Die italienischen Schuhe
Roman
Fredrik Welin wohnt zurückgezogen auf einer Schäreninsel. Dann steht eines Tages seine ehemalige große Liebe Harriet vor seiner Tür. Sie bittet ihn, ein altes Versprechen einzulösen. Und damit beginnt für Fredrik unerwartet ein neues Leben.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die italienischen Schuhe “
Fredrik Welin wohnt zurückgezogen auf einer Schäreninsel. Dann steht eines Tages seine ehemalige große Liebe Harriet vor seiner Tür. Sie bittet ihn, ein altes Versprechen einzulösen. Und damit beginnt für Fredrik unerwartet ein neues Leben.
Klappentext zu „Die italienischen Schuhe “
Der schwedische Meister der Melancholie ist zurück! Fredrik Welin ist etwas widerfahren, das er nur »die Katastrophe« nennt. Danach hat sich der ehemalige Chirurg auf eine kleine Insel in den Schären zurückgezogen und meidet jeden Kontakt mit den Menschen. Doch dann steht eines Tages seine Jugendliebe Harriet vor der Tür und erinnert ihn an ein altes Versprechen. Er folgt ihr auf eine Reise in die Vergangenheit, voller unverhoffter Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen. Eine Reise, die ihm den Weg zurück zu den Menschen weisen wird ...
Der Bestseller jetzt im Taschenbuch!
Lese-Probe zu „Die italienischen Schuhe “
Die italienischen Schuhe von Henning MankellDas Eis
immer wenn es kalt ist, fühle ich mich einsamer.
Die Kälte vor dem Fenster läßt mich an die Kälte meines Körpers denken. Ich werde von zwei Seiten angegriffen. Aber ich kämpfe ständig dagegen an, gegen die Kälte wie gegen die Einsamkeit. Deshalb hacke ich jeden Morgen ein Loch ins Eis. Stünde jemand mit einem Fernglas draußen in der zugefrorenen Bucht, würde er annehmen, ich sei verrückt und im Begriff, meinen Tod vorzubereiten.
Ein nackter Mann in der eisigen Kälte, mit einer Axt in der Hand, eifrig dabei, ein Loch ins Eis zu hacken?
Vielleicht hoffe ich insgeheim, da draußen wäre eines Tages jemand, ein schwarzer Schatten in all dem Weiß, der mich sieht und sich fragt, ob er eingreifen soll, bevor es zu spät ist. Doch man braucht mich nicht zu retten, da ich nicht die Absicht habe, Selbstmord zu begehen.
Früher im Leben, im Zusammenhang mit der großen Katastrophe, wurden die Verzweiflung und der Zorn so stark, daß ich erwog, Schluß zu machen. Doch ich habe es nie versucht. Die Feigheit ist mein treuer Begleiter.
Damals wie heute denke ich, daß es im Leben darum geht, nicht loszulassen. Das Leben ist ein dünner Ast über einem Abgrund. Daran hänge ich, solange ich die Kraft dazu habe. Dann stürze ich ab, und ich weiß nicht, was mich erwartet. Gibt es jemand da unten, der mich auffängt? Oder ist es nur eine kalte und harte Dunkelheit, die mir entgegenrast?
Das Eis breitet sich aus.
Der Winter ist streng in diesem Jahr, am Beginn des neuen Jahrtausends. Heute morgen, als ich in der Dezemberdunkelheit aufwachte, meinte ich zu hören, wie das Eis sang. Ich weiß nicht, woher ich die Vorstellung hatte, daß das Eis singen kann. Vielleicht war es etwas, was mein Großvater, der hier draußen auf
... mehr
seiner Schäre geboren ist, zu mir sagte, als ich klein war.
Doch ich erwachte von einem Geräusch in der Dunkelheit.
Es war weder die Katze noch der Hund. Meine Katze ist alt und steifbeinig, mein Hund ist auf dem rechten Ohr stocktaub, und auf dem linken hört er nur noch sehr schlecht. Ich kann an ihm vorbeischleichen, ohne daß er es merkt.
Aber dieses Geräusch?
Ich versuchte, mich in der Dunkelheit zu orientieren.
Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, daß es das Eis war, das sich rührte, obwohl es hier in der Bucht mindestens zehn Zentimeter dick ist. Letzte Woche, an einem Tag, an dem ich unruhiger war als gewöhnlich, ging ich hinaus bis zur Kante, wo das Eis auf das offene Meer trifft. Dort lag es über einen Kilometer jenseits der äußersten Schären. Das Eis dürfte sich also hier in der Bucht
kaum bewegen. Doch es hob und senkte sich, es knackte und sang.
Ich lauschte dem Geräusch und dachte wieder, wie schnell mein Leben doch vergangen ist. Jetzt war ich hier. Ein Mann von sechsundsechzig Jahren, finanziell unabhängig, der eine Erinnerung in sich trägt, die ihn ständig plagt. Ich bin in einer Armut aufgewachsen, die man sich heute in diesem Land kaum noch vorstellen kann. Mein Vater war ein übergewichtiger Kellner, den man häufig
schikanierte, und meine Mutter versuchte, mit dem Geld auszukommen. Aus diesem Armutsbrunnen bin ich hochgeklettert. Als Kind habe ich hier draußen gespielt und nichts von der Zeit geahnt, die ständig schrumpft.
Damals waren mein Großvater und meine Großmutter noch rührige Menschen, nicht zur Unbeweglichkeit und zum Warten verurteilt. Er roch nach Fisch, und ihr fehlten sämtliche Zähne. Obwohl Großmutter immer freundlich war, lag etwas Erschreckendes darin, zu sehen, wie sich ihr Lächeln zu einem schwarzen Loch öffnete.
Eben noch befand ich mich im ersten Akt. Jetzt hat bereits der Epilog begonnen.
Das Eis sang da draußen in der Dunkelheit, und ich fragte mich, ob ich gleich einen Herzanfall bekommen würde. Ich stand auf und maß den Blutdruck. Mir fehlte nichts, der Blutdruck war 155/90, der Puls normal, 64 Schläge. Ich tastete, ob es mir irgendwo weh tat. Das linke Bein schmerzte leicht. Das tut es eigentlich immer, und es beunruhigt mich nicht. Aber das Eis da draußen bereitete mir Unbehagen. Es war wie ein eigentümlicher Chor von undeutlichen Stimmen. Ich setzte mich in die
Küche und wartete auf die Dämmerung. Es knackte in den Holzbalken. Wahrscheinlich war es das Holz, das sich in der Kälte zusammenzog, oder eine Maus, die sich in einem ihrer heimlichen Gänge bewegte.
Das Thermometer vor dem Haus zeigte minus 19 Grad.
Heute werde ich es wie an allen anderen Wintertagen machen. Ich ziehe einen Bademantel und ein Paar abgeschnittene Stiefel an, nehme die Axt und gehe hinunter zum Landungssteg. Es ist nicht schwer, das Loch aufzuhacken, da das Eis dort nicht stark gefroren ist. Dann ziehe ich mich aus und tauche in das körnige Wasser ein.
Es tut weh, aber es ist, als würde sich die Kälte in eine intensive Wärme verwandeln, wenn ich mich erst wieder auf das Eis hochgezogen habe.
Ich steige in mein schwarzes Loch, um zu spüren, dass ich noch lebe. Hinterher ist es, als würde die Einsamkeit langsam verklingen. Vielleicht sterbe ich eines Tages, wenn ich in das Loch hinuntersteige. Da ich den Boden mit den Füßen erreiche, werde ich nicht unter der Eisdecke
verschwinden. Ich werde in dem Loch stehen, das um mich bald wieder zufrieren wird. Dort wird Jansson, der die Post hier draußen zwischen den Inseln austrägt, mich finden.
Er wird nie, solange er lebt, verstehen, was geschehen ist.
Aber das ist mir gleich. Ich habe hier draußen auf der Schäre, die ich geerbt habe, mein Zuhause wie eine uneinnehmbare Festung eingerichtet. Wenn ich auf den Felsen hinter dem Haus steige, sehe ich direkt aufs Meer.
Dort gibt es nichts als Schären und flache Klippen, die ihre schwarzen glatten Rücken dicht über der Wasseroberfläche oder der Eisdecke sehen lassen. In der anderen Richtung werden die inneren Schären dichter. Aber nirgends sehe ich ein Haus, nur mein eigenes.
Natürlich war es nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Dieses Haus sollte mein Sommerhaus werden. Nicht die äußerste Festung, die ich verteidigen muß. Jeden Morgen, an dem ich mein Loch aufhacke oder in ein sommerwarmes Wasser steige, kehrt meine Verwunderung über das, was mit meinem Leben geschehen ist, zurück.
Ich weiß, was geschehen ist. Ich habe einen Fehler begangen. Und ich habe mich geweigert, die Folgen zu akzeptieren. Hätte ich gewußt, was ich heute weiß, was hätte ich dann getan? Ich kann es nicht beantworten.
Ganz sicher bin ich mir nur, daß ich dann nicht wie ein Gefangener hier draußen am offenen Meer sitzen müßte.
Ich hätte mein Leben nach dem einmal gefaßten Plan gelebt. Schon früh habe ich beschlossen, Arzt zu werden. Es geschah an dem Tag, an dem ich fünfzehn Jahre alt wurde und mein Vater mich zu meiner großen Überraschung in ein Restaurant einlud. Er, der selbst Kellner war und als
Ergebnis eines hartnäckigen Kampfes um seine Würde nur tagsüber arbeitete, nie an den Abenden. Wurde er zur Abendschicht eingeteilt, kündigte er. Ich erinnere mich noch an das besorgte Weinen meiner Mutter, wenn er heimkam und mitteilte, daß er gekündigt habe. Jetzt würde er mich ins Restaurant mitnehmen. Ich hörte meinen Vater und meine Mutter darüber streiten, ob es richtig
wäre. Es endete damit, daß meine Mutter sich im Schlafzimmer einschloß. Das tat sie immer dann, wenn ihr etwas zuwiderlief. Während besonders schwieriger Auseinandersetzungen verbrachte sie ganze Tage eingeschlossen in ihrem Zimmer. Dort roch es nach Lavendel und Tränen. Ich selbst schlief dann auf der Küchenbank, und mein Vater legte unter tiefen Seufzern eine Matratze
auf den Boden.
Ich bin in meinem Leben vielen weinenden Menschen begegnet. Während meiner Jahre als Arzt habe ich Sterbende kennengelernt und jene, die einsehen mußten, dass ein naher Angehöriger von einer unheilbaren Krankheit befallen war. Aber nie hatten ihre Tränen einen Duft, der an die Tränen meiner Mutter erinnerte. Auf dem Weg zum Restaurant erklärte mir mein Vater, daß sie überempfindlich
sei. Manchmal frage ich mich heute noch, was ich geantwortet habe. Was konnte ich eigentlich
sagen? Meine ersten Erinnerungen im Leben waren, dass ich meine Mutter Stunde um Stunde über das mangelnde Geld, über die Armut weinen hörte, die an allem in unserem Leben zehrte. Mein Vater schien ihr Weinen nicht zu hören. War sie guter Laune, wenn er heimkam, war alles gut. Lag sie mit ihrem Lavendelduft im Bett, war es auch gut. Mein Vater verbrachte gern seine Abende damit, die
große Sammlung von Zinnsoldaten zu ordnen und sie nach den Rekonstruktionen historischer Feldschlachten aufzustellen. Bevor ich einschlief, kam es vor, daß er sich auf meine Bettkante sinken ließ, mir über den Kopf streichelte und bedauernd sagte, es sei leider nicht möglich, mir eine Schwester oder einen Bruder zu schenken.
Ich wuchs in einem Niemandsland auf, zwischen Tränen und Zinnsoldaten. Und mit einem Vater, der hartnäckig behauptete, daß das, was einen Kellner mit einem Opernsänger verbinde, die Notwendigkeit sei, bei der Arbeit ordentliche Schuhe zu tragen.
Es geschah, wie er es beschlossen hatte. Wir gingen ins Restaurant. Ein Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen.
Mein Vater stellte weitschweifige und kenntnisreiche Fragen über den Kalbsbraten, den er schließlich
bestellte. Ich selbst hatte mich zu Hering entschlossen.
Die Sommer draußen auf der Insel hatten mich gelehrt, Fisch zu mögen. Der Kellner entfernte sich.
Es war das erste Mal, daß ich Wein trinken durfte. Ich war sofort betrunken. Nach dem Essen betrachtete mein Vater mich mit einem Lächeln und fragte, was ich mit meinem Leben anfangen wolle.
Ich wußte es nicht. Er hatte es sich geleistet, mich in eine Realschule gehen zu lassen. Die triste Schule mit ihren schäbigen Lehrern und nach Wollsachen riechenden Korridoren ließ mir keinen Raum, um über eine Zukunft nachzudenken. Es galt, den nächsten Tag zu überleben,
am besten nicht dabei ertappt zu werden, daß man seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Der morgige Tag war immer sehr nah, es war unmöglich, sich einen Horizont jenseits des nächsten Halbjahres vorzustellen. Ich kann mich nicht erinnern, je mit meinen Mitschülern über die
Zukunft gesprochen zu haben.
»Du bist fünfzehn Jahre alt«, sagte mein Vater. »Jetzt ist die Zeit gekommen, daran zu denken, was du in Zukunft tun wirst. Interessiert dich die Restaurantbranche? Vielleicht willst du als Tellerwäscher nach Amerika, wenn du deinen Abschluß gemacht hast? Es ist gut, wenn du dich umsiehst. Vergiß nur nicht, ordentliche Schuhe zu tragen.«
»Ich will nicht Kellner werden.«
Ich antwortete sehr bestimmt. Ich konnte nicht erkennen, ob mein Vater enttäuscht oder erleichtert war. Er nippte am Wein, strich sich mit dem Finger über den Nasenrücken und fragte dann, ob ich wirklich keine Pläne für meine Zukunft hätte.
»Nein.«
»Irgendwas mußt du dir doch vorstellen. Welche Fächer magst du am liebsten?«
»Musik.«
»Kannst du singen? Das ist ja ganz was Neues.«
»Ich kann nicht singen.«
»Hast du ein Instrument gelernt, ohne daß ich davon weiß?«
»Nein.«
»Warum magst du dann die Musik am liebsten?«
»Der Musiklehrer Ramberg kümmert sich nicht um mich.«
»Wie meinst du das?«
»Er kümmert sich nur um die, die singen können. Uns andere sieht er nicht.«
»Du magst also das Fach am liebsten, in dem du gar nicht anwesend bist?«
»Chemie ist auch gut.«
Mein Vater war sichtlich erstaunt. Einen Augenblick lang schien er in fernen Erinnerungen an seine eigene ärmliche Schulzeit zu suchen, ob es überhaupt ein Fach Chemie gegeben hatte. Ich betrachtete ihn wie verhext.
Er verwandelte sich vor meinen Augen. Früher hatte sich nichts anderes verändert als seine Kleidung, seine Schuhe und die Farbe seines Haars, das immer mehr ergraute. Jetzt geschah etwas Unerwartetes. Es war, als überkäme ihn eine plötzliche Hilflosigkeit, und er würde erst jetzt für mich sichtbar. Auch wenn er oft auf meinem Bettrand gesessen hatte oder mit mir draußen in der Bucht geschwommen war, hatte er sich immer in großem Abstand befunden. Jetzt, in all seiner Hilflosigkeit, kam er mir nah. Ich war stärker als der Mann, der mir gegenüber saß, an dem weißgedeckten Tisch im Restaurant, wo eine Kapelle spielte, der niemand zuhörte, wo Zigarettenrauch sich mit starkem Parfum mischte und der Wein in seinem Glas abnahm.
Da entschied ich mich für eine Antwort. Ich entdeckte meine Zukunft oder erschuf sie in diesem Augenblick.
Mein Vater sah mich mit seinen graublauen Augen an.
Er schien sich von der Hilflosigkeit erholt zu haben, die ihn überkommen hatte. Aber ich hatte sie bemerkt und würde sie nie wieder vergessen.
»Du sagst, Chemie macht Spaß? Warum?«
»Weil ich Arzt werden will. Da muß man sich mit chemischen Substanzen auskennen. Ich will operieren.«
Plötzlich sah er mich mit Abscheu an. »Willst du in Menschen herumschnippeln?«
»Ja.«
»Du kannst doch mit der mittleren Reife nicht Arzt werden.«
»Ich will Abitur machen und studieren.«
»Um mit den Fingern in den Eingeweiden der Menschen herumzustochern?«
»Ich will Chirurg werden.«
In diesem Augenblick entstand der Plan für mein Leben. Ich hatte nie daran gedacht, Arzt zu werden. Ich wurde nicht ohnmächtig, wenn ich Blut sah oder eine Spritze bekam, aber ich hatte mir nie ein Leben in Krankenhauskorridoren oder Operationssälen vorgestellt. Als wir an diesem Aprilabend heimgingen, mein Vater ein bißchen beschwipst, ich selbst ein vom Wein müder Fünfzehnjähriger,
erkannte ich, daß ich nicht nur meinem Vater geantwortet hatte. Ich hatte auch mir selbst ein Versprechen gegeben.
Ich würde Arzt werden. Ich würde mein Leben damit verbringen, in menschlichen Körpern herumzuschnippeln.
© 2007 der deutschsprachigen Ausgabe:
Paul Zsolnay VerlagWien
Doch ich erwachte von einem Geräusch in der Dunkelheit.
Es war weder die Katze noch der Hund. Meine Katze ist alt und steifbeinig, mein Hund ist auf dem rechten Ohr stocktaub, und auf dem linken hört er nur noch sehr schlecht. Ich kann an ihm vorbeischleichen, ohne daß er es merkt.
Aber dieses Geräusch?
Ich versuchte, mich in der Dunkelheit zu orientieren.
Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, daß es das Eis war, das sich rührte, obwohl es hier in der Bucht mindestens zehn Zentimeter dick ist. Letzte Woche, an einem Tag, an dem ich unruhiger war als gewöhnlich, ging ich hinaus bis zur Kante, wo das Eis auf das offene Meer trifft. Dort lag es über einen Kilometer jenseits der äußersten Schären. Das Eis dürfte sich also hier in der Bucht
kaum bewegen. Doch es hob und senkte sich, es knackte und sang.
Ich lauschte dem Geräusch und dachte wieder, wie schnell mein Leben doch vergangen ist. Jetzt war ich hier. Ein Mann von sechsundsechzig Jahren, finanziell unabhängig, der eine Erinnerung in sich trägt, die ihn ständig plagt. Ich bin in einer Armut aufgewachsen, die man sich heute in diesem Land kaum noch vorstellen kann. Mein Vater war ein übergewichtiger Kellner, den man häufig
schikanierte, und meine Mutter versuchte, mit dem Geld auszukommen. Aus diesem Armutsbrunnen bin ich hochgeklettert. Als Kind habe ich hier draußen gespielt und nichts von der Zeit geahnt, die ständig schrumpft.
Damals waren mein Großvater und meine Großmutter noch rührige Menschen, nicht zur Unbeweglichkeit und zum Warten verurteilt. Er roch nach Fisch, und ihr fehlten sämtliche Zähne. Obwohl Großmutter immer freundlich war, lag etwas Erschreckendes darin, zu sehen, wie sich ihr Lächeln zu einem schwarzen Loch öffnete.
Eben noch befand ich mich im ersten Akt. Jetzt hat bereits der Epilog begonnen.
Das Eis sang da draußen in der Dunkelheit, und ich fragte mich, ob ich gleich einen Herzanfall bekommen würde. Ich stand auf und maß den Blutdruck. Mir fehlte nichts, der Blutdruck war 155/90, der Puls normal, 64 Schläge. Ich tastete, ob es mir irgendwo weh tat. Das linke Bein schmerzte leicht. Das tut es eigentlich immer, und es beunruhigt mich nicht. Aber das Eis da draußen bereitete mir Unbehagen. Es war wie ein eigentümlicher Chor von undeutlichen Stimmen. Ich setzte mich in die
Küche und wartete auf die Dämmerung. Es knackte in den Holzbalken. Wahrscheinlich war es das Holz, das sich in der Kälte zusammenzog, oder eine Maus, die sich in einem ihrer heimlichen Gänge bewegte.
Das Thermometer vor dem Haus zeigte minus 19 Grad.
Heute werde ich es wie an allen anderen Wintertagen machen. Ich ziehe einen Bademantel und ein Paar abgeschnittene Stiefel an, nehme die Axt und gehe hinunter zum Landungssteg. Es ist nicht schwer, das Loch aufzuhacken, da das Eis dort nicht stark gefroren ist. Dann ziehe ich mich aus und tauche in das körnige Wasser ein.
Es tut weh, aber es ist, als würde sich die Kälte in eine intensive Wärme verwandeln, wenn ich mich erst wieder auf das Eis hochgezogen habe.
Ich steige in mein schwarzes Loch, um zu spüren, dass ich noch lebe. Hinterher ist es, als würde die Einsamkeit langsam verklingen. Vielleicht sterbe ich eines Tages, wenn ich in das Loch hinuntersteige. Da ich den Boden mit den Füßen erreiche, werde ich nicht unter der Eisdecke
verschwinden. Ich werde in dem Loch stehen, das um mich bald wieder zufrieren wird. Dort wird Jansson, der die Post hier draußen zwischen den Inseln austrägt, mich finden.
Er wird nie, solange er lebt, verstehen, was geschehen ist.
Aber das ist mir gleich. Ich habe hier draußen auf der Schäre, die ich geerbt habe, mein Zuhause wie eine uneinnehmbare Festung eingerichtet. Wenn ich auf den Felsen hinter dem Haus steige, sehe ich direkt aufs Meer.
Dort gibt es nichts als Schären und flache Klippen, die ihre schwarzen glatten Rücken dicht über der Wasseroberfläche oder der Eisdecke sehen lassen. In der anderen Richtung werden die inneren Schären dichter. Aber nirgends sehe ich ein Haus, nur mein eigenes.
Natürlich war es nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Dieses Haus sollte mein Sommerhaus werden. Nicht die äußerste Festung, die ich verteidigen muß. Jeden Morgen, an dem ich mein Loch aufhacke oder in ein sommerwarmes Wasser steige, kehrt meine Verwunderung über das, was mit meinem Leben geschehen ist, zurück.
Ich weiß, was geschehen ist. Ich habe einen Fehler begangen. Und ich habe mich geweigert, die Folgen zu akzeptieren. Hätte ich gewußt, was ich heute weiß, was hätte ich dann getan? Ich kann es nicht beantworten.
Ganz sicher bin ich mir nur, daß ich dann nicht wie ein Gefangener hier draußen am offenen Meer sitzen müßte.
Ich hätte mein Leben nach dem einmal gefaßten Plan gelebt. Schon früh habe ich beschlossen, Arzt zu werden. Es geschah an dem Tag, an dem ich fünfzehn Jahre alt wurde und mein Vater mich zu meiner großen Überraschung in ein Restaurant einlud. Er, der selbst Kellner war und als
Ergebnis eines hartnäckigen Kampfes um seine Würde nur tagsüber arbeitete, nie an den Abenden. Wurde er zur Abendschicht eingeteilt, kündigte er. Ich erinnere mich noch an das besorgte Weinen meiner Mutter, wenn er heimkam und mitteilte, daß er gekündigt habe. Jetzt würde er mich ins Restaurant mitnehmen. Ich hörte meinen Vater und meine Mutter darüber streiten, ob es richtig
wäre. Es endete damit, daß meine Mutter sich im Schlafzimmer einschloß. Das tat sie immer dann, wenn ihr etwas zuwiderlief. Während besonders schwieriger Auseinandersetzungen verbrachte sie ganze Tage eingeschlossen in ihrem Zimmer. Dort roch es nach Lavendel und Tränen. Ich selbst schlief dann auf der Küchenbank, und mein Vater legte unter tiefen Seufzern eine Matratze
auf den Boden.
Ich bin in meinem Leben vielen weinenden Menschen begegnet. Während meiner Jahre als Arzt habe ich Sterbende kennengelernt und jene, die einsehen mußten, dass ein naher Angehöriger von einer unheilbaren Krankheit befallen war. Aber nie hatten ihre Tränen einen Duft, der an die Tränen meiner Mutter erinnerte. Auf dem Weg zum Restaurant erklärte mir mein Vater, daß sie überempfindlich
sei. Manchmal frage ich mich heute noch, was ich geantwortet habe. Was konnte ich eigentlich
sagen? Meine ersten Erinnerungen im Leben waren, dass ich meine Mutter Stunde um Stunde über das mangelnde Geld, über die Armut weinen hörte, die an allem in unserem Leben zehrte. Mein Vater schien ihr Weinen nicht zu hören. War sie guter Laune, wenn er heimkam, war alles gut. Lag sie mit ihrem Lavendelduft im Bett, war es auch gut. Mein Vater verbrachte gern seine Abende damit, die
große Sammlung von Zinnsoldaten zu ordnen und sie nach den Rekonstruktionen historischer Feldschlachten aufzustellen. Bevor ich einschlief, kam es vor, daß er sich auf meine Bettkante sinken ließ, mir über den Kopf streichelte und bedauernd sagte, es sei leider nicht möglich, mir eine Schwester oder einen Bruder zu schenken.
Ich wuchs in einem Niemandsland auf, zwischen Tränen und Zinnsoldaten. Und mit einem Vater, der hartnäckig behauptete, daß das, was einen Kellner mit einem Opernsänger verbinde, die Notwendigkeit sei, bei der Arbeit ordentliche Schuhe zu tragen.
Es geschah, wie er es beschlossen hatte. Wir gingen ins Restaurant. Ein Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen.
Mein Vater stellte weitschweifige und kenntnisreiche Fragen über den Kalbsbraten, den er schließlich
bestellte. Ich selbst hatte mich zu Hering entschlossen.
Die Sommer draußen auf der Insel hatten mich gelehrt, Fisch zu mögen. Der Kellner entfernte sich.
Es war das erste Mal, daß ich Wein trinken durfte. Ich war sofort betrunken. Nach dem Essen betrachtete mein Vater mich mit einem Lächeln und fragte, was ich mit meinem Leben anfangen wolle.
Ich wußte es nicht. Er hatte es sich geleistet, mich in eine Realschule gehen zu lassen. Die triste Schule mit ihren schäbigen Lehrern und nach Wollsachen riechenden Korridoren ließ mir keinen Raum, um über eine Zukunft nachzudenken. Es galt, den nächsten Tag zu überleben,
am besten nicht dabei ertappt zu werden, daß man seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Der morgige Tag war immer sehr nah, es war unmöglich, sich einen Horizont jenseits des nächsten Halbjahres vorzustellen. Ich kann mich nicht erinnern, je mit meinen Mitschülern über die
Zukunft gesprochen zu haben.
»Du bist fünfzehn Jahre alt«, sagte mein Vater. »Jetzt ist die Zeit gekommen, daran zu denken, was du in Zukunft tun wirst. Interessiert dich die Restaurantbranche? Vielleicht willst du als Tellerwäscher nach Amerika, wenn du deinen Abschluß gemacht hast? Es ist gut, wenn du dich umsiehst. Vergiß nur nicht, ordentliche Schuhe zu tragen.«
»Ich will nicht Kellner werden.«
Ich antwortete sehr bestimmt. Ich konnte nicht erkennen, ob mein Vater enttäuscht oder erleichtert war. Er nippte am Wein, strich sich mit dem Finger über den Nasenrücken und fragte dann, ob ich wirklich keine Pläne für meine Zukunft hätte.
»Nein.«
»Irgendwas mußt du dir doch vorstellen. Welche Fächer magst du am liebsten?«
»Musik.«
»Kannst du singen? Das ist ja ganz was Neues.«
»Ich kann nicht singen.«
»Hast du ein Instrument gelernt, ohne daß ich davon weiß?«
»Nein.«
»Warum magst du dann die Musik am liebsten?«
»Der Musiklehrer Ramberg kümmert sich nicht um mich.«
»Wie meinst du das?«
»Er kümmert sich nur um die, die singen können. Uns andere sieht er nicht.«
»Du magst also das Fach am liebsten, in dem du gar nicht anwesend bist?«
»Chemie ist auch gut.«
Mein Vater war sichtlich erstaunt. Einen Augenblick lang schien er in fernen Erinnerungen an seine eigene ärmliche Schulzeit zu suchen, ob es überhaupt ein Fach Chemie gegeben hatte. Ich betrachtete ihn wie verhext.
Er verwandelte sich vor meinen Augen. Früher hatte sich nichts anderes verändert als seine Kleidung, seine Schuhe und die Farbe seines Haars, das immer mehr ergraute. Jetzt geschah etwas Unerwartetes. Es war, als überkäme ihn eine plötzliche Hilflosigkeit, und er würde erst jetzt für mich sichtbar. Auch wenn er oft auf meinem Bettrand gesessen hatte oder mit mir draußen in der Bucht geschwommen war, hatte er sich immer in großem Abstand befunden. Jetzt, in all seiner Hilflosigkeit, kam er mir nah. Ich war stärker als der Mann, der mir gegenüber saß, an dem weißgedeckten Tisch im Restaurant, wo eine Kapelle spielte, der niemand zuhörte, wo Zigarettenrauch sich mit starkem Parfum mischte und der Wein in seinem Glas abnahm.
Da entschied ich mich für eine Antwort. Ich entdeckte meine Zukunft oder erschuf sie in diesem Augenblick.
Mein Vater sah mich mit seinen graublauen Augen an.
Er schien sich von der Hilflosigkeit erholt zu haben, die ihn überkommen hatte. Aber ich hatte sie bemerkt und würde sie nie wieder vergessen.
»Du sagst, Chemie macht Spaß? Warum?«
»Weil ich Arzt werden will. Da muß man sich mit chemischen Substanzen auskennen. Ich will operieren.«
Plötzlich sah er mich mit Abscheu an. »Willst du in Menschen herumschnippeln?«
»Ja.«
»Du kannst doch mit der mittleren Reife nicht Arzt werden.«
»Ich will Abitur machen und studieren.«
»Um mit den Fingern in den Eingeweiden der Menschen herumzustochern?«
»Ich will Chirurg werden.«
In diesem Augenblick entstand der Plan für mein Leben. Ich hatte nie daran gedacht, Arzt zu werden. Ich wurde nicht ohnmächtig, wenn ich Blut sah oder eine Spritze bekam, aber ich hatte mir nie ein Leben in Krankenhauskorridoren oder Operationssälen vorgestellt. Als wir an diesem Aprilabend heimgingen, mein Vater ein bißchen beschwipst, ich selbst ein vom Wein müder Fünfzehnjähriger,
erkannte ich, daß ich nicht nur meinem Vater geantwortet hatte. Ich hatte auch mir selbst ein Versprechen gegeben.
Ich würde Arzt werden. Ich würde mein Leben damit verbringen, in menschlichen Körpern herumzuschnippeln.
© 2007 der deutschsprachigen Ausgabe:
Paul Zsolnay VerlagWien
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Autoren-Porträt von Henning Mankell
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der großen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.
Bibliographische Angaben
- Autor: Henning Mankell
- 2009, 9. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Reichel, Verena
- Übersetzer: Verena Reichel
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423211520
- ISBN-13: 9783423211529
- Erscheinungsdatum: 12.05.2009
Rezension zu „Die italienischen Schuhe “
»Kein anderer Autor kann Geschichten mit so wunderbaren und unerwarteten Wendungen erzählen, nachdenklich und anrührend zugleich.« Joachim Mittelstaedt, Asphalt Magazin August 2011
Pressezitat
Kein anderer Autor kann Geschichten mit so wunderbaren und unerwarteten Wendungen erzählen, nachdenklich und anrührend zugleich. Joachim Mittelstaedt Asphalt-Magazin, August 2011
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