Die Hexe von Nassau
Roman
Das Herzogtum Nassau im Jahr 1676:
Hier lebt die junge Katharina mit ihrer Mutter in der Nähe der Stadt Idstein. Als Graf Johannes seine grausamen Hexenverfolgungen beginnt, geraten die beiden Frauen in Gefahr. Katharinas Mutter wird...
Hier lebt die junge Katharina mit ihrer Mutter in der Nähe der Stadt Idstein. Als Graf Johannes seine grausamen Hexenverfolgungen beginnt, geraten die beiden Frauen in Gefahr. Katharinas Mutter wird...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Hexe von Nassau “
Das Herzogtum Nassau im Jahr 1676:
Hier lebt die junge Katharina mit ihrer Mutter in der Nähe der Stadt Idstein. Als Graf Johannes seine grausamen Hexenverfolgungen beginnt, geraten die beiden Frauen in Gefahr. Katharinas Mutter wird hingerichtet. Und auch das Mädchen bleibt von Verdächtigungen nicht verschont, denn sie ist in das Visier des skrupellosen Henkers Leonhard Busch geraten. Dieser schreckt vor nichts zurück, um Katharina in seine Gewalt zu bringen.
Hier lebt die junge Katharina mit ihrer Mutter in der Nähe der Stadt Idstein. Als Graf Johannes seine grausamen Hexenverfolgungen beginnt, geraten die beiden Frauen in Gefahr. Katharinas Mutter wird hingerichtet. Und auch das Mädchen bleibt von Verdächtigungen nicht verschont, denn sie ist in das Visier des skrupellosen Henkers Leonhard Busch geraten. Dieser schreckt vor nichts zurück, um Katharina in seine Gewalt zu bringen.
Klappentext zu „Die Hexe von Nassau “
Das Herzogtum Nassau im Jahr 1676: Katharina lebt mit ihrer Mutter in der Nähe der Stadt Idstein. Als Graf Johannes seine grausamen Hexenverfolgungen beginnt, geraten die beiden in höchste Gefahr. Katharinas Mutter wird hingerichtet, und auch das Mädchen bleibt von üblen Verdächtigungen nicht verschont, denn sie ist in das Visier des skrupellosen Henkers Leonhard Busch geraten.
Lese-Probe zu „Die Hexe von Nassau “
Die Hexe von Nassau von Nicole SteyerProlog
... mehr
Dicke weiße Schneeflocken fielen wie Watte vom Himmel, tanzten durch die Luft und schwebten langsam und sacht herab. Katharina blickte sich um und beobachtete ihr Spiel mit dem Wind, der sie durch die engen Gassen wirbelte. Die eine oder andere Flocke flog ihr ins Gesicht, doch sie schien es nicht zu bemerken. Ihre geröteten Wangen waren warm. Katharina kam der Schnee nicht kalt vor. Wie Daunen, die vom Himmel fielen, sah er aus und fühlte sich weich an. Sie spürte einen inneren Frieden, wie ihn nur die ersten Schneeflocken mit sich brachten und den man nur in Momenten wie diesen fühlen konnte.
Den Tag über war es dunkel und grau gewesen. Die Wolken hatten tief am Himmel gehangen, und der Duft des Schnees hatte in der Luft gelegen. Die ganze Zeit hatte sich Katharina gefragt, wann es endlich zu schneien beginnen würde.
Als dann am späten Nachmittag die ersten Flocken vom Himmel gefallen waren, hatte sie innegehalten und ihnen zugesehen. Ganz still hatte sie am Fenster gestanden, nach draußen geblickt und gelächelt.
Der Duft des Schnees, die nun erfüllte Prophezeiung, dass er wirklich kommen würde, ließ sie an ihre Mutter denken. Sie hatte immer vom Geruch des Schnees gesprochen und davon, dass er in der Luft lag. Und jedes Mal hatte sie recht behalten. Wenn sie an Zu Hause dachte, fühlte sich Katharina ein wenig wehmütig. Die Erinnerungen an ihr Heimatdorf - an den Hof, das alte Bauernhaus, die Felder, Hügel und Wiesen - waren weit weg, wie aus einem anderen Leben.
Vorsichtig setzte Katharina einen Fuß vor den anderen und hielt sich dankbar am Arm ihres Gatten fest. Der Boden war hier nicht gepflastert, es war rutschig. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und in der Gasse gab es nur wenige Laternen.
Hin und wieder drang Licht durch eines der kleinen Fenster nach draußen. Normalerweise ging Katharina ungern im Dunkeln durch die engen Gassen. Sie verabscheute die Winkel und Ecken, hinter denen jederzeit Gefahr lauern konnte. Aber heute war es anders, heute war es lebendiger als sonst. Um sie herum herrschte reges Treiben.
Das Martinsfest wurde mit einem großen Feuer auf dem Marktplatz gefeiert. Viele Leute hatten sich auf den Weg gemacht. Katharina beobachtete die Menschen, die gemeinsam mit ihnen die Gasse hinuntergingen. Einige kannte sie. Der alte Metzgermeister, bei dem sie immer ihr Fleisch holte, lief mit einer Horde Kinder winkend an ihnen vorüber und zwinkerte Katharina fröhlich zu. Seine Frau folgte ihm. Sie wirkte leicht abgehetzt und trug ein laut brüllendes Baby auf dem Arm. Katharina warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Irgendwie sah sie nicht so aus, als würde ihr der Ausflug Freude machen.
An der nächsten Ecke wurde sie freundlich von zwei Frauen gegrüßt. Die beiden arbeiteten genauso wie Katharina als Schneiderinnen. Alle drei waren in einer der größten Nähereien der Stadt tätig. Ihre Kolleginnen waren ebenfalls mit ihren Ehemännern unterwegs. Katharina musterte die beiden. Anscheinend hatten sie sich fürs Martinsfest extra hübsch zurechtgemacht. Sie trugen weiße Schürzen, die am Saum mit Spitzen bestickt waren. Ihre Haare waren ordentlich unter Hauben versteckt, und ihre langen, wollenen Umhänge hatten sie sich mit hübschen bunten Bändern um den Hals gebunden. Katharina sah kurz an sich hinunter. Sie hatte es heute mit der Garderobe nicht so genau genommen. Ihr war es eher wichtig, nicht zu frieren. Allerdings waren ihr die hämischen Blicke der beiden Frauen nicht entgangen. Sie schämte sich ein wenig. Vielleicht hätte sie heute Abend doch mehr Wert auf ihr Äußeres legen sollen.
»Vorsicht!«
Schnell zog ihr Gatte sie ein Stück näher an sich heran, als eine Gruppe Kinder laut kichernd an ihnen vorbeilief.
»Sie sind alle ganz aufgeregt«, sagte Katharina lachend und genoss seine Nähe und Wärme. Er fror anscheinend nie, sogar jetzt hatte er warme Hände. Sie blieben kurz stehen, und er strich ihr eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht. Sie hatte es mal wieder nicht geschafft, ihre störrischen Haare zu bändigen. Doch er lächelte nachsichtig. Genau dafür liebte er sie. Er mochte es, wenn sie ein wenig zerzaust aussah, sie wirkte dann nicht so streng. Sogar hier in der dunklen Gasse konnte er ihre Sommersprossen erkennen, und selbst im Dämmerlicht schien ihre porzellanartige Haut ein wenig zu leuchten.
»Ist dir kalt?«, fragte er und rieb ihr fest über die Arme.
»Nein, mir ist warm.« Wieder liefen einige Kinder an ihnen vorbei.
»Lass uns lieber weitergehen. Sonst verpassen wir noch alles.«
Kurze Zeit später traten sie auf den Marktplatz. Katharina liebte diesen Moment. Jedes Mal, wenn sie die Dunkelheit der Gassen verließ und den Platz betrat, kam es ihr vor, als wäre es das erste Mal. Hier war alles groß, hell und freundlich. Vor ihr ragten die Zinnen des mächtigen Rathauses in den Himmel. Der weitläufige Platz war umgeben von wunderschön gepflegten Fachwerkhäusern, die sich eng aneinanderschmiegten. Hinter ihnen erhob sich der beeindruckende Dom. Er war das größte Gebäude, das sie jemals im Leben gesehen hatte, und faszinierte sie jedes Mal aufs Neue. Der Platz war gut gefüllt. Kinder liefen laut kreischend durcheinander. Die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich lachend. Es roch nach warmem Apfelwein und frisch gebackenem Brot. Am Rand des Platzes waren einige Holzbuden aufgebaut worden, vor denen sich die Menschen drängelten.
In der Mitte des Platzes war ein großer Holzstapel errichtet worden, der weit in den grauen, dunklen Himmel ragte. Katharina wurde nun doch kalt. Fröstelnd rieb sie sich die Hände.
»Komm, lass uns weiter nach vorn gehen. Dann können wir uns gut am Feuer wärmen.« Ihr Mann zog sie einfach mit sich. In dem Moment, als sie aus der Menge heraustraten, entzündeten zwei Männer den großen Holzstoß. Jubel brach auf dem Marktplatz aus. Irgendwo begann ein Musikant auf seiner Geige ein fröhliches Lied zu spielen. Doch Katharina war das in diesem Moment gleichgültig. Sie hatte gehofft, dass sie stark sein würde, aber nun blickte sie wie hypnotisiert in die Flammen, die immer höher züngelten und sich ins Holz fraßen. Auf einmal kam sie sich schrecklich allein und verlassen vor. Nichts war geblieben von dem Frohsinn und der Zuversicht, die sie gerade eben noch in der Gasse empfunden hatte. Die Musik drang nicht mehr an ihr Ohr, und sie hörte auch die kreischenden Kinder nicht mehr. Die Erinnerung hatte sie eingeholt - dazu der unglaubliche Gestank, den sie niemals in ihrem Leben vergessen würde. Und plötzlich konnte sie sie hören. Die Stimmen waren in ihrem Kopf, raubten ihr die Kraft und ließen sie erzittern.
»Verbrennt sie, verbrennt die Hexen!«
Funken tanzten in den Nachthimmel und bildeten einen seltsamen Kontrast zu den weißen Schneeflocken. Das Holz knackte und barst in den Flammen, und plötzlich konnte sie sie sehen: die Hände und Füße, die Körper, wie sie immer mehr zerfressen wurden. Wie die Hitze in die Haut drang und den Menschen ihre Gesichter nahm. Der unglaubliche Gestank des brennenden Fleisches stieg in ihre Nase. Es stank erbärmlich, war unerträglich.
»Meine Liebe, ist alles in Ordnung?«, hörte sie ihren Gatten fragen, während sie die ersten Schritte rückwärtsging. Sie konnte hier nicht bleiben. Abrupt drehte sie sich um und rannte fort von dem Feuer und der Erinnerung.
1. Kapitel
Ein empfindlich kalter Wind wehte über den Marktplatz in Idstein und brachte bereits die ersten Regentropfen. Fröstelnd rieb sich Katharina über die Arme und blickte zum Himmel. Die Sonne, die noch vor kurzem von einem wolkenlosen Himmel geschienen hatte, war urplötzlich verschwunden. Der Marktplatz versank in der Dunkelheit des herannahenden Unwetters. Um sie herum war ein heilloses Durcheinander ausgebrochen. Die Händler packten eilig ihre Waren ein. Klirrend ging irgendwo ein Tontopf zu Bruch, und die Töpfe und Pfannen, die an einem der Nachbarstände verkauft wurden, schepperten im Wind.
Eilig rannte eine Gruppe Schausteller an Katharina vorbei. Gerade hatten sie noch getanzt und musiziert, jetzt flatterten ihre bunten Gewänder im auffrischenden Wind, der einer jungen Tänzerin sogar eines der bunten Bänder aus dem Haar riss.
Wo war nur der schöne Tag geblieben? Die Sonne hatte sich in den sauber polierten Fenstern der Häuser, die den Marktplatz säumten, gespiegelt. Der Duft von frisch gebratenem Fleisch und leckerem Brot hatte in der Luft gehangen, und die Gesichter der Menschen hatten Zuversicht und Freude ausgestrahlt. Eine Schar Gänse lief schnatternd an Katharina vorbei, gefolgt von einigen Hühnern. Sie zuckte erschrocken zusammen. Ein junges Mädchen, nicht älter als fünfzehn Jahre, rannte den Tieren verzweifelt hinterher.
Katharinas Mutter packte bereits hastig ihre Waren zusammen. Blusen, Kleider, Stoffe und Nähgarn wanderten unordentlich in ihren alten Karren. Katharina rollte die Spitzenbordüren ein, die sie und die Mutter zuvor liebevoll an den Rand des Brettes gehängt hatten, auf dem sie immer ihre Kleidungsstücke ausstellten. Es regnete immer stärker. Dicke Tropfen wurden vom Wind über den Platz getrieben, der sich in ein Pfützenmeer verwandelte. Katharinas Haarknoten hatte sich gelöst, rote Locken klebten in ihrem Gesicht. Das dunkelblaue Leinenkleid, das sie heute Morgen extra für den Markttag angelegt hatte, war bereits vollständig mit Wasser vollgesogen und hing schwer und kalt an ihr herunter.
»So ein Unwetter aber auch. Es ist eine Katastrophe. Einige der Sachen können wir bestimmt nicht mehr verkaufen.« Ihre Mutter stöhnte. Eva Heinemann war etwas kleiner als ihre Tochter. Ihr Haar hatte aber dieselbe kupferrote Farbe, auch wenn es bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Mit vereinten Kräften schoben sie das Brett auf den Karren und schützten damit wenigstens ein wenig die darunterliegenden Kleidungsstücke und Stoffe. Katharina atmete erleichtert auf, als sie es endlich geschafft hatten. »Gott sei Dank. Das schwere Ding. Es ist bei der Nässe richtig rutschig.«
»So werde ich niemals fertig. Alles geht kaputt. Ich bin ruiniert.«
Als sie die Stimme hörten, drehten sich beide gleichzeitig um. Agnes stand verzweifelt zwischen ihren Stoffen. Die schöne Seide, der wunderbare Satin - alles war bereits völlig durchnässt. Wenn die wertvollen Stoffe nicht bald aus dem Regen kamen, konnte Agnes sie nicht mehr verkaufen. Die kleine, leicht untersetzte Frau sah verzweifelt auf die Unmengen von Stoffballen, die um sie herumlagen.
Eigentlich war die schwere Arbeit für Agnes allein viel zu viel. Aber der Stand war die einzige Einnahmequelle der Familie, da ihr Mann so sehr von der Gicht geplagt war, dass er längere Zeit nicht arbeiten konnte.
»Wir helfen dir, Agnes.« Eva ging zu ihr hinüber. Katharina folgte ihr nicht sofort, sondern blieb noch einen Moment bei ihrem Esel Albert stehen und strich dem Tier beruhigend über seine zottelige Mähne. Der kleine Esel war sehr eigenwillig. Er war um einiges schmächtiger und kleiner als seine
Artgenossen, hatte dafür aber einen ordentlichen Dickkopf. Katharina wusste, dass er es nicht mochte, im Regen zu stehen. Das Tier stampfte in den Pfützen herum. Beruhigend sprach Katharina auf den Esel ein, strich ihm liebevoll über den Hals, drückte ihren Kopf an seine warme Haut und spürte seinen Puls. Nach einer Weile wurde der Esel etwas ruhiger und hörte auf, unruhig umherzutänzeln.
Katharina hob langsam den Kopf, löste sich vorsichtig von dem Tier und ging nun ebenfalls zu Agnes hinüber. Vor Agnes' Planwagen war ein großes kräftiges Maultier gespannt. Es war fast doppelt so groß wie Albert. Das Tier stand ganz still, blickte sich gutmütig um und schien sich für all die Aufregung und Panik um sich herum nicht zu interessieren. Sie tätschelte ihm liebevoll den Hals, bewunderte mal wieder die starken Flanken und die großen Hufe des Tieres.
»Na, du Dicker? Dir macht der Regen nichts aus, oder? Wir helfen jetzt deiner Herrin. Dann kommst du bald in deinen warmen Stall.«
Katharina wandte sich seufzend von dem Tier ab. Eine Ewigkeit hätte sie noch bei ihm stehen können. Sie liebte Pferde, Esel und Maultiere und konnte Stunden damit zubringen, Albert zu striegeln und zu bürsten. Ab und an half sie im Gassenbacher Hof im Stall aus. Das waren für sie immer perfekte Tage. Dann versank sie in der Welt der Tiere und vergaß alles andere um sich herum. Agnes' Tisch war immer noch voller Stoffe. Eine große grüne Bahn Brokatstoff lag direkt vor Katharina. Ein Teil des dicken Stoffes hing vom Tisch herab und schwamm in einer Pfütze. Der wertvolle Stoff schien völlig ruiniert zu sein. Seufzend rollte ihn Katharina zusammen und versuchte, die Stoffbahn zum Karren zu bringen. Der Stoff war so schwer, dass sie ihn kaum tragen konnte. Triefend nass hing er in ihren Armen, die schrecklich weh taten. Katharina schwankte, und Agnes, die gerade eine Bahn gelbe Seide im Wagen verstaut hatte, bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Katharina Probleme hatte, und eilte ihr sofort zu Hilfe. Mit vereinten Kräften schafften sie es, den schweren Stoff auf den Wagen zu heben. Katharina blieb, die Hand auf dem Wagen aufgestützt und schwer atmend, stehen.
»Ach du meine Güte. Wie machst du das nur immer allein, Agnes?«
Die alte Frau zuckte mit den Schultern, während sie sich bereits dem nächsten Stoffballen zuwandte. »Es muss eben gehen. Wenn ich nicht mit dem Wagen auf die Märkte fahre, dann verhungern wir. Die Stoffe sind doch alles, was wir haben.«
Katharina richtete sich auf. Besorgt sah sie noch einmal zu Albert hinüber. Der Esel schnaubte unruhig. Hoffentlich würde er nicht einfach davonlaufen, denn er hatte sie bereits einige Male sprichwörtlich im Regen stehen lassen.
Plötzlich sah sie ein kleines Mädchen vor dem Karren. Die Kleine schien nicht viel älter als ein Jahr zu sein. Sie trug ein hellbeiges Leinenkleidchen mit einem braunen Wolljäckchen darüber. Kleine blonde Locken klebten an ihrem Gesicht. Sie stolperte neben dem Karren und fiel in eine der großen Pfützen. Ihr Mund begann zu zucken. Trotz des Regens konnte Katharina erkennen, dass die Kleine weinte. Ihre Wangen waren rot vor Kälte. Verzweifelt patschte sie mit ihren kleinen Fingerchen in der Pfütze herum.
Katharina sah sich um, aber niemand schien sich für das Kind zu interessieren.
»Was ist denn nun, Katharina?«
Katharina zuckte zusammen und drehte sich zu ihrer Mutter um.
»Sieh nur, Mutter, das Kind hier scheint ganz allein zu sein.«
Evas Blick wanderte zum Karren hinüber.
»Aber das ist ja die Kleine von Schobers aus der Obergasse. Wie kommt die denn hierher?«
»Du kennst das Mädchen?«
»Aber natürlich. Sie heißt Luise. Eleonore Schober ist ihre Mutter. Du kennst sie doch.«
Eleonore war fünf Jahre älter als Katharina und kam aus Dasbach. Katharina konnte sich noch gut an die Hochzeit mit Josef Schober erinnern. Die ganze Gasse war mit Blumengirlanden geschmückt gewesen. Es hatte einen großen Schweinebraten und die besten Würste gegeben, und bis tief in die Nacht hinein hatten Musikanten fröhliche Lieder gespielt. Eva ging zu ihrem Karren hinüber und hob die kleine Luise hoch. Liebevoll tröstete sie das Mädchen.
»Jetzt ist ja alles gut, mein Kind. Du wirst doch der Mama nicht weggelaufen sein?«
Suchend wanderte ihr Blick über den Marktplatz. Katharina und Agnes sahen sich ebenfalls um. Doch zwischen den packenden Händlern, Ziegen, Kühen, Maultieren, Hühnern, Gänsen und halb abgebauten Ständen war keine Eleonore zu sehen.
»Anscheinend ist sie wirklich von zu Hause fortgelaufen«, mutmaßte Eva. »Bestimmt hat Eleonore ihr Fehlen noch gar nicht bemerkt.«
Agnes' Blick wanderte wieder über ihre Stoffballen, von denen immer noch viele im Regen lagen. Katharina sah die tiefen Sorgenfalten auf ihrer Stirn.
»Wisst ihr, was«, schlug sie vor, »ich bringe die Kleine schnell zu Schobers, und ihr räumt unterdessen den Wagen fertig ein.« Eva nickte und reichte ihrer Tochter vorsichtig das Kind.
»Aber pass auf, dass du in der Gasse nicht ausrutschst. Es ist sicher sehr glitschig dort.«
Katharina lächelte nachsichtig. Ihre Mutter behandelte sie manchmal immer noch wie ein kleines Kind und vergaß, dass sie es mit einer erwachsenen jungen Frau zu tun hatte. »Wir werden das schon schaffen«, antwortete sie, ein Lächeln auf den Lippen.
Mit dem Kind auf dem Arm lief sie über den Marktplatz, vorbei an Ziegenpferchen und Hühnern, die in kleinen Holzkästen dem Regen trotzten. Viehhändler, Handwerker und Gerber rannten durcheinander. Fuhrwerke fuhren an, Pferde und Maultiere wieherten und stampften mit den Hufen. Eigentlich war Idsteins Marktplatz ein ruhiger und friedlicher Platz, über den der große Bergfried wie ein Beschützer wachte. Seine Spitze war heute im Regen und im Nebel der Wolken
kaum auszumachen, ebenso wenig wie das Schloss des Grafen, das dahinterlag.
© 2012 Knaur Taschenbuch
Dicke weiße Schneeflocken fielen wie Watte vom Himmel, tanzten durch die Luft und schwebten langsam und sacht herab. Katharina blickte sich um und beobachtete ihr Spiel mit dem Wind, der sie durch die engen Gassen wirbelte. Die eine oder andere Flocke flog ihr ins Gesicht, doch sie schien es nicht zu bemerken. Ihre geröteten Wangen waren warm. Katharina kam der Schnee nicht kalt vor. Wie Daunen, die vom Himmel fielen, sah er aus und fühlte sich weich an. Sie spürte einen inneren Frieden, wie ihn nur die ersten Schneeflocken mit sich brachten und den man nur in Momenten wie diesen fühlen konnte.
Den Tag über war es dunkel und grau gewesen. Die Wolken hatten tief am Himmel gehangen, und der Duft des Schnees hatte in der Luft gelegen. Die ganze Zeit hatte sich Katharina gefragt, wann es endlich zu schneien beginnen würde.
Als dann am späten Nachmittag die ersten Flocken vom Himmel gefallen waren, hatte sie innegehalten und ihnen zugesehen. Ganz still hatte sie am Fenster gestanden, nach draußen geblickt und gelächelt.
Der Duft des Schnees, die nun erfüllte Prophezeiung, dass er wirklich kommen würde, ließ sie an ihre Mutter denken. Sie hatte immer vom Geruch des Schnees gesprochen und davon, dass er in der Luft lag. Und jedes Mal hatte sie recht behalten. Wenn sie an Zu Hause dachte, fühlte sich Katharina ein wenig wehmütig. Die Erinnerungen an ihr Heimatdorf - an den Hof, das alte Bauernhaus, die Felder, Hügel und Wiesen - waren weit weg, wie aus einem anderen Leben.
Vorsichtig setzte Katharina einen Fuß vor den anderen und hielt sich dankbar am Arm ihres Gatten fest. Der Boden war hier nicht gepflastert, es war rutschig. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und in der Gasse gab es nur wenige Laternen.
Hin und wieder drang Licht durch eines der kleinen Fenster nach draußen. Normalerweise ging Katharina ungern im Dunkeln durch die engen Gassen. Sie verabscheute die Winkel und Ecken, hinter denen jederzeit Gefahr lauern konnte. Aber heute war es anders, heute war es lebendiger als sonst. Um sie herum herrschte reges Treiben.
Das Martinsfest wurde mit einem großen Feuer auf dem Marktplatz gefeiert. Viele Leute hatten sich auf den Weg gemacht. Katharina beobachtete die Menschen, die gemeinsam mit ihnen die Gasse hinuntergingen. Einige kannte sie. Der alte Metzgermeister, bei dem sie immer ihr Fleisch holte, lief mit einer Horde Kinder winkend an ihnen vorüber und zwinkerte Katharina fröhlich zu. Seine Frau folgte ihm. Sie wirkte leicht abgehetzt und trug ein laut brüllendes Baby auf dem Arm. Katharina warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Irgendwie sah sie nicht so aus, als würde ihr der Ausflug Freude machen.
An der nächsten Ecke wurde sie freundlich von zwei Frauen gegrüßt. Die beiden arbeiteten genauso wie Katharina als Schneiderinnen. Alle drei waren in einer der größten Nähereien der Stadt tätig. Ihre Kolleginnen waren ebenfalls mit ihren Ehemännern unterwegs. Katharina musterte die beiden. Anscheinend hatten sie sich fürs Martinsfest extra hübsch zurechtgemacht. Sie trugen weiße Schürzen, die am Saum mit Spitzen bestickt waren. Ihre Haare waren ordentlich unter Hauben versteckt, und ihre langen, wollenen Umhänge hatten sie sich mit hübschen bunten Bändern um den Hals gebunden. Katharina sah kurz an sich hinunter. Sie hatte es heute mit der Garderobe nicht so genau genommen. Ihr war es eher wichtig, nicht zu frieren. Allerdings waren ihr die hämischen Blicke der beiden Frauen nicht entgangen. Sie schämte sich ein wenig. Vielleicht hätte sie heute Abend doch mehr Wert auf ihr Äußeres legen sollen.
»Vorsicht!«
Schnell zog ihr Gatte sie ein Stück näher an sich heran, als eine Gruppe Kinder laut kichernd an ihnen vorbeilief.
»Sie sind alle ganz aufgeregt«, sagte Katharina lachend und genoss seine Nähe und Wärme. Er fror anscheinend nie, sogar jetzt hatte er warme Hände. Sie blieben kurz stehen, und er strich ihr eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht. Sie hatte es mal wieder nicht geschafft, ihre störrischen Haare zu bändigen. Doch er lächelte nachsichtig. Genau dafür liebte er sie. Er mochte es, wenn sie ein wenig zerzaust aussah, sie wirkte dann nicht so streng. Sogar hier in der dunklen Gasse konnte er ihre Sommersprossen erkennen, und selbst im Dämmerlicht schien ihre porzellanartige Haut ein wenig zu leuchten.
»Ist dir kalt?«, fragte er und rieb ihr fest über die Arme.
»Nein, mir ist warm.« Wieder liefen einige Kinder an ihnen vorbei.
»Lass uns lieber weitergehen. Sonst verpassen wir noch alles.«
Kurze Zeit später traten sie auf den Marktplatz. Katharina liebte diesen Moment. Jedes Mal, wenn sie die Dunkelheit der Gassen verließ und den Platz betrat, kam es ihr vor, als wäre es das erste Mal. Hier war alles groß, hell und freundlich. Vor ihr ragten die Zinnen des mächtigen Rathauses in den Himmel. Der weitläufige Platz war umgeben von wunderschön gepflegten Fachwerkhäusern, die sich eng aneinanderschmiegten. Hinter ihnen erhob sich der beeindruckende Dom. Er war das größte Gebäude, das sie jemals im Leben gesehen hatte, und faszinierte sie jedes Mal aufs Neue. Der Platz war gut gefüllt. Kinder liefen laut kreischend durcheinander. Die Leute standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich lachend. Es roch nach warmem Apfelwein und frisch gebackenem Brot. Am Rand des Platzes waren einige Holzbuden aufgebaut worden, vor denen sich die Menschen drängelten.
In der Mitte des Platzes war ein großer Holzstapel errichtet worden, der weit in den grauen, dunklen Himmel ragte. Katharina wurde nun doch kalt. Fröstelnd rieb sie sich die Hände.
»Komm, lass uns weiter nach vorn gehen. Dann können wir uns gut am Feuer wärmen.« Ihr Mann zog sie einfach mit sich. In dem Moment, als sie aus der Menge heraustraten, entzündeten zwei Männer den großen Holzstoß. Jubel brach auf dem Marktplatz aus. Irgendwo begann ein Musikant auf seiner Geige ein fröhliches Lied zu spielen. Doch Katharina war das in diesem Moment gleichgültig. Sie hatte gehofft, dass sie stark sein würde, aber nun blickte sie wie hypnotisiert in die Flammen, die immer höher züngelten und sich ins Holz fraßen. Auf einmal kam sie sich schrecklich allein und verlassen vor. Nichts war geblieben von dem Frohsinn und der Zuversicht, die sie gerade eben noch in der Gasse empfunden hatte. Die Musik drang nicht mehr an ihr Ohr, und sie hörte auch die kreischenden Kinder nicht mehr. Die Erinnerung hatte sie eingeholt - dazu der unglaubliche Gestank, den sie niemals in ihrem Leben vergessen würde. Und plötzlich konnte sie sie hören. Die Stimmen waren in ihrem Kopf, raubten ihr die Kraft und ließen sie erzittern.
»Verbrennt sie, verbrennt die Hexen!«
Funken tanzten in den Nachthimmel und bildeten einen seltsamen Kontrast zu den weißen Schneeflocken. Das Holz knackte und barst in den Flammen, und plötzlich konnte sie sie sehen: die Hände und Füße, die Körper, wie sie immer mehr zerfressen wurden. Wie die Hitze in die Haut drang und den Menschen ihre Gesichter nahm. Der unglaubliche Gestank des brennenden Fleisches stieg in ihre Nase. Es stank erbärmlich, war unerträglich.
»Meine Liebe, ist alles in Ordnung?«, hörte sie ihren Gatten fragen, während sie die ersten Schritte rückwärtsging. Sie konnte hier nicht bleiben. Abrupt drehte sie sich um und rannte fort von dem Feuer und der Erinnerung.
1. Kapitel
Ein empfindlich kalter Wind wehte über den Marktplatz in Idstein und brachte bereits die ersten Regentropfen. Fröstelnd rieb sich Katharina über die Arme und blickte zum Himmel. Die Sonne, die noch vor kurzem von einem wolkenlosen Himmel geschienen hatte, war urplötzlich verschwunden. Der Marktplatz versank in der Dunkelheit des herannahenden Unwetters. Um sie herum war ein heilloses Durcheinander ausgebrochen. Die Händler packten eilig ihre Waren ein. Klirrend ging irgendwo ein Tontopf zu Bruch, und die Töpfe und Pfannen, die an einem der Nachbarstände verkauft wurden, schepperten im Wind.
Eilig rannte eine Gruppe Schausteller an Katharina vorbei. Gerade hatten sie noch getanzt und musiziert, jetzt flatterten ihre bunten Gewänder im auffrischenden Wind, der einer jungen Tänzerin sogar eines der bunten Bänder aus dem Haar riss.
Wo war nur der schöne Tag geblieben? Die Sonne hatte sich in den sauber polierten Fenstern der Häuser, die den Marktplatz säumten, gespiegelt. Der Duft von frisch gebratenem Fleisch und leckerem Brot hatte in der Luft gehangen, und die Gesichter der Menschen hatten Zuversicht und Freude ausgestrahlt. Eine Schar Gänse lief schnatternd an Katharina vorbei, gefolgt von einigen Hühnern. Sie zuckte erschrocken zusammen. Ein junges Mädchen, nicht älter als fünfzehn Jahre, rannte den Tieren verzweifelt hinterher.
Katharinas Mutter packte bereits hastig ihre Waren zusammen. Blusen, Kleider, Stoffe und Nähgarn wanderten unordentlich in ihren alten Karren. Katharina rollte die Spitzenbordüren ein, die sie und die Mutter zuvor liebevoll an den Rand des Brettes gehängt hatten, auf dem sie immer ihre Kleidungsstücke ausstellten. Es regnete immer stärker. Dicke Tropfen wurden vom Wind über den Platz getrieben, der sich in ein Pfützenmeer verwandelte. Katharinas Haarknoten hatte sich gelöst, rote Locken klebten in ihrem Gesicht. Das dunkelblaue Leinenkleid, das sie heute Morgen extra für den Markttag angelegt hatte, war bereits vollständig mit Wasser vollgesogen und hing schwer und kalt an ihr herunter.
»So ein Unwetter aber auch. Es ist eine Katastrophe. Einige der Sachen können wir bestimmt nicht mehr verkaufen.« Ihre Mutter stöhnte. Eva Heinemann war etwas kleiner als ihre Tochter. Ihr Haar hatte aber dieselbe kupferrote Farbe, auch wenn es bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Mit vereinten Kräften schoben sie das Brett auf den Karren und schützten damit wenigstens ein wenig die darunterliegenden Kleidungsstücke und Stoffe. Katharina atmete erleichtert auf, als sie es endlich geschafft hatten. »Gott sei Dank. Das schwere Ding. Es ist bei der Nässe richtig rutschig.«
»So werde ich niemals fertig. Alles geht kaputt. Ich bin ruiniert.«
Als sie die Stimme hörten, drehten sich beide gleichzeitig um. Agnes stand verzweifelt zwischen ihren Stoffen. Die schöne Seide, der wunderbare Satin - alles war bereits völlig durchnässt. Wenn die wertvollen Stoffe nicht bald aus dem Regen kamen, konnte Agnes sie nicht mehr verkaufen. Die kleine, leicht untersetzte Frau sah verzweifelt auf die Unmengen von Stoffballen, die um sie herumlagen.
Eigentlich war die schwere Arbeit für Agnes allein viel zu viel. Aber der Stand war die einzige Einnahmequelle der Familie, da ihr Mann so sehr von der Gicht geplagt war, dass er längere Zeit nicht arbeiten konnte.
»Wir helfen dir, Agnes.« Eva ging zu ihr hinüber. Katharina folgte ihr nicht sofort, sondern blieb noch einen Moment bei ihrem Esel Albert stehen und strich dem Tier beruhigend über seine zottelige Mähne. Der kleine Esel war sehr eigenwillig. Er war um einiges schmächtiger und kleiner als seine
Artgenossen, hatte dafür aber einen ordentlichen Dickkopf. Katharina wusste, dass er es nicht mochte, im Regen zu stehen. Das Tier stampfte in den Pfützen herum. Beruhigend sprach Katharina auf den Esel ein, strich ihm liebevoll über den Hals, drückte ihren Kopf an seine warme Haut und spürte seinen Puls. Nach einer Weile wurde der Esel etwas ruhiger und hörte auf, unruhig umherzutänzeln.
Katharina hob langsam den Kopf, löste sich vorsichtig von dem Tier und ging nun ebenfalls zu Agnes hinüber. Vor Agnes' Planwagen war ein großes kräftiges Maultier gespannt. Es war fast doppelt so groß wie Albert. Das Tier stand ganz still, blickte sich gutmütig um und schien sich für all die Aufregung und Panik um sich herum nicht zu interessieren. Sie tätschelte ihm liebevoll den Hals, bewunderte mal wieder die starken Flanken und die großen Hufe des Tieres.
»Na, du Dicker? Dir macht der Regen nichts aus, oder? Wir helfen jetzt deiner Herrin. Dann kommst du bald in deinen warmen Stall.«
Katharina wandte sich seufzend von dem Tier ab. Eine Ewigkeit hätte sie noch bei ihm stehen können. Sie liebte Pferde, Esel und Maultiere und konnte Stunden damit zubringen, Albert zu striegeln und zu bürsten. Ab und an half sie im Gassenbacher Hof im Stall aus. Das waren für sie immer perfekte Tage. Dann versank sie in der Welt der Tiere und vergaß alles andere um sich herum. Agnes' Tisch war immer noch voller Stoffe. Eine große grüne Bahn Brokatstoff lag direkt vor Katharina. Ein Teil des dicken Stoffes hing vom Tisch herab und schwamm in einer Pfütze. Der wertvolle Stoff schien völlig ruiniert zu sein. Seufzend rollte ihn Katharina zusammen und versuchte, die Stoffbahn zum Karren zu bringen. Der Stoff war so schwer, dass sie ihn kaum tragen konnte. Triefend nass hing er in ihren Armen, die schrecklich weh taten. Katharina schwankte, und Agnes, die gerade eine Bahn gelbe Seide im Wagen verstaut hatte, bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Katharina Probleme hatte, und eilte ihr sofort zu Hilfe. Mit vereinten Kräften schafften sie es, den schweren Stoff auf den Wagen zu heben. Katharina blieb, die Hand auf dem Wagen aufgestützt und schwer atmend, stehen.
»Ach du meine Güte. Wie machst du das nur immer allein, Agnes?«
Die alte Frau zuckte mit den Schultern, während sie sich bereits dem nächsten Stoffballen zuwandte. »Es muss eben gehen. Wenn ich nicht mit dem Wagen auf die Märkte fahre, dann verhungern wir. Die Stoffe sind doch alles, was wir haben.«
Katharina richtete sich auf. Besorgt sah sie noch einmal zu Albert hinüber. Der Esel schnaubte unruhig. Hoffentlich würde er nicht einfach davonlaufen, denn er hatte sie bereits einige Male sprichwörtlich im Regen stehen lassen.
Plötzlich sah sie ein kleines Mädchen vor dem Karren. Die Kleine schien nicht viel älter als ein Jahr zu sein. Sie trug ein hellbeiges Leinenkleidchen mit einem braunen Wolljäckchen darüber. Kleine blonde Locken klebten an ihrem Gesicht. Sie stolperte neben dem Karren und fiel in eine der großen Pfützen. Ihr Mund begann zu zucken. Trotz des Regens konnte Katharina erkennen, dass die Kleine weinte. Ihre Wangen waren rot vor Kälte. Verzweifelt patschte sie mit ihren kleinen Fingerchen in der Pfütze herum.
Katharina sah sich um, aber niemand schien sich für das Kind zu interessieren.
»Was ist denn nun, Katharina?«
Katharina zuckte zusammen und drehte sich zu ihrer Mutter um.
»Sieh nur, Mutter, das Kind hier scheint ganz allein zu sein.«
Evas Blick wanderte zum Karren hinüber.
»Aber das ist ja die Kleine von Schobers aus der Obergasse. Wie kommt die denn hierher?«
»Du kennst das Mädchen?«
»Aber natürlich. Sie heißt Luise. Eleonore Schober ist ihre Mutter. Du kennst sie doch.«
Eleonore war fünf Jahre älter als Katharina und kam aus Dasbach. Katharina konnte sich noch gut an die Hochzeit mit Josef Schober erinnern. Die ganze Gasse war mit Blumengirlanden geschmückt gewesen. Es hatte einen großen Schweinebraten und die besten Würste gegeben, und bis tief in die Nacht hinein hatten Musikanten fröhliche Lieder gespielt. Eva ging zu ihrem Karren hinüber und hob die kleine Luise hoch. Liebevoll tröstete sie das Mädchen.
»Jetzt ist ja alles gut, mein Kind. Du wirst doch der Mama nicht weggelaufen sein?«
Suchend wanderte ihr Blick über den Marktplatz. Katharina und Agnes sahen sich ebenfalls um. Doch zwischen den packenden Händlern, Ziegen, Kühen, Maultieren, Hühnern, Gänsen und halb abgebauten Ständen war keine Eleonore zu sehen.
»Anscheinend ist sie wirklich von zu Hause fortgelaufen«, mutmaßte Eva. »Bestimmt hat Eleonore ihr Fehlen noch gar nicht bemerkt.«
Agnes' Blick wanderte wieder über ihre Stoffballen, von denen immer noch viele im Regen lagen. Katharina sah die tiefen Sorgenfalten auf ihrer Stirn.
»Wisst ihr, was«, schlug sie vor, »ich bringe die Kleine schnell zu Schobers, und ihr räumt unterdessen den Wagen fertig ein.« Eva nickte und reichte ihrer Tochter vorsichtig das Kind.
»Aber pass auf, dass du in der Gasse nicht ausrutschst. Es ist sicher sehr glitschig dort.«
Katharina lächelte nachsichtig. Ihre Mutter behandelte sie manchmal immer noch wie ein kleines Kind und vergaß, dass sie es mit einer erwachsenen jungen Frau zu tun hatte. »Wir werden das schon schaffen«, antwortete sie, ein Lächeln auf den Lippen.
Mit dem Kind auf dem Arm lief sie über den Marktplatz, vorbei an Ziegenpferchen und Hühnern, die in kleinen Holzkästen dem Regen trotzten. Viehhändler, Handwerker und Gerber rannten durcheinander. Fuhrwerke fuhren an, Pferde und Maultiere wieherten und stampften mit den Hufen. Eigentlich war Idsteins Marktplatz ein ruhiger und friedlicher Platz, über den der große Bergfried wie ein Beschützer wachte. Seine Spitze war heute im Regen und im Nebel der Wolken
kaum auszumachen, ebenso wenig wie das Schloss des Grafen, das dahinterlag.
© 2012 Knaur Taschenbuch
... weniger
Autoren-Porträt von Nicole Steyer
Nicole Steyer wurde 1978 in Bad Aibling geboren und wuchs in Rosenheim auf. Doch dann ging sie der Liebe wegen nach Idstein im Taunus. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder begann sie zu schreiben, beschäftigte sich mit der Idsteiner Stadtgeschichte und begann zu recherchieren. Das Ergebnis dieser Recherchen war ihr erster historischer Roman, DIE HEXE VON NASSAU, der sich mit den Hexenverfolgungen in Idstein und Umgebung befasst und ein großer Erfolg wurde. Auch ihre folgenden historischen Romane haben ein großes Publikum begeistert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicole Steyer
- 2012, 4. Aufl., 640 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426511320
- ISBN-13: 9783426511329
- Erscheinungsdatum: 24.10.2012
Rezension zu „Die Hexe von Nassau “
"Nicole Steyers Buch ist eine beeindruckende Schilderung der damaligen Zeit und im Besonderen ein Plädoyer an alle Menschen, die dazu beitragen, die heutige Zeit zu gestalten. Irgendwo auf der Welt ist immer noch "Nassau" - besiegt werden kann es nur durch unsere Loyalität und Menschlichkeit. Ein Buch, das lange nachschwingt und in unseren Gedanken verweilt. Einfach wunderbar." www.buchtips.net 20121122
Pressezitat
"Nicole Steyers Buch ist eine beeindruckende Schilderung der damaligen Zeit und im Besonderen ein Plädoyer an alle Menschen, die dazu beitragen, die heutige Zeit zu gestalten. Irgendwo auf der Welt ist immer noch "Nassau" - besiegt werden kann es nur durch unsere Loyalität und Menschlichkeit. Ein Buch, das lange nachschwingt und in unseren Gedanken verweilt. Einfach wunderbar." www.buchtips.net 20121122
Kommentare zu "Die Hexe von Nassau"
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 7Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Hexe von Nassau".
Kommentar verfassen