Die Frau, die nie fror
Roman
Ihr russischer Vater hält sie für zu weich. Die Navy nennt sie mutig. Die meisten Männer finden sie attraktiv. Für die Leute in Boston ist sie eine Heldin, für die Wissenschaft ein Phänomen. Ihrer besten Freundin Thomasina ist sie zu ehrlich. Ihr Patensohn...
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Produktinformationen zu „Die Frau, die nie fror “
Klappentext zu „Die Frau, die nie fror “
Ihr russischer Vater hält sie für zu weich. Die Navy nennt sie mutig. Die meisten Männer finden sie attraktiv. Für die Leute in Boston ist sie eine Heldin, für die Wissenschaft ein Phänomen. Ihrer besten Freundin Thomasina ist sie zu ehrlich. Ihr Patensohn Noah möchte am liebsten immer bei ihr sein. Zeit für Pirio Kasparov herauszufinden, wer sie wirklich ist.Pirio Kasparov fährt aus einem Alptraum hoch. Wieder schwimmt sie weit draußen vor der Küste Maines im Wasser. Wieder ist es kalt und dunkel. Wieder überlebt sie, und ihr Freund Ned wird nicht gefunden. Auch von seinem Fischerboot fehlt jede Spur. Und dann spürt sie wieder die Hand seines kleinen Sohnes Noah in ihrer, der nicht weint, weil er stark sein will. Pirio schwört sich herauszufinden, wer das getan hat. Wer hat den Frachter auf Kollisionskurs mit ihnen gebracht? Wer war der rätselhafte Mann auf Neds Beerdigung? Sie wird ihn finden. Für Noah. Für sich. Doch eine Frage beunruhigt sie: Warum? Wer war Ned wirklich? UndPirio folgt Neds Gegnern von Sibirien über Nordkanada bis in die Baffin Bay in Alaska.
Lese-Probe zu „Die Frau, die nie fror “
Die Frau, die nie fror von Elisabth EloAus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
KAPITEL 1
Er war ein Verlierer«, lallt Thomasina mit hängendem Kopf. »Aber ein guter Verlierer.« Die Flasche Stolichnaya hat sie in eine unangenehme, aber auch versöhnliche Stimmung versetzt. Ich könnte jetzt selbst ein paar Kurze vertragen, um meine Trauer und die Schuldgefühle zu betäuben, dass ich überlebt habe. Aber einer muss nüchtern bleiben, für Noah.
Thomasina grapscht nach etwas, das sie in der Luft sieht - vielleicht nichts, ein halluzinierter Funken, ein Staubkorn -, und ihre Stimme wird tonlos und matt. »Ich habe ihn nie geliebt. Ich wollte nur Sperma.« Sie schiebt die Flasche halb über den Küchentisch und legt den Kopf auf die verschränkten Arme. Ihre Schultern heben und senken sich ein paarmal. Trauer? Übelkeit? In ihrem Zustand könnte es beides sein, oder auch nur ein gleichgültiger Schluckauf. Doch als sie das Gesicht hebt, ist es verheult. »Aber ein bisschen muss ich ihn geliebt haben, denn im Moment fühle ich mich übelst beschissen.« Noah steckt den Kopf um die Ecke. Er hat weder das schwere, kantige Aussehen von Ned noch Thomasinas eindringliche Bilderbuch- Schönheit aus jüngeren Jahren. Er ist klein, dünn, blass. Mit den dunklen Augenringen wirkt er fast wie ein Mönch. Er redet nicht viel, hat keine Freunde. Vielleicht kommen wir deshalb so gut miteinander aus.
»Noah, Baby. Mama macht dir jetzt was zu essen.« Thomasina steht unsicher auf und schwankt zum Kühlschrank. Als sie die Tür öffnet, sehen Noah und ich hinein. Gatorade Limone, eine halbe Tomate, schimmelige Hamburger-Brötchen. »Möchtest du ein Tomaten-Sandwich, mein Baby?«
... mehr
»Nein, danke«, sagt Noah. Er ist schon immer höflich gewesen. Er schlendert zurück ins Wohnzimmer, um sich wieder in die knifflige Aufgabe zu vertiefen, mit der er eben beschäftigt war. Ich habe ihn schon ganze futuristische Städte aus Zungenspateln, Eisstielen und Zahnstochern bauen sehen.
Thomasina schwankt immer weiter ausholend, dann beginnen sich ihre Augen zu verdrehen, die Lider flattern und schließen sich. Sie gleitet am Kühlschrank hinunter und bricht auf dem Boden zusammen. Ich hebe einen ihrer Arme um meinen Hals, ziehe sie hoch und schleife sie über das abgewetzte Linoleum in das feuchtkalte Schlafzimmer im hinteren Teil der Wohnung. Der Boden ist zugemüllt mit Klamotten und Schuhen. Ich erkenne die Cowboystiefel aus Echsenleder, die sie abends zum Ausgehen anzieht. Ich lasse Thomasina auf das breite Doppelbett fallen und schiebe ihre Beine auf die Matratze.
Der Sturz bringt sie wieder zu Bewusstsein. »Du musst ihm erklären, wie's passiert ist, Pirio«, murmelt sie. »Er vertraut dir. Er liebt dich. Und keiner weiß besser, was er sagen soll, als du - du bist ja dabei gewesen.« Sie dreht den Kopf zur geschlossenen Jalousie. »Weißt du noch, damals, als wir zwei kleine Mädchen waren, um die sich keiner gekümmert hat?«, fragt sie trübsinnig. »Da haben wir uns eben selbst um uns gekümmert. Es war super, aber wir waren so traurig. Waren wir doch, oder, Pirio?«
»Wir sind klargekommen«, sage ich energisch und versuche, sie von dem Kaninchenbau alter Qualen wegzulotsen.
»Ist es zu fassen, Pirio? Ich glaub's einfach nicht. Ned tot.
Hey, das hat beides drei Buchstaben! Jetzt hat Noah keinen Vater mehr. Mein Baby ist Halbwaise. Der arme kleine Junge.«
Ich sage nichts. Ich kann's auch nicht fassen. Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu machen. Ich frage mich immer wieder, was ich hätte tun können, finde aber keine Antwort. Niemand hätte ihn retten können. Abgesehen von den Feiglingen auf dem Schiff.
»Willst du wissen, von wem ich letzte Nacht geträumt hab?«, fragt Thomasina sinnierend. Manchmal bin ich eifersüchtig darauf, wie die Sauferei ihrer Phantasie erlaubt, durch wirklich jede Gasse und Seitenstraße zu irren, die sie erspäht. »Vom größten Arschloch aller Zeiten. Du weißt, wen ich meine. Du und ich, wir sind wie zwei Eier, ein Ei wie das andere. Egal. Hast du Eier?« Sie legt zwei Finger auf die Lippen, zensiert sich selbst. »Ups. So hab ich's nicht gemeint.« Die Hand plumpst von ihrem Mund, und die Lider beginnen wieder wie verrückt zu flattern. »Rate, Pirio. Ich wette, du kommst auf Anhieb drauf. Das größte Arschloch aller Zeiten war ... Es war ...« Ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Es war ...« Ihre Augen schließen sich.
»Es war Dickhead Bates«, sage ich leise.
Ich schiebe ihr einige Kissen unter Kopf und Schultern, um sie höher zu lagern, damit sie nicht erstickt, falls sie sich erbricht, und decke sie zu. Ich nehme mir einen Moment, um mich zu sammeln, gehe dann ins Wohnzimmer.
Noah schaut von seinem Projekt auf. »Wie geht's meiner Mom?«
»Sie schläft.«
Er nickt. Mit seiner geringen Lebenserfahrung hat er keine Vorstellung davon, wie sehr er sich sorgen sollte. Er weiß, dass seine Mutter sich große Mühe gibt, nicht so viel zu trinken. Manchmal kommt er abends in meine Wohnung, damit sie zu Treffen gehen kann. Dann geht sie tagelang überhaupt nicht vor die Tür. Er ist es gewöhnt, dass sie sich zu den absurdesten Zeiten hinlegt.
Mir zieht ein Hauch Indol und Harnsäure in die Nase. Übersetzt: Scheiße und Pisse. Auf dem Tisch in der Ecke steht ein kleiner Plastikkäfig. Ich schiebe die Abdeckung zurück, greife hinein, lege meine Hand um ein zitterndes kleines Bündel, das sich in einem Haufen Sägemehl versteckt, und setze den Hamster in Noahs hohle Hände. Er fängt an, leise auf ihn einzureden, und reibt seine Wange am Fell des Nagers. Hi, Jerry. Geht's dir gut, Jerry? Ich brauche ein Weilchen, um den Käfig sauber zu machen. Als Jerry von Noah wieder hineingesetzt wird, macht er sich ganz rund und wühlt sich in das frische Sägemehl, das verwirrenderweise nach süßen Pinien und beißendem Ammoniak riecht. Ich versuche mir vorzustellen, wie die billigen chemischen Zusatzstoffe auf seine winzigen Riechorgane wirken, und gelange zu dem Schluss, dass ihm der Geruch seiner eigenen Fäkalien wahrscheinlich lieber war. Ich bin überhaupt kein Freund der Idee, Tiere in Käfigen zu halten. Wäre er nicht Noahs Haustier, hätte ich ihn längst freigelassen.
»Komm, Noah, ich lad dich auf einen Hamburger ein«, sage ich. .
Thomasina und ich sind zusammen aufs Internat gegangen. Ich war von der siebten Klasse an auf der Gaston School: Es war eine der wenigen Schulen, die mein Vater Milosa gefunden hatte, wohin man so früh Kinder abschieben konnte. Sie lag in Boothbay, Maine, aber es fühlte sich an wie Tomsk, Sibirien; der Ort, von dem mir erzählt wurde, dass die russische Regierung um 1944 herum dort meine Großeltern mütterlicherseits aus den Augen verloren hatte. Meine Mutter starb, als ich zehn war, so alt wie Noah jetzt. Sowieso nie ein Engel, wurde ich zunehmend trotziger und verschlossener. Ich hörte einfach auf, die neugierigen Fragen der Erwachsenen zu beantworten und ihre hysterischen Warnungen zu befolgen. Zahlreiche von Milosas Freundinnen versuchten herauszufinden, was mit mir los sei, doch irgendwann gaben sie alle auf. Dann heiratete er wieder, und meine Stiefmutter Maureen verschwendete keine Zeit, sondern erklärte mich direkt und endgültig zu einem echten Problemkind. Zum Beweis, dass sie richtiglag, hatte sie stapelweise Bücher und brachte einen Doktor im Kinderkrankenhaus dazu, ihr zuzustimmen. Ein Internat mit viel »Struktur« sei genau das Richtige. Genau genommen war Rektor Richard (Dickhead) Bates nicht einmal annähernd das größte Arschloch an der Gaston School. Es gab noch viel sadistischere als ihn.
Thomasina kam in der neunten Klasse nach Gaston, das Abfallprodukt einer bitteren Scheidung, nach der keiner der beiden Eltern das Sorgerecht wollte. Sie war magersüchtig dünn, tief gebräunt von einer Reise mit ihrer Mutter auf die Azoren, geschmückt mit silbernen Kreolen und Armreifen bis hoch zum linken Ellbogen. Und da sie immer noch Zahnspangen auf ihren großen, eckigen Zähnen trug, oben und unten, wirkte sie wie ein kleines braunes verhungerndes Tier, gefangen in einem Metallkäfig. Ihre Augen sahen ständig feucht aus, als könnten sie je derzeit überschwappen, was allerdings nie geschah. Sie war viel zu skeptisch - und das dauerhaft -, um über irgendetwas eine Träne zu vergießen.
Wir taxierten uns, erkannten uns als das, was wir waren, und akzeptierten, wovon wir annahmen, es sei unser düsteres Schicksal. Wir schwänzten; tranken Boone's Farm, Budweiser und Lancer Rosé; kletterten über die hohe Steinmauer, von der die achtzehn Morgen Schulgelände umgeben waren, und sprangen auf den geteerten Randstreifen der Route 27; fuhren per Anhalter in die Stadt. Wo immer wir hinkamen, bewiesen wir große Meisterschaft darin, so viele Leute anzupissen wie möglich. Nach zwei Jahren Entfremdung durch Abschottung tat es gut, jemanden zu haben, mit dem man sich gemeinsam Ärger einhandeln konnte.
Nach dem Schulabschluss kehrte ich nach Boston zurück, und Thomasina begleitete mich. Wir mieteten uns Wohnungen nur ein paar Blocks voneinander entfernt in Brookline, einer überwiegend noblen, stellenweise heruntergekommenen, urbanen Gegend, und lebten jeder sein Leben. Ich begann in unserem Familienunternehmen zu arbeiten, einer Parfümfirma, benannt nach meiner Mutter, Inessa Mark. Thomasinas Eltern - einer von ihnen in Frankreich, der andere an der Westküste - hatten haufenweise Geld und ein unendlich schlechtes Gewissen, was unter dem Strich bedeutete, sie musste nie arbeiten.
In der ersten Zeit feierten Thomasina und ich ohne Sinn und Verstand. Die schickeren Bars langweilten uns bald; all diese Typen in ihren Brooks-Brothers-Anzügen nahmen sich selbst viel zu ernst. Wir tendierten immer mehr zu den schäbigeren Spelunken, besonders unten in der Hafengegend. Fischer und Hafenarbeiter klebten uns buchstäblich an den Fersen. Wir genossen die Macht, die wir hatten, und schmeichelten uns selbst damit, überall wo wir hinkamen, Herzen zu brechen.
Dann lernte Thomasina Ned kennen, und die beiden zogen sich aus der Barszene zurück, um in ihrem vermeintlichen Liebesnest zu kuscheln. Ich soff und flirtete noch eine Weile weiter, bis ich die lahmen Anmachsprüche der rülpsenden Idioten nicht mehr hören konnte, und schrieb mich an der UMass Boston ein, um Russisch und russische Literatur zu studieren. Ich vermute, es war so eine Art Suche nach den eigenen Wurzeln - mein Versuch, das russische Wesen zu verstehen und zu meiner russischen Vergangenheit eine Beziehung aufzubauen. Es hat nicht funktioniert. Ich war nicht sicher, wonach ich wirklich suchte, und so war's auch keine große Überraschung, als ich es nicht fand. Aber ich lernte, einigermaßen gut Russisch zu sprechen, auch wenn ich dazu bislang nicht viel Veranlassung hatte.
Es erstaunte mich nicht wirklich, als Thomasinas und Neds Beziehung zerbröselte. Er war Sohn irisch-italienischstämmiger Arbeiter aus South Boston, sie eine brillante, privilegierte und faule Bilderstürmerin. Anfangs schienen sie das alles locker zu überwinden. Sie strahlten sich an wie zwei Engel, in denen Megawattbirnen brannten. Diese Phase hielt, wie ich verwundert feststellte, fast drei Monate. Dann muss er wohl gedacht haben, zumindest von seiner Seite wäre nun alles Wesentliche gesagt, und fing an, nur noch ausdruckslos zu glotzen und sich unpassend am Sack zu kratzen. Woraufhin sie die volle Wucht ihres unterforderten Intellekts mit demütigenden Bemerkungen demonstrierte, die so brillant satirisch waren, dass er sie nicht mal verstand. Der Alkohol führte die zwei an den Rand von Gewalttätigkeiten - ruinierte Abendessen, zerschlagene Teller und Nachbarn, die aus dem Fenster brüllten, sie sollten die Schnauze halten. Sie konnte ihm seine Schlichtheit einfach nicht verzeihen. Als Noah zur Welt kam, waren die beiden längst getrennt.
Sie hatten nie geheiratet, und Neds Eltern sowie seine Schwester weigerten sich anzuerkennen, dass Noah überhaupt mit ihnen verwandt war. Sie zogen die Version vor, Thomasina hätte Ned bezirzt, für die Brut eines anderen Kerls herzuhalten. Um ehrlich zu sein, habe ich Neds Vaterschaft auch in Frage gestellt und weiß, dass Ned von Zeit zu Zeit verdutzt war, ein so geniales Kind gezeugt zu haben, das weder ihm noch irgendwem sonst, den er kannte, ähnlich war.Aber Ned war immer ein guter Vater, zumindest so gut, wie jemand es unter diesen Umständen sein kann. Er bestand darauf, Unterhalt zu zahlen, obwohl kein Gericht es verlangt hatte und Thomasina nicht darauf angewiesen war. Er kaufte Tickets für die Bruins, Red Sox und Patriots. Winter, Sommer, Herbst - Ned und Noah machten immer ihre Ausflüge. Er holte Noah jedes zweite Wochenende ab - Mittag essen und ein Besuch im Park oder der Bibliothek, abhängig vom Wetter. Wenn Thomasina darum bat, holte er ihn sogar von der Schule ab. Manchmal erlaubte Thomasina Ned, über Nacht zu bleiben, und wenn er es tat, schien er dankbar dafür zu sein. Ich stelle mir vor, wie er versuchte, seine Southie-Manieren zurückzufahren und nicht zu blöd rüberzukommen. Für etwas Zärtlichkeit tun die Menschen so ziemlich alles.
Doch obwohl Ned seinen Anteil übernahm, war Thomasina als alleinerziehende Mutter überfordert. Ihre Eltern, die schon keine Zeit für ihre einzige Tochter hatten, waren noch viel weniger an ihrem Enkelkind interessiert, und auch in die Schulpflegschaft passte sie nicht so recht. Doch nichts davon erklärt, warum sich eine ziemlich normale Form der zugegebenermaßen recht hässlichen, aber dennoch relativ überschaubaren Ausschweifungen im letzten Jahr in eine heftige und erbärmliche Alkoholabhängigkeit verwandelt hat.
Sie weiß, sie steckt in Schwierigkeiten. Sie hat alles versucht. Nicht nur die Anonymen Alkoholiker, sondern auch Rational Recovery, Tarotkarten, das Enneagramm, Therapien, Heilquellen, Meditation, die Beichte, den Blinden vorzulesen und nur noch Wein zu trinken. Nichts half. Mal hat sie ein paar nüchterne Tage, mal erfreut sie sich ein bis zwei Wochen eines klaren Kopfes, aber letzten Endes schließt sich ihre zitternde Hand dann doch wieder um den Hals einer Flasche. Wenn man Thomasina heute so ansieht, würde man nie darauf kommen, wie sie damals war - dass sie mit sechzehn innerhalb weniger Monate fehlerfrei Französisch gelernt hat, jede Rolle in Shakespeare kannte und Lincolns Gettysburg Address fast komplett rückwärts aufsagen konnte, wobei sie am Schluss in schallendes Gelächter ausbrach. Aber man hat wahrscheinlich kein Problem, sich vorzustellen, dass es sich bei den Beulen in ihrer Handtasche um kleine Flaschen Flugzeug-Gin handelt.
Man steht hilflos daneben; man hat wirklich Angst um sie. Man nimmt eine innere Verzweiflung wahr, etwas, das viel düsterer ist, als man dachte. Am liebsten würde ich mich von Thomasinas unaufhaltsamer, zunehmender Selbstzerstörung abwenden. Doch dann denke ich an Noah und greife nach dem Telefon. Höre mich sagen: Wie geht es dir? Wie geht's Noah? Was gibt's Neues?
Ich bin Noahs Patentante. Im Ernst. Das ist so ein katholisches Ding. Als er zwei Monate alt war, stand ich neben Thomasina und Ned vor dem Seitenaltar einer großen Kirche, Noah auf dem Arm. Das Taufbecken war aus kaltem, weißem Marmor. Ein Priester klebte an meiner Seite, dessen Ornat intensiv nach verrottendem, mittelalterlichem, von einer Heißmangel geglättetem Leder roch. Er stellte mir eine Frage: Schwörst du dem Satan ab und allen seinen Werken? Ich blinzelte verdattert. Satan? Aber Ned und Thomasina sahen zu, und ich hielt Noah in den Armen, also dachte ich ernsthaft darüber nach und antwortete: »Falls ich ihn jemals treffen sollte, werde ich wissen, was zu tun ist.«
Diese Antwort muss wohl gut genug gewesen sein, denn der Priester gab mir das Zeichen, Noah über das Becken zu halten. Er hielt den Becher in seiner Hand schräg, und Wasser floss über Noahs Stirn ins Marmorbecken. Noah verzog sein knitteriges Gesicht, aber weinte nur ein bisschen. Schon als Baby hatte er seine Gefühle im Griff, als wüsste er, dass in der Welt für sie nicht viel Platz sein würde. Zu meiner Überraschung hatte ich Tränen in den Augen. Ich wollte ihm meinen ganzen Patentanten-Segen zuteilwerden lassen, musste ihm aber nur einen Kuss geben. Ich sah, wie Thomasina und Ned sich die Hände drückten. Wir sahen uns mit einer gewissen schüchternen Nacktheit an, wohl wissend, dass wir über einen perfekten Augenblick in unserem Leben gestolpert waren. Ein Moment so flüchtig wie alle anderen, und schon wieder vorbei.
Jetzt, bei Taffy's, einem Restaurant an der Ecke, hat Noah einen Hamburger mit Fritten vor sich und strafft seine Schultern. Er nimmt das Brötchen in die Hand, hebt es zum Mund und beißt einen riesigen Happen ab. Er kaut wie ein Löwe, schlingt es herunter. Als ich ihn gefragt habe, hat er zugegeben, hungrig zu sein. Möglicherweise ist er sogar ausgehungert.
Es ist jetzt drei Tage her, dass sein Vater ertrunken ist. Ich habe keine Ahnung, wie viel er über den Unfall weiß. Die Geschichte war in den Nachrichten, und das schon ausführlicher als in einer bloßen Randnotiz. Ein Foto von Ned, das Gesicht eines ganz normalen Typen, es schwebt in einem kleinen Kasten neben dem perfekten Titelbild-Gesicht der Nachrichtensprecherin und wird dann größer, um den ganzen Bildschirm auszufüllen. Als sein Gesicht in dem Kasten war, sah er aus wie ein netter junger Mann, den man von der Highschool kennt und der vergessen hat, sich die Haare zu kämmen. Über den ganzen Bildschirm aufgebläht, konnte man die braunen Verfärbungen seiner Haut sehen, die jahrelang den Elementen ausgesetzt war. Seine teegrünen Augen wirkten blutunterlaufen, skeptisch, möglicherweise verlogen. Oder vielleicht sah er nur so aus, weil in den Nachrichten jeder dazu neigt, wie ein Krimineller auszusehen. Auf jeden Fall hätte es sich für Noah vollkommen falsch angefühlt, das Bild seines verstorbenen Vaters im Fernsehen zu sehen.
»Möchtest du wissen, wie es passiert ist, Noah?«
Copyright © Ullstein Verlag
»Nein, danke«, sagt Noah. Er ist schon immer höflich gewesen. Er schlendert zurück ins Wohnzimmer, um sich wieder in die knifflige Aufgabe zu vertiefen, mit der er eben beschäftigt war. Ich habe ihn schon ganze futuristische Städte aus Zungenspateln, Eisstielen und Zahnstochern bauen sehen.
Thomasina schwankt immer weiter ausholend, dann beginnen sich ihre Augen zu verdrehen, die Lider flattern und schließen sich. Sie gleitet am Kühlschrank hinunter und bricht auf dem Boden zusammen. Ich hebe einen ihrer Arme um meinen Hals, ziehe sie hoch und schleife sie über das abgewetzte Linoleum in das feuchtkalte Schlafzimmer im hinteren Teil der Wohnung. Der Boden ist zugemüllt mit Klamotten und Schuhen. Ich erkenne die Cowboystiefel aus Echsenleder, die sie abends zum Ausgehen anzieht. Ich lasse Thomasina auf das breite Doppelbett fallen und schiebe ihre Beine auf die Matratze.
Der Sturz bringt sie wieder zu Bewusstsein. »Du musst ihm erklären, wie's passiert ist, Pirio«, murmelt sie. »Er vertraut dir. Er liebt dich. Und keiner weiß besser, was er sagen soll, als du - du bist ja dabei gewesen.« Sie dreht den Kopf zur geschlossenen Jalousie. »Weißt du noch, damals, als wir zwei kleine Mädchen waren, um die sich keiner gekümmert hat?«, fragt sie trübsinnig. »Da haben wir uns eben selbst um uns gekümmert. Es war super, aber wir waren so traurig. Waren wir doch, oder, Pirio?«
»Wir sind klargekommen«, sage ich energisch und versuche, sie von dem Kaninchenbau alter Qualen wegzulotsen.
»Ist es zu fassen, Pirio? Ich glaub's einfach nicht. Ned tot.
Hey, das hat beides drei Buchstaben! Jetzt hat Noah keinen Vater mehr. Mein Baby ist Halbwaise. Der arme kleine Junge.«
Ich sage nichts. Ich kann's auch nicht fassen. Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu machen. Ich frage mich immer wieder, was ich hätte tun können, finde aber keine Antwort. Niemand hätte ihn retten können. Abgesehen von den Feiglingen auf dem Schiff.
»Willst du wissen, von wem ich letzte Nacht geträumt hab?«, fragt Thomasina sinnierend. Manchmal bin ich eifersüchtig darauf, wie die Sauferei ihrer Phantasie erlaubt, durch wirklich jede Gasse und Seitenstraße zu irren, die sie erspäht. »Vom größten Arschloch aller Zeiten. Du weißt, wen ich meine. Du und ich, wir sind wie zwei Eier, ein Ei wie das andere. Egal. Hast du Eier?« Sie legt zwei Finger auf die Lippen, zensiert sich selbst. »Ups. So hab ich's nicht gemeint.« Die Hand plumpst von ihrem Mund, und die Lider beginnen wieder wie verrückt zu flattern. »Rate, Pirio. Ich wette, du kommst auf Anhieb drauf. Das größte Arschloch aller Zeiten war ... Es war ...« Ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Es war ...« Ihre Augen schließen sich.
»Es war Dickhead Bates«, sage ich leise.
Ich schiebe ihr einige Kissen unter Kopf und Schultern, um sie höher zu lagern, damit sie nicht erstickt, falls sie sich erbricht, und decke sie zu. Ich nehme mir einen Moment, um mich zu sammeln, gehe dann ins Wohnzimmer.
Noah schaut von seinem Projekt auf. »Wie geht's meiner Mom?«
»Sie schläft.«
Er nickt. Mit seiner geringen Lebenserfahrung hat er keine Vorstellung davon, wie sehr er sich sorgen sollte. Er weiß, dass seine Mutter sich große Mühe gibt, nicht so viel zu trinken. Manchmal kommt er abends in meine Wohnung, damit sie zu Treffen gehen kann. Dann geht sie tagelang überhaupt nicht vor die Tür. Er ist es gewöhnt, dass sie sich zu den absurdesten Zeiten hinlegt.
Mir zieht ein Hauch Indol und Harnsäure in die Nase. Übersetzt: Scheiße und Pisse. Auf dem Tisch in der Ecke steht ein kleiner Plastikkäfig. Ich schiebe die Abdeckung zurück, greife hinein, lege meine Hand um ein zitterndes kleines Bündel, das sich in einem Haufen Sägemehl versteckt, und setze den Hamster in Noahs hohle Hände. Er fängt an, leise auf ihn einzureden, und reibt seine Wange am Fell des Nagers. Hi, Jerry. Geht's dir gut, Jerry? Ich brauche ein Weilchen, um den Käfig sauber zu machen. Als Jerry von Noah wieder hineingesetzt wird, macht er sich ganz rund und wühlt sich in das frische Sägemehl, das verwirrenderweise nach süßen Pinien und beißendem Ammoniak riecht. Ich versuche mir vorzustellen, wie die billigen chemischen Zusatzstoffe auf seine winzigen Riechorgane wirken, und gelange zu dem Schluss, dass ihm der Geruch seiner eigenen Fäkalien wahrscheinlich lieber war. Ich bin überhaupt kein Freund der Idee, Tiere in Käfigen zu halten. Wäre er nicht Noahs Haustier, hätte ich ihn längst freigelassen.
»Komm, Noah, ich lad dich auf einen Hamburger ein«, sage ich. .
Thomasina und ich sind zusammen aufs Internat gegangen. Ich war von der siebten Klasse an auf der Gaston School: Es war eine der wenigen Schulen, die mein Vater Milosa gefunden hatte, wohin man so früh Kinder abschieben konnte. Sie lag in Boothbay, Maine, aber es fühlte sich an wie Tomsk, Sibirien; der Ort, von dem mir erzählt wurde, dass die russische Regierung um 1944 herum dort meine Großeltern mütterlicherseits aus den Augen verloren hatte. Meine Mutter starb, als ich zehn war, so alt wie Noah jetzt. Sowieso nie ein Engel, wurde ich zunehmend trotziger und verschlossener. Ich hörte einfach auf, die neugierigen Fragen der Erwachsenen zu beantworten und ihre hysterischen Warnungen zu befolgen. Zahlreiche von Milosas Freundinnen versuchten herauszufinden, was mit mir los sei, doch irgendwann gaben sie alle auf. Dann heiratete er wieder, und meine Stiefmutter Maureen verschwendete keine Zeit, sondern erklärte mich direkt und endgültig zu einem echten Problemkind. Zum Beweis, dass sie richtiglag, hatte sie stapelweise Bücher und brachte einen Doktor im Kinderkrankenhaus dazu, ihr zuzustimmen. Ein Internat mit viel »Struktur« sei genau das Richtige. Genau genommen war Rektor Richard (Dickhead) Bates nicht einmal annähernd das größte Arschloch an der Gaston School. Es gab noch viel sadistischere als ihn.
Thomasina kam in der neunten Klasse nach Gaston, das Abfallprodukt einer bitteren Scheidung, nach der keiner der beiden Eltern das Sorgerecht wollte. Sie war magersüchtig dünn, tief gebräunt von einer Reise mit ihrer Mutter auf die Azoren, geschmückt mit silbernen Kreolen und Armreifen bis hoch zum linken Ellbogen. Und da sie immer noch Zahnspangen auf ihren großen, eckigen Zähnen trug, oben und unten, wirkte sie wie ein kleines braunes verhungerndes Tier, gefangen in einem Metallkäfig. Ihre Augen sahen ständig feucht aus, als könnten sie je derzeit überschwappen, was allerdings nie geschah. Sie war viel zu skeptisch - und das dauerhaft -, um über irgendetwas eine Träne zu vergießen.
Wir taxierten uns, erkannten uns als das, was wir waren, und akzeptierten, wovon wir annahmen, es sei unser düsteres Schicksal. Wir schwänzten; tranken Boone's Farm, Budweiser und Lancer Rosé; kletterten über die hohe Steinmauer, von der die achtzehn Morgen Schulgelände umgeben waren, und sprangen auf den geteerten Randstreifen der Route 27; fuhren per Anhalter in die Stadt. Wo immer wir hinkamen, bewiesen wir große Meisterschaft darin, so viele Leute anzupissen wie möglich. Nach zwei Jahren Entfremdung durch Abschottung tat es gut, jemanden zu haben, mit dem man sich gemeinsam Ärger einhandeln konnte.
Nach dem Schulabschluss kehrte ich nach Boston zurück, und Thomasina begleitete mich. Wir mieteten uns Wohnungen nur ein paar Blocks voneinander entfernt in Brookline, einer überwiegend noblen, stellenweise heruntergekommenen, urbanen Gegend, und lebten jeder sein Leben. Ich begann in unserem Familienunternehmen zu arbeiten, einer Parfümfirma, benannt nach meiner Mutter, Inessa Mark. Thomasinas Eltern - einer von ihnen in Frankreich, der andere an der Westküste - hatten haufenweise Geld und ein unendlich schlechtes Gewissen, was unter dem Strich bedeutete, sie musste nie arbeiten.
In der ersten Zeit feierten Thomasina und ich ohne Sinn und Verstand. Die schickeren Bars langweilten uns bald; all diese Typen in ihren Brooks-Brothers-Anzügen nahmen sich selbst viel zu ernst. Wir tendierten immer mehr zu den schäbigeren Spelunken, besonders unten in der Hafengegend. Fischer und Hafenarbeiter klebten uns buchstäblich an den Fersen. Wir genossen die Macht, die wir hatten, und schmeichelten uns selbst damit, überall wo wir hinkamen, Herzen zu brechen.
Dann lernte Thomasina Ned kennen, und die beiden zogen sich aus der Barszene zurück, um in ihrem vermeintlichen Liebesnest zu kuscheln. Ich soff und flirtete noch eine Weile weiter, bis ich die lahmen Anmachsprüche der rülpsenden Idioten nicht mehr hören konnte, und schrieb mich an der UMass Boston ein, um Russisch und russische Literatur zu studieren. Ich vermute, es war so eine Art Suche nach den eigenen Wurzeln - mein Versuch, das russische Wesen zu verstehen und zu meiner russischen Vergangenheit eine Beziehung aufzubauen. Es hat nicht funktioniert. Ich war nicht sicher, wonach ich wirklich suchte, und so war's auch keine große Überraschung, als ich es nicht fand. Aber ich lernte, einigermaßen gut Russisch zu sprechen, auch wenn ich dazu bislang nicht viel Veranlassung hatte.
Es erstaunte mich nicht wirklich, als Thomasinas und Neds Beziehung zerbröselte. Er war Sohn irisch-italienischstämmiger Arbeiter aus South Boston, sie eine brillante, privilegierte und faule Bilderstürmerin. Anfangs schienen sie das alles locker zu überwinden. Sie strahlten sich an wie zwei Engel, in denen Megawattbirnen brannten. Diese Phase hielt, wie ich verwundert feststellte, fast drei Monate. Dann muss er wohl gedacht haben, zumindest von seiner Seite wäre nun alles Wesentliche gesagt, und fing an, nur noch ausdruckslos zu glotzen und sich unpassend am Sack zu kratzen. Woraufhin sie die volle Wucht ihres unterforderten Intellekts mit demütigenden Bemerkungen demonstrierte, die so brillant satirisch waren, dass er sie nicht mal verstand. Der Alkohol führte die zwei an den Rand von Gewalttätigkeiten - ruinierte Abendessen, zerschlagene Teller und Nachbarn, die aus dem Fenster brüllten, sie sollten die Schnauze halten. Sie konnte ihm seine Schlichtheit einfach nicht verzeihen. Als Noah zur Welt kam, waren die beiden längst getrennt.
Sie hatten nie geheiratet, und Neds Eltern sowie seine Schwester weigerten sich anzuerkennen, dass Noah überhaupt mit ihnen verwandt war. Sie zogen die Version vor, Thomasina hätte Ned bezirzt, für die Brut eines anderen Kerls herzuhalten. Um ehrlich zu sein, habe ich Neds Vaterschaft auch in Frage gestellt und weiß, dass Ned von Zeit zu Zeit verdutzt war, ein so geniales Kind gezeugt zu haben, das weder ihm noch irgendwem sonst, den er kannte, ähnlich war.Aber Ned war immer ein guter Vater, zumindest so gut, wie jemand es unter diesen Umständen sein kann. Er bestand darauf, Unterhalt zu zahlen, obwohl kein Gericht es verlangt hatte und Thomasina nicht darauf angewiesen war. Er kaufte Tickets für die Bruins, Red Sox und Patriots. Winter, Sommer, Herbst - Ned und Noah machten immer ihre Ausflüge. Er holte Noah jedes zweite Wochenende ab - Mittag essen und ein Besuch im Park oder der Bibliothek, abhängig vom Wetter. Wenn Thomasina darum bat, holte er ihn sogar von der Schule ab. Manchmal erlaubte Thomasina Ned, über Nacht zu bleiben, und wenn er es tat, schien er dankbar dafür zu sein. Ich stelle mir vor, wie er versuchte, seine Southie-Manieren zurückzufahren und nicht zu blöd rüberzukommen. Für etwas Zärtlichkeit tun die Menschen so ziemlich alles.
Doch obwohl Ned seinen Anteil übernahm, war Thomasina als alleinerziehende Mutter überfordert. Ihre Eltern, die schon keine Zeit für ihre einzige Tochter hatten, waren noch viel weniger an ihrem Enkelkind interessiert, und auch in die Schulpflegschaft passte sie nicht so recht. Doch nichts davon erklärt, warum sich eine ziemlich normale Form der zugegebenermaßen recht hässlichen, aber dennoch relativ überschaubaren Ausschweifungen im letzten Jahr in eine heftige und erbärmliche Alkoholabhängigkeit verwandelt hat.
Sie weiß, sie steckt in Schwierigkeiten. Sie hat alles versucht. Nicht nur die Anonymen Alkoholiker, sondern auch Rational Recovery, Tarotkarten, das Enneagramm, Therapien, Heilquellen, Meditation, die Beichte, den Blinden vorzulesen und nur noch Wein zu trinken. Nichts half. Mal hat sie ein paar nüchterne Tage, mal erfreut sie sich ein bis zwei Wochen eines klaren Kopfes, aber letzten Endes schließt sich ihre zitternde Hand dann doch wieder um den Hals einer Flasche. Wenn man Thomasina heute so ansieht, würde man nie darauf kommen, wie sie damals war - dass sie mit sechzehn innerhalb weniger Monate fehlerfrei Französisch gelernt hat, jede Rolle in Shakespeare kannte und Lincolns Gettysburg Address fast komplett rückwärts aufsagen konnte, wobei sie am Schluss in schallendes Gelächter ausbrach. Aber man hat wahrscheinlich kein Problem, sich vorzustellen, dass es sich bei den Beulen in ihrer Handtasche um kleine Flaschen Flugzeug-Gin handelt.
Man steht hilflos daneben; man hat wirklich Angst um sie. Man nimmt eine innere Verzweiflung wahr, etwas, das viel düsterer ist, als man dachte. Am liebsten würde ich mich von Thomasinas unaufhaltsamer, zunehmender Selbstzerstörung abwenden. Doch dann denke ich an Noah und greife nach dem Telefon. Höre mich sagen: Wie geht es dir? Wie geht's Noah? Was gibt's Neues?
Ich bin Noahs Patentante. Im Ernst. Das ist so ein katholisches Ding. Als er zwei Monate alt war, stand ich neben Thomasina und Ned vor dem Seitenaltar einer großen Kirche, Noah auf dem Arm. Das Taufbecken war aus kaltem, weißem Marmor. Ein Priester klebte an meiner Seite, dessen Ornat intensiv nach verrottendem, mittelalterlichem, von einer Heißmangel geglättetem Leder roch. Er stellte mir eine Frage: Schwörst du dem Satan ab und allen seinen Werken? Ich blinzelte verdattert. Satan? Aber Ned und Thomasina sahen zu, und ich hielt Noah in den Armen, also dachte ich ernsthaft darüber nach und antwortete: »Falls ich ihn jemals treffen sollte, werde ich wissen, was zu tun ist.«
Diese Antwort muss wohl gut genug gewesen sein, denn der Priester gab mir das Zeichen, Noah über das Becken zu halten. Er hielt den Becher in seiner Hand schräg, und Wasser floss über Noahs Stirn ins Marmorbecken. Noah verzog sein knitteriges Gesicht, aber weinte nur ein bisschen. Schon als Baby hatte er seine Gefühle im Griff, als wüsste er, dass in der Welt für sie nicht viel Platz sein würde. Zu meiner Überraschung hatte ich Tränen in den Augen. Ich wollte ihm meinen ganzen Patentanten-Segen zuteilwerden lassen, musste ihm aber nur einen Kuss geben. Ich sah, wie Thomasina und Ned sich die Hände drückten. Wir sahen uns mit einer gewissen schüchternen Nacktheit an, wohl wissend, dass wir über einen perfekten Augenblick in unserem Leben gestolpert waren. Ein Moment so flüchtig wie alle anderen, und schon wieder vorbei.
Jetzt, bei Taffy's, einem Restaurant an der Ecke, hat Noah einen Hamburger mit Fritten vor sich und strafft seine Schultern. Er nimmt das Brötchen in die Hand, hebt es zum Mund und beißt einen riesigen Happen ab. Er kaut wie ein Löwe, schlingt es herunter. Als ich ihn gefragt habe, hat er zugegeben, hungrig zu sein. Möglicherweise ist er sogar ausgehungert.
Es ist jetzt drei Tage her, dass sein Vater ertrunken ist. Ich habe keine Ahnung, wie viel er über den Unfall weiß. Die Geschichte war in den Nachrichten, und das schon ausführlicher als in einer bloßen Randnotiz. Ein Foto von Ned, das Gesicht eines ganz normalen Typen, es schwebt in einem kleinen Kasten neben dem perfekten Titelbild-Gesicht der Nachrichtensprecherin und wird dann größer, um den ganzen Bildschirm auszufüllen. Als sein Gesicht in dem Kasten war, sah er aus wie ein netter junger Mann, den man von der Highschool kennt und der vergessen hat, sich die Haare zu kämmen. Über den ganzen Bildschirm aufgebläht, konnte man die braunen Verfärbungen seiner Haut sehen, die jahrelang den Elementen ausgesetzt war. Seine teegrünen Augen wirkten blutunterlaufen, skeptisch, möglicherweise verlogen. Oder vielleicht sah er nur so aus, weil in den Nachrichten jeder dazu neigt, wie ein Krimineller auszusehen. Auf jeden Fall hätte es sich für Noah vollkommen falsch angefühlt, das Bild seines verstorbenen Vaters im Fernsehen zu sehen.
»Möchtest du wissen, wie es passiert ist, Noah?«
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Autoren-Porträt von Elisabeth Elo
Elisabeth Elo, geboren 1956, unterrichtet "Kreatives Schreiben" in New England.
Autoren-Interview mit Elisabeth Elo
Gibt es eine Geschichte hinter Ihrem Roman?Elisabeth Elo: Als Leserin habe ich mir lange ein Buch gewünscht: eine kluge Abenteuergeschichte, gut geschrieben, mit ganz unterschiedlichen Settings, die von einer eigenwilligen Hauptfigur getragen wird. Eines Tages habe ich angefangen, dieses Buch selbst zu schreiben. Und meine Heldin, Pirio, war hartnäckig. Sie ist nicht die Art Hauptfigur, die man einfach so ins Regal legen und vergessen kann.
Was mögen Sie besonders an Pirio Kasparov?
Elisabeth Elo: Ihre Qualitäten als Heldin. Zu jeder Zeit und überall auf der Welt waren das immer dieselben: Mut, Hartnäckigkeit, praktische Intelligenz, Integrität, Scharfsinn, Ehrlichkeit, echtes Mitgefühl. Wir alle haben die Möglichkeit, so zu sein, doch es gelingt uns nicht immer. Wir haben Schwächen. Und ich mag Pirio übrigens wegen ihrer Schwächen genauso gern wie wegen ihrer Stärken.
Haben Sie eine besondere Beziehung zum Meer?
Elisabeth Elo: Den größten Teil meiner Kindheit bin ich hinter drei älteren Geschwistern hergelaufen, die fanatische Segler waren. Viele meiner schönsten, aber auch viele meiner haarsträubendsten Kindheitserinnerungen sind mit Booten verbunden.
Wie sind Sie auf diese Geschichte gekommen?
Elisabeth Elo: Ein Freund von mir, ein Hummerfischer, starb ganz plötzlich, er war gerade mal Anfang dreißig und hinterließ zwei kleine Zwillings-töchter, ein tragischer Tod also (wenn auch ganz anders als das, was Ned im Buch passiert). Ich habe mit Mitte zwanzig beide Eltern verloren, deshalb musste ich oft an die Mädchen denken und hätte ihnen gerne geholfen, die Lücke zu schließen, die niemand schließen kann. Diese Ereignisse spiegeln sich in Pirios Verhältnis zu ihrem Patensohn Noah und in ihrem Ringen mit dem frühen Tod ihrer Mutter und dem
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bevorstehenden Tod ihres Vaters wider.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Elisabeth Elo: Ich war gerade zwei Wochen in Yakutsk, einer Stadt mit ungefähr 200.000 Einwohnern in der autonomen Republik Sacha im Nordosten Sibiriens (Russland). Von dort aus bin ich in einen kleinen Ort namens Cherkeh gereist, jenseits des Flusses Lena, eine Fünfstunden-fahrt über holprige, wenig befahrene Straßen. Die Menschen in Sibirien waren sehr freundlich und haben mir einen kleinen Einblick in ihr Leben gewährt. Mein nächster Roman wird dort spielen - und in Boston natürlich. Seien Sie gespannt!
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Elisabeth Elo: Ich war gerade zwei Wochen in Yakutsk, einer Stadt mit ungefähr 200.000 Einwohnern in der autonomen Republik Sacha im Nordosten Sibiriens (Russland). Von dort aus bin ich in einen kleinen Ort namens Cherkeh gereist, jenseits des Flusses Lena, eine Fünfstunden-fahrt über holprige, wenig befahrene Straßen. Die Menschen in Sibirien waren sehr freundlich und haben mir einen kleinen Einblick in ihr Leben gewährt. Mein nächster Roman wird dort spielen - und in Boston natürlich. Seien Sie gespannt!
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Bibliographische Angaben
- Autor: Elisabeth Elo
- 2014, 512 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Bielfeldt, Kathrin
- Übersetzer: Jürgen Bürger, Kathrin Bielfeldt
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550080387
- ISBN-13: 9783550080388
- Erscheinungsdatum: 10.02.2014
Rezension zu „Die Frau, die nie fror “
"Pirio ist eine kratzbürstige Außenseiterin mit vielen Talenten, und man begleitet sie gern beim Rumschnüffeln.", Brigitte, Angela Wittmann, 12.02.2014
Kommentare zu "Die Frau, die nie fror"
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