Die Frau vom Checkpoint Charlie
Dresden 1982: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wird Jutta Gallus von den DDR-Behörden inhaftiert. Ihre beiden Töchter Claudia (11) und Beate (9) kommen ins Heim. Als Jutta Gallus nach zwei Jahren schließlich vom Westen freigekauft wird, beginnt sie...
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Dresden 1982: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wird Jutta Gallus von den DDR-Behörden inhaftiert. Ihre beiden Töchter Claudia (11) und Beate (9) kommen ins Heim. Als Jutta Gallus nach zwei Jahren schließlich vom Westen freigekauft wird, beginnt sie den verzweifelten Kampf um ihre Kinder. Bei Wind und Wetter steht sie mit einem Plakat am Checkpoint Charlie - "Gebt mir meine Kinder zurück!", lautet ihr öffentlicher Protest. Doch vier lange Jahre sollen vergehen, bis Jutta Gallus endlich ihre Töchter in die Arme schließen kann.
Die Frau vom Checkpoint Charlie von Ines Veith
LESEPROBE
Ich hattevon Kerstin, meiner früheren Arbeitskollegin, einen Zettel in die Hand gedrücktbekommen. »Du musst nach einem Mann namens Mircofragen«, hatte sie gesagt. »Aber erzähl bloß keinem, wer dich geschickt hat!«
Auf demZettel stand die Adresse, wo ich diesen Mirco treffenkonnte. Tagelang war ich mit dem Finger auf dem Stadtplan in Gedanken dorthingefahren. Ich hatte lange überlegt, ob ich es wagen sollte, mich einerFluchthilfeorganisation anzuvertrauen. Jetzt stand ich vor jenem Gebäude, EckePostplatz, Ernst-Thälmann-Straße, ein altes Mietshaus, dessen Fassade sobröckelig war wie meine momentane Stimmung. Ich ging über eine wuchtigeknorrige Holztreppe hoch in den ersten Stock. Ich läutete bei Basevic. Dschiiii ! Es war einhoher, schriller Klingelton. Ein junger Mann um die 25 Jahre, blonderBürstenschnitt, mit Sporthose und Unterhemd bekleidet, öffnete: »Ja bitte?«
»Ich möchtegerne einen Mann namens Mirco sprechen.«
»Mirco - Sie sind mit ihm verabredet?«
»Nein, ichhabe seine Adresse von einer Freundin.«
»Kommen Sierein.« Wir gingen in eines der hinteren Zimmer. Dortblickte ein ebenfalls sehr junger Mann von seinem Schreibtisch hoch. Er wirktewegen seiner runden Trotzki- Brille intellektuell und machte einen äußerstgepflegten Eindruck. Er trug Jeans, dazu ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck »Ilove Jazz«.
»Das ist Mirco«, meinte der Mann, der die Tür geöffnet hatte, zumir.
»Siewünschen?«, hob dieser den Kopf.
»Achnichts«, antwortete ich verlegen. Mir schlotterten die Knie, und ich hatte das unguteGefühl, irgendwo hineingeraten zu sein, wo ich eigentlich nichts zu suchenhatte. In der DDR konnte es sehr gefährlich sein, sich fremden Menschenanzuvertrauen. Mein inneres Frühwarnsystem schlug Alarm.
»Siebrauchen keine Angst zu haben.« Mircohatte einen breiten jugoslawischen Akzent und rollte das »R«.
»Sie wollennach drüben?«, schrieb er auf einen Zettel und reichteihn mir.
Ich nickte.
Er standauf. »Kommen Sie mit, wir gehen ein bisschen spazieren. «
Der anderekam auch mit. Ich nannte ihnen unterwegs meinen Namen und mit knappen Wortenmein Anliegen.
Wir gingenhinunter ans Elbufer und setzten uns auf eine Bank. »In Räumen weiß man nie, obWanzen versteckt sind. Wir verhandeln grundsätzlich draußen. Rauchen Sie?«
Mirco botmir eine osteuropäische Marke an.
»Nein,danke.«
»Sie wollenalso raus«, räusperte sich Mirco. »Es stimmt. Wirhelfen hin und wieder Leuten. Wir sind aber nur Vermittler. Die eigentlichenFluchthelfer kennen wir nicht. Wir informieren Sie nur über den Plan, und allesWeitere ist dann Ihre Angelegenheit. Sie kennen die Preise?«Er kam gleich zur Sache.
»Nein, ichhabe überhaupt keine Ahnung!«
»Sie reisenallein?«
»Nein, mitzwei Kindern, neun und elf Jahre alt.«
»Das kostet30 000 Mark. Die Organisation verlangt eine Anzahlung in Höhe von 5000 Mark,den Rest können Sie im Westen bezahlen.«
»Aber ichkann doch nicht vorher 5000 Mark bezahlen! Und wenn es dann nicht klappt?«
»Gute Frau,das ganze Geschäft ist ein Risiko. Für uns, für die Helfer vor Ort und für Sie.Aber wie wollen Sie anders raus? Wenn Sie Ausreiseanträge stellen, können Siegleich die Pensionspapiere mit dazulegen.« Lässigzuckte er mit den Mundwinkeln. »Es ist Ihre Entscheidung.«
Mit einemfesten Tritt zerdrückte er die halb gerauchte Zigarette auf dem Boden. Er schienetwas nervös. Ein russischer Lastkahn schepperte seine Fracht mit viel Motorenlärmund Sirenengeheul die Elbe flussaufwärts. Dicker, schmieriger Qualm kam auseinem Rohr oberhalb des Kabinendecks. Ich seufzte. Selten war ich in einer Entscheidungsfindungso unentschlossen. »Sag ja!«, riet mir die innereStimme. »Jetzt oder nie!«
»Ich möchtenoch diesen Sommer ausreisen. Ist das möglich?«,fragte ich.
Mircounterhielt sich mit seinem Kollegen in seiner Muttersprache. »Ich denke ja,aber dann müssen Sie schnell sein und am Donnerstag die Anzahlungvorbeibringen. Ich werde Ihnen dann die Route nennen und den Fluchtplan geben.Es gibt da einen sicheren Weg.«
Ich hatteein widersprüchliches Gefühl. Waren diese Menschenhändler kriminell? Andererseitshatte ich viel Gutes über die jugoslawischen Schlepper gehört. Sie seien zuverlässigerals die deutschen. Die Routen über osteuropäische Länder mit gefälschten Pässennach Österreich seien viel weniger riskant. Und Sicherheit war mir wichtig. Schließlichwollte ich mit meinen beiden Kindern nicht mehr als unbedingt nötig wagen. Geldwar nicht das Problem. Ich hatte genug von meinem Vater bekommen. Aber sollte iches solch einem Unternehmen anvertrauen? Doch wie sollte sonst die Fluchtgelingen? Mirco war mir schließlich von einer meinerbesten Freundinnen empfohlen worden. Eine spätere Entscheidung würde niemandemhelfen. Nur alles noch viel unsicherer machen. Wenn ich wirklich handelnwollte, musste ich es jetzt tun.
Amfolgenden Donnerstag nahm ich die verabredete Summe und ging ans Elbufer. Mirco war allein. Er wartete schon.
»Sie haben dasGeld?«, fragte er hastig.
»Ja,natürlich«, antwortete ich. »Und wie geht es weiter?« Mirco holte einen Umschlag aus seinem Jackett. »Hier stehtalles drin. Sie werden noch im August eine Urlaubsreise nach Bulgarienantreten. Ihr Urlaubsort und ihre Pension sind bereits gebucht. Auf der Durchreisewerden Sie in dem rumänischen Grenzort Severin halten, um in einem Hotel zuübernachten. Dort wird Sie ein Kollege aufsuchen, auch ein jugoslawischer Landsmann.Er wird Sie mit einem Fährschiff über die Donau nach Jugoslawien bringen. Dortbekommen Sie neue Pässe, und dann reisen Sie als westdeutsche Touristen nach Hause.Okay? Das Restgeld brauchen Sie erst innerhalb eines Jahres zu bezahlen. Es wirdsich jemand bei Ihnen melden.«
»Das hörtsich alles so einfach an.«
»Ist es imPrinzip auch. Es darf allerdings niemand, wirklich niemand von ihren Absichten wissen.Das kann alles gefährden. Die meisten Fluchten scheitern, weil irgendjemand zu vielerzählt hat. Machen Sie nur das, was auf dem Zettel steht, und halten Sie sichgenau an die vereinbarten Zeiten. Dann kann nichts schief gehen. Wir habenschon mehr als hundert Leute geschleust. Alle über die Route Rumänien -Jugoslawien. Sie müssen sich sicher sein, dass Ihnen niemand folgt.«
Ich reichteihm den Umschlag mit dem Geld. Für neue Pässe eine ganze Menge, aber es würdesich bestimmt auszahlen. Davon war ich überzeugt.
© VerlagDroemer/Knaur
- Autor: Ines Veith
- 11. Aufl., 216 Seiten, 16 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426778327
- ISBN-13: 9783426778326
- Erscheinungsdatum: 01.10.2006
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