Die Hebamme und der Gaukler
Historischer Roman. Originalausgabe
1683: Die Hebamme Anna und ihr Geliebter Lorenzo müssen vor der Kirche aus Wien fliehen. Auf dem Weg in die Toskana lernen sie den Gaukler Claudio kennen, der sie begleitet. Anna ahnt nicht, dass Claudio ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
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Produktinformationen zu „Die Hebamme und der Gaukler “
1683: Die Hebamme Anna und ihr Geliebter Lorenzo müssen vor der Kirche aus Wien fliehen. Auf dem Weg in die Toskana lernen sie den Gaukler Claudio kennen, der sie begleitet. Anna ahnt nicht, dass Claudio ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
Lese-Probe zu „Die Hebamme und der Gaukler “
Die Hebamme und der Gaukler von Beate Maly1
Loibltal, November 1683
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Der eisig kalte Wind wirbelte eine weitere heftige Schnee böe auf und trieb die weißen Flocken in die ver - mumm ten Gesichter der Reisenden. Dort, wo die Haut frei lag, schmerzten die Eiskristalle wie winzig kleine Messerspitzen.
Anna presste die Augen fest zusammen, bis sie durch ihre dichten Wimpern die Umgebung nur noch erahnen konnte. Aber auch mit offenen Augen hätte sie nicht mehr von der Landschaft sehen können. Tiefhängende graue Schneewolken hielten die Berggipfel rund um den Loibl seit den frühen Morgenstunden umfangen, die Bäume rechts und links vom Weg schienen seit Stunden ver schwun den, verschluckt vom Nebel und dem dichten Schnee treiben.
Alles, was Anna erkennen konnte, war Lorenzos hohe Gestalt direkt vor ihr. Außerdem wusste sie, dass ihre Tante Theresa und der zwölfjährige Hannes hinter ihr gingen. Hannes verfügte über viel Ausdauer und Zähigkeit, das hatte er in den letzten Wochen bewiesen. Aber Theresa war nicht mehr die Jüngste. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte und trotz der Kälte und des Schnees aufrecht voranschritt, litt sie am Rheuma, und der beschwerliche Weg durch den Tiefschnee forderte ihr viel Kraft ab.
»Wir hätten gar nicht erst losgehen sollen«, murmelte Anna verärgert vor sich hin, aber niemand hörte sie. Sie hatte es bereits nach dem Frühstück gesagt, hatte versucht, die anderen zurückzuhalten, aber weder Theresa noch Lorenzo hatten auf sie gehört. Sie waren in der letzten Woche bereits zweimal in einen Schneesturm geraten, und beide Male waren sie nur knapp dem Tod durch Erfrieren entkommen.
Bevor sie heute Morgen vom Hospiz St. Leonhard aufgebrochen waren, hatte Lorenzo gemeint: »Das bisschen Schnee kann uns nicht aufhalten.« Ein bisschen Schnee! Anna biss sich auf die Lippen. So viel Weiß wie in den letzten Wochen hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. Die Orientierung hatte sie schon vor Stunden verloren.
»Lass uns umkehren!«, rief sie wütend. Ihre Stimme wurde vom Wind verschluckt, deshalb zog sie ihren Ver - lob ten am Wollmantel und hielt ihn auf.
»Lorenzo, es hat keinen Sinn, wir kommen nicht weiter. In dem Tempo erreichen wir den Pass niemals vor Einbruch der Dunkelheit.«
Lorenzo blieb stehen und drehte sich um. Seine dunk - len Locken klebten nass in der Stirn, und seine hellblauen Augen blickten müde, doch er hätte niemals zugegeben, dass er erschöpft war.
»Pater Michael hat gesagt, dass es ganz in der Nähe eine Hütte gibt, die bewirtschaftet wird. Es kann nicht mehr weit sein.«
»Das sagst du schon seit Stunden, und wer garantiert uns, dass der Weg hier zu dieser Hütte führt?«
Lorenzo verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Wohin - wenn nicht zum Gipfel - soll ein Weg führen, der steil bergauf geht?«
»Hört auf zu debattieren und geht weiter!«, sagte Theresa, die näher gekommen war.
Anna rührte sich nicht vom Fleck. »Ich gehe keinen Schritt weiter. Ich will zurück zum Hospiz.«
Hannes war ebenfalls zu ihnen aufgerückt. Er legte seine in Lumpen eingewickelte Hand an die Stirn und drehte sich einmal um sich selbst. »Alles sieht gleich aus. Wo geht es denn überhaupt zurück zum Hospiz?« Er zitterte vor Kälte, und seine Zähne klapperten laut. Angestrengt starrte er in alle Richtungen, aber außer einer dichten Nebelsuppe war nichts zu erkennen.
»Wieder zurück?« Die alte Frau schüttelte entsetzt den Kopf. »Auf keinen Fall! Wir müssen weiter!«
Wegen Theresa war die kleine Gruppe vor über einem Monat heimlich nachts aus Wien geflohen. Nachdem Anna und Lorenzo die alte Hebamme aus dem Stadtgefängnis befreit hatten, hatten sie sich Richtung Süden auf den Weg gemacht. Aber schon kurz hinter der Stadtgrenze hatte sich herausgestellt, dass der bequeme Weg über Ödenburg und Laibach nach Aquileia im Moment zu gefährlich war. Die Bernsteinstraße, eine uralte Handelsroute, die bereits von den Römern genutzt worden war und die unwirtlichen Alpen umging, war seit der Belagerung Wiens zu einem der unsichersten Reisewege geworden. Soldaten aus der zerschlagenen türkischen Armee zogen raubend und brandschatzend durch den Südosten des Habsburgerreiches und machten mit allen Lebewesen, die ihren Weg kreuzten, kur zen Prozess.
Anna hatte das vorhergesehen, aber Lorenzo hatte ihr zunächst nicht glauben wollen. Er hatte steif und fest behauptet, der Weg über die Berge sei im Winter nicht zu schaffen. Bereits in Mattersburg war klar gewesen, dass Lorenzo sich geirrt hatte. Der Weg, den vor Monaten die osmanischen Reitertruppen genommen hatten, um Wien zu erobern, war immer noch viel gefährlicher als ein Marsch über die Alpen. Um den Resten der türkischen Armee zu entgehen, hatte die kleine Reisegruppe den Weg nach Westen eingeschlagen und war Richtung Gloggnitz gezogen, um über den Semmering und die Fischbacher Alpen in den Süden zu gelangen. Und nun, nach wochenlanger, beschwerlicher Reise über unwirtliche Berge, war ausgerechnet Lorenzo derjenige, der sowohl der Kälte als auch dem Schnee trotzte und unbedingt rasch weiterziehen wollte, um so schnell wie möglich nach Montepulciano in der Toskana zu gelangen.
Theresa setzte ihren kleinen Leinensack, in dem sie all ihr Hab und Gut mit sich trug, für einen Moment im Schnee ab. »Was, wenn der Prediger Abraham a Santa Clara uns einen Suchtrupp hinterhergeschickt hat?« Die Angst in der Stimme der alten Frau war nicht zu überhören. Zu präsent waren ihr noch die Erinnerungen an die nasskalte Gefängniszelle und an den grausamen Mann, der für ihre Verhaftung verantwortlich gewesen war.
Anna erwiderte: »Theresa, mach dich nicht lächerlich, wir sind doch schon viele Meilen weit von Wien entfernt. So viel Macht und Einfluss hat nicht einmal Santa Clara, um zwei unbedeutenden Hebammen einen Suchtrupp über die Alpen nachzuschicken. Mir ist so kalt ... ich ... will zurück ins ... Warme, sonst ... erfriere ich.« Annas Zähneklappern wurde so laut, dass ihre Worte nur schwer zu verstehen waren. Ihre Schultern bebten, und die Knie zitterten. Sie bemerkte nicht, dass Lorenzo ihr einen besorgten Blick zuwarf. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Anna hat recht, wir müssen umkehren, bei diesem Wetter schaffen wir es nicht auf die Passhöhe.«
Überrascht sah Anna auf. Hatte sie sich verhört, oder hatte Lorenzo ihr eben zugestimmt? Was jetzt in seinen Augen zu lesen war, galt ihr allein, und sie spürte, wie ihr trotz der Kälte warm ums Herz wurde. Er machte sich Sorgen um sie und wollte nicht, dass sie fror.
»Theresa, lass uns zurückgehen.«
Widerwillig nickte die alte Frau. »Und wo geht's zurück?«
»Ich glaube, dass wir hier entlang müssen.« Lorenzo deutete auf den Boden, wo ihre Spuren noch erkennbar waren. Aber der Wind fegte mit einer Heftigkeit über die dicke Schneeschicht, dass sie im Nu verschwunden sein würden.
Entschlossen ging Lorenzo voraus, und nur Anna erkannte, dass sich hinter seiner vorgeblichen Entschlossenheit große Unsicherheit und Angst verbargen. Er führte die kleine Gruppe den Hang hinunter und sank bei manchen Schritten bis zu den Knien im Schnee ein. Niemand sprach, denn die Worte wären ohnehin vom Sturm verschluckt worden, und jeder benötigte seine Kraft für den steilen Abstieg. Anna hielt sich dicht hinter Lorenzo, so dass sein Körper ihr Windschutz bot. Ihre Füße schmerzten von der Kälte. Sie versuchte die Zehen in den Lederschuhen zu bewegen, damit sie nicht völlig taub wurden, aber ohne Erfolg. Vielleicht waren sie bereits blau und blutleer.
Plötzlich verlor Anna das Gleichgewicht, als sie auf einer Eisplatte ausrutschte, die sich unter der Schnee - decke befand. Gerade noch rechtzeitig bekam sie Lorenzos Jacke zu fassen, was sie vor einem Sturz bewahrte.
»Geht es?«, fragte Lorenzo. Anna nickte tapfer und marschierte weiter.
Trotz Müdigkeit und Erschöpfung kamen die vier zügig voran. Der Schneefall wurde schwächer und hörte auf, doch der Sturm ließ nicht nach und mit ihm blieb die entsetzliche Kälte. Der Nebel lichtete sich ein wenig, und zu ihrer rechten Seite war ein krumm gewachsener Baum zu sehen.
Erleichtert atmete Anna auf. Sie erkannte das eigenwillige Gewächs wieder, es befand sich ganz in der Nähe des Hospizes St. Leonhard. Am liebsten hätte sie Lorenzo auf der Stelle umarmt, er hatte den richtigen Weg genommen. Bald würden sie wieder vor einem warmen Kachelofen sitzen, eine Tasse heiße Milch zwischen den klammen Fingern und die Füße in warme Wolldecken ge hüllt. Anna beschwor die behaglichen Bilder von Wärme hervor, in der Hoffnung, dadurch die Kälte zu mildern.
Plötzlich durchdrang ein donnerndes Geräusch das heftige Toben des Windes.
»Ein Gewitter?«
Das Donnern hielt an, wurde lauter und näherte sich mit rasanter Geschwindigkeit.
Lorenzo machte einen Schritt auf Anna zu und fasste ihre Hand, in seinen Augen stand das Entsetzen. Er starrte in die Richtung, aus der das bedrohliche Geräusch kam.
»Anna, wenn es stimmt, was man sich über die Berge erzählt ...« Er stockte und sprach nicht weiter.
»Was ist das?«
»Vielleicht eine Lawine.«
»Was ist eine Lawine?«
Das donnernde Geräusch schwoll an, wurde so laut, dass nichts anderes mehr zu hören war. Die Erde bebte, und Anna spürte, wie eine riesige Masse sich rollend auf sie zubewegte. Holz knickte, Bäume brachen und Schnee - staub wirbelte auf.
Lorenzo umklammerte Anna mit beiden Armen und hielt sie fest umschlungen. »Was immer passiert, halte beide Arme über deinen Kopf!«, schrie er gegen das krachende Donnern an. Eine Druckwelle nahm Anna die Luft zum Atmen, und auf einmal baute sich eine Schneewand vor ihr auf, die sie wegfegte. Anna merkte, dass Lorenzo sie immer noch umklammert hielt, sie versuchte die Arme schützend über den Kopf zu halten. Fester, harter Schnee brach über ihr zusammen, begrub sie wie eine lebende Tote. Lorenzo wurde von ihr fortgerissen und mit der Schneemasse den Berghang hinuntergeschoben. Anna schrie, aber ihre Stimme ging im Getöse unter. Kaltes Weiß, wohin sie blickte, dazwischen abgebrochene Äste und Geröll. Anna sah einen riesigen Baumstamm auf sich zukommen, er wurde langsam gegen ihren Unterarm gedrückt. Sie hörte, wie ein Knochen brach, einmal, zweimal, aber sie spürte keinen Schmerz und hielt weiterhin beide Arme schützend über den Kopf. Immer weiter wurde sie fortgetragen, bis sie plötzlich feststeckte.
Völlige Dunkelheit umgab sie. Dunkelheit, vor der sie sich mehr fürchtete als vor Kälte und Schmerz. Aber Anna spürte immer noch nichts, selbst das stechende Pochen in ihren Fingern und Zehen hatte nachgelassen. Sie konnte nur noch flach atmen. Mit den Händen versuchte sie die kleine Höhle über oder unter ihrem Kopf zu vergrößern, aber es ging nicht. Sie hatte überhaupt keine Kraft mehr, fühlte sich völlig gelähmt. War diese Taubheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte, Folge der Kälte, die sie nicht mehr wahrnahm? Eigentlich hätte sie Angst vor dem Erfrieren haben müssen, aber es war allein die Dunkelheit, die sie beunruhigte.
Eine ungeheure Müdigkeit überkam Anna, sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach Schlaf. Aber sie wusste, dass sie diesem Gefühl auf keinen Fall nachgeben durfte. Sobald ihr die Augen zufielen, riss sie sie mit aller Kraft wieder auf. Atmen, denken, atmen, denken ... Aber die Müdigkeit war stärker. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst. Atmen, denken, atmen ...
Der eisig kalte Wind wirbelte eine weitere heftige Schnee böe auf und trieb die weißen Flocken in die ver - mumm ten Gesichter der Reisenden. Dort, wo die Haut frei lag, schmerzten die Eiskristalle wie winzig kleine Messerspitzen.
Anna presste die Augen fest zusammen, bis sie durch ihre dichten Wimpern die Umgebung nur noch erahnen konnte. Aber auch mit offenen Augen hätte sie nicht mehr von der Landschaft sehen können. Tiefhängende graue Schneewolken hielten die Berggipfel rund um den Loibl seit den frühen Morgenstunden umfangen, die Bäume rechts und links vom Weg schienen seit Stunden ver schwun den, verschluckt vom Nebel und dem dichten Schnee treiben.
Alles, was Anna erkennen konnte, war Lorenzos hohe Gestalt direkt vor ihr. Außerdem wusste sie, dass ihre Tante Theresa und der zwölfjährige Hannes hinter ihr gingen. Hannes verfügte über viel Ausdauer und Zähigkeit, das hatte er in den letzten Wochen bewiesen. Aber Theresa war nicht mehr die Jüngste. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte und trotz der Kälte und des Schnees aufrecht voranschritt, litt sie am Rheuma, und der beschwerliche Weg durch den Tiefschnee forderte ihr viel Kraft ab.
»Wir hätten gar nicht erst losgehen sollen«, murmelte Anna verärgert vor sich hin, aber niemand hörte sie. Sie hatte es bereits nach dem Frühstück gesagt, hatte versucht, die anderen zurückzuhalten, aber weder Theresa noch Lorenzo hatten auf sie gehört. Sie waren in der letzten Woche bereits zweimal in einen Schneesturm geraten, und beide Male waren sie nur knapp dem Tod durch Erfrieren entkommen.
Bevor sie heute Morgen vom Hospiz St. Leonhard aufgebrochen waren, hatte Lorenzo gemeint: »Das bisschen Schnee kann uns nicht aufhalten.« Ein bisschen Schnee! Anna biss sich auf die Lippen. So viel Weiß wie in den letzten Wochen hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. Die Orientierung hatte sie schon vor Stunden verloren.
»Lass uns umkehren!«, rief sie wütend. Ihre Stimme wurde vom Wind verschluckt, deshalb zog sie ihren Ver - lob ten am Wollmantel und hielt ihn auf.
»Lorenzo, es hat keinen Sinn, wir kommen nicht weiter. In dem Tempo erreichen wir den Pass niemals vor Einbruch der Dunkelheit.«
Lorenzo blieb stehen und drehte sich um. Seine dunk - len Locken klebten nass in der Stirn, und seine hellblauen Augen blickten müde, doch er hätte niemals zugegeben, dass er erschöpft war.
»Pater Michael hat gesagt, dass es ganz in der Nähe eine Hütte gibt, die bewirtschaftet wird. Es kann nicht mehr weit sein.«
»Das sagst du schon seit Stunden, und wer garantiert uns, dass der Weg hier zu dieser Hütte führt?«
Lorenzo verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Wohin - wenn nicht zum Gipfel - soll ein Weg führen, der steil bergauf geht?«
»Hört auf zu debattieren und geht weiter!«, sagte Theresa, die näher gekommen war.
Anna rührte sich nicht vom Fleck. »Ich gehe keinen Schritt weiter. Ich will zurück zum Hospiz.«
Hannes war ebenfalls zu ihnen aufgerückt. Er legte seine in Lumpen eingewickelte Hand an die Stirn und drehte sich einmal um sich selbst. »Alles sieht gleich aus. Wo geht es denn überhaupt zurück zum Hospiz?« Er zitterte vor Kälte, und seine Zähne klapperten laut. Angestrengt starrte er in alle Richtungen, aber außer einer dichten Nebelsuppe war nichts zu erkennen.
»Wieder zurück?« Die alte Frau schüttelte entsetzt den Kopf. »Auf keinen Fall! Wir müssen weiter!«
Wegen Theresa war die kleine Gruppe vor über einem Monat heimlich nachts aus Wien geflohen. Nachdem Anna und Lorenzo die alte Hebamme aus dem Stadtgefängnis befreit hatten, hatten sie sich Richtung Süden auf den Weg gemacht. Aber schon kurz hinter der Stadtgrenze hatte sich herausgestellt, dass der bequeme Weg über Ödenburg und Laibach nach Aquileia im Moment zu gefährlich war. Die Bernsteinstraße, eine uralte Handelsroute, die bereits von den Römern genutzt worden war und die unwirtlichen Alpen umging, war seit der Belagerung Wiens zu einem der unsichersten Reisewege geworden. Soldaten aus der zerschlagenen türkischen Armee zogen raubend und brandschatzend durch den Südosten des Habsburgerreiches und machten mit allen Lebewesen, die ihren Weg kreuzten, kur zen Prozess.
Anna hatte das vorhergesehen, aber Lorenzo hatte ihr zunächst nicht glauben wollen. Er hatte steif und fest behauptet, der Weg über die Berge sei im Winter nicht zu schaffen. Bereits in Mattersburg war klar gewesen, dass Lorenzo sich geirrt hatte. Der Weg, den vor Monaten die osmanischen Reitertruppen genommen hatten, um Wien zu erobern, war immer noch viel gefährlicher als ein Marsch über die Alpen. Um den Resten der türkischen Armee zu entgehen, hatte die kleine Reisegruppe den Weg nach Westen eingeschlagen und war Richtung Gloggnitz gezogen, um über den Semmering und die Fischbacher Alpen in den Süden zu gelangen. Und nun, nach wochenlanger, beschwerlicher Reise über unwirtliche Berge, war ausgerechnet Lorenzo derjenige, der sowohl der Kälte als auch dem Schnee trotzte und unbedingt rasch weiterziehen wollte, um so schnell wie möglich nach Montepulciano in der Toskana zu gelangen.
Theresa setzte ihren kleinen Leinensack, in dem sie all ihr Hab und Gut mit sich trug, für einen Moment im Schnee ab. »Was, wenn der Prediger Abraham a Santa Clara uns einen Suchtrupp hinterhergeschickt hat?« Die Angst in der Stimme der alten Frau war nicht zu überhören. Zu präsent waren ihr noch die Erinnerungen an die nasskalte Gefängniszelle und an den grausamen Mann, der für ihre Verhaftung verantwortlich gewesen war.
Anna erwiderte: »Theresa, mach dich nicht lächerlich, wir sind doch schon viele Meilen weit von Wien entfernt. So viel Macht und Einfluss hat nicht einmal Santa Clara, um zwei unbedeutenden Hebammen einen Suchtrupp über die Alpen nachzuschicken. Mir ist so kalt ... ich ... will zurück ins ... Warme, sonst ... erfriere ich.« Annas Zähneklappern wurde so laut, dass ihre Worte nur schwer zu verstehen waren. Ihre Schultern bebten, und die Knie zitterten. Sie bemerkte nicht, dass Lorenzo ihr einen besorgten Blick zuwarf. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Anna hat recht, wir müssen umkehren, bei diesem Wetter schaffen wir es nicht auf die Passhöhe.«
Überrascht sah Anna auf. Hatte sie sich verhört, oder hatte Lorenzo ihr eben zugestimmt? Was jetzt in seinen Augen zu lesen war, galt ihr allein, und sie spürte, wie ihr trotz der Kälte warm ums Herz wurde. Er machte sich Sorgen um sie und wollte nicht, dass sie fror.
»Theresa, lass uns zurückgehen.«
Widerwillig nickte die alte Frau. »Und wo geht's zurück?«
»Ich glaube, dass wir hier entlang müssen.« Lorenzo deutete auf den Boden, wo ihre Spuren noch erkennbar waren. Aber der Wind fegte mit einer Heftigkeit über die dicke Schneeschicht, dass sie im Nu verschwunden sein würden.
Entschlossen ging Lorenzo voraus, und nur Anna erkannte, dass sich hinter seiner vorgeblichen Entschlossenheit große Unsicherheit und Angst verbargen. Er führte die kleine Gruppe den Hang hinunter und sank bei manchen Schritten bis zu den Knien im Schnee ein. Niemand sprach, denn die Worte wären ohnehin vom Sturm verschluckt worden, und jeder benötigte seine Kraft für den steilen Abstieg. Anna hielt sich dicht hinter Lorenzo, so dass sein Körper ihr Windschutz bot. Ihre Füße schmerzten von der Kälte. Sie versuchte die Zehen in den Lederschuhen zu bewegen, damit sie nicht völlig taub wurden, aber ohne Erfolg. Vielleicht waren sie bereits blau und blutleer.
Plötzlich verlor Anna das Gleichgewicht, als sie auf einer Eisplatte ausrutschte, die sich unter der Schnee - decke befand. Gerade noch rechtzeitig bekam sie Lorenzos Jacke zu fassen, was sie vor einem Sturz bewahrte.
»Geht es?«, fragte Lorenzo. Anna nickte tapfer und marschierte weiter.
Trotz Müdigkeit und Erschöpfung kamen die vier zügig voran. Der Schneefall wurde schwächer und hörte auf, doch der Sturm ließ nicht nach und mit ihm blieb die entsetzliche Kälte. Der Nebel lichtete sich ein wenig, und zu ihrer rechten Seite war ein krumm gewachsener Baum zu sehen.
Erleichtert atmete Anna auf. Sie erkannte das eigenwillige Gewächs wieder, es befand sich ganz in der Nähe des Hospizes St. Leonhard. Am liebsten hätte sie Lorenzo auf der Stelle umarmt, er hatte den richtigen Weg genommen. Bald würden sie wieder vor einem warmen Kachelofen sitzen, eine Tasse heiße Milch zwischen den klammen Fingern und die Füße in warme Wolldecken ge hüllt. Anna beschwor die behaglichen Bilder von Wärme hervor, in der Hoffnung, dadurch die Kälte zu mildern.
Plötzlich durchdrang ein donnerndes Geräusch das heftige Toben des Windes.
»Ein Gewitter?«
Das Donnern hielt an, wurde lauter und näherte sich mit rasanter Geschwindigkeit.
Lorenzo machte einen Schritt auf Anna zu und fasste ihre Hand, in seinen Augen stand das Entsetzen. Er starrte in die Richtung, aus der das bedrohliche Geräusch kam.
»Anna, wenn es stimmt, was man sich über die Berge erzählt ...« Er stockte und sprach nicht weiter.
»Was ist das?«
»Vielleicht eine Lawine.«
»Was ist eine Lawine?«
Das donnernde Geräusch schwoll an, wurde so laut, dass nichts anderes mehr zu hören war. Die Erde bebte, und Anna spürte, wie eine riesige Masse sich rollend auf sie zubewegte. Holz knickte, Bäume brachen und Schnee - staub wirbelte auf.
Lorenzo umklammerte Anna mit beiden Armen und hielt sie fest umschlungen. »Was immer passiert, halte beide Arme über deinen Kopf!«, schrie er gegen das krachende Donnern an. Eine Druckwelle nahm Anna die Luft zum Atmen, und auf einmal baute sich eine Schneewand vor ihr auf, die sie wegfegte. Anna merkte, dass Lorenzo sie immer noch umklammert hielt, sie versuchte die Arme schützend über den Kopf zu halten. Fester, harter Schnee brach über ihr zusammen, begrub sie wie eine lebende Tote. Lorenzo wurde von ihr fortgerissen und mit der Schneemasse den Berghang hinuntergeschoben. Anna schrie, aber ihre Stimme ging im Getöse unter. Kaltes Weiß, wohin sie blickte, dazwischen abgebrochene Äste und Geröll. Anna sah einen riesigen Baumstamm auf sich zukommen, er wurde langsam gegen ihren Unterarm gedrückt. Sie hörte, wie ein Knochen brach, einmal, zweimal, aber sie spürte keinen Schmerz und hielt weiterhin beide Arme schützend über den Kopf. Immer weiter wurde sie fortgetragen, bis sie plötzlich feststeckte.
Völlige Dunkelheit umgab sie. Dunkelheit, vor der sie sich mehr fürchtete als vor Kälte und Schmerz. Aber Anna spürte immer noch nichts, selbst das stechende Pochen in ihren Fingern und Zehen hatte nachgelassen. Sie konnte nur noch flach atmen. Mit den Händen versuchte sie die kleine Höhle über oder unter ihrem Kopf zu vergrößern, aber es ging nicht. Sie hatte überhaupt keine Kraft mehr, fühlte sich völlig gelähmt. War diese Taubheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte, Folge der Kälte, die sie nicht mehr wahrnahm? Eigentlich hätte sie Angst vor dem Erfrieren haben müssen, aber es war allein die Dunkelheit, die sie beunruhigte.
Eine ungeheure Müdigkeit überkam Anna, sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Körpers nach Schlaf. Aber sie wusste, dass sie diesem Gefühl auf keinen Fall nachgeben durfte. Sobald ihr die Augen zufielen, riss sie sie mit aller Kraft wieder auf. Atmen, denken, atmen, denken ... Aber die Müdigkeit war stärker. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst. Atmen, denken, atmen ...
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Autoren-Porträt von Beate Maly
Beate Maly, geb. 1970 in Wien, verheiratet, zwei Kinder, Kindergärtnerin und Montessori-Pädagogin in Wien; kam 1997 zum Bücherschreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beate Maly
- 2011, 411 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283357
- ISBN-13: 9783548283357
- Erscheinungsdatum: 07.10.2011
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