Die grauen Seelen
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Die zehnjährige Tochter des Gastwirts, eine kleine Prinzessin, genannt ''Belle du jour'', treibt erdrosselt in einem Kanal. Ein Mann versucht, Licht ins Dunkel zu bringen.
Doch erst viele Jahre später gelingt es ihm, die Geschichte zu erzählen, zusammen mit allen anderen Geschichten, die untrennbar mit ihr verbunden sind: die des einsamen Staatsanwalts, der seine Tage allein auf einem Schloss verlebt; die der wunderschönen Lehrerin Lysia Verhareine, die alle mit ihrem Lächeln bezaubert und sich ihrem Geliebten zum Opfer bringt; die des bretonischen Deserteurs, den der Staatsanwalt foltern lässt; und nicht zuletzt seine eigene, die auch nicht frei von Schuld ist.
Die grauenSeelen von Philippe Claudel
LESEPROBE
Ich weiß nicht genau, wo ich beginnen soll. Es ist schwer.Da ist all die vergangene Zeit, die die Worte nicht hervorholen werden, dasind die Gesichter, das Lächeln, die Wunden. Dennoch muss ich versuchenauszusprechen, was seit über zwanzig Jahren mein Herz nicht zur Ruhe kommen lässt.Das schlechte Gewissen, die wichtigen Fragen. Ich muss das Geheimnis mit demMesser öffnen wie einen Bauch, muss es ergründen, selbst wenn sich dadurch reingar nichts ändern wird.
Sollte man mich fragen, durch welches Wunder ich die Tatsachenkenne, die ich erzählen will, so werde ich nur antworten, dass ich sie kenne,und damit Schluss. Ich kenne sie, weil sie mir vertraut sind wie die Nacht undder Tag. Weil ich mein Leben mit dem Versuch zugebracht habe, sie zu sammelnund wieder zusammenzufügen, damit sie sprechen, damit ich sie höre. Frühereinmal war das Teil meines Berufs.
Ich werde etliche Schatten vorbeiziehen lassen. Vor allemeiner wird im Vordergrund stehen. Er gehörte einem Mann, der Pierre-AngeDestinat hieß. Mehr als dreißig Jahre lang war er Staatsanwalt in V, und erübte seinen Beruf aus wie eine mechanische Uhr, die nie aussetzt, nie stillsteht.Große Kunst, wenn man so will, Kunst, die kein Museum braucht, um sich ihresWertes zu versichern. 1917, im Jahr der «Affäre», wie man bei uns sagte, wobei mandas Wort mit Seufzern und Mimik unterstrich, war er über sechzig Jahre alt undein Jahr zuvor in Pension gegangen. Er war ein hoch gewachsener, hagerer Mann,der aussah wie ein frostiger, majestätischer, abwesender Vogel. Er sprachwenig. Er war sehr eindrucksvoll. Er hatte helle, reglos wirkende Augen undschmale Lippen, eine hohe Stirn und graue Haare.
V liegt etwa zwanzig Kilometer von uns entfernt. 1917 bedeutetenzwanzig Kilometer eine ganze Welt, vor allem im Winter und vor allem in diesemnicht enden wollenden Krieg, der unsere Straßen mit dem Dröhnen von Lastwagenerfüllte und stinkenden Qualm und tausendfachen Donner zu uns brachte, denn dieFront war nicht weit, auch wenn sie uns vorkam wie ein unsichtbares Ungeheuer,ein verborgenes Land.
An unterschiedlichen Orten und in den verschiedenen Kreisenhieß Destinat anders. Im Gefängnis von V. nannten die meisten Insassen ihnBois-le-sang, den Bluttrinker. In einer Zelle habe ich einmal sogar eine mitdem Messer in die dicke Eichentür geritzte Zeichnung gesehen, die ihn darstellte;sie sah ihm übrigens ziemlich ähnlich. Dazu muss man sagen, dass der Künstlerwährend seines zwei Wochen dauernden Prozesses alle Zeit der Welt gehabt hatte,sein Modell zu studieren.
Wenn wir dagegen Pierre-Ange Destinat auf der Straße begegneten,nannten wir ihn «Herr Staatsanwalt». Die Männer lüpften ihre Mützen, dieeinfachen Frauen machten einen Knicks. Die vornehmen Damen, die zu seiner Weltgehörten, nickten nur leicht mit dem Kopf, wie kleine Vögel, wenn sie aus derDachrinne trinken. Das alles berührte ihn kaum. Er antwortete nicht oder sounmerklich, dass man ein gut poliertes Lorgnon hätte tragen müssen, um dieBewegungen seiner Lippen zu erkennen. Nicht aus Verachtung, wie die meistenLeute meinten, sondern, glaube ich, einfach nur aus Gleichgültigkeit.
Dennoch gab es eine junge Person, die ihn beinahe verstandenhat, eine junge Frau, von der ich noch berichten werde, die ihm, aber nur imStillen, den Beinamen Tristesse, Traurigkeit, gab. Vielleicht war es ihreSchuld, dass alles geschah; doch hat sie nie etwas davon erfahren.
Zu Beginn des Jahrhunderts war ein Staatsanwalt n och einbedeutender Herr. Und zu Kriegszeiten, wenn ein einziger Artilleriefeuerstoßeine ganze Kompanie wild entschlossener Kerle niedermähen konnte, war es eineechte Herausforderung des staatsanwaltlichen Handwerks, den Tod eines einzelnenMannes in Ketten zu verlange Destinat handelte, glaube ich, nicht ausGrausamkeit, wenn er den Kopf eines armen Teufels forderte und auch bekam, dereinen Postbeamten niedergeschlagen oder seine Schwiegermutter aufgeschlitzthatte. Er sah den Einfaltspinsel vor sich, in Handschellen, zwischen zweiPolizisten, und bemerkte ihn kaum. Er blickte sozusagen durch ihn hindurch, alswäre der andere schon nicht mehr vorhanden. Destinat hatte es nicht auf einenVerbrecher in Fleisch und Blut abgesehen, sondern verteidigte eine Idee, ganzeinfach eine Idee, die Idee, die er von Gut und Böse hatte. (...)
© 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Übersetzung: Christiane Seiler
- Autor: Philippe Claudel
- 2004, 240 Seiten, Maße: 13,4 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Französ. v. Christiane Seiler
- Verlag: Rowohlt, Reinbek
- ISBN-10: 3498009303
- ISBN-13: 9783498009304
"Claudel schreibt mit dem Skalpell, um die Seele unter der Haut leichter freilegen zu können. Dieser Roman rührt, überwältigt, bringt einen aus der Fassung." (L'Express)
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