Die Geliebte des Kaufherrn
Der vierte Band der großen Saga um eine Frankfurter Kaufmannsdynastie.
Frankfurt, 1828: Bertram, der Sohn des Kaufmanns-Ehepaars Maria Josefa und Friedrich Bertram Geisenheimer, soll das Handelshaus der Familie übernehmen....
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Produktinformationen zu „Die Geliebte des Kaufherrn “
Der vierte Band der großen Saga um eine Frankfurter Kaufmannsdynastie.
Frankfurt, 1828: Bertram, der Sohn des Kaufmanns-Ehepaars Maria Josefa und Friedrich Bertram Geisenheimer, soll das Handelshaus der Familie übernehmen. Dafür soll er natürlich auch die passende Ehefrau haben. Doch er hat seine große Liebe schon gefunden: Annemarie. Aber sie ist als Schauspielerin alles andere als standesgemäß. Schweren Herzens heiratet Bertram eine andere. Annemarie kann er jedoch nie vergessen. Und als sie ein Kind von ihm erwartet, stellt sie ihn vor eine schwere Entscheidung.
Lese-Probe zu „Die Geliebte des Kaufherrn “
Die Geliebte des Kaufherrn von Ines Thorn1
Frankfurt, Juli 1828
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»Spute dich !« Die Stimme klang resolut. Holzpantinen polterten die Dienstbotentreppe herab, dann quietsche die Tür zur Küche. Friedrich Bertram Geisenheimer saß indes im Herrenzimmer und starrte in sein Cognacglas. Ein leises Rasseln tönte aus dem Kasten der Standuhr, die sich anschickte, sechs Uhr zu schlagen. In den zweiten Ton mischte sich ein dumpfes Krachen.
»Herrgottnocheins, du Trampel !« Friedrich erkannte die Stimme der Köchin. Die dicke Kathrein hatte selten ein gutes Wort für die anderen Dienstboten übrig. »Pass doch auf. Das kann doch nicht so schwer sein, das bisschen heiße Wasser nach oben zu tragen, ohne dass das ganze Haus darüber Bescheid weiß !«
Wieder klapperten Holzpantinen, diesmal etwas behutsamer, auf der Treppe.
»Heißes Wasser wollen sie«, murmelte Friedrich, »heißes Wasser. Damit könnte man vermutlich sogar ein Geschäft aufziehen. Aber wie ?« Zögernd griff er nach der Flasche auf dem Tisch. Die Strahlen der Abendsonne ließen sie funkeln. Er lachte auf. »Unfug. Ich bleibe bei dem, was ich kenne. Und das hier kenne ich schon. Wenn sie oben nach heißem Wasser rufen, wird es ernst.« Er schenkte sich ein und schnupperte genüsslich dem Duft des alten Cognacs entgegen. »Auf dein Wohl, mein Stammhalter. Wenn du denn einer wirst. Sogar ein Mädchen wäre mir willkommen. Hauptsache, du bist gesund. Ach was. Hauptsache, du lebst !«
Unwillkürlich wanderte sein Blick zur Decke des Herrenzimmers. Dort oben waren schwere Schritte zu hören. Dann wurde es wieder ruhig. Wie gerne wäre er jetzt bei seiner Frau gewesen. Aber die Hebamme hatte ihn kurzerhand aus dem Zimmer geworfen.
»Wechen Ihne Ihre Wünsch mache mir no lang kei Ausnahm, Herr.«
Nun saß er hier beim Cognac und versuchte nicht darüber nachzudenken, was sich über seinem Kopf tat. Oder eben nicht tat. Seit dem Morgen schon war die Hebamme im Haus. Nach zwei Totgeburten hatte Friedrich kein Risiko mehr eingehen wollen. Seine Maria Josefa war zwar der Meinung gewesen, dass es nicht recht schicklich sei, wie sehr sich ihr Mann um die Einzelheiten der Schwangerschaft kümmerte, aber auch sie hoffte, dass es diesmal anders werden würde. Schließlich war sie schon über dreißig, wie Tante Lisabeth bei ihren allwöchentlichen Besuchen nicht müde wurde zu betonen.
Frauen, dachte Friedrich, warum nur werden sie so schnell alt ? Ich bin schon fast vierzig, doch Männer sind immer noch in den besten Jahren, wenn längst nicht mehr nur ihre Schläfen grau sind. Frauen hingegen altern anders. Sie werden nicht nur grau und gebückt, sie werden auch unausstehlich. Jedenfalls wenn sie geraten wie Tante Lisabeth. Die ist schrecklich alt. Und unausstehlich. Ob du einmal so wirst wie sie ? Ach was. Unfug. Nicht meine Maria Josefa. Du nicht. Die Geduld, die du stets aufbringst, wenn Lisabeth uns besucht ! Er hob sein Glas. »Wenn du mir nur erhalten bleibst, dann will ich die alte Lisabeth auch gerne weiter ertragen. Halt durch, mein Mädchen, halt durch.«
Friedrich nahm einen tiefen Schluck. Dann schnaubte er ungehalten.
Durch die Balken der Decke drang ein lang gezogener Schrei. Und auch die raue Stimme der Hebamme war zu hören, die Ermunterungen rief. »Wenn du mir nur erhalten bleibst !«, murmelte Friedrich wieder. »Egal, was die alte Lisabeth sagt.«
Versonnen betrachtete er das Porträt, das er von seiner Frau kurz nach der Verlobung hatte anfertigen lassen und das nun über dem Sofa hing. Ihr dunkles Haar war in anmutige Locken gelegt, das hellblaue Seidenband, das diese von der Stirn fernhielt, zeigte den gleichen Farbton wie die zarten Stickereien auf dem weißen Leinengewand. Das war à la mode gewesen, der Schnitt direkt aus Paris. Er musste es wissen, kauften doch die wichtigsten Schneider der Stadt ihre Stoffe bei ihm. Und wie schnell sich die Mode änderte ! »Zum Glück«, knurrte Friedrich. »Denn Geisenheimer liefert dann den Nachschub. Zuverlässig und schneller als die Konkurrenz.«
Wieder drang ein Schrei durch die Decke. Ein Schrei ? Nein, vielmehr ein Quäken, fast wie von einer Katze.
»Gott im Himmel, bitte lass es einen Jungen sein«, flehte der Kaufmann, »ein gesunder Junge, der die Firma übernehmen wird. Und erhalt mir doch bitte meine Marie.«
Er leerte das Glas und warf es mit Schwung in den offenen Kamin, gerade als sich die Tür zum Herrenzimmer öffnete.
Auf der Schwelle stand die Zofe seiner Frau. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Zimmer.
»Herr, es ... es ...« Sie rang keuchend um Atem.
»Nun sag schon, Fränzi.«
Die Zofe rang weiter um Atem. Ohne viel Federlesens schob
»Gratuliere, Herr.« Sie grinste breit. »Es ist alles gut gegangen. Ihr habt einen Sohn. Er lebt. Und Eure Frau auch.«
Friedrich Bertram Geisenheimer spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er packte die Hebamme an den Schultern und drückte ihr einen dicken Schmatz auf den Mund.
»Den gebt mal besser Eurer Frau, Herr. Die hat viel durchgemacht. Und wir sind noch lange nicht übern Berg.«
Schlagartig wurde Friedrich wieder ernst.
»Wie geht es ihr ?«
»Wie soll es einer Frau gehen, die just einen Sohn geboren hat, nach zehn Stunden Kampf ? Erschöpft ist sie. Lasst sie besser eine Weile in Ruhe, hört Ihr ?«
Vorsichtig trat er an das Bett. Maria Josefa Geisenheimer lag mit geschlossenen Augen da. Ihre sonst so sorgfältig geordneten Locken klebten ihr in wirren, feuchten Strähnen am Kopf, das Gesicht war leichenblass. Friedrich blickte besorgt zur Hebamme, die ihm gefolgt war.
»Schläft sie ?«
»Noch nicht. Wir sind noch nicht fertig. Ihr solltet wirklich besser gehen, Herr.«
Maria Josefa krümmte sich im Bett. Ein Wimmern kam über ihre aufgesprungenen Lippen.
»Was ist ? So tut doch etwas !« Friedrich ballte die Fäuste.
»Das gehört eben mit zu einer Geburt. Ihr Männer habt ja keine Ahnung ! Aber nun fott mit Euch. Mir han zu schaffe.«
Resolut schob die Hebamme Friedrich zur Tür. Er konnte gerade noch »Halte durch, mein Mädchen« flüstern, dann fand er sich draußen auf dem Flur.
»Bitte, Herr !« Hinter ihm stand die Küchenmagd, die mit zwei Kannen in den Händen die Dienstbotentreppe heraufgekommen war.
»Was ist ? Ach so.« Hastig gab Friedrich die Tür frei.
Ich habe einen Sohn, dachte er. Auch wenn ich ihn noch nicht mit eigenen Augen gesehen habe, ich habe einen Sohn. Danke, Marie. Nachdenklich ging er die vordere Treppe hinunter und setzte sich wieder ins Herrenzimmer. Dort lag die Zeitung auf dem Rauchtisch. Aber die Nachrichten aus Frankfurt interessierten ihn genauso wenig wie die Berichte aus der weiten Welt. Versonnen betrachtete er die Scherben im Kamin.
»Bertram sollst du heißen, mein Sohn, Bertram Konrad. Gleich morgen gebe ich es bekannt. Geboren am 27. Juli 1828. Mein Sohn ist ein Sonntagskind. Das bedeutet Glück im Leben. Und Scherben bringen ebenfalls Glück. Da reut es mich doch nicht um das Glas.« Kaufmann Geisenheimer lächelte breit, als er daran dachte, wer ihm beigebracht hatte, einen Trinkspruch mit Scherben zu besiegeln. Alexander Iwanowitsch Mendler, der Tuchhändler aus Sankt Petersburg, war mit einem dicken Orderbuch und einem noch dickeren Koffer zur letzten Herbstmesse nach Frankfurt gekommen. Der Russe hatte darauf bestanden, jeden einzelnen Posten mit einem Glas Wodka zu besiegeln. Den hatte er praktischerweise auch gleich mitgebracht und Flasche um Flasche hervorgezaubert. »Ohne Wodka«, hatte er gesagt, »ohne das Wässerchen, das alles Unwichtige wegspült, mache ich keine Verträge. Und wer da nicht mithalten kann, der kann mir auch im Geschäft das Wasser nicht reichen.« Unwillkürlich griff sich Friedrich Bertram an den Kopf. Was hatte er damals für einen Brummschädel gehabt. Tagelang ! Und immer wieder hatte neuer Wodka auf dem Tisch gestanden, war ein neuer Vertrag unterschrieben worden, hatte er dem Russen durchaus das Wasser reichen können. Jedes Mal hatte der ihm zugeprostet, mit einem Trinkspruch die Ewigkeit der Handelsbeziehungen beschworen und dann den Wodka in einem Zug hinuntergestürzt. Anschließend war das Glas jedes Mal in hohem Bogen an die Wand geflogen. »Das ist gut fürs Geschäft«, hatte Alexander
Iwanowitsch nur gelacht. »Gut für den Tapezierer«, hatte Friedrich Bertram daraufhin gemurmelt. Am dritten Tag war der Russe endlich so weit gewesen, dass er das Glas wenigstens in den Kamin warf. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte Kaufmann Geisenheimer gar nicht anders, als zugeben, dass die Kosten für das Neutapezieren des Herrenzimmers schon durch einen einzigen der russischen Verträge mehr als gedeckt waren. Und als Alexander Iwanowitsch als Abschiedsgeschenk auch noch mit einer großen Kiste feinster Kristallgläser aufwartete, war auch das Hausfrauenherz von Maria Josefa versöhnt gewesen.
Friedrich Bertram sah wieder auf die Scherben im Kamin. Ja, eines der russischen Gläser. Ich werde ihm schreiben, dachte er, das soll er doch wissen, dass ihm das Haus Geisenheimer auch in Zukunft noch lange das Wasser reichen kann.
Kaufmann Geisenheimer spürte, wie die Sorgen der letzten Stunden nach und nach von ihm abfielen. Dabei habe ich doch nur warten müssen, dachte er. Die tatsächliche Arbeit und die Schmerzen hattest ja du, mein Mädchen. Aber das hat der Herrgott eben so eingerichtet. Und dafür soll es dir an nichts fehlen. Wieder polterten Holzpantinen auf der hinteren Treppe. »Die ist wirklich ein Trampel«, murmelte er, »da hat die Kathrein schon recht. Und meine Marie braucht Ruhe, hat die Hebamme gesagt. Vielleicht sollte ich die Pantinen im Haus ganz verbieten ? Genau. Das mache ich. Sollen sie doch Filzschuhe anziehen. Dienstboten darf man nicht hören, sagt das nicht Tante Lisabeth auch immer ?«
Friedrich Bertram nahm ein neues Glas aus dem Schrank und setzte sich in den Sessel, von dem aus er den besten Blick auf das Porträt seiner Frau hatte. Wieder stieg ihm der Duft des alten Weinbrands in die Nase. »Auf Bertram Konrad. Und auf dich, mein Mädchen ! Und auf euer beider Gesundheit !«
Glühendem Samt gleich rann der Cognac ihm durch die Kehle. Wie er dieses Gefühl genoss ! Das war doch etwas anderes als dieser Wodka. Aber was tat ein Kaufmann nicht alles, wenn es ums Geschäft ging !
Mit den russischen Verträgen in der Hinterhand, hatte sich ganz anders reagieren lassen, als die Arbeiter in der Baumwollweberei mehr Lohn forderten. Die sollen doch zufrieden sein mit dem, was sie haben, dachte Friedrich Bertram. Lohn und Brot. Sollen sie sich eben etwas einschränken, dann geht das schon. Es gibt so viele, die nur darauf warten, bei mir anfangen zu dürfen. Täglich sprechen in Niederrad Weber vor, letzthin sogar einer, der bis von Schlesien hergewandert war. Aber bei Geisenheimer ist man eben gut untergebracht, so etwas spricht sich herum. Auch unter den Armen. Gerade bei denen. Was haben die Kaufleute von der Alten Limpurg gelacht, als ich auf dem Webereigelände eine Schulstube einrichten ließ, in der die Kinder nach der Nachtschicht zwei volle Stunden im Lesen und Schreiben unterrichtet werden ! Aber dafür muckt bei mir auch keiner auf, selbst wenn ich wegen der schlechten Zeiten die Löhne senke. Man muss eben wissen, wann sich ein bisschen Investieren in die Zukunft lohnt. Und jetzt habe ich ja eine ganz spezielle Option. Ein Stammhalter, der ist besser als eine Stammaktie. Mein Sohn wird das Haus Geisenheimer führen, wenn ich einmal nicht mehr bin. Wachs du nur recht und gedeihe. Die Richtung gebe ich dir schon. Friedrich Bertram hob das Glas und leerte es bis zur Neige. Mit Schwung warf er es schließlich in den Kamin. In das Klirren mischte sich das Schrillen der Türglocke.
»Herr, der Herr Doktor Mathiesen ist gekommen«, meldete der Hausknecht kurz darauf. »Er ist gleich hoch zur Gnädigen.«
»Das ist gut, Martin. Richte ihm aus, ich ließe ihn anschließend bitten. Ich werde hier auf ihn warten. Und sag der Köchin, sie soll einen Krug Apfelwein bringen, den aus Niederrad, den mag der Herr Doktor besonders gern.«
Gut, dass der Arzt jetzt im Haus ist, dachte Friedrich Bert
Dieser Meinung war im Übrigen auch Doktor Mathiesen, als der sich endlich im Herrenzimmer eingefunden hatte. Nach einem Cognac auf die glückliche Geburt wechselte er sogleich zum Apfelwein.
»Ich weiß, Geisenheimer, heimlich lachen Sie über mich und meine Vorliebe für unseren schlichten, heimischen Äbbelwoi. Aber ich weiß auch nicht, was los ist, ich muss noch zu drei Geburten. Wenn sich die Damen denn endlich dazu entschließen. Irgendwie scheint diese Sommerhitze selbst die natürlichsten aller Vorgänge zu lähmen.«
Doktor Mathiesen hob sein Glas. »Und Äppler erinnert natürlich auch an das Paradies, aus dem uns Evas Naschhaftigkeit vertrieben hat. Da brauchen die Frauen gar nicht nach dem Warum zu fragen, wenn sie bei der Geburt leiden. Steht ja alles in der Heiligen Schrift. Unter Schmerzen und so weiter.«
Wie gut kannte Kaufmann Geisenheimer inzwischen die Gewohnheit des Stadtarztes, stets mit einem Bibelzitat aufzuwarten. Nun gut, Doktor Mathiesen war ein Pfarrerssohn und hatte die Heilige Schrift sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Und es stimmte ja auch. Im dritten Kapitel, in Moses' erstem Buch, stand es doch, dass das Weib dazu verdammt war, Schmerzen zu leiden. Dafür musste der Mann eben schuften und sich plagen. Auch er. Gleich morgen würde er wieder im Kontor sitzen. Nicht, dass er seinem Sohn etwa einen schlecht bestellten Acker hinterließe.
»Aber eines muss ich Ihnen sagen, Geisenheimer. Das Kind ist schon sehr zart. Ein bisschen schwach scheint es mir auch zu sein. Natürlich müssen Sie Ihre Frau erst einmal schonen. Aber verlassen Sie sich dann nicht zu sehr auf Ihren Stammhalter. Nicht immer ist gleich ein Arzt zur Stelle. Unsere Kunst geht auch nur so weit. Letzten Endes liegt doch alles in Gottes Hand. So auch das Geschick. Hoffen wir, dass alles gut geht und dass nicht das tückische Kindbettfieber eintritt.«
Nachdenklich strich sich Doktor Mathiesen durch den gepflegten Bart. »Man sagt, dass es wohl eine Epidemie sei. Und doch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass es wieder einmal so weit ist. Hoffen wir also das Beste, mein teurer Freund.«
Während der Arzt sich Apfelwein nachschenkte, griff Friedrich Bertram nach dem Cognac. Er hatte vollstes Vertrauen in Doktor Mathiesen, der da in seinem dunklen Gehrock vor ihm saß. Dessen ärztliche Kunst hatte noch nie versagt. Aber für alles gab es ein erstes Mal. Er seufzte und zuckte mit den Schultern.
»Ich habe vorsichtshalber einen Platz reserviert, auf dem neuen Hauptfriedhof. An der Mauer. Nicht dass ich meine Frau noch in einem Reihengrab beisetzen muss. Was sich die Stadtväter nur dabei gedacht haben !«
»Nun ja, der neue Friedhof wird eben dringend gebraucht. Aber diese Gleichmacherei, einfach ein Grab nach dem anderen, ganz einerlei, wer kommt, der nächste freie Platz ist seiner, das kann ich auch nicht gutheißen. Kein Wunder, dass sie schließlich klein beigegeben haben und die Plätze ringsum an der Mauer für die großen Namen reservieren ließen. Da gehört ein Geisenheimer nämlich hin, nicht zwischen all die Kleinbürger und Krämer. Und schon gar nicht vor der Zeit.«
»Das walte Gott, dass ich die Option noch lange nicht einlösen muss. Letzten Endes sind wir alle in Seiner Hand. Da haben
Sie recht. Aber es ist trotzdem gut, einen tüchtigen Arzt zu kennen. Auf Ihr Wohl !«
»Und auf das Ihrige ! Oder trinken wir doch besser noch einmal auf die Kindsmutter und den Stammhalter. Möge er zu einem kräftigen Sohn heranwachsen, der dem Hause Geisenheimer zur Zierde gereicht !«
Lag es daran, dass der Apfelwein einfach nicht genügend Alkohol enthielt, damit den Trinkspruch sich auch bewahrheiten konnte ? Oder hätten die beiden Männer die Gläser à la russe zerschmettern müssen ? Der alte Cognac konnte jedenfalls wohl kaum der Grund gewesen sein, dass sich der Trinkspruch nicht wie gewünscht erfüllte. In den folgenden Jahren war Doktor Matthiesen häufig im Haus des Kaufmanns zu Gast. Zwar blieb Maria Josefa von dem gefürchteten Kindbettfieber verschont, das selbst im modernen Frankfurt noch immer viele Kinder bereits kurz nach der Geburt zu Halbwaisen machte, aber Bertram Konrad war ein schwächlicher Knabe, der häufig erkrankte. Wie anders entwickelte sich da die kleine Stephanie ! Die war zwei Jahre nach ihrem Bruder zur Welt gekommen, mitten in einem klirrend kalten Winter. Aber sie wuchs und gedieh, während der Sohn des Hauses ständig kränkelte. Selbst die gefürchteten Pocken überstand das Mädchen ohne Schaden, im Gegensatz zu seinem Bruder, dessen Wangen etliche Narben verunstalteten, die nur langsam verblassten. Manchmal fragte sich Friedrich Bertram, ob Gott ihm ein Zeichen geben wollte. Sollte er sich womöglich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen ? Ein Stammhalter im Haus bedeutete ja nicht, dass die Zukunft der Kaufmannsfamilie gesichert war. Nicht, wenn der so war wie sein Bertram Konrad. Der zeigte zwar einen gewitzten Kopf, war flink im Rechnen und erwies sich als anstellig, aber mit seiner Gesundheit stand es weiterhin nicht zum Besten. Keine der üblichen Kinderkrankheiten hatte er ausgelassen, und immer war es eine Sache auf Leben und Tod gewesen. Brachte der Herbst
wind die ersten Regentage, konnte man davon ausgehen, dass der Junge bald anfangen würde zu husten. Und auch von sonstigen Unglücken blieb er nicht verschont. Den Fünfjährigen hatte der zitternde Kutscher unter dem Fuhrwerk hervorgezogen, nachdem die Pferde durchgegangen waren. Fast eine komplette Wagenladung Seidenstoffe war bei dem Unfall verdorben worden, als die Ballen bei strömendem Regen im Straßenkot gelandet waren. Und wie Bertram Konrad überhaupt auf die Kutsche gekommen war, hatte niemand zur Zufriedenheit des Kaufmanns erklären können. Dabei wussten doch alle im Haus, dass der Knabe die Zukunft der Firma war. Einen weiteren Sohn würde es für Friedrich Bertram und Maria Josefa nicht geben. Zwei Jahre nach Stephanies Geburt hatte es so ausgesehen, als ob das Glück des Hauses Geisenheimer auf ein solideres Fundament kommen würde. Aber dann war es wieder eine Totgeburt geworden, die Kindsmutter schon am Rande des Grabes gewesen. Nein, Bertram Konrad, so schwächlich er auch war, würde einst die Firma leiten. Wenn er denn nicht zur Unzeit starb. Wie oft saß Kaufmann Geisenheimer am Sonntagnachmittag im Herrenzimmer und grübelte darüber nach !
»Kinder, seid ruhig !«, ermahnte der Hausdiener die Kleinen dann, wenn die beiden wieder einmal durch das Haus tollten. »Euer Herr Vater denkt !«
»Das tut er doch immer«, behauptete Stephanie vorwitzig. »Und was sollen wir machen ? In den Garten gehen ? Bei dem Wetter ? Nachher ist der Bertie wieder krank. Und der Herr Doktor Mathiesen hat doch gesagt, dass er mehr Bewegung braucht.«
»Du kannst der Köchin helfen«, wies Martin sie an. »Die wird dir schon Arbeit verschaffen. Kinder soll man allenfalls sehen. Aber nicht hören. Also, ab mit dir. Und der Bertram, der kommt mit mir.«
Die Köchin war in den letzten Jahren zwar nicht milder geworden mit den Hausmädchen, aber die Tochter des Hauses behandelte sie mit unerschütterlicher Freundlichkeit und befand, dass sie ein »goldisches Kind« sei. Manchmal durfte Stephanie sogar in den Besteckschubladen kramen und anschließend das Silber wieder ordnen. Sie liebte es, ihr verzerrtes Gesicht in der großen Schöpfkelle zu betrachten und sich selbst Fratzen zu schneiden. Die dicke Kathrein war die Einzige, die sie nicht schalt, wenn sie solche Faxen machte.
Martin blickte dem fröhlich davonhopsenden Mädchen hinterher und legte dann den Arm um Bertrams schmale Schultern. »Wir zwei Männer gehen jetzt mal auf den Speicher.«
Der Junge strahlte. »Müssen wir wieder alte Kontorbücher und Korrespondenzen heraussuchen ?«
»Genau, mein Junge. Der Herr will sich gründlich auf die Herbstmesse vorbereiten, wie jedes Jahr.«
»Ach, ich weiß, es geht darum, zu sehen, welche Verträge wirklich pünktlich bezahlt wurden und wer welches Gastgeschenk bekommen hat. Darf ich dem Herrn Vater eine Liste machen ?«
»So wird es wohl das Beste sein. Du bist ja ein heller Kopf und passt gut auf beim Lernen. Du findest die richtigen Bände bestimmt viel schneller als ich mit meinen schwachen alten Augen.«
Kaufmann Geisenheimer hatte das Gespräch im Gang mitgehört. Es ist ungerecht, dachte er und starrte in sein Cognacglas. Stephanie wächst, blüht und gedeiht. Und der, dem ich alles vermachen will, ist meine größte Sorge. Ich will mich nicht versündigen. Doch wenn es andersherum wäre, weiß Gott, es wäre einfacher. Dabei liebe ich sie beide. Und ich werde Stephanie gut verheiraten. Der Name Geisenheimer hat Gewicht, weit über Frankfurt hinaus. Die Mitgift wird nicht zu verachten sein. Da lasse ich mich doch nicht lumpen ! Aber in fremde Hände will ich mein Geschäft nicht legen. Ein Schwiegersohn ist eben kein Geisenheimer. Blut ist dicker als Wasser. Auch wenn es in Bertrams Adern so schwächlich fließt. Und er hat ja Geschick für das Geschäft. Er interessiert sich für alles, will ins Kontor, besucht die Weberei. Wenn er auch nicht richtig anpacken kann beim Aufladen, aber dafür gibt es doch Leute, die wir dafür bezahlen. Aus meinem Jungen wird noch ein guter Kaufmann. Wenn er nur bei besserer Gesundheit wäre ! Neun Jahre alt wird er nächste Woche. Und im Herbst kommt er in die Musterschule. Wenn seine Gesundheit nur hält, dann braucht mein Sohn keinen Hauslehrer mehr. Auf dem Realgymnasium lernt er die Söhne der anderen Handelsherren kennen. So knüpft man schon früh Geschäftsbeziehungen, die ein Leben lang halten. »Auf dein Wohl, mein Junge. Und auf das der Firma !«
Auf die Musterschule freute sich auch Bertram, aber noch mehr freute er sich auf die Sommerfrische in Niederrad, zu der er gleich am nächsten Tag aufbrechen sollte. Tante Lisabeth war mittlerweile zu gebrechlich, um ihre regelmäßigen Besuche im Haus der Geisenheimer beizubehalten. Der Kaufmann war damit zufrieden gewesen, und so übernahm es eben Maria Josefa mit den Kindern, die Familienbande zu pflegen. Bei den Besuchen langweilte sich die kleine Stephanie zwar meist von Herzen, aber auch die Großtante hatte eine Küche, in der es immer neue Wunder zu entdecken gab. Außerdem war da eine Tigerkatze, an die das Mädchen sein Herz verloren hatte. Bertram blieb lieber in der Bibliothek, in der die Tante ihre Gäste zu empfangen pflegte. Sie hielt nichts von der Sitte, Damen im Damensalon zu empfangen und Herrenbesuch gar nicht. Wer zu ihr nach Niederrad kam, konnte sicher sein, die neuesten Romane, Reiseberichte und Journale mit Nachrichten aus aller Welt vorzufinden. Wenn ihr danach war, konnte Tante Lisabeth auch überaus unterhaltsam plaudern. Aber besonders gern saß sie mit ihrem Großneffen zusammen, ein Glas Johannisbeersaft von Früchten aus dem eigenen Garten neben sich und jeder mit der Nase in einem Buch.
»Er ist und bleibt ein Bücherwurm, mein Bertram«, pflegte Kaufmann Geisenheimer zu sagen. »Aber trotzdem kommt er auf die Musterschule und nicht aufs Gymnasium. Das fehlte noch, nachher will er studieren. Und ein studierter Kaufmann, wer nimmt den denn ernst ?«, hatte er Doktor Mathiesen anvertraut. »Gewiss, er ist ein kluger Kopf, er würde sicher auch an der Universität glänzen. Aber was nützt ihm ein Studium, wenn er nachher doch das Geschäft übernimmt ? Nein, er soll sich ganz auf den Kaufmannsberuf vorbereiten.«
»Ja, will er denn überhaupt studieren ?«, hatte sich der Arzt gewundert. »Wenn er krank ist und ich nach ihm sehe, scheint es für ihn stets das Schlimmste zu sein, dass er nicht ins Kontor darf. Bücher kann ich immer lesen, sagt er dann. Aber Geschäfte machen, das geht nur, wenn ich gesund bin. In der Hinsicht brauchen Sie also keine Furcht zu haben.«
»Wenn er gesund ist. Und bleibt. Das ist ja gerade meine größte Sorge. Ich frage mich, warum das einfach nicht besser wird mit ihm. Ich bin gesund, mein Vater war es, mein Großvater auch, niemand in meiner Familie war jemals so kränklich wie mein Bertram. Und selbst Tante Lisabeth ist gegen ihn ja fast ein Ausbund an Gesundheit.« Friedrich Bertram hob hilflos die Schultern. »Manchmal denke ich, es muss an Maria Josefa gelegen haben. Wie oft haben wir es versucht, und immer wieder eine Totgeburt. Da kann doch etwas nicht stimmen !«
»Solcherlei kommt eben vor«, versuchte ihn der Arzt zu beruhigen. »Niemand weiß, wie so etwas zustande kommt. Letzthin las ich etwas im Journal des médecins. Da berichtete ein Arzt aus Schlesien. Er war für die Rekrutierungskommission unterwegs und fand einfach zu viele Knaben, die nicht tauglich waren für den Dienst. Er nannte Unterernährung als eines der Hauptprobleme. Und er behauptete auch, dass viele Kinder schon kaum lebensfähig geboren werden, weil die Eltern sich falsch ernähren oder der Trunksucht anheimgefallen sind. Schlechter Branntwein, schwache Kinder, so lautete sein Fazit. Eine interessante Theorie. Aber auf Ihren Bertram trifft sie ja nun wirklich nicht zu. Dem fehlt es an nichts.«
»Außer an einer guten Gesundheit«, hatte Kaufmann Geisenheimer eingewandt.
»Das ja. Aber das liegt nun sicher nicht an Ihrem wirklich ausgezeichneten Keller.« Doktor Mathiesen hatte sein Glas mit dem Apfelwein gegen das Licht der Lampe gehalten und eine Weile das wechselnde Farbenspiel betrachtet. »Letzten Endes sind wir doch alle in Gottes Hand«, hatte er schließlich gemeint. »Vielleicht stellen Bertrams viele Krankheiten einfach eine Prüfung dar, die Ihnen auferlegt wird, damit Sie sich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen.«
An dieses Gespräch dachte der Kaufmann, als er am nächsten Tag in seinem Büro saß, welches das Wohnhaus der Geisenheimer mit den Geschäftsräumen verband. Aufmerksam studierte er die Listen, die Bertram mit seiner Kinderschrift für ihn angefertigt hatte. »Es ist mir gleich, dass mein Sohn einen schwachen Körper hat«, murmelte er. »Gerade erst neun ist er, und schon weiß er, worauf es bei den Messevorbereitungen ankommt. Beziehungen sind alles.« Zufrieden ließ er seinen Blick durch den Raum wandern. Auf der Karte gegenüber seinem Schreibtisch waren mit bunten Fähnchen alle Handelsverbindungen markiert, die das Haus Geisenheimer bis ins Zarenreich unterhielt. Auch so eine Arbeit von meinem Bertram, dachte der Kaufmann. So sehe ich doch auf einen Blick, wohin ich mich wenden kann, wenn es irgendwo einen Engpass gibt. Er lächelte noch immer, als im offenen Türrahmen plötzlich Martin auftauchte.
»Herr, Herr«, stammelte der Hausknecht atemlos, »es ist etwas passiert.«
Durch das Haus gellte ein Schrei. Friedrich Bertram erkannte die Stimme seiner Frau. Immer wieder hallte ihr »Nein ! Nein !« bis zu ihm. Er starrte den Hausknecht angsterfüllt an, der endlich mit der unheilvollen Nachricht herausrückte. »Es brennt, Herr. In Niederrad.«
In der Weberei kamen immer wieder Unfälle vor. Die Arbeiter waren unachtsam, Kinder träumten vor sich hin oder Material ermüdete ganz einfach. Aber ein Feuer war wahrlich eine weit schlimmere Angelegenheit. Die hölzernen Webstühle, deren mechanischen Teile immer wieder nachgeschmiert werden mussten, gerieten leicht in Brand. Kaufmann Geisenheimer hatte zu diesem Behufe eine Werksfeuerwehr aufstellen lassen, mit eigener Spritze, Eimern und allem, was dazugehörte, um einem Feuer Herr zu werden.
»Aber das ist leider noch nicht alles.« Verlegen zerrte Martin am Saum seiner Jacke. »Es geht um Bertram. Niemand kann ihn finden.«
2
1841
Die letzten Töne der Scarlatti-Etüde verklangen.
»Das war sehr schön, Schwesterherz. Bravo.« Bertram Konrad ließ den Atlas sinken, in dem er geblättert hatte. »Aber was machst du denn für ein Gesicht ?«
Nachdenklich blickte Stephanie aus dem Fenster des Salons. Welch ein Sonntag. Grau in Grau. Tiefe Wolken hingen über der Stadt, wie schon die ganzen letzten Tage. Sicher würde es bald wieder regnen. »Ich beneide dich, Bertie.«
Ihr Bruder sah sie erstaunt an.
»Gut, ich weiß recht artig Klavier zu spielen. Aber ist das denn ein Wunder ? Was soll ich auch sonst den ganzen Tag tun ? Etwa der Köchin helfen oder Mamans Zofe ? Das ziemt sich so recht doch wohl nicht. Die Bibliothek ist voll von Büchern, die mich nicht locken. Du hast die Nase im Atlas und weißt, eines Tages wirst du all die fernen Länder und die Städte tatsächlich selbst bereisen, mit denen wir Handel treiben. Als Sohn und Erbe ist das nichts mehr und nichts weniger als deine Pflicht und Schuldigkeit. Ich komme allenfalls nach Niederrad zur Großtante. Aber die große weite Welt und ich ? Das passt nie im Leben zusammen.«
»Na, hör mal ! Du bist elf Jahre alt. Da würde es mit der großen weiten Welt auch nichts, selbst wenn du ein Junge wärst. Und mit seinem Los zu hadern bringt nichts außer Falten. Sagt Tante Lisabeth doch immer.«
Wider Willen musste Stephanie lachen. »Na, die hat gut reden. Wenn es danach ginge, hat sie genug gehadert für zwei Leben. Ich will mich ja auch nicht wirklich beklagen. Mir ist einfach langweilig. Kein Wunder, bei dem Wetter.«
»Das Wetter kann doch nichts für deine Stimmung, Schwesterchen. Und ich blättere ja nicht einfach so im Atlas. Der Herr Vater hat gesagt, wenn ich schon auf die Musterschule gehe, dann müssen die Noten auch mustergültig sein. Das bin ich der Familie schuldig. Und wenn ich all die Länder und Herrschaften kenne, in die der Kongress das Heilige Römische Reich aufgeteilt hat, dann darf ich ihm eine neue Karte zeichnen fürs Kontor.«
Stephanie legte die Noten zurück aufs Klavier.
»Ich beneide dich. Wirklich. Gut, ich lerne auch, bei den Fräulein. Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und so weiter. Aber bei mir beschränken sich die Höhepunkte im Stundenplan auf Schönschreiben und Handarbeit. Und du ? Du gehst auf die Musterschule, hast Französisch, Mathematik und Geographie. All die modernen Fächer. Du kannst lernen, lernen, lernen. Privatunterricht bekommst du auch noch, Englischstunden und sogar Russisch. Und was machst du ? Drängst den Vater, dass er dich ins Geschäft nimmt, als gewöhnlichen Lehrling.«
Bertram lächelte. »Ich bin eben ein Kaufmannssohn. All dieses Bücherwissen, was nützt mir das ? Kann ich deshalb auch nur einen Ballen Tuch besser verkaufen ? Im kommenden Jahr werde ich vierzehn, da sind andere schon auf dem besten Weg zur Gesellenprüfung. Hör mir also auf mit Schule !«
Versonnen rieb er sich das Bein. Es würde bald regnen, das spürte er in der alten Narbe. Aber eigentlich brauchte er sie nicht für eine zuverlässige Wetterprognose. Es genügte, mit Stephanie zu reden. Immer, wenn das Wetter umschlug, wurde sie unruhig und haderte mit ihrem Geschick.
»Der Vater hat es gesagt, die Mutter hat es gesagt. Du wirst ja sowieso heiraten. Ich weiß es, du weißt es. Was willst du also ?
Unser Name hat Gewicht, du wirst eine gute Partie machen, einem großen Haus vorstehen. Was willst du da mit Geographie ? Oder Geometrie ? Den Haushalt musst du leiten können, dass dir die Köchin nicht auf der Nase herumtanzt oder die Dienstboten dich bestehlen. Das musst du können. Alles andere sind nichts als Alfanzereien.«
»Ich weiß doch, Bertie.« Stephanie klang kleinlaut. »Ich will es ja auch so. Ein großes Haus, nicht so zurückgezogen leben wie die Frau Mama. Gut, sie fährt regelmäßig nach Niederrad zu Tante Lisabeth, aber sonst geht sie allenfalls auf die Redoute, wenn die Kaufherrenschaft das Neue Jahr feiert. Nein, ich will mehr vom Leben, als mit der Köchin schelten, Romane lesen und artig auf dem Klavier präludieren. Bei den Geisenheimer hat es doch immer wieder Frauen gegeben, die im Geschäft mithalfen. So etwas will ich auch. Und da komme ich mit meinem bisschen Schulunterricht bestimmt nicht weit.«
»Du interessierst dich doch gar nicht für Mathematik.« Bertram grinste. »Deine Noten lassen es jedenfalls nicht vermuten.«
»Das liegt aber nur daran, dass das Fräulein Weitensteiner so langsam erklärt, dass auch wirklich jede mitkommt beim Rechnen. Bis sie fertig ist mit dem Explizieren, habe ich die Aufgabe schon längst wieder vergessen.« Stephanie lachte. »Also gut. Rechnen ist wirklich nicht meine Stärke. Aber es muss doch irgendetwas anderes geben für mich.«
»Da gibt es sicher etwas. Aber du bist ein Mädchen, vergiss das nicht.«
»Wie könnte ich auch ? Und ich will es ja gar nicht. Ich denke nur, ich meine, also, ich finde, zu einer guten Partie gehört eben etwas mehr als eine ordentliche Mitgift und gute Manieren. Für das Erste sorgt der Vater, das andere, darum kümmern sich die Fräulein. Und ich ? Ich bin schon elf Jahre alt. Ich kann sticken und stopfen, gehe der Köchin zur Hand, aber natürlich nur so weit, wie es sich geziemt. Ich spiele Klavier, kann die Quadrille tanzen, und ein bisschen Französisch hast du mir auch beigebracht.«
»Aber das langt doch. Völlig. Was willst du denn noch ?«
»Ach, ich weiß es doch auch nicht. Ich weiß nur, dass ich elf Jahre alt bin und mich fühle, als wäre ich hundertelf. Nur dass ich nichts erlebt habe.«
»Genau. Du bist elf. Und ein Mädchen. Finde dich damit ab.«
Spielerisch zupfte Bertram an einem der braunen Zöpfe seiner Schwester, der sich vorwitzig aus dem Haarkranz gelöst hatte. »Das mit den elf Jahren hat ja auch nicht mehr lange Bestand. Sechs Monate noch, dann bist du zwölf.«
Stephanie zog einen Schmollmund. »Und dann ? Dann werde ich dreizehn. Und vierzehn. Und fünfzehn. Und, und, und. Es ändert sich ja doch nichts. Nicht für mich. Und alles nur, weil ich ein Mädchen bin.«
»Aber das bleibst du nicht ewig. Nur wenn du dich aufführst wie Tante Lisabeth und alle deine Verehrer vergraulst. Aber selbst dann. Bei der Mitgift, die der Vater schon zurückgelegt hat für dich ? Da kannst du sicher sein, irgendwann wirst du äußerst vorteilhaft heiraten. Und alles, was du jetzt tust und lernst, bereitet dich darauf vor. Selbst die Quadrille.« Bertram lächelte und schlug erneut den Atlas auf.
»Du nimmst mich nicht ernst. Nicht im Geringsten.« Stephanie zog wieder einen Schmollmund. »Das Geschäft ist dir jedenfalls wichtiger.«
»Ach, Stephanie. Sieh es einmal so. Ohne das Geschäft hättest du kein Klavier, keinen Tanzunterricht, und ganz sicher wäre es auch mit der Mitgift nicht weit her. Und dann könntest du es gänzlich vergessen mit dem anderen Leben. Das gibt es nur, wenn wir einen Mann für dich finden, der dir genau das bieten kann, wonach du dich sehnst. Und der das auch will.«
Manchmal klingt er wie der Vater persönlich, dachte Stephanie. Dabei ist er noch nicht einmal zwei Jahre älter als ich. Und auch, wenn er nicht mehr so oft krank ist, der Unfall in der Weberei, die Brandnarben schmerzen immer wieder. Besonders bei diesem Wetter. Soll er doch mit dem Atlas spielen und seine Karten malen. Noch ist auch er nicht weiter gekommen als bis Niederrad. Wenn er partout Kaufmann werden will und nicht Forscher, was kümmert es mich ?
Wieder öffnete sie das Notenalbum. Während sich die perlenden Scarlatti-Arpeggien in das Trommeln der Regentropfen auf der Fensterscheibe mischten, wanderte Bertrams Finger immer weiter nach Osten. Die Grenzen des Deutschen Bundes hatte er bereits weit hinter sich gelassen, Österreich-Ungarn und das Königreich Preußen hielten ihn nicht zurück. Zumindest im Geist folgte er den Spuren Alexander von Humboldts, der auf Einladung des Zaren vor gut zwölf Jahren Russland bereist hatte und bis an die chinesische Grenze vorgedrungen war. Nein, ein Handelsmann war der weltberühmte Forscher beim besten Willen nicht. Aber er verstand trotzdem viel von Geschäftsbeziehungen. Das wäre es noch, dachte Bertram. Über alles und jedes Bescheid zu wissen. Aber eben nicht nur oberflächlich, wie manche es sich aus den Journalen anlesen, sondern richtig. Doch dafür müsste ich wohl studieren. Und ich will einfach nicht weiter die Schulbank drücken. Ich will mit Waren zu tun haben, Stoffe fühlen, Gewürze riechen und schmecken, Farben sehen, hören, wie es klingt, wenn chinesisches Porzellan ausgepackt wird und der Vater prüfend gegen die Vasen klopft, ob sie wohl keinen Sprung davongetragen haben. Abends die Kasse zählen und über all das den Überblick bewahren, das will ich. Wie der Vater. Und der sagt ja auch, dass ich einen Kopf fürs Geschäft habe. Wenn ich nur nicht wieder krank werde. Dann darf ich wirklich bald mittun. Endlich ! Und dann wollen wir einmal sehen, ob ich meinem Schwesterchen nicht einen guten Mann finde. Wenn es der Vater nicht schon vorher tut. Sie ist ja noch ein Kind. Und ich, ich bin bald Lehrling und ein junger Mann.
Entschlossen klappte er den Atlas zu. »Es sieht aus, als ob der Regen nachlässt«, verkündete er. »Ich gehe aus.«
Stephanie sah ihm nach. Er darf das, dachte sie. Einfach aufstehen, gehen und Freunde besuchen. Er darf das. Er ist ein Junge.
»Was träumst du ?« Maria Josefa Geisenheimer stand in der Tür zum Salon. In dem leichten Hauskleid sah man ihr kaum an, dass sie bereits über vierzig Jahre alt war. Nur die zarten Silberfäden in ihren Locken verrieten ein wenig von ihrem Alter. Zärtlich betrachtete sie ihre Stephanie. »Das war schön, was du eben gespielt hast. An Scarlatti bin ich ja regelmäßig gescheitert. Aber bei dir klingt es federleicht.«
Sie setzte sich auf die Chaiselongue. »Komm einmal her zu mir, Stephanie. Lass den Bertram ausgehen, wie er es nennt. Wir wissen doch beide, dass er zum Assessor Rittershaus geht. Warum er ausgerechnet Englisch lernen muss, ist mir zwar ein Rätsel, aber wenn der Herr Vater das so will, dann wird es schon einen Sinn haben. Dabei spricht tout le monde doch Französisch. Vielleicht ist es ja tatsächlich gut fürs Geschäft. Aber das geht uns Frauen nichts weiter an. Hier habe ich etwas viel Interessanteres. Sieh doch mal, Stephanie !«
Maria Josefa Geisenheimer zog die jüngste Ausgabe des Journal des dames hervor. »Wie es scheint, werden wir unsere Garderobe wieder einmal complètement umstellen müssen. Aber wenn die Frau des Tuchhändlers nicht à la mode geht, wer dann ?«
Maman und ihre Moden. Innerlich seufzte Stephanie. Aber dann inspizierte sie doch den neuen Faltenwurf.
Unterdessen schwitzte Bertram bei Assessor Rittershaus über den unregelmäßigen Verben. »Es hat doch einfach keine erkennbare Regel, wie das funktioniert. To last, dauern, lasted, lasted. Aber to cast, werfen, cast, cast. Wer soll sich da bitte auskennen ?«
»Aber das kann man doch nicht vergleichen. Das eine ist kostbar und schwierig herzustellen, das andere bekommt man fast nachgeworfen. They cast it at you.«
»Genau, mein Junge. Und wenn sie es geworfen haben, was sagen wir dann ?«
»They cast it. Verstanden. Es bleibt trotzdem mühsam.«
»Sei froh, dass du im Französischen schon so gut zurechtkommst. Da geht es zum Teil doch noch viel wilder zu. Aber im Grunde ist alles Gewöhnungssache.«
»Mit wem sollte ich auch Englisch sprechen hier in Frankfurt ? Vielleicht kommt ja gelegentlich ein junger Lord auf seiner Europatour vorbei und schaut sich den Römer an. Aber da sitze ich im Klassenzimmer. Und schon ist er wieder fort, lange bevor die Schulglocke geht.«
»Vergiss nicht den Amerikaner, junger Geisenheimer. Der hat doch eines Tages völlig überraschend bei deinem Vater im Kontor gestanden.«
»Wie könnte ich das vergessen ! Zuerst haben wir kein Wort verstanden. Er sprach kaum Französisch, Deutsch schon gar nicht. Und niemand im Kontor wusste ein Wort auf Englisch zu sagen, außer ›bless you‹. Zum Glück kann der Herr Vater ein bisschen Jiddisch. Und am nächsten Tag hat er Sie auch schon gebeten, mich im Englischen zu unterrichten.«
Wohlwollend klopfte Assessor Rittershaus seinem jungen Schüler auf die Schulter.
»Und du machst auch großartige Fortschritte. Glaub mir, mein Junge, wenn du erst einmal die unregelmäßigen Verben gemeistert hast, kann dir keiner mehr etwas vormachen. Dann
wirst du sogar Romane auf Englisch lesen, Dickens, Shelley, Polidori und so weiter.«
»Fehlt ja nur noch, dass ich Gedichte lese. Pah, ich bin doch kein Mädchen.«
»Aber Gedichte sind doch etwas Wunderbares ! Gerade die aus dem Angelsächsischen. Lord Byron, mein Junge, ich sage nur Lord Byron !«
Mit schwärmerischem Blick musterte der Assessor die Regale in seinem Arbeitszimmer. Dort tummelten sich englische, deutsche, französische Bände, ohne Unterschied. Neben einer Prachtausgabe von Lord Byrons Werken stand auch einiges aus der Feder Augusts von Platen. Aber dafür war sein Zögling doch noch etwas zu jung, vermutete Justus Rittershaus. Der junge Geisenheimer hatte zwar etwas Verwegenes in seinen Zügen, aber daran waren wohl eher die Pockennarben schuld. Diese weiße Strähne an der Schläfe, dort, wo die Haare nach dem Brand in der Baumwollweberei einfach nicht mehr so dunkel wie die übrigen Locken hatten nachwachsen wollen, tat ihr Übriges. Aber der Assessor war entschlossen, trotzdem nichts Unüberlegtes zu wagen. Dem Jungen einmal den Arm um die Schultern legen oder ihn umarmen, wenn die Freude an einer geglückten Übersetzung ihren Tribut forderte, das war das eine. Alles andere hätte seinen Stand in der Stadtverwaltung und der Gesellschaft nur unnötig in Gefahr gebracht. Hätte Kaufmann Geisenheimer seinen Sohn einem Sprachlehrer anvertraut, dessen Leumund nicht einwandfrei war ? Aber genug davon.
»Also gut. Wenn die Literatur nicht zu dir spricht, dann brauchst du auch nicht zu antworten. Aber die Grammatik, mein Junge, die wirst du brauchen, also zurück zu den unregelmäßigen Verben, mein Bester ! Come on, young swain, arise.«
»I arise, you arose, he is arisen.«
»Gut, das heben wir uns dann doch besser auf für den Gottesdienst in der Paulskirche. Bear with me.«
Allmählich gewann Bertram an Sicherheit. Als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, hinter den unregelmäßigen Verben nicht weiter nach einer alles verbindenden Logik zu suchen, gab es nur noch wenig, was Assessor Rittershaus ihm beibringen konnte. Kaufmann Geisenheimer entschied daher, dass eine Konversationsstunde alle zwei Wochen genügen musste, und ließ dafür den Russischunterricht vertiefen. Wenn Alexander Iwanowitsch im Herbst wieder zur Messe kam, sollte Bertram ihn bereits in seiner Muttersprache begrüßen können. Auf das Gesicht des Händlers freuten sich Vater und Sohn schon sehr. Der junge Geisenheimer brachte seinen Russischlehrer allerdings regelmäßig zur Verzweiflung. Was verstand ein Maler aus Jekaterinburg, der sich am Städelschen Kunstinstitut in der Neuen Mainzer Straße westlichen Schliff holen wollte, bevor es weiterging nach Italien, schon von Tuchen und Handelswaren ? Und nun sollte er all die Begriffe kennen, die Bertram Konrad übersetzt haben wollte. Er, Pjotr Nikolajewitsch, dessen Familie nur dann Russisch sprach, wenn die Dienstboten Anweisungen brauchten. Tout le monde sprach doch Französisch. Auch im fernen Jekaterinburg, und das schon lange vor der napoleonischen Invasion. Aber die Studien bei Philipp Veit waren teuer. Was schon allein die Farben kosteten ! Wenigstens zahlte Kaufmann Geisenheimer gut. Und es machte Spaß, Bertram zu unterrichten. Da steckte ein heller Kopf unter den dunklen Locken. Und die Pockennarben ließen den Knaben durchaus interessant erscheinen, zumindest als Modell für ein Gemälde. Aber wenn Pjotr Nikolajewitsch gewisse Regungen verspürte, ging er doch lieber nach Bornheim, wo sich die jungen Damen den Anschein gaben, als hätten sie trotz seiner schmalen Börse nur auf ihn gewartet. Ob er seinen jungen Sprachschüler auch einmal mitnehmen sollte ? Der Maler hatte seine Zweifel. Irgendwann würde der Sohn des Hauses Geisenheimer sicher seine Erfahrungen machen, aber der Kaufherr war dafür bekannt, dass er nur das Beste akzeptierte. So rasch würden seine Fräulein vom Mainufer sicher nicht Bekanntschaft mit Bertram Konrad machen. Der sah gerade von einem langen Traktat auf.
»Stimmt es eigentlich, dass Sie in Russland eine Platinwährung haben ?«
Was für Fragen der Knabe stellen konnte !
»Genau, mein Junge. Der Zar, Gott erhalte ihn, hat darauf bestanden. Obwohl Humboldt ihm davon abriet, damals, als er seine große Forschungsreise machte. Aber im Grunde ist es gleichgültig, worauf eine Währung beruht. Geld bleibt Geld. Die Armen haben es nicht. Und wer es hat, zählt es irgendwann auch nicht mehr, weil sonst der Tag schon herum ist, noch bevor er etwas geschafft hat.« Unwillkürlich blickte Pjotr Nikolajewitsch zum Kaminsims. Dort lag der Umschlag, in dem Bertram Konrad immer das Unterrichtsgeld mitbrachte. Der Farbenhändler wartete schon darauf, der Bäcker wollte seinen Teil und etliche andere auch. Es war an der Zeit, dass das Bild fertig wurde. »Die Auferweckung des Jünglings von Nain«, perfekt im Nazarenerstil gemalt. Philipp Veit hatte es sehr gelobt, und ein Käufer war auch schon gefunden. Bald konnte es losgehen nach Italien. Ich werde dich schon vermissen, mein junger Sprachschüler, dachte Pjotr Nikolajewitsch, auch ohne einen gemeinsamen Besuch in Bornheim.
»Der Vater hat übrigens gesagt, dass ich ab nächsten Monat ins Kontor darf.« Bertram Konrad sah wieder von dem Buch auf und strahlte. »Sind das nicht wundervolle Aussichten ?«
»Du verlässt die Schule ? Jetzt schon ? Dabei bist du ein so heller Kopf. Aber dein Herr Vater wird am Besten wissen, was gut für dich ist, mein Junge. Mit deinem Russisch wirst du ihm im Geschäft eine große Stütze sein.«
Das hoffte auch Bertram Konrad.
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»Spute dich !« Die Stimme klang resolut. Holzpantinen polterten die Dienstbotentreppe herab, dann quietsche die Tür zur Küche. Friedrich Bertram Geisenheimer saß indes im Herrenzimmer und starrte in sein Cognacglas. Ein leises Rasseln tönte aus dem Kasten der Standuhr, die sich anschickte, sechs Uhr zu schlagen. In den zweiten Ton mischte sich ein dumpfes Krachen.
»Herrgottnocheins, du Trampel !« Friedrich erkannte die Stimme der Köchin. Die dicke Kathrein hatte selten ein gutes Wort für die anderen Dienstboten übrig. »Pass doch auf. Das kann doch nicht so schwer sein, das bisschen heiße Wasser nach oben zu tragen, ohne dass das ganze Haus darüber Bescheid weiß !«
Wieder klapperten Holzpantinen, diesmal etwas behutsamer, auf der Treppe.
»Heißes Wasser wollen sie«, murmelte Friedrich, »heißes Wasser. Damit könnte man vermutlich sogar ein Geschäft aufziehen. Aber wie ?« Zögernd griff er nach der Flasche auf dem Tisch. Die Strahlen der Abendsonne ließen sie funkeln. Er lachte auf. »Unfug. Ich bleibe bei dem, was ich kenne. Und das hier kenne ich schon. Wenn sie oben nach heißem Wasser rufen, wird es ernst.« Er schenkte sich ein und schnupperte genüsslich dem Duft des alten Cognacs entgegen. »Auf dein Wohl, mein Stammhalter. Wenn du denn einer wirst. Sogar ein Mädchen wäre mir willkommen. Hauptsache, du bist gesund. Ach was. Hauptsache, du lebst !«
Unwillkürlich wanderte sein Blick zur Decke des Herrenzimmers. Dort oben waren schwere Schritte zu hören. Dann wurde es wieder ruhig. Wie gerne wäre er jetzt bei seiner Frau gewesen. Aber die Hebamme hatte ihn kurzerhand aus dem Zimmer geworfen.
»Wechen Ihne Ihre Wünsch mache mir no lang kei Ausnahm, Herr.«
Nun saß er hier beim Cognac und versuchte nicht darüber nachzudenken, was sich über seinem Kopf tat. Oder eben nicht tat. Seit dem Morgen schon war die Hebamme im Haus. Nach zwei Totgeburten hatte Friedrich kein Risiko mehr eingehen wollen. Seine Maria Josefa war zwar der Meinung gewesen, dass es nicht recht schicklich sei, wie sehr sich ihr Mann um die Einzelheiten der Schwangerschaft kümmerte, aber auch sie hoffte, dass es diesmal anders werden würde. Schließlich war sie schon über dreißig, wie Tante Lisabeth bei ihren allwöchentlichen Besuchen nicht müde wurde zu betonen.
Frauen, dachte Friedrich, warum nur werden sie so schnell alt ? Ich bin schon fast vierzig, doch Männer sind immer noch in den besten Jahren, wenn längst nicht mehr nur ihre Schläfen grau sind. Frauen hingegen altern anders. Sie werden nicht nur grau und gebückt, sie werden auch unausstehlich. Jedenfalls wenn sie geraten wie Tante Lisabeth. Die ist schrecklich alt. Und unausstehlich. Ob du einmal so wirst wie sie ? Ach was. Unfug. Nicht meine Maria Josefa. Du nicht. Die Geduld, die du stets aufbringst, wenn Lisabeth uns besucht ! Er hob sein Glas. »Wenn du mir nur erhalten bleibst, dann will ich die alte Lisabeth auch gerne weiter ertragen. Halt durch, mein Mädchen, halt durch.«
Friedrich nahm einen tiefen Schluck. Dann schnaubte er ungehalten.
Durch die Balken der Decke drang ein lang gezogener Schrei. Und auch die raue Stimme der Hebamme war zu hören, die Ermunterungen rief. »Wenn du mir nur erhalten bleibst !«, murmelte Friedrich wieder. »Egal, was die alte Lisabeth sagt.«
Versonnen betrachtete er das Porträt, das er von seiner Frau kurz nach der Verlobung hatte anfertigen lassen und das nun über dem Sofa hing. Ihr dunkles Haar war in anmutige Locken gelegt, das hellblaue Seidenband, das diese von der Stirn fernhielt, zeigte den gleichen Farbton wie die zarten Stickereien auf dem weißen Leinengewand. Das war à la mode gewesen, der Schnitt direkt aus Paris. Er musste es wissen, kauften doch die wichtigsten Schneider der Stadt ihre Stoffe bei ihm. Und wie schnell sich die Mode änderte ! »Zum Glück«, knurrte Friedrich. »Denn Geisenheimer liefert dann den Nachschub. Zuverlässig und schneller als die Konkurrenz.«
Wieder drang ein Schrei durch die Decke. Ein Schrei ? Nein, vielmehr ein Quäken, fast wie von einer Katze.
»Gott im Himmel, bitte lass es einen Jungen sein«, flehte der Kaufmann, »ein gesunder Junge, der die Firma übernehmen wird. Und erhalt mir doch bitte meine Marie.«
Er leerte das Glas und warf es mit Schwung in den offenen Kamin, gerade als sich die Tür zum Herrenzimmer öffnete.
Auf der Schwelle stand die Zofe seiner Frau. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Zimmer.
»Herr, es ... es ...« Sie rang keuchend um Atem.
»Nun sag schon, Fränzi.«
Die Zofe rang weiter um Atem. Ohne viel Federlesens schob
»Gratuliere, Herr.« Sie grinste breit. »Es ist alles gut gegangen. Ihr habt einen Sohn. Er lebt. Und Eure Frau auch.«
Friedrich Bertram Geisenheimer spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er packte die Hebamme an den Schultern und drückte ihr einen dicken Schmatz auf den Mund.
»Den gebt mal besser Eurer Frau, Herr. Die hat viel durchgemacht. Und wir sind noch lange nicht übern Berg.«
Schlagartig wurde Friedrich wieder ernst.
»Wie geht es ihr ?«
»Wie soll es einer Frau gehen, die just einen Sohn geboren hat, nach zehn Stunden Kampf ? Erschöpft ist sie. Lasst sie besser eine Weile in Ruhe, hört Ihr ?«
Vorsichtig trat er an das Bett. Maria Josefa Geisenheimer lag mit geschlossenen Augen da. Ihre sonst so sorgfältig geordneten Locken klebten ihr in wirren, feuchten Strähnen am Kopf, das Gesicht war leichenblass. Friedrich blickte besorgt zur Hebamme, die ihm gefolgt war.
»Schläft sie ?«
»Noch nicht. Wir sind noch nicht fertig. Ihr solltet wirklich besser gehen, Herr.«
Maria Josefa krümmte sich im Bett. Ein Wimmern kam über ihre aufgesprungenen Lippen.
»Was ist ? So tut doch etwas !« Friedrich ballte die Fäuste.
»Das gehört eben mit zu einer Geburt. Ihr Männer habt ja keine Ahnung ! Aber nun fott mit Euch. Mir han zu schaffe.«
Resolut schob die Hebamme Friedrich zur Tür. Er konnte gerade noch »Halte durch, mein Mädchen« flüstern, dann fand er sich draußen auf dem Flur.
»Bitte, Herr !« Hinter ihm stand die Küchenmagd, die mit zwei Kannen in den Händen die Dienstbotentreppe heraufgekommen war.
»Was ist ? Ach so.« Hastig gab Friedrich die Tür frei.
Ich habe einen Sohn, dachte er. Auch wenn ich ihn noch nicht mit eigenen Augen gesehen habe, ich habe einen Sohn. Danke, Marie. Nachdenklich ging er die vordere Treppe hinunter und setzte sich wieder ins Herrenzimmer. Dort lag die Zeitung auf dem Rauchtisch. Aber die Nachrichten aus Frankfurt interessierten ihn genauso wenig wie die Berichte aus der weiten Welt. Versonnen betrachtete er die Scherben im Kamin.
»Bertram sollst du heißen, mein Sohn, Bertram Konrad. Gleich morgen gebe ich es bekannt. Geboren am 27. Juli 1828. Mein Sohn ist ein Sonntagskind. Das bedeutet Glück im Leben. Und Scherben bringen ebenfalls Glück. Da reut es mich doch nicht um das Glas.« Kaufmann Geisenheimer lächelte breit, als er daran dachte, wer ihm beigebracht hatte, einen Trinkspruch mit Scherben zu besiegeln. Alexander Iwanowitsch Mendler, der Tuchhändler aus Sankt Petersburg, war mit einem dicken Orderbuch und einem noch dickeren Koffer zur letzten Herbstmesse nach Frankfurt gekommen. Der Russe hatte darauf bestanden, jeden einzelnen Posten mit einem Glas Wodka zu besiegeln. Den hatte er praktischerweise auch gleich mitgebracht und Flasche um Flasche hervorgezaubert. »Ohne Wodka«, hatte er gesagt, »ohne das Wässerchen, das alles Unwichtige wegspült, mache ich keine Verträge. Und wer da nicht mithalten kann, der kann mir auch im Geschäft das Wasser nicht reichen.« Unwillkürlich griff sich Friedrich Bertram an den Kopf. Was hatte er damals für einen Brummschädel gehabt. Tagelang ! Und immer wieder hatte neuer Wodka auf dem Tisch gestanden, war ein neuer Vertrag unterschrieben worden, hatte er dem Russen durchaus das Wasser reichen können. Jedes Mal hatte der ihm zugeprostet, mit einem Trinkspruch die Ewigkeit der Handelsbeziehungen beschworen und dann den Wodka in einem Zug hinuntergestürzt. Anschließend war das Glas jedes Mal in hohem Bogen an die Wand geflogen. »Das ist gut fürs Geschäft«, hatte Alexander
Iwanowitsch nur gelacht. »Gut für den Tapezierer«, hatte Friedrich Bertram daraufhin gemurmelt. Am dritten Tag war der Russe endlich so weit gewesen, dass er das Glas wenigstens in den Kamin warf. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte Kaufmann Geisenheimer gar nicht anders, als zugeben, dass die Kosten für das Neutapezieren des Herrenzimmers schon durch einen einzigen der russischen Verträge mehr als gedeckt waren. Und als Alexander Iwanowitsch als Abschiedsgeschenk auch noch mit einer großen Kiste feinster Kristallgläser aufwartete, war auch das Hausfrauenherz von Maria Josefa versöhnt gewesen.
Friedrich Bertram sah wieder auf die Scherben im Kamin. Ja, eines der russischen Gläser. Ich werde ihm schreiben, dachte er, das soll er doch wissen, dass ihm das Haus Geisenheimer auch in Zukunft noch lange das Wasser reichen kann.
Kaufmann Geisenheimer spürte, wie die Sorgen der letzten Stunden nach und nach von ihm abfielen. Dabei habe ich doch nur warten müssen, dachte er. Die tatsächliche Arbeit und die Schmerzen hattest ja du, mein Mädchen. Aber das hat der Herrgott eben so eingerichtet. Und dafür soll es dir an nichts fehlen. Wieder polterten Holzpantinen auf der hinteren Treppe. »Die ist wirklich ein Trampel«, murmelte er, »da hat die Kathrein schon recht. Und meine Marie braucht Ruhe, hat die Hebamme gesagt. Vielleicht sollte ich die Pantinen im Haus ganz verbieten ? Genau. Das mache ich. Sollen sie doch Filzschuhe anziehen. Dienstboten darf man nicht hören, sagt das nicht Tante Lisabeth auch immer ?«
Friedrich Bertram nahm ein neues Glas aus dem Schrank und setzte sich in den Sessel, von dem aus er den besten Blick auf das Porträt seiner Frau hatte. Wieder stieg ihm der Duft des alten Weinbrands in die Nase. »Auf Bertram Konrad. Und auf dich, mein Mädchen ! Und auf euer beider Gesundheit !«
Glühendem Samt gleich rann der Cognac ihm durch die Kehle. Wie er dieses Gefühl genoss ! Das war doch etwas anderes als dieser Wodka. Aber was tat ein Kaufmann nicht alles, wenn es ums Geschäft ging !
Mit den russischen Verträgen in der Hinterhand, hatte sich ganz anders reagieren lassen, als die Arbeiter in der Baumwollweberei mehr Lohn forderten. Die sollen doch zufrieden sein mit dem, was sie haben, dachte Friedrich Bertram. Lohn und Brot. Sollen sie sich eben etwas einschränken, dann geht das schon. Es gibt so viele, die nur darauf warten, bei mir anfangen zu dürfen. Täglich sprechen in Niederrad Weber vor, letzthin sogar einer, der bis von Schlesien hergewandert war. Aber bei Geisenheimer ist man eben gut untergebracht, so etwas spricht sich herum. Auch unter den Armen. Gerade bei denen. Was haben die Kaufleute von der Alten Limpurg gelacht, als ich auf dem Webereigelände eine Schulstube einrichten ließ, in der die Kinder nach der Nachtschicht zwei volle Stunden im Lesen und Schreiben unterrichtet werden ! Aber dafür muckt bei mir auch keiner auf, selbst wenn ich wegen der schlechten Zeiten die Löhne senke. Man muss eben wissen, wann sich ein bisschen Investieren in die Zukunft lohnt. Und jetzt habe ich ja eine ganz spezielle Option. Ein Stammhalter, der ist besser als eine Stammaktie. Mein Sohn wird das Haus Geisenheimer führen, wenn ich einmal nicht mehr bin. Wachs du nur recht und gedeihe. Die Richtung gebe ich dir schon. Friedrich Bertram hob das Glas und leerte es bis zur Neige. Mit Schwung warf er es schließlich in den Kamin. In das Klirren mischte sich das Schrillen der Türglocke.
»Herr, der Herr Doktor Mathiesen ist gekommen«, meldete der Hausknecht kurz darauf. »Er ist gleich hoch zur Gnädigen.«
»Das ist gut, Martin. Richte ihm aus, ich ließe ihn anschließend bitten. Ich werde hier auf ihn warten. Und sag der Köchin, sie soll einen Krug Apfelwein bringen, den aus Niederrad, den mag der Herr Doktor besonders gern.«
Gut, dass der Arzt jetzt im Haus ist, dachte Friedrich Bert
Dieser Meinung war im Übrigen auch Doktor Mathiesen, als der sich endlich im Herrenzimmer eingefunden hatte. Nach einem Cognac auf die glückliche Geburt wechselte er sogleich zum Apfelwein.
»Ich weiß, Geisenheimer, heimlich lachen Sie über mich und meine Vorliebe für unseren schlichten, heimischen Äbbelwoi. Aber ich weiß auch nicht, was los ist, ich muss noch zu drei Geburten. Wenn sich die Damen denn endlich dazu entschließen. Irgendwie scheint diese Sommerhitze selbst die natürlichsten aller Vorgänge zu lähmen.«
Doktor Mathiesen hob sein Glas. »Und Äppler erinnert natürlich auch an das Paradies, aus dem uns Evas Naschhaftigkeit vertrieben hat. Da brauchen die Frauen gar nicht nach dem Warum zu fragen, wenn sie bei der Geburt leiden. Steht ja alles in der Heiligen Schrift. Unter Schmerzen und so weiter.«
Wie gut kannte Kaufmann Geisenheimer inzwischen die Gewohnheit des Stadtarztes, stets mit einem Bibelzitat aufzuwarten. Nun gut, Doktor Mathiesen war ein Pfarrerssohn und hatte die Heilige Schrift sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Und es stimmte ja auch. Im dritten Kapitel, in Moses' erstem Buch, stand es doch, dass das Weib dazu verdammt war, Schmerzen zu leiden. Dafür musste der Mann eben schuften und sich plagen. Auch er. Gleich morgen würde er wieder im Kontor sitzen. Nicht, dass er seinem Sohn etwa einen schlecht bestellten Acker hinterließe.
»Aber eines muss ich Ihnen sagen, Geisenheimer. Das Kind ist schon sehr zart. Ein bisschen schwach scheint es mir auch zu sein. Natürlich müssen Sie Ihre Frau erst einmal schonen. Aber verlassen Sie sich dann nicht zu sehr auf Ihren Stammhalter. Nicht immer ist gleich ein Arzt zur Stelle. Unsere Kunst geht auch nur so weit. Letzten Endes liegt doch alles in Gottes Hand. So auch das Geschick. Hoffen wir, dass alles gut geht und dass nicht das tückische Kindbettfieber eintritt.«
Nachdenklich strich sich Doktor Mathiesen durch den gepflegten Bart. »Man sagt, dass es wohl eine Epidemie sei. Und doch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass es wieder einmal so weit ist. Hoffen wir also das Beste, mein teurer Freund.«
Während der Arzt sich Apfelwein nachschenkte, griff Friedrich Bertram nach dem Cognac. Er hatte vollstes Vertrauen in Doktor Mathiesen, der da in seinem dunklen Gehrock vor ihm saß. Dessen ärztliche Kunst hatte noch nie versagt. Aber für alles gab es ein erstes Mal. Er seufzte und zuckte mit den Schultern.
»Ich habe vorsichtshalber einen Platz reserviert, auf dem neuen Hauptfriedhof. An der Mauer. Nicht dass ich meine Frau noch in einem Reihengrab beisetzen muss. Was sich die Stadtväter nur dabei gedacht haben !«
»Nun ja, der neue Friedhof wird eben dringend gebraucht. Aber diese Gleichmacherei, einfach ein Grab nach dem anderen, ganz einerlei, wer kommt, der nächste freie Platz ist seiner, das kann ich auch nicht gutheißen. Kein Wunder, dass sie schließlich klein beigegeben haben und die Plätze ringsum an der Mauer für die großen Namen reservieren ließen. Da gehört ein Geisenheimer nämlich hin, nicht zwischen all die Kleinbürger und Krämer. Und schon gar nicht vor der Zeit.«
»Das walte Gott, dass ich die Option noch lange nicht einlösen muss. Letzten Endes sind wir alle in Seiner Hand. Da haben
Sie recht. Aber es ist trotzdem gut, einen tüchtigen Arzt zu kennen. Auf Ihr Wohl !«
»Und auf das Ihrige ! Oder trinken wir doch besser noch einmal auf die Kindsmutter und den Stammhalter. Möge er zu einem kräftigen Sohn heranwachsen, der dem Hause Geisenheimer zur Zierde gereicht !«
Lag es daran, dass der Apfelwein einfach nicht genügend Alkohol enthielt, damit den Trinkspruch sich auch bewahrheiten konnte ? Oder hätten die beiden Männer die Gläser à la russe zerschmettern müssen ? Der alte Cognac konnte jedenfalls wohl kaum der Grund gewesen sein, dass sich der Trinkspruch nicht wie gewünscht erfüllte. In den folgenden Jahren war Doktor Matthiesen häufig im Haus des Kaufmanns zu Gast. Zwar blieb Maria Josefa von dem gefürchteten Kindbettfieber verschont, das selbst im modernen Frankfurt noch immer viele Kinder bereits kurz nach der Geburt zu Halbwaisen machte, aber Bertram Konrad war ein schwächlicher Knabe, der häufig erkrankte. Wie anders entwickelte sich da die kleine Stephanie ! Die war zwei Jahre nach ihrem Bruder zur Welt gekommen, mitten in einem klirrend kalten Winter. Aber sie wuchs und gedieh, während der Sohn des Hauses ständig kränkelte. Selbst die gefürchteten Pocken überstand das Mädchen ohne Schaden, im Gegensatz zu seinem Bruder, dessen Wangen etliche Narben verunstalteten, die nur langsam verblassten. Manchmal fragte sich Friedrich Bertram, ob Gott ihm ein Zeichen geben wollte. Sollte er sich womöglich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen ? Ein Stammhalter im Haus bedeutete ja nicht, dass die Zukunft der Kaufmannsfamilie gesichert war. Nicht, wenn der so war wie sein Bertram Konrad. Der zeigte zwar einen gewitzten Kopf, war flink im Rechnen und erwies sich als anstellig, aber mit seiner Gesundheit stand es weiterhin nicht zum Besten. Keine der üblichen Kinderkrankheiten hatte er ausgelassen, und immer war es eine Sache auf Leben und Tod gewesen. Brachte der Herbst
wind die ersten Regentage, konnte man davon ausgehen, dass der Junge bald anfangen würde zu husten. Und auch von sonstigen Unglücken blieb er nicht verschont. Den Fünfjährigen hatte der zitternde Kutscher unter dem Fuhrwerk hervorgezogen, nachdem die Pferde durchgegangen waren. Fast eine komplette Wagenladung Seidenstoffe war bei dem Unfall verdorben worden, als die Ballen bei strömendem Regen im Straßenkot gelandet waren. Und wie Bertram Konrad überhaupt auf die Kutsche gekommen war, hatte niemand zur Zufriedenheit des Kaufmanns erklären können. Dabei wussten doch alle im Haus, dass der Knabe die Zukunft der Firma war. Einen weiteren Sohn würde es für Friedrich Bertram und Maria Josefa nicht geben. Zwei Jahre nach Stephanies Geburt hatte es so ausgesehen, als ob das Glück des Hauses Geisenheimer auf ein solideres Fundament kommen würde. Aber dann war es wieder eine Totgeburt geworden, die Kindsmutter schon am Rande des Grabes gewesen. Nein, Bertram Konrad, so schwächlich er auch war, würde einst die Firma leiten. Wenn er denn nicht zur Unzeit starb. Wie oft saß Kaufmann Geisenheimer am Sonntagnachmittag im Herrenzimmer und grübelte darüber nach !
»Kinder, seid ruhig !«, ermahnte der Hausdiener die Kleinen dann, wenn die beiden wieder einmal durch das Haus tollten. »Euer Herr Vater denkt !«
»Das tut er doch immer«, behauptete Stephanie vorwitzig. »Und was sollen wir machen ? In den Garten gehen ? Bei dem Wetter ? Nachher ist der Bertie wieder krank. Und der Herr Doktor Mathiesen hat doch gesagt, dass er mehr Bewegung braucht.«
»Du kannst der Köchin helfen«, wies Martin sie an. »Die wird dir schon Arbeit verschaffen. Kinder soll man allenfalls sehen. Aber nicht hören. Also, ab mit dir. Und der Bertram, der kommt mit mir.«
Die Köchin war in den letzten Jahren zwar nicht milder geworden mit den Hausmädchen, aber die Tochter des Hauses behandelte sie mit unerschütterlicher Freundlichkeit und befand, dass sie ein »goldisches Kind« sei. Manchmal durfte Stephanie sogar in den Besteckschubladen kramen und anschließend das Silber wieder ordnen. Sie liebte es, ihr verzerrtes Gesicht in der großen Schöpfkelle zu betrachten und sich selbst Fratzen zu schneiden. Die dicke Kathrein war die Einzige, die sie nicht schalt, wenn sie solche Faxen machte.
Martin blickte dem fröhlich davonhopsenden Mädchen hinterher und legte dann den Arm um Bertrams schmale Schultern. »Wir zwei Männer gehen jetzt mal auf den Speicher.«
Der Junge strahlte. »Müssen wir wieder alte Kontorbücher und Korrespondenzen heraussuchen ?«
»Genau, mein Junge. Der Herr will sich gründlich auf die Herbstmesse vorbereiten, wie jedes Jahr.«
»Ach, ich weiß, es geht darum, zu sehen, welche Verträge wirklich pünktlich bezahlt wurden und wer welches Gastgeschenk bekommen hat. Darf ich dem Herrn Vater eine Liste machen ?«
»So wird es wohl das Beste sein. Du bist ja ein heller Kopf und passt gut auf beim Lernen. Du findest die richtigen Bände bestimmt viel schneller als ich mit meinen schwachen alten Augen.«
Kaufmann Geisenheimer hatte das Gespräch im Gang mitgehört. Es ist ungerecht, dachte er und starrte in sein Cognacglas. Stephanie wächst, blüht und gedeiht. Und der, dem ich alles vermachen will, ist meine größte Sorge. Ich will mich nicht versündigen. Doch wenn es andersherum wäre, weiß Gott, es wäre einfacher. Dabei liebe ich sie beide. Und ich werde Stephanie gut verheiraten. Der Name Geisenheimer hat Gewicht, weit über Frankfurt hinaus. Die Mitgift wird nicht zu verachten sein. Da lasse ich mich doch nicht lumpen ! Aber in fremde Hände will ich mein Geschäft nicht legen. Ein Schwiegersohn ist eben kein Geisenheimer. Blut ist dicker als Wasser. Auch wenn es in Bertrams Adern so schwächlich fließt. Und er hat ja Geschick für das Geschäft. Er interessiert sich für alles, will ins Kontor, besucht die Weberei. Wenn er auch nicht richtig anpacken kann beim Aufladen, aber dafür gibt es doch Leute, die wir dafür bezahlen. Aus meinem Jungen wird noch ein guter Kaufmann. Wenn er nur bei besserer Gesundheit wäre ! Neun Jahre alt wird er nächste Woche. Und im Herbst kommt er in die Musterschule. Wenn seine Gesundheit nur hält, dann braucht mein Sohn keinen Hauslehrer mehr. Auf dem Realgymnasium lernt er die Söhne der anderen Handelsherren kennen. So knüpft man schon früh Geschäftsbeziehungen, die ein Leben lang halten. »Auf dein Wohl, mein Junge. Und auf das der Firma !«
Auf die Musterschule freute sich auch Bertram, aber noch mehr freute er sich auf die Sommerfrische in Niederrad, zu der er gleich am nächsten Tag aufbrechen sollte. Tante Lisabeth war mittlerweile zu gebrechlich, um ihre regelmäßigen Besuche im Haus der Geisenheimer beizubehalten. Der Kaufmann war damit zufrieden gewesen, und so übernahm es eben Maria Josefa mit den Kindern, die Familienbande zu pflegen. Bei den Besuchen langweilte sich die kleine Stephanie zwar meist von Herzen, aber auch die Großtante hatte eine Küche, in der es immer neue Wunder zu entdecken gab. Außerdem war da eine Tigerkatze, an die das Mädchen sein Herz verloren hatte. Bertram blieb lieber in der Bibliothek, in der die Tante ihre Gäste zu empfangen pflegte. Sie hielt nichts von der Sitte, Damen im Damensalon zu empfangen und Herrenbesuch gar nicht. Wer zu ihr nach Niederrad kam, konnte sicher sein, die neuesten Romane, Reiseberichte und Journale mit Nachrichten aus aller Welt vorzufinden. Wenn ihr danach war, konnte Tante Lisabeth auch überaus unterhaltsam plaudern. Aber besonders gern saß sie mit ihrem Großneffen zusammen, ein Glas Johannisbeersaft von Früchten aus dem eigenen Garten neben sich und jeder mit der Nase in einem Buch.
»Er ist und bleibt ein Bücherwurm, mein Bertram«, pflegte Kaufmann Geisenheimer zu sagen. »Aber trotzdem kommt er auf die Musterschule und nicht aufs Gymnasium. Das fehlte noch, nachher will er studieren. Und ein studierter Kaufmann, wer nimmt den denn ernst ?«, hatte er Doktor Mathiesen anvertraut. »Gewiss, er ist ein kluger Kopf, er würde sicher auch an der Universität glänzen. Aber was nützt ihm ein Studium, wenn er nachher doch das Geschäft übernimmt ? Nein, er soll sich ganz auf den Kaufmannsberuf vorbereiten.«
»Ja, will er denn überhaupt studieren ?«, hatte sich der Arzt gewundert. »Wenn er krank ist und ich nach ihm sehe, scheint es für ihn stets das Schlimmste zu sein, dass er nicht ins Kontor darf. Bücher kann ich immer lesen, sagt er dann. Aber Geschäfte machen, das geht nur, wenn ich gesund bin. In der Hinsicht brauchen Sie also keine Furcht zu haben.«
»Wenn er gesund ist. Und bleibt. Das ist ja gerade meine größte Sorge. Ich frage mich, warum das einfach nicht besser wird mit ihm. Ich bin gesund, mein Vater war es, mein Großvater auch, niemand in meiner Familie war jemals so kränklich wie mein Bertram. Und selbst Tante Lisabeth ist gegen ihn ja fast ein Ausbund an Gesundheit.« Friedrich Bertram hob hilflos die Schultern. »Manchmal denke ich, es muss an Maria Josefa gelegen haben. Wie oft haben wir es versucht, und immer wieder eine Totgeburt. Da kann doch etwas nicht stimmen !«
»Solcherlei kommt eben vor«, versuchte ihn der Arzt zu beruhigen. »Niemand weiß, wie so etwas zustande kommt. Letzthin las ich etwas im Journal des médecins. Da berichtete ein Arzt aus Schlesien. Er war für die Rekrutierungskommission unterwegs und fand einfach zu viele Knaben, die nicht tauglich waren für den Dienst. Er nannte Unterernährung als eines der Hauptprobleme. Und er behauptete auch, dass viele Kinder schon kaum lebensfähig geboren werden, weil die Eltern sich falsch ernähren oder der Trunksucht anheimgefallen sind. Schlechter Branntwein, schwache Kinder, so lautete sein Fazit. Eine interessante Theorie. Aber auf Ihren Bertram trifft sie ja nun wirklich nicht zu. Dem fehlt es an nichts.«
»Außer an einer guten Gesundheit«, hatte Kaufmann Geisenheimer eingewandt.
»Das ja. Aber das liegt nun sicher nicht an Ihrem wirklich ausgezeichneten Keller.« Doktor Mathiesen hatte sein Glas mit dem Apfelwein gegen das Licht der Lampe gehalten und eine Weile das wechselnde Farbenspiel betrachtet. »Letzten Endes sind wir doch alle in Gottes Hand«, hatte er schließlich gemeint. »Vielleicht stellen Bertrams viele Krankheiten einfach eine Prüfung dar, die Ihnen auferlegt wird, damit Sie sich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen.«
An dieses Gespräch dachte der Kaufmann, als er am nächsten Tag in seinem Büro saß, welches das Wohnhaus der Geisenheimer mit den Geschäftsräumen verband. Aufmerksam studierte er die Listen, die Bertram mit seiner Kinderschrift für ihn angefertigt hatte. »Es ist mir gleich, dass mein Sohn einen schwachen Körper hat«, murmelte er. »Gerade erst neun ist er, und schon weiß er, worauf es bei den Messevorbereitungen ankommt. Beziehungen sind alles.« Zufrieden ließ er seinen Blick durch den Raum wandern. Auf der Karte gegenüber seinem Schreibtisch waren mit bunten Fähnchen alle Handelsverbindungen markiert, die das Haus Geisenheimer bis ins Zarenreich unterhielt. Auch so eine Arbeit von meinem Bertram, dachte der Kaufmann. So sehe ich doch auf einen Blick, wohin ich mich wenden kann, wenn es irgendwo einen Engpass gibt. Er lächelte noch immer, als im offenen Türrahmen plötzlich Martin auftauchte.
»Herr, Herr«, stammelte der Hausknecht atemlos, »es ist etwas passiert.«
Durch das Haus gellte ein Schrei. Friedrich Bertram erkannte die Stimme seiner Frau. Immer wieder hallte ihr »Nein ! Nein !« bis zu ihm. Er starrte den Hausknecht angsterfüllt an, der endlich mit der unheilvollen Nachricht herausrückte. »Es brennt, Herr. In Niederrad.«
In der Weberei kamen immer wieder Unfälle vor. Die Arbeiter waren unachtsam, Kinder träumten vor sich hin oder Material ermüdete ganz einfach. Aber ein Feuer war wahrlich eine weit schlimmere Angelegenheit. Die hölzernen Webstühle, deren mechanischen Teile immer wieder nachgeschmiert werden mussten, gerieten leicht in Brand. Kaufmann Geisenheimer hatte zu diesem Behufe eine Werksfeuerwehr aufstellen lassen, mit eigener Spritze, Eimern und allem, was dazugehörte, um einem Feuer Herr zu werden.
»Aber das ist leider noch nicht alles.« Verlegen zerrte Martin am Saum seiner Jacke. »Es geht um Bertram. Niemand kann ihn finden.«
2
1841
Die letzten Töne der Scarlatti-Etüde verklangen.
»Das war sehr schön, Schwesterherz. Bravo.« Bertram Konrad ließ den Atlas sinken, in dem er geblättert hatte. »Aber was machst du denn für ein Gesicht ?«
Nachdenklich blickte Stephanie aus dem Fenster des Salons. Welch ein Sonntag. Grau in Grau. Tiefe Wolken hingen über der Stadt, wie schon die ganzen letzten Tage. Sicher würde es bald wieder regnen. »Ich beneide dich, Bertie.«
Ihr Bruder sah sie erstaunt an.
»Gut, ich weiß recht artig Klavier zu spielen. Aber ist das denn ein Wunder ? Was soll ich auch sonst den ganzen Tag tun ? Etwa der Köchin helfen oder Mamans Zofe ? Das ziemt sich so recht doch wohl nicht. Die Bibliothek ist voll von Büchern, die mich nicht locken. Du hast die Nase im Atlas und weißt, eines Tages wirst du all die fernen Länder und die Städte tatsächlich selbst bereisen, mit denen wir Handel treiben. Als Sohn und Erbe ist das nichts mehr und nichts weniger als deine Pflicht und Schuldigkeit. Ich komme allenfalls nach Niederrad zur Großtante. Aber die große weite Welt und ich ? Das passt nie im Leben zusammen.«
»Na, hör mal ! Du bist elf Jahre alt. Da würde es mit der großen weiten Welt auch nichts, selbst wenn du ein Junge wärst. Und mit seinem Los zu hadern bringt nichts außer Falten. Sagt Tante Lisabeth doch immer.«
Wider Willen musste Stephanie lachen. »Na, die hat gut reden. Wenn es danach ginge, hat sie genug gehadert für zwei Leben. Ich will mich ja auch nicht wirklich beklagen. Mir ist einfach langweilig. Kein Wunder, bei dem Wetter.«
»Das Wetter kann doch nichts für deine Stimmung, Schwesterchen. Und ich blättere ja nicht einfach so im Atlas. Der Herr Vater hat gesagt, wenn ich schon auf die Musterschule gehe, dann müssen die Noten auch mustergültig sein. Das bin ich der Familie schuldig. Und wenn ich all die Länder und Herrschaften kenne, in die der Kongress das Heilige Römische Reich aufgeteilt hat, dann darf ich ihm eine neue Karte zeichnen fürs Kontor.«
Stephanie legte die Noten zurück aufs Klavier.
»Ich beneide dich. Wirklich. Gut, ich lerne auch, bei den Fräulein. Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und so weiter. Aber bei mir beschränken sich die Höhepunkte im Stundenplan auf Schönschreiben und Handarbeit. Und du ? Du gehst auf die Musterschule, hast Französisch, Mathematik und Geographie. All die modernen Fächer. Du kannst lernen, lernen, lernen. Privatunterricht bekommst du auch noch, Englischstunden und sogar Russisch. Und was machst du ? Drängst den Vater, dass er dich ins Geschäft nimmt, als gewöhnlichen Lehrling.«
Bertram lächelte. »Ich bin eben ein Kaufmannssohn. All dieses Bücherwissen, was nützt mir das ? Kann ich deshalb auch nur einen Ballen Tuch besser verkaufen ? Im kommenden Jahr werde ich vierzehn, da sind andere schon auf dem besten Weg zur Gesellenprüfung. Hör mir also auf mit Schule !«
Versonnen rieb er sich das Bein. Es würde bald regnen, das spürte er in der alten Narbe. Aber eigentlich brauchte er sie nicht für eine zuverlässige Wetterprognose. Es genügte, mit Stephanie zu reden. Immer, wenn das Wetter umschlug, wurde sie unruhig und haderte mit ihrem Geschick.
»Der Vater hat es gesagt, die Mutter hat es gesagt. Du wirst ja sowieso heiraten. Ich weiß es, du weißt es. Was willst du also ?
Unser Name hat Gewicht, du wirst eine gute Partie machen, einem großen Haus vorstehen. Was willst du da mit Geographie ? Oder Geometrie ? Den Haushalt musst du leiten können, dass dir die Köchin nicht auf der Nase herumtanzt oder die Dienstboten dich bestehlen. Das musst du können. Alles andere sind nichts als Alfanzereien.«
»Ich weiß doch, Bertie.« Stephanie klang kleinlaut. »Ich will es ja auch so. Ein großes Haus, nicht so zurückgezogen leben wie die Frau Mama. Gut, sie fährt regelmäßig nach Niederrad zu Tante Lisabeth, aber sonst geht sie allenfalls auf die Redoute, wenn die Kaufherrenschaft das Neue Jahr feiert. Nein, ich will mehr vom Leben, als mit der Köchin schelten, Romane lesen und artig auf dem Klavier präludieren. Bei den Geisenheimer hat es doch immer wieder Frauen gegeben, die im Geschäft mithalfen. So etwas will ich auch. Und da komme ich mit meinem bisschen Schulunterricht bestimmt nicht weit.«
»Du interessierst dich doch gar nicht für Mathematik.« Bertram grinste. »Deine Noten lassen es jedenfalls nicht vermuten.«
»Das liegt aber nur daran, dass das Fräulein Weitensteiner so langsam erklärt, dass auch wirklich jede mitkommt beim Rechnen. Bis sie fertig ist mit dem Explizieren, habe ich die Aufgabe schon längst wieder vergessen.« Stephanie lachte. »Also gut. Rechnen ist wirklich nicht meine Stärke. Aber es muss doch irgendetwas anderes geben für mich.«
»Da gibt es sicher etwas. Aber du bist ein Mädchen, vergiss das nicht.«
»Wie könnte ich auch ? Und ich will es ja gar nicht. Ich denke nur, ich meine, also, ich finde, zu einer guten Partie gehört eben etwas mehr als eine ordentliche Mitgift und gute Manieren. Für das Erste sorgt der Vater, das andere, darum kümmern sich die Fräulein. Und ich ? Ich bin schon elf Jahre alt. Ich kann sticken und stopfen, gehe der Köchin zur Hand, aber natürlich nur so weit, wie es sich geziemt. Ich spiele Klavier, kann die Quadrille tanzen, und ein bisschen Französisch hast du mir auch beigebracht.«
»Aber das langt doch. Völlig. Was willst du denn noch ?«
»Ach, ich weiß es doch auch nicht. Ich weiß nur, dass ich elf Jahre alt bin und mich fühle, als wäre ich hundertelf. Nur dass ich nichts erlebt habe.«
»Genau. Du bist elf. Und ein Mädchen. Finde dich damit ab.«
Spielerisch zupfte Bertram an einem der braunen Zöpfe seiner Schwester, der sich vorwitzig aus dem Haarkranz gelöst hatte. »Das mit den elf Jahren hat ja auch nicht mehr lange Bestand. Sechs Monate noch, dann bist du zwölf.«
Stephanie zog einen Schmollmund. »Und dann ? Dann werde ich dreizehn. Und vierzehn. Und fünfzehn. Und, und, und. Es ändert sich ja doch nichts. Nicht für mich. Und alles nur, weil ich ein Mädchen bin.«
»Aber das bleibst du nicht ewig. Nur wenn du dich aufführst wie Tante Lisabeth und alle deine Verehrer vergraulst. Aber selbst dann. Bei der Mitgift, die der Vater schon zurückgelegt hat für dich ? Da kannst du sicher sein, irgendwann wirst du äußerst vorteilhaft heiraten. Und alles, was du jetzt tust und lernst, bereitet dich darauf vor. Selbst die Quadrille.« Bertram lächelte und schlug erneut den Atlas auf.
»Du nimmst mich nicht ernst. Nicht im Geringsten.« Stephanie zog wieder einen Schmollmund. »Das Geschäft ist dir jedenfalls wichtiger.«
»Ach, Stephanie. Sieh es einmal so. Ohne das Geschäft hättest du kein Klavier, keinen Tanzunterricht, und ganz sicher wäre es auch mit der Mitgift nicht weit her. Und dann könntest du es gänzlich vergessen mit dem anderen Leben. Das gibt es nur, wenn wir einen Mann für dich finden, der dir genau das bieten kann, wonach du dich sehnst. Und der das auch will.«
Manchmal klingt er wie der Vater persönlich, dachte Stephanie. Dabei ist er noch nicht einmal zwei Jahre älter als ich. Und auch, wenn er nicht mehr so oft krank ist, der Unfall in der Weberei, die Brandnarben schmerzen immer wieder. Besonders bei diesem Wetter. Soll er doch mit dem Atlas spielen und seine Karten malen. Noch ist auch er nicht weiter gekommen als bis Niederrad. Wenn er partout Kaufmann werden will und nicht Forscher, was kümmert es mich ?
Wieder öffnete sie das Notenalbum. Während sich die perlenden Scarlatti-Arpeggien in das Trommeln der Regentropfen auf der Fensterscheibe mischten, wanderte Bertrams Finger immer weiter nach Osten. Die Grenzen des Deutschen Bundes hatte er bereits weit hinter sich gelassen, Österreich-Ungarn und das Königreich Preußen hielten ihn nicht zurück. Zumindest im Geist folgte er den Spuren Alexander von Humboldts, der auf Einladung des Zaren vor gut zwölf Jahren Russland bereist hatte und bis an die chinesische Grenze vorgedrungen war. Nein, ein Handelsmann war der weltberühmte Forscher beim besten Willen nicht. Aber er verstand trotzdem viel von Geschäftsbeziehungen. Das wäre es noch, dachte Bertram. Über alles und jedes Bescheid zu wissen. Aber eben nicht nur oberflächlich, wie manche es sich aus den Journalen anlesen, sondern richtig. Doch dafür müsste ich wohl studieren. Und ich will einfach nicht weiter die Schulbank drücken. Ich will mit Waren zu tun haben, Stoffe fühlen, Gewürze riechen und schmecken, Farben sehen, hören, wie es klingt, wenn chinesisches Porzellan ausgepackt wird und der Vater prüfend gegen die Vasen klopft, ob sie wohl keinen Sprung davongetragen haben. Abends die Kasse zählen und über all das den Überblick bewahren, das will ich. Wie der Vater. Und der sagt ja auch, dass ich einen Kopf fürs Geschäft habe. Wenn ich nur nicht wieder krank werde. Dann darf ich wirklich bald mittun. Endlich ! Und dann wollen wir einmal sehen, ob ich meinem Schwesterchen nicht einen guten Mann finde. Wenn es der Vater nicht schon vorher tut. Sie ist ja noch ein Kind. Und ich, ich bin bald Lehrling und ein junger Mann.
Entschlossen klappte er den Atlas zu. »Es sieht aus, als ob der Regen nachlässt«, verkündete er. »Ich gehe aus.«
Stephanie sah ihm nach. Er darf das, dachte sie. Einfach aufstehen, gehen und Freunde besuchen. Er darf das. Er ist ein Junge.
»Was träumst du ?« Maria Josefa Geisenheimer stand in der Tür zum Salon. In dem leichten Hauskleid sah man ihr kaum an, dass sie bereits über vierzig Jahre alt war. Nur die zarten Silberfäden in ihren Locken verrieten ein wenig von ihrem Alter. Zärtlich betrachtete sie ihre Stephanie. »Das war schön, was du eben gespielt hast. An Scarlatti bin ich ja regelmäßig gescheitert. Aber bei dir klingt es federleicht.«
Sie setzte sich auf die Chaiselongue. »Komm einmal her zu mir, Stephanie. Lass den Bertram ausgehen, wie er es nennt. Wir wissen doch beide, dass er zum Assessor Rittershaus geht. Warum er ausgerechnet Englisch lernen muss, ist mir zwar ein Rätsel, aber wenn der Herr Vater das so will, dann wird es schon einen Sinn haben. Dabei spricht tout le monde doch Französisch. Vielleicht ist es ja tatsächlich gut fürs Geschäft. Aber das geht uns Frauen nichts weiter an. Hier habe ich etwas viel Interessanteres. Sieh doch mal, Stephanie !«
Maria Josefa Geisenheimer zog die jüngste Ausgabe des Journal des dames hervor. »Wie es scheint, werden wir unsere Garderobe wieder einmal complètement umstellen müssen. Aber wenn die Frau des Tuchhändlers nicht à la mode geht, wer dann ?«
Maman und ihre Moden. Innerlich seufzte Stephanie. Aber dann inspizierte sie doch den neuen Faltenwurf.
Unterdessen schwitzte Bertram bei Assessor Rittershaus über den unregelmäßigen Verben. »Es hat doch einfach keine erkennbare Regel, wie das funktioniert. To last, dauern, lasted, lasted. Aber to cast, werfen, cast, cast. Wer soll sich da bitte auskennen ?«
»Aber das kann man doch nicht vergleichen. Das eine ist kostbar und schwierig herzustellen, das andere bekommt man fast nachgeworfen. They cast it at you.«
»Genau, mein Junge. Und wenn sie es geworfen haben, was sagen wir dann ?«
»They cast it. Verstanden. Es bleibt trotzdem mühsam.«
»Sei froh, dass du im Französischen schon so gut zurechtkommst. Da geht es zum Teil doch noch viel wilder zu. Aber im Grunde ist alles Gewöhnungssache.«
»Mit wem sollte ich auch Englisch sprechen hier in Frankfurt ? Vielleicht kommt ja gelegentlich ein junger Lord auf seiner Europatour vorbei und schaut sich den Römer an. Aber da sitze ich im Klassenzimmer. Und schon ist er wieder fort, lange bevor die Schulglocke geht.«
»Vergiss nicht den Amerikaner, junger Geisenheimer. Der hat doch eines Tages völlig überraschend bei deinem Vater im Kontor gestanden.«
»Wie könnte ich das vergessen ! Zuerst haben wir kein Wort verstanden. Er sprach kaum Französisch, Deutsch schon gar nicht. Und niemand im Kontor wusste ein Wort auf Englisch zu sagen, außer ›bless you‹. Zum Glück kann der Herr Vater ein bisschen Jiddisch. Und am nächsten Tag hat er Sie auch schon gebeten, mich im Englischen zu unterrichten.«
Wohlwollend klopfte Assessor Rittershaus seinem jungen Schüler auf die Schulter.
»Und du machst auch großartige Fortschritte. Glaub mir, mein Junge, wenn du erst einmal die unregelmäßigen Verben gemeistert hast, kann dir keiner mehr etwas vormachen. Dann
wirst du sogar Romane auf Englisch lesen, Dickens, Shelley, Polidori und so weiter.«
»Fehlt ja nur noch, dass ich Gedichte lese. Pah, ich bin doch kein Mädchen.«
»Aber Gedichte sind doch etwas Wunderbares ! Gerade die aus dem Angelsächsischen. Lord Byron, mein Junge, ich sage nur Lord Byron !«
Mit schwärmerischem Blick musterte der Assessor die Regale in seinem Arbeitszimmer. Dort tummelten sich englische, deutsche, französische Bände, ohne Unterschied. Neben einer Prachtausgabe von Lord Byrons Werken stand auch einiges aus der Feder Augusts von Platen. Aber dafür war sein Zögling doch noch etwas zu jung, vermutete Justus Rittershaus. Der junge Geisenheimer hatte zwar etwas Verwegenes in seinen Zügen, aber daran waren wohl eher die Pockennarben schuld. Diese weiße Strähne an der Schläfe, dort, wo die Haare nach dem Brand in der Baumwollweberei einfach nicht mehr so dunkel wie die übrigen Locken hatten nachwachsen wollen, tat ihr Übriges. Aber der Assessor war entschlossen, trotzdem nichts Unüberlegtes zu wagen. Dem Jungen einmal den Arm um die Schultern legen oder ihn umarmen, wenn die Freude an einer geglückten Übersetzung ihren Tribut forderte, das war das eine. Alles andere hätte seinen Stand in der Stadtverwaltung und der Gesellschaft nur unnötig in Gefahr gebracht. Hätte Kaufmann Geisenheimer seinen Sohn einem Sprachlehrer anvertraut, dessen Leumund nicht einwandfrei war ? Aber genug davon.
»Also gut. Wenn die Literatur nicht zu dir spricht, dann brauchst du auch nicht zu antworten. Aber die Grammatik, mein Junge, die wirst du brauchen, also zurück zu den unregelmäßigen Verben, mein Bester ! Come on, young swain, arise.«
»I arise, you arose, he is arisen.«
»Gut, das heben wir uns dann doch besser auf für den Gottesdienst in der Paulskirche. Bear with me.«
Allmählich gewann Bertram an Sicherheit. Als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, hinter den unregelmäßigen Verben nicht weiter nach einer alles verbindenden Logik zu suchen, gab es nur noch wenig, was Assessor Rittershaus ihm beibringen konnte. Kaufmann Geisenheimer entschied daher, dass eine Konversationsstunde alle zwei Wochen genügen musste, und ließ dafür den Russischunterricht vertiefen. Wenn Alexander Iwanowitsch im Herbst wieder zur Messe kam, sollte Bertram ihn bereits in seiner Muttersprache begrüßen können. Auf das Gesicht des Händlers freuten sich Vater und Sohn schon sehr. Der junge Geisenheimer brachte seinen Russischlehrer allerdings regelmäßig zur Verzweiflung. Was verstand ein Maler aus Jekaterinburg, der sich am Städelschen Kunstinstitut in der Neuen Mainzer Straße westlichen Schliff holen wollte, bevor es weiterging nach Italien, schon von Tuchen und Handelswaren ? Und nun sollte er all die Begriffe kennen, die Bertram Konrad übersetzt haben wollte. Er, Pjotr Nikolajewitsch, dessen Familie nur dann Russisch sprach, wenn die Dienstboten Anweisungen brauchten. Tout le monde sprach doch Französisch. Auch im fernen Jekaterinburg, und das schon lange vor der napoleonischen Invasion. Aber die Studien bei Philipp Veit waren teuer. Was schon allein die Farben kosteten ! Wenigstens zahlte Kaufmann Geisenheimer gut. Und es machte Spaß, Bertram zu unterrichten. Da steckte ein heller Kopf unter den dunklen Locken. Und die Pockennarben ließen den Knaben durchaus interessant erscheinen, zumindest als Modell für ein Gemälde. Aber wenn Pjotr Nikolajewitsch gewisse Regungen verspürte, ging er doch lieber nach Bornheim, wo sich die jungen Damen den Anschein gaben, als hätten sie trotz seiner schmalen Börse nur auf ihn gewartet. Ob er seinen jungen Sprachschüler auch einmal mitnehmen sollte ? Der Maler hatte seine Zweifel. Irgendwann würde der Sohn des Hauses Geisenheimer sicher seine Erfahrungen machen, aber der Kaufherr war dafür bekannt, dass er nur das Beste akzeptierte. So rasch würden seine Fräulein vom Mainufer sicher nicht Bekanntschaft mit Bertram Konrad machen. Der sah gerade von einem langen Traktat auf.
»Stimmt es eigentlich, dass Sie in Russland eine Platinwährung haben ?«
Was für Fragen der Knabe stellen konnte !
»Genau, mein Junge. Der Zar, Gott erhalte ihn, hat darauf bestanden. Obwohl Humboldt ihm davon abriet, damals, als er seine große Forschungsreise machte. Aber im Grunde ist es gleichgültig, worauf eine Währung beruht. Geld bleibt Geld. Die Armen haben es nicht. Und wer es hat, zählt es irgendwann auch nicht mehr, weil sonst der Tag schon herum ist, noch bevor er etwas geschafft hat.« Unwillkürlich blickte Pjotr Nikolajewitsch zum Kaminsims. Dort lag der Umschlag, in dem Bertram Konrad immer das Unterrichtsgeld mitbrachte. Der Farbenhändler wartete schon darauf, der Bäcker wollte seinen Teil und etliche andere auch. Es war an der Zeit, dass das Bild fertig wurde. »Die Auferweckung des Jünglings von Nain«, perfekt im Nazarenerstil gemalt. Philipp Veit hatte es sehr gelobt, und ein Käufer war auch schon gefunden. Bald konnte es losgehen nach Italien. Ich werde dich schon vermissen, mein junger Sprachschüler, dachte Pjotr Nikolajewitsch, auch ohne einen gemeinsamen Besuch in Bornheim.
»Der Vater hat übrigens gesagt, dass ich ab nächsten Monat ins Kontor darf.« Bertram Konrad sah wieder von dem Buch auf und strahlte. »Sind das nicht wundervolle Aussichten ?«
»Du verlässt die Schule ? Jetzt schon ? Dabei bist du ein so heller Kopf. Aber dein Herr Vater wird am Besten wissen, was gut für dich ist, mein Junge. Mit deinem Russisch wirst du ihm im Geschäft eine große Stütze sein.«
Das hoffte auch Bertram Konrad.
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Autoren-Porträt von Ines Thorn
Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie und arbeitet heute als freie Autorin. Die Romane Die Spiegeltänzerin und Die Pelzhändlerin entstammen ihrer kreativen Feder. Bei Weltbild erschienen bereits die ersten drei Bände der Familiensaga um das Handelshaus Geisenheimer, Die Kaufmannstochter, Tochter des Buchdruckers und Die Kaufherrin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ines Thorn
- 2011, 1, 350 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005501
- ISBN-13: 9783868005509
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