Die Enden der Welt
Von der Eifel über Kamtschatka bis zum Nordpol: In 22 Geschichten sucht Willemsen seine persönlichen Enden der Erde. Grandiose literarische Reisebilder führen auf fünf Erdteile: oft humorvoll, aber auch ernst und nachdenklich. »Ein gewichtiges Buch der Unrast.« SZ
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Produktinformationen zu „Die Enden der Welt “
Von der Eifel über Kamtschatka bis zum Nordpol: In 22 Geschichten sucht Willemsen seine persönlichen Enden der Erde. Grandiose literarische Reisebilder führen auf fünf Erdteile: oft humorvoll, aber auch ernst und nachdenklich. »Ein gewichtiges Buch der Unrast.« SZ
Klappentext zu „Die Enden der Welt “
Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen unterwegs, um seine ganz persönlichen Enden der Welt zu finden. Manchmal waren es die großen geographischen: das Kap in Südafrika, Patagonien, der Himalaja, die Südsee, der Nordpol. Manchmal waren es aber auch ganz einzigartige, individuelle Endpunkte: ein Bordellflur in Bombay, ein Bett in Minsk, ein Fresko des Jüngsten Gerichts in Orvieto, eine Behörde im Kongo. Immer aber geht es in diesen grandiosen literarischen Reisebildern auch um ein Enden in anderem Sinn: um ein Ende der Liebe und des Begehrens, der Illusionen, der Ordnung und Verständigung. Um das Ende des Lebens - und um den Neubeginn.Die Eifel: Aufbruch - Der Himalaya: Highway im Nebel - Minsk: Der Fremde im Bett - Timbuktu: Der Junge und die Wüste - Borneo: Die Straße ins Nichts - Tonga: Tabu und Verhängnis - Chiang Mai: Opium - Kamtschatka: Asche und Magma - Mandalay: Ein Traum vom Meer - Bombay: Das Orakel - Patagonien: Der verbotene Ort - Kinshasa: Aus einem Krieg - Hongkong: Das leere Postfach - Indonesien: Unter Toten - Gibraltar: Das Nonplusultra - Senegal: Die Tür ohne Wiederkehr - Der Nordpol: Einkehr ...
Lese-Probe zu „Die Enden der Welt “
Die Enden der Welt von Roger WillemsenToraja
Unter Toten
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Mein Freund Hannes war ein kleingewachsener Beau mit stattlichem Schädel, dichtem, nach hinten gestriegeltem Schwarzhaar und einem Totenkopf auf dem Ring. Mehr noch als mein Freund war er mein Mentor, der manchmal nuschelnd Monologe über die Todesdarstellungen an mexikanischen Kalvarienbergen, über die Mumiengewölbe von Palermo oder über den nekrophilen Holzschneider Posada und seine Totentänze hielt. Wo immer er sie fand, in der Folklore, im Kunstgewerbe, in der Sepulkralskulptur, auf Glanzbildern oder im Jahrhundertwende-Kitsch, überall sammelte Hannes Todesdarstellungen.
Seine gesamte Wohnung, ein Altbau mit verschlungenen Korridoren, ein wahrer »Bau« also, war mit Skeletten bevölkert, grinsenden, tanzenden, reitenden, grabenden, Wache haltenden, kopulierenden, immer grotesken Knochenmännern mit großen, vorwurfsvollen Augenhöhlen. Freunde und Besucher hatten so ihre Meinungen zu der Sammelleidenschaft, die dies zusammengetragen hatte. Doch wie Hannes war, interessierte er sich wenig für die Theorie, er objektiviere hier nur seine eigene Angst - er interessierte sich überhaupt nicht besonders für sich selbst-, vielmehr sah er der Menschenphantasie bei ihrer Beschäftigung zu, so, wie sie selbstvergessen den Tod in die Welt krakeelte.
Als eine unmittelbare Ableitung davon war Hannes alles Kreatürliche kostbar. Er traute einfach dem Körper in seinen spontanen Lebensäußerungen mehr als der Moral. Dem Sex, dem Kotzen, Kacken, Pissen, Husten, Furzen, Erröten, Eregieren schrieb er eine gewisse Lesbarkeit zu, Blut, Samen, Säfte, alles teilte sich mit, Lebensäußerungen im Wortsinn, das waren sie.
Dann habe ich mich eines Tages angeschickt, für ein halbes Jahr nach Südostasien zu reisen, und auch Sulawesi, das alte Celebes, wie die Insel noch hieß, als man auch »Batavia« zu »Jarkata« sagte und »Ujung Pandang« zu »Makassar«, stand auf meinem Routenplan. Ich verabschiedete mich von Hannes, der sich von seinem mit Totenkopf-Netsukes bedeckten Schreibtisch erhob, sich umarmen und küssen ließ, und empfing dafür seinen Rat:
»Wenn du wirklich bis nach Sulawesi kommst, dann reise unbedingt ins Toraja-Land, die Gegend von Rantepao! Du wirst die berühmten Pfahlbauten mit ihren bunt bemalten Satteldächern sehen, und wenn du kannst, dann besuche eine Totenfeier. Sie zelebrieren dort ein paar der originellsten Totenkulte der ganzen Welt.«
Ja, ich hatte gehört von diesen hochbeinigen Pfahlbauten, geschwungenen, ganz ohne Nägel gebauten Wohnschiffen mit den Bambusdächern, den gemalten Friesen auf den Giebeln, den Schnitzarbeiten, den Büffelschädeln an der Fassade, den Reisspeichern gegenüber. Fabelhafte Leute waren diese Toraja, einem kambodschanischen Seefahrergeschlecht entsprungen, vor den muslimischen Kriegern an der Küste ins Landesinnere der orchideenförmigen Insel geflohen und dort in unwegsamen Tälern heimisch geworden. Sie waren zwischen alle Religionen gefallen. Im Wesentlichen animistisch und vom Fortleben der Toten am alten Lebensort überzeugt, nahmen sie muslimische Elemente in ihre Glaubenspraxis auf, und, als die ersten Missionare kamen, gleichermaßen christliche.
Den weiten Weg von Ujung Pandang, der Hauptstadt von Sulawesi, ins Hochland von Tana Toraja habe ich zum guten Teil auf dem Dach eines öffentlichen Busses zurückgelegt, zwischen den Gepäckstücken, zwei Käfigen mit wertvollen Truthähnen und drei Karten spielenden Jungen, die ihr Interesse an mir bald verloren, weil wir keine Sprache finden konnten. Nur mit Michael, einem ernsten Studenten, den eine Familienfeier nach Hause führte, kam ich ganz flüssig ins Gespräch.
»Was hat Sie hierher verschlagen?«, fragte er.
»Die Lust zu verschwinden.«
»Und, gelingt es Ihnen?«
»Wie einem Schatten.«
»Aber der Schatten schneidet keinen Stein.«
Das war eine seltsame Art, sich zu unterhalten, und so ging es immer weiter. Ganz weltläufig verabschiedete er mich, als ich an der ersten Haltestelle auf dem Boden des Toraja-Gebietes vom Dach des Busses kletterte, um irgendwo unterzukommen. Ich war kurz vor einem Sonnenstich, und der Sonnenbrand, den ich mir auf diesem Dach zugezogen hatte, hielt mich über die nächsten zwei Tage in einem Losmen, einem dieser familiären Gasthäuser Indonesiens, im Fieber fest.
Im festen Entschluss, tiefer in die dörfliche Provinz einzudringen, machte ich mich am dritten Tag zu Fuß auf. Die Reisfelder glitzerten, dass es den Augen weh tat, das frische Grün der Setzlinge war lebendig, weil immer ein Lufthauch durch die Gräser ging und die monochrome Fläche belebte. Nirgends zeigt die Landschaft mehr als hier die elegante Asymmetrie Südostasiens, und ich zog, mal wandernd, mal von Dorf zu Dorf trampend, tiefer und tiefer in das bäuerliche Leben hinein.
An einem Abend aber hatte ich mitten in einem engen, von Gräsern zu beiden Seiten zugewucherten Hohlweg eine Erscheinung: Das unwahrscheinlichste aller Fahrzeuge stand reglos wie ein weißer Büffel mitten auf dem Scheitelpunkt des Feldwegs - eine Limousine. Der indonesische Fahrer mit beiden Händen auf dem Lenkrad und aufgerissenen Augen trug auch tatsächlich eine Livree, und auch er war wie erstarrt, vielleicht weil mein Anblick in der Senke dieses Weges ähnlich überraschend auf ihn wirkte wie er auf mich in seinem Ufo.
Ich näherte mich dem Wagen, als auf der Hälfte der Strecke die Tür im Fond aufging, ohne dass sonst etwas zu hören und zu sehen gewesen wäre. Auch wandte der Fahrer nur seinen Kopf nach mir, machte aber keinerlei Zeichen. Als ich mich schließlich zur geöffneten Tür hinabbeugte, erblickte ich im Inneren einen schmalen, elegisch hingeräkelten Amerikaner im weißen Anzug, mit einem beschlagenen Mineralwasserglas in der Linken und dem Gesichtsausdruck eines wahren Dekadents gesegnet, verfeinert verdorben.
Nach einem kurzen, prüfenden Wortwechsel, den ich offenbar bestand, wurde mein Gepäck verstaut, und ich durfte an der Seite des Amerikaners in die klimatisierte Tiefe des Wagens sinken, eisgekühltes Wasser trinken und vom Reisen aus meiner Perspektive erzählen.
Der Mann, ein an Geld und Phobien reicher Herzchirurg, blickte währenddessen immer mal wieder wie pflichtschuldig in die Landschaft. Doch diese Blicke erschöpften sich rasch. Mäßig interessiert, aber mit sich selbst offenbar auf missvergnügte Weise zufrieden, ließ er sich in der einen Woche Jahresurlaub, die ihm geblieben war, von einem indonesischen Fahrer durchs Grüne fahren. Dieser stammte aus dem nahegelegenen Rantepao, lebte aber gerade als Student in den USA und fiel deshalb nicht mehr ganz so indonesisch aus.
»Also, ich fang noch mal an«, sagte der Fahrer, der Arzt lächelte gequält. »Sitzt ein Mann auf der Tanksäule ...« Der Arzt schenkte mir ein bedauerndes Lächeln. »Und holt sich einen runter.« Der Arzt zuckte tolerant die Schultern: na wenn schon. »Kommt eine Frau und fragt: Sagen Sie, ist das normal? Nee, sagt der Mann, das ist Super.«
»Das ist sehr lustig«, erwiderte der Chirurg ernst und duckte sich in den Schutz des Wagens, den er, wie ich später erfuhr, auch für Tempelbesuche nicht gern verließ.
Als er einmal verschwand, um von einem Hügel aus ein Foto zu schießen, klagte mir der Fahrer im Stakkato sein Leid: Er bekomme kaum zu essen, Fleisch schon gar nicht, rauchen dürfe er nicht einmal im Freien, dauernd solle er Witze erzählen, und überhaupt seien die Absichten des Reisenden undurchsichtig. Ebenso undurchsichtig war mir das Prinzip dieser Reise, das allem Charakteristischen eher aus dem Weg ging und alles andere bloß aus dem Schutz des Autos wahrnahm.
Als der Chirurg zurückkehrte, fragte er den Fahrer: »Was werden wir als Nächstes sehen?«
Auf unbeholfene Weise beschrieb der Fahrer einen Tempel, der Chirurg hörte mit halb geschlossenen Augen zu und zog einen Flunsch. Da schloss der unermüdliche Mann hinter dem Steuer seine blumige Beschreibung ab mit dem Zusatz: »an unforgettable moment!« Der Reisende würde auch den über sich ergehen lassen, suchte die Reislandschaft nach einem Fixpunkt ab und setzte nach:
»Und heute Abend?«
»Wir werden den Mount Pedang besteigen, wir werden ganz Rantepao überblicken können, noch dazu bei Sonnenuntergang. And this will be another unforgettable moment.«
Das, so begriff ich jetzt, war das Prinzip der Reise: Der Chirurg befand sich im unerbittlichen Griff des Chauffeurs, und dieser zog ihn am Nasenring, denn er hatte die Zauberformel gefunden, mit der man den erkalteten Reisenden durch die Strapaze seiner Fernreise schleppen konnte: das größte Versprechen. Von »unforgettable moment« zu »unforgettable moment«. Er würde da stehen im heimatlichen Krankenhaus von Denver, Colorado, die OP-Türen würden sich hinter ihm schließen, aber sie hätte er im Handgepäck, diese persönlichen »unforgettable moments«, und er würde seinen Kollegen erzählen und in der Erzählung alles Erlebte zum ersten Mal selbst »unforgettable« finden. Wer wollte dem Strom der Erfahrungen nicht etwas entreißen, das so hieße, und womit köderte man einen, den keine Sehenswürdigkeit, keine architektonische oder kulturhistorische Bedeutung scherte? Mit dem namenlosen Unvergesslichen.
Eine Dämmerung lang habe ich neben dem ratlosen Mediziner die Pracht des unvergesslichen Sonnenuntergangs genossen, der sich an diesem Abend als vergesslich entpuppte. Die Wolkenbänke zogen gleichmütig vor den Horizont und wollten sich nicht anschicken, den Blick freizugeben. Da ging die Sonne mürrisch unter. Ich verabschiedete mich von dem Chirurgen und mit komplizenhaftem Lächeln auch von seinem Fahrer.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Mein Freund Hannes war ein kleingewachsener Beau mit stattlichem Schädel, dichtem, nach hinten gestriegeltem Schwarzhaar und einem Totenkopf auf dem Ring. Mehr noch als mein Freund war er mein Mentor, der manchmal nuschelnd Monologe über die Todesdarstellungen an mexikanischen Kalvarienbergen, über die Mumiengewölbe von Palermo oder über den nekrophilen Holzschneider Posada und seine Totentänze hielt. Wo immer er sie fand, in der Folklore, im Kunstgewerbe, in der Sepulkralskulptur, auf Glanzbildern oder im Jahrhundertwende-Kitsch, überall sammelte Hannes Todesdarstellungen.
Seine gesamte Wohnung, ein Altbau mit verschlungenen Korridoren, ein wahrer »Bau« also, war mit Skeletten bevölkert, grinsenden, tanzenden, reitenden, grabenden, Wache haltenden, kopulierenden, immer grotesken Knochenmännern mit großen, vorwurfsvollen Augenhöhlen. Freunde und Besucher hatten so ihre Meinungen zu der Sammelleidenschaft, die dies zusammengetragen hatte. Doch wie Hannes war, interessierte er sich wenig für die Theorie, er objektiviere hier nur seine eigene Angst - er interessierte sich überhaupt nicht besonders für sich selbst-, vielmehr sah er der Menschenphantasie bei ihrer Beschäftigung zu, so, wie sie selbstvergessen den Tod in die Welt krakeelte.
Als eine unmittelbare Ableitung davon war Hannes alles Kreatürliche kostbar. Er traute einfach dem Körper in seinen spontanen Lebensäußerungen mehr als der Moral. Dem Sex, dem Kotzen, Kacken, Pissen, Husten, Furzen, Erröten, Eregieren schrieb er eine gewisse Lesbarkeit zu, Blut, Samen, Säfte, alles teilte sich mit, Lebensäußerungen im Wortsinn, das waren sie.
Dann habe ich mich eines Tages angeschickt, für ein halbes Jahr nach Südostasien zu reisen, und auch Sulawesi, das alte Celebes, wie die Insel noch hieß, als man auch »Batavia« zu »Jarkata« sagte und »Ujung Pandang« zu »Makassar«, stand auf meinem Routenplan. Ich verabschiedete mich von Hannes, der sich von seinem mit Totenkopf-Netsukes bedeckten Schreibtisch erhob, sich umarmen und küssen ließ, und empfing dafür seinen Rat:
»Wenn du wirklich bis nach Sulawesi kommst, dann reise unbedingt ins Toraja-Land, die Gegend von Rantepao! Du wirst die berühmten Pfahlbauten mit ihren bunt bemalten Satteldächern sehen, und wenn du kannst, dann besuche eine Totenfeier. Sie zelebrieren dort ein paar der originellsten Totenkulte der ganzen Welt.«
Ja, ich hatte gehört von diesen hochbeinigen Pfahlbauten, geschwungenen, ganz ohne Nägel gebauten Wohnschiffen mit den Bambusdächern, den gemalten Friesen auf den Giebeln, den Schnitzarbeiten, den Büffelschädeln an der Fassade, den Reisspeichern gegenüber. Fabelhafte Leute waren diese Toraja, einem kambodschanischen Seefahrergeschlecht entsprungen, vor den muslimischen Kriegern an der Küste ins Landesinnere der orchideenförmigen Insel geflohen und dort in unwegsamen Tälern heimisch geworden. Sie waren zwischen alle Religionen gefallen. Im Wesentlichen animistisch und vom Fortleben der Toten am alten Lebensort überzeugt, nahmen sie muslimische Elemente in ihre Glaubenspraxis auf, und, als die ersten Missionare kamen, gleichermaßen christliche.
Den weiten Weg von Ujung Pandang, der Hauptstadt von Sulawesi, ins Hochland von Tana Toraja habe ich zum guten Teil auf dem Dach eines öffentlichen Busses zurückgelegt, zwischen den Gepäckstücken, zwei Käfigen mit wertvollen Truthähnen und drei Karten spielenden Jungen, die ihr Interesse an mir bald verloren, weil wir keine Sprache finden konnten. Nur mit Michael, einem ernsten Studenten, den eine Familienfeier nach Hause führte, kam ich ganz flüssig ins Gespräch.
»Was hat Sie hierher verschlagen?«, fragte er.
»Die Lust zu verschwinden.«
»Und, gelingt es Ihnen?«
»Wie einem Schatten.«
»Aber der Schatten schneidet keinen Stein.«
Das war eine seltsame Art, sich zu unterhalten, und so ging es immer weiter. Ganz weltläufig verabschiedete er mich, als ich an der ersten Haltestelle auf dem Boden des Toraja-Gebietes vom Dach des Busses kletterte, um irgendwo unterzukommen. Ich war kurz vor einem Sonnenstich, und der Sonnenbrand, den ich mir auf diesem Dach zugezogen hatte, hielt mich über die nächsten zwei Tage in einem Losmen, einem dieser familiären Gasthäuser Indonesiens, im Fieber fest.
Im festen Entschluss, tiefer in die dörfliche Provinz einzudringen, machte ich mich am dritten Tag zu Fuß auf. Die Reisfelder glitzerten, dass es den Augen weh tat, das frische Grün der Setzlinge war lebendig, weil immer ein Lufthauch durch die Gräser ging und die monochrome Fläche belebte. Nirgends zeigt die Landschaft mehr als hier die elegante Asymmetrie Südostasiens, und ich zog, mal wandernd, mal von Dorf zu Dorf trampend, tiefer und tiefer in das bäuerliche Leben hinein.
An einem Abend aber hatte ich mitten in einem engen, von Gräsern zu beiden Seiten zugewucherten Hohlweg eine Erscheinung: Das unwahrscheinlichste aller Fahrzeuge stand reglos wie ein weißer Büffel mitten auf dem Scheitelpunkt des Feldwegs - eine Limousine. Der indonesische Fahrer mit beiden Händen auf dem Lenkrad und aufgerissenen Augen trug auch tatsächlich eine Livree, und auch er war wie erstarrt, vielleicht weil mein Anblick in der Senke dieses Weges ähnlich überraschend auf ihn wirkte wie er auf mich in seinem Ufo.
Ich näherte mich dem Wagen, als auf der Hälfte der Strecke die Tür im Fond aufging, ohne dass sonst etwas zu hören und zu sehen gewesen wäre. Auch wandte der Fahrer nur seinen Kopf nach mir, machte aber keinerlei Zeichen. Als ich mich schließlich zur geöffneten Tür hinabbeugte, erblickte ich im Inneren einen schmalen, elegisch hingeräkelten Amerikaner im weißen Anzug, mit einem beschlagenen Mineralwasserglas in der Linken und dem Gesichtsausdruck eines wahren Dekadents gesegnet, verfeinert verdorben.
Nach einem kurzen, prüfenden Wortwechsel, den ich offenbar bestand, wurde mein Gepäck verstaut, und ich durfte an der Seite des Amerikaners in die klimatisierte Tiefe des Wagens sinken, eisgekühltes Wasser trinken und vom Reisen aus meiner Perspektive erzählen.
Der Mann, ein an Geld und Phobien reicher Herzchirurg, blickte währenddessen immer mal wieder wie pflichtschuldig in die Landschaft. Doch diese Blicke erschöpften sich rasch. Mäßig interessiert, aber mit sich selbst offenbar auf missvergnügte Weise zufrieden, ließ er sich in der einen Woche Jahresurlaub, die ihm geblieben war, von einem indonesischen Fahrer durchs Grüne fahren. Dieser stammte aus dem nahegelegenen Rantepao, lebte aber gerade als Student in den USA und fiel deshalb nicht mehr ganz so indonesisch aus.
»Also, ich fang noch mal an«, sagte der Fahrer, der Arzt lächelte gequält. »Sitzt ein Mann auf der Tanksäule ...« Der Arzt schenkte mir ein bedauerndes Lächeln. »Und holt sich einen runter.« Der Arzt zuckte tolerant die Schultern: na wenn schon. »Kommt eine Frau und fragt: Sagen Sie, ist das normal? Nee, sagt der Mann, das ist Super.«
»Das ist sehr lustig«, erwiderte der Chirurg ernst und duckte sich in den Schutz des Wagens, den er, wie ich später erfuhr, auch für Tempelbesuche nicht gern verließ.
Als er einmal verschwand, um von einem Hügel aus ein Foto zu schießen, klagte mir der Fahrer im Stakkato sein Leid: Er bekomme kaum zu essen, Fleisch schon gar nicht, rauchen dürfe er nicht einmal im Freien, dauernd solle er Witze erzählen, und überhaupt seien die Absichten des Reisenden undurchsichtig. Ebenso undurchsichtig war mir das Prinzip dieser Reise, das allem Charakteristischen eher aus dem Weg ging und alles andere bloß aus dem Schutz des Autos wahrnahm.
Als der Chirurg zurückkehrte, fragte er den Fahrer: »Was werden wir als Nächstes sehen?«
Auf unbeholfene Weise beschrieb der Fahrer einen Tempel, der Chirurg hörte mit halb geschlossenen Augen zu und zog einen Flunsch. Da schloss der unermüdliche Mann hinter dem Steuer seine blumige Beschreibung ab mit dem Zusatz: »an unforgettable moment!« Der Reisende würde auch den über sich ergehen lassen, suchte die Reislandschaft nach einem Fixpunkt ab und setzte nach:
»Und heute Abend?«
»Wir werden den Mount Pedang besteigen, wir werden ganz Rantepao überblicken können, noch dazu bei Sonnenuntergang. And this will be another unforgettable moment.«
Das, so begriff ich jetzt, war das Prinzip der Reise: Der Chirurg befand sich im unerbittlichen Griff des Chauffeurs, und dieser zog ihn am Nasenring, denn er hatte die Zauberformel gefunden, mit der man den erkalteten Reisenden durch die Strapaze seiner Fernreise schleppen konnte: das größte Versprechen. Von »unforgettable moment« zu »unforgettable moment«. Er würde da stehen im heimatlichen Krankenhaus von Denver, Colorado, die OP-Türen würden sich hinter ihm schließen, aber sie hätte er im Handgepäck, diese persönlichen »unforgettable moments«, und er würde seinen Kollegen erzählen und in der Erzählung alles Erlebte zum ersten Mal selbst »unforgettable« finden. Wer wollte dem Strom der Erfahrungen nicht etwas entreißen, das so hieße, und womit köderte man einen, den keine Sehenswürdigkeit, keine architektonische oder kulturhistorische Bedeutung scherte? Mit dem namenlosen Unvergesslichen.
Eine Dämmerung lang habe ich neben dem ratlosen Mediziner die Pracht des unvergesslichen Sonnenuntergangs genossen, der sich an diesem Abend als vergesslich entpuppte. Die Wolkenbänke zogen gleichmütig vor den Horizont und wollten sich nicht anschicken, den Blick freizugeben. Da ging die Sonne mürrisch unter. Ich verabschiedete mich von dem Chirurgen und mit komplizenhaftem Lächeln auch von seinem Fahrer.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Inhaltsverzeichnis zu „Die Enden der Welt “
Aus dem Inhalt:Die Eifel: Aufbruch
Der Himalaya: Highway im Nebel
Minsk: Der Fremde im Bett
Timbuktu: Der Junge und die Wüste
Borneo: Die Straße ins Nichts
Tonga: Tabu und Verhängnis
Chiang Mai: Opium
Kamtschatka: Asche und Magma
Mandalay: Ein Traum vom Meer
Bombay: Das Orakel
Patagonien: Der verbotene Ort
Kinshasa: Aus einem Krieg
Hongkong: Das leere Postfach
Indonesien: Unter Toten
Gibraltar: Das Nonplusultra
Senegal: Die Tür ohne Wiederkehr
Der Nordpol: Einkehr
Autoren-Porträt von Roger Willemsen
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«.Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Literaturpreise:Rinke-Preis 2009Julius-Campe-Preis 2011Prix Pantheon-Sonderpreis 2012
Bibliographische Angaben
- Autor: Roger Willemsen
- 2011, Nachdruck, 544 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596179882
- ISBN-13: 9783596179886
- Erscheinungsdatum: 09.11.2011
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