasse hatten
ihm Rückendeckung gegeben. Dann hatten sie Geld gefordert. Max sei reich, er habe Millionen
gewonnen.
„Warum hast du denn erzählt, dass ihr jetzt viel Geld habt?", fragte Frau Wintersteller ruhig. Max
zuckte mit den Schultern. „Der Flo hat so angegeben. Dass sich sein Vater einen Porsche kauft und
so. Und einen Pool und alles. Und dass er eine Riesenparty schmeißt, zu seinem Geburtstag. Und da
hab ich gesagt ..." Schon begann er zu schluchzen. Alexandra nahm ihn in den Arm. „... dass wir auch
ganz viel Geld haben. Hundert Milliarden oder so. Hat Papa in der Lotterie gewonnen." „Hundert
Milliarden?", fragte Alexandra erstaunt nach. Max schluchzte. „Weil doch der Flo gesagt hat, dass
sein Papa ein Millionär ist und ..." Max heulte und barg sein Gesicht in Alexandras Schoß. „Und weil
du ein kluger Bursche bist und weißt, dass eine Milliarde mehr ist als eine Million ..." Frau
Wintersteller lächelte. Max nickte, ohne den Kopf anzuheben. Alexandra streichelte ihm Haar und
Rücken.
Sie hatten Max auf die Baustelle gedrängt und gefordert, er müsse ihnen am nächsten Tag hundert
Euro bringen, sonst würden sie ihn von der Eisenbahnbrücke werfen. Dann hatten sie ihn mit
Faustschlägen zu dem Farbeimer gedrängt, der auf der Baustelle zufällig herumgestanden war.
Nachdem sie ihn hineingeschubst hatte, hatten sie selbst noch herumliegende Bretter in die Farbe
getaucht und Max damit geschlagen.
„Max, kannst du kurz einmal draußen warten?" Max sah auf. Die Aussicht, dem unangenehmen
Gespräch zu entkommen, schien ihm zu gefallen. „Und vergiss das Auto nicht!" Er griff rasch danach,
sprang von seinem Stuhl und verließ das Direktionszimmer.
Als die Tür zufiel, seufzte die Direktorin. „Sebastian also. Wir haben gerade erst eine
Klassenkonferenz hinter uns, in der wir überlegt haben, das Jugendamt einzuschalten. Extrem
schlechte Arbeitshaltung, keine Schulsachen, keine Hausübungen, Gewaltausbrüche, mangelhafte
Konzentration. Kein Kontakt mit den Eltern herzustellen. Selbst Anrufe bringen nichts - sie
versprechen, demnächst zu kommen, tauchen aber nicht auf. Soziale Verwahrlosung."
„Max hat von dem Kind nie etwas erzählt ...", warf Alexandra ein. „Er ist auch nicht in Max' Klasse.
Wahrscheinlich hat er irgendwie mitbekommen, dass Sie viel Geld gewonnen haben, so was spricht
sich ja rasch herum." „Aber die Summe ...?", bemerkte Alexandra. „Da machen Sie sich einmal keine
Gedanken!" Frau Wintersteller machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kinder sind fürchterliche
Klatschbasen, hören nicht genau zu und übertreiben beim Weitererzählen, dass sich die Balken
biegen. Nur, damit sie die Aufmerksamkeit der anderen möglichst lange halten können. Tatsachen
spielen dabei keine Rolle." Alexandra hatte den Eindruck, dass die Direktorin wusste, wovon sie
sprach.
„Ich denke, dieses Mal werden wir nicht umhinkommen, dem Jugendamt Meldung zu erstatten.
Allerdings wird es für Max in den nächsten Wochen dennoch nicht leicht werden. Sorgen Sie bitte
dafür, dass er keine teuren Konsumartikel bekommt oder in die Schule mitbringt. Und, auch wenn es
möglicherweise Ihren Prinzipien widerspricht - reden Sie nochmals mit ihm. Es wäre wirklich besser,
wenn er nicht mehr über den Gewinn spricht." Alexandra traten schon wieder die Tränen in die
Augen. War sie etwa eine Heulsuse geworden? „Ich will, ich wollte das Geld gar nicht!", winselte sie.
„Am liebsten wäre es mir, wenn wir es zurückgeben könnten. Mein Mann ..." Sie brach ab, als ihr
Frau Wintersteller beruhigend die Hand auf den Unterarm legte.
Da war aber noch etwas, das sie mit der Direktorin besprechen wollte. „Eigentlich wollte ich sofort
zur Polizei, um den Überfall anzuzeigen. Denn das war es ja. Ein Überfall." Frau Wintersteller legte ihr
Kinn in die linke Hand. „Hm. Überlegen Sie sich das noch einmal. Strafmündig ist der Basti ja ohnehin
nicht, und wenn die Polizei bei ihm zu Hause auftaucht, bezieht er wahrscheinlich wieder Prügel von
seinen Eltern. Gewaltspirale." Alexandra brauste auf. „Soll der denn völlig ungeschoren
davonkommen?" Das sah sie nicht ein. Frau Wintersteller schüttelte den Kopf. „Wenn wir das
Jugendamt einschalten, hat die Familie genug Ärger am Hals. Mehr erreichen wir mit der Polizei auch
nicht. Außer, es geht Ihnen um Schadenersatz oder Schmerzensgeld." Alexandra schämte sich
plötzlich. Um Geld konnte, durfte es nicht gehen. Hatte sie in den Augen der Direktorin diesen
Eindruck erweckt? Andererseits - wer viel Geld hatte, durfte keinen Ersatz für erlittenen Schaden
verlangen? Sie war, wie so oft in den letzten Tagen, völlig verunsichert.
„Guten Morgen!" Alexandra legte ihre Handtasche auf dem Schreibtisch ab, als sie ein eiskalter Blick
von Sophie traf. „Morgen!", murmelte die, um sofort wieder auf ihren Monitor zu starren. „Ist was?"
Alexandra war ratlos. Was war nur in Sophie gefahren? Konnte es sein, dass sie auch ... „Was ist
los?", fragte sie noch einmal. Am besten war es, das Problem sofort und direkt anzusprechen.
„Nichts!" Sophie wandte keinen Blick von ihrem Bildschirm ab. „Nur, dass ich gedacht habe, wir
wären Freundinnen!", zischte sie, als Alexandra ihr gegenüber vor ihrem Bildschirm Platz genommen
hatte. „Sind wir auch!" Alexandra rückte ein Stück nach links, um Sophie in die Augen sehen zu
können. „Einer Freundin erzählt man aber, wenn etwas Wichtiges passiert!"
Alexandra seufzte und stützte sich mit den Ellbogen auf ihre Schreibtischplatte. „Du hast von
unserem Gewinn gehört?" „Wer nicht?", gab Sophie giftig zurück. Noch immer hatte sie ihre Blicke
stur auf den Monitor geheftet. „Sophie ...", begann sie, doch sie konnte nicht weiter. Was sollte sie
ihrer Freundin erklären und wie? Dass sie selbst nur Ärger gehabt hatte, seit die Gewinnnachricht ins
Haus getrudelt war? Dass man Max verprügelt hatte, nur wegen des Geldes? Dass sie das ganze Geld
am liebsten zurückgeben würde? Kein Mensch würde ihr glauben, auch nicht Sophie.
„Ich wollte es dir ja sagen, ich wusste nur nicht, wann und wie. Ich hab einfach noch keine passende
Gelegenheit dazu gefunden. Ich bin ja selber noch ganz durcheinander!" „Anscheinend nicht so
durcheinander, dass du nicht die halbe Stadt darüber informieren hast können. Man hört, du kaufst
sämtliche Designerläden leer!" „Sophie ...!" Es war sinnlos, diese Debatte jetzt zu führen. Vielleicht
konnte sie in aller Ruhe einmal mit Sophie darüber reden, wie es ihr in den letzten Tagen ergangen
war. Aber wann hatten sie diese Ruhe, und vor allem, würde Sophie ihr zuhören und dann auch noch
glauben?
Resigniert machte sie sich an ihre Arbeit, doch mit der Konzentration war es nicht weiter her als an
den letzten Tagen. Die Texte perlten an ihr ab, sodass sie jede Seite mehrmals lesen musste, ohne
danach brauchbare Änderungs- oder Streichungsvorschläge machen zu können. Dabei war ihre
Arbeit das, was ihr noch am meisten Halt bot, weil sich daran nichts geändert hatte. Nur alles
andere ...
In Gedanken rekapitulierte sie. Was hatte sie bis jetzt von dem Gewinn gehabt? Ein Paar schöne
Schuhe, die sie nicht anzuziehen wagte, weil jedem, zumindest jeder Frau, auffallen musste, dass sie
wesentlich teurer waren als die Schuhe, die sie gewöhnlich trug. Das allein hatte schon genügt, um
Gerüchte über ihren Kaufrausch in Umlauf zu setzen. Nun würde man natürlich genau darauf achten,
was sie in Zukunft trug. Weitere Folgen des Gewinns waren: schlaflose Nächte, ein Mann, der sich
nur mehr für kostspielige Konsumwünsche interessierte, ein verprügeltes Kind, miserable
Arbeitsleistung, schlaflose Nächte und eine Freundin weniger. Ach ja, eins hatte sie auf der Haben-
Seite vergessen: Das Klo war repariert worden. Wenigstens was.
„Kommst du bitte einmal zu mir ins Büro?" Martins Miene war ernst. Was war jetzt schon wieder los?
Sie setzte sich in den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch. „Alexandra, zum einen: Du wirkst in den
letzten Tagen sehr unkonzentriert. Wenn man dich anspricht, weichst du aus, du flatterst hektisch
herum. Ist dir das nicht selbst aufgefallen?" Alexandra nickte. Ihr kamen schon wieder die Tränen.
„Könnte das alles mit eurem Lottogewinn zu tun haben?" Martin faltete die Hände über seinen
aufgestützten Ellbogen ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin. Wieder nickte sie, die Tränen
begannen zu fließen. „Ich halt es nicht mehr aus!", hauchte sie. Und dann erzählte sie, ohne dass
Martin sie unterbrach, was in den letzten paar Tagen alles schiefgelaufen war. Sie ließ nichts aus, und
Martin unterbrach sie nicht. Seine Miene blieb ernst.
„Eigentlich wollte ich dir ja gratulieren, jetzt, wo ich weiß, dass ihr mehr gewonnen habt als bloß eine
Gewürzmühle", sagte er schließlich. „Aber es hört sich nicht so an, als ob du dafür empfänglich
wärst." Alexandra wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Martin reichte ihr ein Taschentuch.
„Danke. Aber warum hast du mich eigentlich hergeholt?" Er seufzte. „Erstens müssen wir reinen
Tisch machen. Du musst mich und alle anderen Mitarbeiter korrekt informieren, allein schon, damit
die Gerüchte aufhören zu blühen." „Aber die Beraterin hat gemeint, ich solle das nicht tun!", wehrte
sich Alexandra. Martin zuckte mit den Schultern. „Ich halte das für das Betriebsklima für unerlässlich.
Außerdem könnte ich verstehen, wenn du angesichts der Umstände eine gewisse Auszeit ..." Das
Wort war noch nicht verklungen, als Alexandra aufsprang. „Du willst mir meinen Job wegnehmen?
Weil ich jetzt Geld habe?" Sie sank wieder auf den Stuhl und begann, diesmal hemmungslos, zu
schluchzen. „Die Arbeit ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält! Das, was noch normal ist in
meinem Leben! Und jetzt ziehst du mir den Boden unter den Füßen weg. Du und Sophie! Dabei hab
ich doch nur versucht, alles richtig zu machen!"
Heulend floh sie aus Martins Büro, schnappte ihre Handtasche, ohne zu Sophie aufzusehen, und
stürmte aus dem hinaus. „Alex!", schrie ihr Sophie noch hinterher. Aber sie konnte jetzt nicht
umkehren, jetzt nicht.
© Haymon Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Herbert Dutzler
Herbert Dutzler, geboren 1958, aufgewachsen in Schwanenstadt und Bad Aussee, lebt als Lehrer und LehrerInnenbildner in Schwanenstadt. Mit seinen Krimis um den liebenswürdigen Altausseer Polizisten Gasperlmaier ist er Autor einer der erfolgreichsten österreichischen Krimiserien. Bisher erschienen bei HAYMONtb die ersten fünf Fälle: "Letzter Kirtag" (2011), "Letzter Gipfel" (2012), "Letzte Bootsfahrt" (2013), "Letzter Saibling" (2014) sowie "Letzter Applaus" (2015). Mit "Bär im Bierkrug, Gott und Teufel" (2015) legte Herbert Dutzler zuletzt einen Band mit Krimikurzgeschichten vor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Herbert Dutzler
- 2016, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 13,4 x 21,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709972574
- ISBN-13: 9783709972571
- Erscheinungsdatum: 25.08.2016
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