Die feine Nase der Lilli Steinbeck
Kriminalroman. Originalausgabe. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi-Preis, Kategorie National 2008
Das Auffälligste an der ausgesprochen schlanken und eleganten Lilli Steinbeck ist ihre Nase. Eine Klingonennase, die ihr eine Schar stark verunsicherter Bewunderer beschert. Als international anerkannte Spezialistin für Entführungsfragen wird sie von der...
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Produktinformationen zu „Die feine Nase der Lilli Steinbeck “
Das Auffälligste an der ausgesprochen schlanken und eleganten Lilli Steinbeck ist ihre Nase. Eine Klingonennase, die ihr eine Schar stark verunsicherter Bewunderer beschert. Als international anerkannte Spezialistin für Entführungsfragen wird sie von der Polizei in einen brisanten Fall eingeschaltet - in ein Spiel mit zehn lebenden Figuren, um die ein weltweit operierendes Verbrecherteam kämpft. Auf allerhöchstem Niveau und zum Zeitvertreib. Es gewinnt, wer alle zehn Spieler getötet hat ... Der Kriminalroman des preisgekrönten Erfolgsautors Heinrich Steinfest ist ein Feuerwerk der Sprache voller Humor und philosophischem Hintersinn.
Lese-Probe zu „Die feine Nase der Lilli Steinbeck “
Was für ein wunderbarer Abend!Und zwar nicht der erste. Daran mußte der Mann, der Georg war, nun denken. Wie viele solcher wunderbaren Abende er bereits hatte verbringen dürfen. Zusammen mit seiner schönen Frau und seiner nicht minder hübschen Tochter. Im gemütlichen und geschmackvollen Eßzimmer seines Hauses, das hoch oben über der Stadt gebaut war, in bester Lage, ohne aber protzig zu wirken.
Die kleine Villa stammte aus einer Zeit, als an dieser Stelle kaum noch etwas gewesen war, um überhaupt von einer Lage zu sprechen. Das hatte sich geändert. So mancher hätte einen kleinen, versteckten Mord riskiert, um in dieser Gegend an eine Immobilie zu gelangen. Georg aber war ganz ohne Verbrechen ausgekommen, hatte das Haus von seinen Eltern geerbt. Manchmal kam es ihm vor, daß eigentlich alles, was ihn umgab, auch seine Frau, auch seine fünfzehnjährige Tochter, ein Erbe darstellten. Etwas, das er ohne eigenes Zutun, nur dem Zufall einer bestimmten Abstammung verdankend, entgegengenommen hatte. Da es ihm nun mal von Rechts wegen zustand. Aber nur von Rechts wegen. Nichts, was er sich ernsthaft erarbeitet hatte. Nichts, was er wirklich verdiente.
Und das war nun genau die Frage, die ihm riesengroß, eine dröhnende Blase, durch den Kopf ging: "Habe ich das eigentlich verdient?"
Georg dachte an all die Männer, die jetzt ebenfalls bei Tisch saßen und denen irgendeine frustrierte, häßliche, breitarschige Nörglerin das Essen vors Gesicht knallte, wenn man diese nie ganz aufgetauten Tiefkühldinger überhaupt als Essen bezeichnen durfte. Dazu kamen dann Kinder, die ständig vom Taschengeld sprachen und gleichzeitig ihre vermasselten Schularbeiten ohne jede Scham zur Unterschrift vorlegten. Als würden nicht sie, sondern der Unterzeichnende Schuld tragen. Und als sei also die Taschengelderhöhung das Bußgeld, daß der Erwachsene zu begleichen habe. Dafür, Kinder in die Welt gesetzt zu haben.
Mia aber, Georgs Tochter, legte niemals vermasselte Schularbeiten vor, immer
... mehr
nur ein "sehr gut". Und tat dies, ohne jegliches Taschengeldtheater zu vollziehen. Offenkundig war ihr die Banalität solcher Notengebung völlig bewußt. Während es natürlich gar nicht banal war, wenn ein Vater sich so gut wie nie um schulische Angelegenheiten kümmern mußte, immer nur ausgezeichnete Ergebnisse zu quittieren brauchte. Auch in dieser Hinsicht ein unverdientes Erbe antretend.
Georgs Frau, Viola, kam ebenfalls ohne Theater aus. Ihre Schönheit und Intelligenz, ihr Erfolg im Beruf führten zu einer Zufriedenheit, zu einer Art von Erholtsein, das es ihr ermöglichte, Abend für Abend ein vorzügliches Mahl auf den Tisch zu zaubern, welches nicht im entferntesten daran erinnerte, gerade noch im Schockzustand einer Vertiefkühlung gewesen zu sein. Als taue man ein Mammut auf und damit auch uralte Mikroben und Bazillen. Nein, Viola nahm sich immer noch die Zeit, frische Kräuter zu besorgen, frisches Fleisch und frischen Fisch einzukaufen, zwischen zwei Terminen einen Gemüsemarkt aufzusuchen und den Verkäufern freundlich auf die Finger zu klopfen, wenn sie versuchten, ihr verknautschte Erdbeeren unterzujubeln.
Ihre Geschäftspartner verstanden Viola nicht. Nun, ihre Geschäftspartner, vor allem die weiblichen unter ihnen, übersahen Violas Glück. Diese anderen Frauen meinten nämlich, daß Erfolg dazu verpflichte, verbissen, gehässig, freudlos und pervers zu sein. Und auf eine nicht näher definierte Weise emanzipiert. Emanzipiert wie versteinerte Eier, die man dann also nicht mehr auszubrüten brauchte.
Bei aller karrieristischer Bezogenheit - darunter fraglos auch den Freuden, ein paar blöde Männer in die Ecke zu stellen und sie zehnmal den Satz "Ich darf meine Chefin nicht dumm anmachen" aufsagen zu lassen - genoß Viola das Ausleben einer Macht, über die allein kochende Frauen verfügen, gleich ob sie schwerbusige Matronen oder schlanke, feinnervige, funktionslastige Trägerinnen von Sportunterwäsche sind. Wenn sie kochen, richtig kochen, und ihre Männer, alle Männer, wohlweislich aus der Küche verbannen und es nicht zuletzt unterlassen, selbige Männer zum Zwiebelschneiden und Kartoffelputzen abzukommandieren, erhalten sie sich die Kontrolle derer, die füttern, über die, die gefüttert werden. Wenn sie denn wissen, was sie mit diesem Füttern bezwecken wollen.
Man sollte diesbezüglich die Magie nicht vergessen. Frauen sind geborene Hexen, gleich, was die Aufklärung uns weiszumachen versucht. Und die Zubereitung von Mahlzeiten ist sicherlich die einfachste und wirksamste Art, echte Magie zu betreiben. Echt schwarz oder echt weiß. Und nicht das bunte Zeug, das tiefgefroren hinter Fotografien seiner selbst schlummert.
Jedenfalls war es so, daß Georg mit der Küche und der Kocherei absolut nichts zu tun hatte. Somit auch das Geschirr nicht etwa zu spülen brauchte, als würde er die Pinsel seiner malenden Frau abwaschen. Seine Position war allein die des Essers. Auch begriff er wohl, daß die Magie, die seine Frau dabei trieb, eindeutig Züge des Hellen und Freundlichen besaß. Wie ja auch hinter dem unkomplizierten Wesen seiner Tochter keine Dämonie verborgen schien. Dieses Kind war ganz einfach mit sich und der Welt zufrieden, ohne gleich naiv zu sein. Sie kannte den Dreck der Straße, wußte um ein paar ekelhafte Ausformungen des Sexuellen sowie um die Anziehungskraft tröstender Stimulanzien. Aber sie hatte nun mal Trost nicht nötig. Auch keinen Kerl, der es ihr beinhart besorgte. Sie fand, daß fünfzehn Jahre und ein von jeder Grobheit verschonter Körper ungeeignet waren, sich irgendeine Beinhärte anzutun, bloß weil selbige mit schicker Frisur und tätowiertem Oberarm daherkam. Oder irgendeinen Dreck der Straße zu idealisieren. Sie sagte gerne, derartiges könne sie sich in fünf bis zehn Jahren leisten. Aber das war eine Koketterie. Eine der wenigen, zu der sie sich - jung, aber nicht unschuldig, brillant, aber kein Luder - hingab. Nein, sie hatte nicht vor, in fünf bis zehn Jahren Abgründe zu schauen, nur weil die schon mal existierten.
So war das.
In diesem idyllischen Nest lebte Georg Stransky und konnte sich ein perfektes Abendessen kredenzen lassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, ohne einen Vorwurf oder eine Hinterlist befürchten zu müssen. Auch war er selbst ja keineswegs ein Lebemann oder Gauner oder Sesselhocker. Er tat seinen Teil, unterrichtete an der Universität, verfaßte Artikel, ja, publizierte ganze Bücher, wie man sagt, jemand schlachte ein ganzes Schwein, als könnte man ein halbes oder viertel Schwein schlachten.
Anstatt nun aber das Faktum ungerechter Verteilung, ungleichen Glücks und Unglücks als gegeben hinzunehmen und eine gewisse philosophische Schwammigkeit des Lebens zu akzeptieren, stellte sich Georg Stransky also die Frage: "Habe ich das eigentlich verdient?"
Hätte er auf diese Frage verzichtet - sie zumindest nicht in diesem Moment mit dieser Eindringlichkeit gestellt -, wäre alles so weitergegangen wie bisher. Er hätte geerbt und geerbt und geerbt.
Aber manche Frage darf nun mal nicht gestellt werden. Auch nicht in Gedanken. Beziehungsweise vor allem in Gedanken nicht. Der Gedanke reizt mehr als das gesprochene Wort. Die Reizung funktioniert wie eine Krankheit. Plötzlich ist man nicht mehr gesund.
Klirrr!
Es gibt Sekunden, die sind gleichzeitig schneller und rasanter als übliche Sekunden, aber auch gedehnter, ja, geradezu spielfilmartig ausgezogen. Sie sind voll von Eindrücken und Bildern und Umständen, aber des ungeheuren Tempos wegen kaum nachvollziehbar. Nachdem sie geschehen sind, meint man, ein halbes Leben wäre abgelaufen, ohne auch nur eine Winzigkeit wirklich realisiert zu haben. Gleich den Leuten, die über Nacht weiße Haare bekommen. Oder über Nacht in ein Meer von Runzeln fallen.
Weiße Haare und Runzeln blieben Georg erspart. Aber sonst...
Eine Scheibe war zersprungen. Eine von denen, die hinunter auf die Straße wiesen. Ein Gegenstand hatte das geschlossene Fenster durchbrochen und war über den semmelgelben Parkettboden gekullert. Ja, gekullert. Soviel hatte Georg registrieren können, um zu wissen, daß das glänzend rote Objekt eine runde oder wenigstens halbwegs runde Form besaß. Jedenfalls geeignet war zu kullern, anstatt etwa wie ein Sack aufzuschlagen oder im Stil einer Kröte oder eines Puddings aufs Parkett zu klatschen. In der polierten Art einer Bowlingkugel hatte das fremde Ding eine leicht gebogene Spur gezogen, um unter den Eßtisch zu geraten und dort gegen das mittige Tischbein zu stoßen und seine Bewegung zu beenden.
"Jesus!" rief Georg aus und sprang in die Höhe. Er rannte zum Fenster und spähte nach draußen. Hinaus auf den Gehweg, der im Licht einer untergegangenen Spätsommersonne dalag, von niedrigen Büschen flankiert, frei von Autos, die in einer solchen Gegend friedlich in ihren Garagen hockten. Auch frei von Passanten. Zumindest war da niemand zu sehen, der in Frage kam, der Werfer zu sein.
Der Werfer wovon?
Georg kam zurück an den Tisch und betrachtete kurz seine Frau und seine Tochter, die sich erhoben hatten und auf die andere Seite des Raums gewechselt waren. In keiner Weise hysterisch oder ängstlich, bloß vernünftig. Der Eßtisch gemahnte jetzt an eine dieser Wasseroberflächen, unter denen ein paar bissige Fische zu vermuten waren. Wie bissig? Das war die Frage.
Keine Frage hingegen war, daß, wenn Violas Aufgabe darin bestand, trotz ihres Berufs famose Abendmahlzeiten zuzubereiten, und Mia unaufgeregt die Pflicht erfüllte, stets die beste Schülerin zu sein, es eindeutig Georg zukam, unter den Tisch zu kriechen und nachzusehen, wie bissig dieser Fisch war.
Oder diese Bombe.
Nicht, daß dies dem männlichen Wesen grundsätzlich entsprach. Doch es war verflixt. Aus eigener Schuld und Ohnmacht hatte der Mann - meistens schlecht im Kochen und schlecht in der Schule - genau in dieser Funktion seinen traurigen Kulminationspunkt gefunden: im Nachsehen, ob ein Gegenstand eine Bombe war oder nicht. Das ganze Leben der Männer spielte sich in dieser Kategorie ab. Ständig krochen sie unter Tische, um sich einen Überblick zu verschaffen. Nicht wenige flogen dabei in die Luft. Und wenn nicht heute, dann morgen. Und wenn nicht auf die eine Art, dann auf die andere. Anstatt endlich damit aufzuhören, sich diese Unter-den-Tisch-Kriecherei als etwas Edles zu denken, als Ausdruck von Macht und Politik und Intelligenz. Was ja ein Witz ist. Selbst Weltkriege finden noch unter dem Tisch statt, wo jedermann auf allen vieren und mit geducktem Kopf durch die Gegend kriecht. Wen, um Himmels willen, meinen die Männer damit zu beeindrucken? Gott? Ihre Frauen? Ihre Mütter? Irgend jemand, der ebenfalls unter dem Tisch hockt?
Aber auch Georg hielt sich an das Muster, biß die Zähne zusammen, unterdrückte das Brennen in seinen Fingern und ging in die Knie. Er schob die Tischdecke wie einen Vorhang zur Seite und kroch in das Dunkel hinein.
Er erkannte ihn gleich, den geworfenen Gegenstand, welcher tatsächlich kreisrund schien, wobei drei Viertel des Körpers im Schatten lagen und nur ein sichelartiger Ausschnitt feurig aufleuchtete. Man hätte meinen können, ein kleiner roter Mond ziehe hier seine Bahn. Um das Tischbein herum wie um eine kosmische Säule.
Georg schluckte und griff nach dem Stück Mond. Er zog ihn aus dem Schatten, holte ihn ins Licht der Zimmerbeleuchtung und konstatierte nun, worum es sich handelte: um einen Apfel.
Beinahe war er enttäuscht. Diese ganze Aufregung für ein Stück Obst.
"Was soll das?" fragte Georg laut. "Was tun diese Kids? Äpfel klauen und damit Krieg spielen."
Er schüttelte den Kopf, deponierte das Wurfgeschoß auf der Spüle und bemerkte nebenbei, sich mit Äpfeln nicht auszukennen. Etwa mit den einzelnen Sorten.
Anders seine Tochter. Sie erwähnte einen englischen Namen, den Georg aber nicht richtig verstand. Egal. Es war ihm gleichgültig, wie dieses blutrote Ding hieß.
Blutrot?
Nicht wirklich blutrot, wie man das von eigenen Schnittwunden kannte, sondern eher dieses Rot, das einem der Anblick erschlagener Stechmücken bot. Was ja immer ein wenig grausig war, eigenes Blut zu betrachten, das durch einen fremden Körper gegangen war. In gewisser Hinsicht erschlägt man sich selbst.
Ein solches Rot, ein Rot von quasi selbst erschlagenem eigenem Blut, besaß diese Frucht, die im übrigen wie ein ganz normaler Apfel aussah. Wie auch sonst?
Und genau darum hielt sich die Aufregung in Grenzen. Georg kehrte die Scherben auf und ließ an der betroffenen Stelle den Rolladen herunter. Viola richtete die Nachspeise, glücklicherweise nichts mit Obst. Mia räumte die Teller ab und füllte Wein in die Gläser ihrer Eltern. Der Apfel aber blieb, wo er war. Erst später, als Mia und ihr Vater bereits vor dem Fernseher saßen, fiel Violas Blick wieder auf das Corpus delicti. Auch Viola Stransky hatte so ihre Assoziationen. Nichts mit Blut. Viola war keine von denen, die ständig an Blut dachten. Eher dachte sie an Kuchen und daß man den Apfel, wenn schon nicht roh essen, so zumindest in irgendeine Süßspeise hätte einarbeiten können. Andererseits war nicht auszuschließen, daß in der Frucht ein Glassplitter steckte, obgleich die Oberfläche völlig unbeschadet schien. Wie auch immer, es gehörte sich nicht, ein durch eine Scheibe geflogenes Obststück einem Nachtisch beizufügen. Das hätte schon sehr auf eine verrückte Art von Sparsamkeit verwiesen. Und so sehr eine solche Verrücktheit in Viola Stransky auch nistete, war dies etwas, was sie hinter sich zu haben glaubte. Und darum nahm sie den Apfel und warf ihn in den Eimer.
"Gar kein Problem", sagte sie in einem bemüht vergnüglichen Ton, obwohl das der erste Apfel ihres Lebens war, den sie so vollständig in den Müll befördert hatte. Als werfe man ein Rotkehlchen einfach ins Klo. Eigentlich schrecklich.
Viola Stransky verbat sich, weiter darüber nachzudenken, legte die beiden Geschirrtücher sehr ordentlich zum Trocknen auf und wechselte hinüber ins Wohnzimmer, wo sie sich zwischen ihren Mann und ihr Kind niederließ. In den Fernsehnachrichten war gerade von einer wirtschaftspolitischen Entscheidung die Rede, die aber Viola vollkommen gleichgültig ließ, obgleich sie als Geschäftsfrau in der idealsten Weise davon betroffen war. Sie konnte nicht anders. Sie mußte an den Apfel denken und wie deprimierend es war, daß er nutzlos - allein auf den Schaden reduziert, den er verursacht hatte - in einer Biotonne zu vergammeln begann.
Georg Stransky hingegen fragte sich, ob man nicht die Polizei hätte rufen sollen. Andererseits wäre er sich lächerlich vorgekommen. Ein Apfel! Auch fürchtete er, daß beim Anblick der hübschen Mia die Polizisten sich dazu verstiegen hätten, die hilflose Brautwerbung eines Verehrers anzunehmen. Obstwurf statt Minnegesang. Oder was Polizeimenschen so einfiel, wenn sie kompliziert dachten. Und daß sie das taten, nämlich kompliziert denken, war ja allgemein bekannt.
Georgs Frau, Viola, kam ebenfalls ohne Theater aus. Ihre Schönheit und Intelligenz, ihr Erfolg im Beruf führten zu einer Zufriedenheit, zu einer Art von Erholtsein, das es ihr ermöglichte, Abend für Abend ein vorzügliches Mahl auf den Tisch zu zaubern, welches nicht im entferntesten daran erinnerte, gerade noch im Schockzustand einer Vertiefkühlung gewesen zu sein. Als taue man ein Mammut auf und damit auch uralte Mikroben und Bazillen. Nein, Viola nahm sich immer noch die Zeit, frische Kräuter zu besorgen, frisches Fleisch und frischen Fisch einzukaufen, zwischen zwei Terminen einen Gemüsemarkt aufzusuchen und den Verkäufern freundlich auf die Finger zu klopfen, wenn sie versuchten, ihr verknautschte Erdbeeren unterzujubeln.
Ihre Geschäftspartner verstanden Viola nicht. Nun, ihre Geschäftspartner, vor allem die weiblichen unter ihnen, übersahen Violas Glück. Diese anderen Frauen meinten nämlich, daß Erfolg dazu verpflichte, verbissen, gehässig, freudlos und pervers zu sein. Und auf eine nicht näher definierte Weise emanzipiert. Emanzipiert wie versteinerte Eier, die man dann also nicht mehr auszubrüten brauchte.
Bei aller karrieristischer Bezogenheit - darunter fraglos auch den Freuden, ein paar blöde Männer in die Ecke zu stellen und sie zehnmal den Satz "Ich darf meine Chefin nicht dumm anmachen" aufsagen zu lassen - genoß Viola das Ausleben einer Macht, über die allein kochende Frauen verfügen, gleich ob sie schwerbusige Matronen oder schlanke, feinnervige, funktionslastige Trägerinnen von Sportunterwäsche sind. Wenn sie kochen, richtig kochen, und ihre Männer, alle Männer, wohlweislich aus der Küche verbannen und es nicht zuletzt unterlassen, selbige Männer zum Zwiebelschneiden und Kartoffelputzen abzukommandieren, erhalten sie sich die Kontrolle derer, die füttern, über die, die gefüttert werden. Wenn sie denn wissen, was sie mit diesem Füttern bezwecken wollen.
Man sollte diesbezüglich die Magie nicht vergessen. Frauen sind geborene Hexen, gleich, was die Aufklärung uns weiszumachen versucht. Und die Zubereitung von Mahlzeiten ist sicherlich die einfachste und wirksamste Art, echte Magie zu betreiben. Echt schwarz oder echt weiß. Und nicht das bunte Zeug, das tiefgefroren hinter Fotografien seiner selbst schlummert.
Jedenfalls war es so, daß Georg mit der Küche und der Kocherei absolut nichts zu tun hatte. Somit auch das Geschirr nicht etwa zu spülen brauchte, als würde er die Pinsel seiner malenden Frau abwaschen. Seine Position war allein die des Essers. Auch begriff er wohl, daß die Magie, die seine Frau dabei trieb, eindeutig Züge des Hellen und Freundlichen besaß. Wie ja auch hinter dem unkomplizierten Wesen seiner Tochter keine Dämonie verborgen schien. Dieses Kind war ganz einfach mit sich und der Welt zufrieden, ohne gleich naiv zu sein. Sie kannte den Dreck der Straße, wußte um ein paar ekelhafte Ausformungen des Sexuellen sowie um die Anziehungskraft tröstender Stimulanzien. Aber sie hatte nun mal Trost nicht nötig. Auch keinen Kerl, der es ihr beinhart besorgte. Sie fand, daß fünfzehn Jahre und ein von jeder Grobheit verschonter Körper ungeeignet waren, sich irgendeine Beinhärte anzutun, bloß weil selbige mit schicker Frisur und tätowiertem Oberarm daherkam. Oder irgendeinen Dreck der Straße zu idealisieren. Sie sagte gerne, derartiges könne sie sich in fünf bis zehn Jahren leisten. Aber das war eine Koketterie. Eine der wenigen, zu der sie sich - jung, aber nicht unschuldig, brillant, aber kein Luder - hingab. Nein, sie hatte nicht vor, in fünf bis zehn Jahren Abgründe zu schauen, nur weil die schon mal existierten.
So war das.
In diesem idyllischen Nest lebte Georg Stransky und konnte sich ein perfektes Abendessen kredenzen lassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, ohne einen Vorwurf oder eine Hinterlist befürchten zu müssen. Auch war er selbst ja keineswegs ein Lebemann oder Gauner oder Sesselhocker. Er tat seinen Teil, unterrichtete an der Universität, verfaßte Artikel, ja, publizierte ganze Bücher, wie man sagt, jemand schlachte ein ganzes Schwein, als könnte man ein halbes oder viertel Schwein schlachten.
Anstatt nun aber das Faktum ungerechter Verteilung, ungleichen Glücks und Unglücks als gegeben hinzunehmen und eine gewisse philosophische Schwammigkeit des Lebens zu akzeptieren, stellte sich Georg Stransky also die Frage: "Habe ich das eigentlich verdient?"
Hätte er auf diese Frage verzichtet - sie zumindest nicht in diesem Moment mit dieser Eindringlichkeit gestellt -, wäre alles so weitergegangen wie bisher. Er hätte geerbt und geerbt und geerbt.
Aber manche Frage darf nun mal nicht gestellt werden. Auch nicht in Gedanken. Beziehungsweise vor allem in Gedanken nicht. Der Gedanke reizt mehr als das gesprochene Wort. Die Reizung funktioniert wie eine Krankheit. Plötzlich ist man nicht mehr gesund.
Klirrr!
Es gibt Sekunden, die sind gleichzeitig schneller und rasanter als übliche Sekunden, aber auch gedehnter, ja, geradezu spielfilmartig ausgezogen. Sie sind voll von Eindrücken und Bildern und Umständen, aber des ungeheuren Tempos wegen kaum nachvollziehbar. Nachdem sie geschehen sind, meint man, ein halbes Leben wäre abgelaufen, ohne auch nur eine Winzigkeit wirklich realisiert zu haben. Gleich den Leuten, die über Nacht weiße Haare bekommen. Oder über Nacht in ein Meer von Runzeln fallen.
Weiße Haare und Runzeln blieben Georg erspart. Aber sonst...
Eine Scheibe war zersprungen. Eine von denen, die hinunter auf die Straße wiesen. Ein Gegenstand hatte das geschlossene Fenster durchbrochen und war über den semmelgelben Parkettboden gekullert. Ja, gekullert. Soviel hatte Georg registrieren können, um zu wissen, daß das glänzend rote Objekt eine runde oder wenigstens halbwegs runde Form besaß. Jedenfalls geeignet war zu kullern, anstatt etwa wie ein Sack aufzuschlagen oder im Stil einer Kröte oder eines Puddings aufs Parkett zu klatschen. In der polierten Art einer Bowlingkugel hatte das fremde Ding eine leicht gebogene Spur gezogen, um unter den Eßtisch zu geraten und dort gegen das mittige Tischbein zu stoßen und seine Bewegung zu beenden.
"Jesus!" rief Georg aus und sprang in die Höhe. Er rannte zum Fenster und spähte nach draußen. Hinaus auf den Gehweg, der im Licht einer untergegangenen Spätsommersonne dalag, von niedrigen Büschen flankiert, frei von Autos, die in einer solchen Gegend friedlich in ihren Garagen hockten. Auch frei von Passanten. Zumindest war da niemand zu sehen, der in Frage kam, der Werfer zu sein.
Der Werfer wovon?
Georg kam zurück an den Tisch und betrachtete kurz seine Frau und seine Tochter, die sich erhoben hatten und auf die andere Seite des Raums gewechselt waren. In keiner Weise hysterisch oder ängstlich, bloß vernünftig. Der Eßtisch gemahnte jetzt an eine dieser Wasseroberflächen, unter denen ein paar bissige Fische zu vermuten waren. Wie bissig? Das war die Frage.
Keine Frage hingegen war, daß, wenn Violas Aufgabe darin bestand, trotz ihres Berufs famose Abendmahlzeiten zuzubereiten, und Mia unaufgeregt die Pflicht erfüllte, stets die beste Schülerin zu sein, es eindeutig Georg zukam, unter den Tisch zu kriechen und nachzusehen, wie bissig dieser Fisch war.
Oder diese Bombe.
Nicht, daß dies dem männlichen Wesen grundsätzlich entsprach. Doch es war verflixt. Aus eigener Schuld und Ohnmacht hatte der Mann - meistens schlecht im Kochen und schlecht in der Schule - genau in dieser Funktion seinen traurigen Kulminationspunkt gefunden: im Nachsehen, ob ein Gegenstand eine Bombe war oder nicht. Das ganze Leben der Männer spielte sich in dieser Kategorie ab. Ständig krochen sie unter Tische, um sich einen Überblick zu verschaffen. Nicht wenige flogen dabei in die Luft. Und wenn nicht heute, dann morgen. Und wenn nicht auf die eine Art, dann auf die andere. Anstatt endlich damit aufzuhören, sich diese Unter-den-Tisch-Kriecherei als etwas Edles zu denken, als Ausdruck von Macht und Politik und Intelligenz. Was ja ein Witz ist. Selbst Weltkriege finden noch unter dem Tisch statt, wo jedermann auf allen vieren und mit geducktem Kopf durch die Gegend kriecht. Wen, um Himmels willen, meinen die Männer damit zu beeindrucken? Gott? Ihre Frauen? Ihre Mütter? Irgend jemand, der ebenfalls unter dem Tisch hockt?
Aber auch Georg hielt sich an das Muster, biß die Zähne zusammen, unterdrückte das Brennen in seinen Fingern und ging in die Knie. Er schob die Tischdecke wie einen Vorhang zur Seite und kroch in das Dunkel hinein.
Er erkannte ihn gleich, den geworfenen Gegenstand, welcher tatsächlich kreisrund schien, wobei drei Viertel des Körpers im Schatten lagen und nur ein sichelartiger Ausschnitt feurig aufleuchtete. Man hätte meinen können, ein kleiner roter Mond ziehe hier seine Bahn. Um das Tischbein herum wie um eine kosmische Säule.
Georg schluckte und griff nach dem Stück Mond. Er zog ihn aus dem Schatten, holte ihn ins Licht der Zimmerbeleuchtung und konstatierte nun, worum es sich handelte: um einen Apfel.
Beinahe war er enttäuscht. Diese ganze Aufregung für ein Stück Obst.
"Was soll das?" fragte Georg laut. "Was tun diese Kids? Äpfel klauen und damit Krieg spielen."
Er schüttelte den Kopf, deponierte das Wurfgeschoß auf der Spüle und bemerkte nebenbei, sich mit Äpfeln nicht auszukennen. Etwa mit den einzelnen Sorten.
Anders seine Tochter. Sie erwähnte einen englischen Namen, den Georg aber nicht richtig verstand. Egal. Es war ihm gleichgültig, wie dieses blutrote Ding hieß.
Blutrot?
Nicht wirklich blutrot, wie man das von eigenen Schnittwunden kannte, sondern eher dieses Rot, das einem der Anblick erschlagener Stechmücken bot. Was ja immer ein wenig grausig war, eigenes Blut zu betrachten, das durch einen fremden Körper gegangen war. In gewisser Hinsicht erschlägt man sich selbst.
Ein solches Rot, ein Rot von quasi selbst erschlagenem eigenem Blut, besaß diese Frucht, die im übrigen wie ein ganz normaler Apfel aussah. Wie auch sonst?
Und genau darum hielt sich die Aufregung in Grenzen. Georg kehrte die Scherben auf und ließ an der betroffenen Stelle den Rolladen herunter. Viola richtete die Nachspeise, glücklicherweise nichts mit Obst. Mia räumte die Teller ab und füllte Wein in die Gläser ihrer Eltern. Der Apfel aber blieb, wo er war. Erst später, als Mia und ihr Vater bereits vor dem Fernseher saßen, fiel Violas Blick wieder auf das Corpus delicti. Auch Viola Stransky hatte so ihre Assoziationen. Nichts mit Blut. Viola war keine von denen, die ständig an Blut dachten. Eher dachte sie an Kuchen und daß man den Apfel, wenn schon nicht roh essen, so zumindest in irgendeine Süßspeise hätte einarbeiten können. Andererseits war nicht auszuschließen, daß in der Frucht ein Glassplitter steckte, obgleich die Oberfläche völlig unbeschadet schien. Wie auch immer, es gehörte sich nicht, ein durch eine Scheibe geflogenes Obststück einem Nachtisch beizufügen. Das hätte schon sehr auf eine verrückte Art von Sparsamkeit verwiesen. Und so sehr eine solche Verrücktheit in Viola Stransky auch nistete, war dies etwas, was sie hinter sich zu haben glaubte. Und darum nahm sie den Apfel und warf ihn in den Eimer.
"Gar kein Problem", sagte sie in einem bemüht vergnüglichen Ton, obwohl das der erste Apfel ihres Lebens war, den sie so vollständig in den Müll befördert hatte. Als werfe man ein Rotkehlchen einfach ins Klo. Eigentlich schrecklich.
Viola Stransky verbat sich, weiter darüber nachzudenken, legte die beiden Geschirrtücher sehr ordentlich zum Trocknen auf und wechselte hinüber ins Wohnzimmer, wo sie sich zwischen ihren Mann und ihr Kind niederließ. In den Fernsehnachrichten war gerade von einer wirtschaftspolitischen Entscheidung die Rede, die aber Viola vollkommen gleichgültig ließ, obgleich sie als Geschäftsfrau in der idealsten Weise davon betroffen war. Sie konnte nicht anders. Sie mußte an den Apfel denken und wie deprimierend es war, daß er nutzlos - allein auf den Schaden reduziert, den er verursacht hatte - in einer Biotonne zu vergammeln begann.
Georg Stransky hingegen fragte sich, ob man nicht die Polizei hätte rufen sollen. Andererseits wäre er sich lächerlich vorgekommen. Ein Apfel! Auch fürchtete er, daß beim Anblick der hübschen Mia die Polizisten sich dazu verstiegen hätten, die hilflose Brautwerbung eines Verehrers anzunehmen. Obstwurf statt Minnegesang. Oder was Polizeimenschen so einfiel, wenn sie kompliziert dachten. Und daß sie das taten, nämlich kompliziert denken, war ja allgemein bekannt.
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Autoren-Porträt von Heinrich Steinfest
Heinrich Steinfest, geb. 1961. Albury, Wien, Stuttgart das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Kriminalautors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, erhielt den Stuttgarter Krimipreis 2009 und den Heimito-von-Doderer-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinrich Steinfest
- 2007, 352 Seiten, Maße: 12,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492271375
- ISBN-13: 9783492271370
Rezension zu „Die feine Nase der Lilli Steinbeck “
»Heinrich Steinfest unterhält nicht nur, er öffnet einem buchstäblich die Augen für - ein großes Wort - den Reichtum und die Vielfalt der Schöpfung.« Denis Scheck in der ARD
Kommentar zu "Die feine Nase der Lilli Steinbeck"
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