Die Künste des Kinos
Wie Filme zeigen können, woran wir mit uns sind.
Von Anfang an übernimmt das Kino viele Verfahren der Architektur, der Musik, der Malerei, des Schauspiels, der Literatur und anderer Künste - aber es lässt sie nicht so, wie sie dort sind. Das Kino kann,...
Von Anfang an übernimmt das Kino viele Verfahren der Architektur, der Musik, der Malerei, des Schauspiels, der Literatur und anderer Künste - aber es lässt sie nicht so, wie sie dort sind. Das Kino kann,...
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Produktinformationen zu „Die Künste des Kinos “
Klappentext zu „Die Künste des Kinos “
Wie Filme zeigen können, woran wir mit uns sind.Von Anfang an übernimmt das Kino viele Verfahren der Architektur, der Musik, der Malerei, des Schauspiels, der Literatur und anderer Künste - aber es lässt sie nicht so, wie sie dort sind. Das Kino kann, was es kann, weil es das verkehrt und verwandelt, was die anderen Künste können.
In seinem neuen Buch unternimmt Martin Seel eine Analyse dieser Verbindung. In neun konzisen Kapiteln erkundet er das besondere ästhetische Potential des Films und führt an konkreten Beispielen vor, wie unterschiedlich es realisiert werden kann. Stilistisch glänzend entwirft Martin Seel eine neuartige Perspektive auf den Film und darauf, was er mit uns im Kino macht.
Lese-Probe zu „Die Künste des Kinos “
Die Künste des Kinos von Martin Seel1. Film als Architektur
Ein Anfang
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Nachdem der Vorspann des Films The Searchers von John Ford (USA 1956) zu Ende ist, wird die Leinwand für einen kurzen Moment schwarz. In weißer Schrift erscheint die Einblendung »Texas 1868«. Wieder wird das Bild schwarz. Im nächsten Augenblick geschieht dreierlei auf einmal. Man hört das Geräusch einer Türklinke; das bittersüße musikalische Leitmotiv setzt ein; mit dem Aufschwingen einer Tür, in der die Silhouette der Frau erscheint, die sie gerade geöffnet hat, öffnet sich der Raum dieses Films.
Seine erste Einstellung etabliert einen starken Kontrast zwischen dem drei Viertel der Leinwand ausfüllenden, in völligem Dunkel verbleibenden Innenraum und dem scharf begrenzten Ausschnitt des in hellem Licht liegenden Außenraums einer weiten Landschaft. Diese bildliche Anordnung verweist bereits auf einen Grundkonflikt dieses Films (und zahlloser anderer Filme weit über den Western hinaus): Ein bedrohter Schutzraum sieht sich einem bedrohenden Ereignisraum ausgesetzt; ein nicht geheures Draußen verlangt nach einem befriedeten Drinnen; ein beklemmendes Drinnen verlangt nach einem befreienden Draußen. Die anschließende Kamerafahrt folgt der Frau in ihrem Gang auf die Veranda des Hauses, wodurch sich auch das Bild der Landschaft langsam weitet. Nochmals wird hier die Bewegung des Films vorgreifend vollzogen: In der Weite des Landes lauert eine Gefahr für dessen soziale und rechtliche Domestizierung. In der rechten Bildhälfte sieht man aus der Ferne einen Reiter herankommen, nach dem die Frau mit unruhigen Blicken Ausschau hält. Ein Mann tritt neben sie und spricht mit fragender Intonation das erste Wort des Films, das seinem Helden einen Namen gibt: »Ethan?«
Die Frage, was es mit Ethan Edwards auf sich hat, wird der gesamte Film nicht eindeutig beantworten. Doch schon in den ersten 30 Sekunden seiner Handlung öffnet er die Tür zu einer Betrachtung der Konstruktion einer filmischen Welt. Er gibt einen Einblick nicht allein in seine Architektur, sondern in die von Filmen überhaupt. In seiner anfänglichen Geste liegt bereits ein Hinweis auf die Verwandtschaft von Architektur und Film. Beide sind - je auf ihre Weise - Künste der Raumbildung. Wie alle Künste sind sie darüber hinaus Zeitkünste: Sie führen ihren Betrachtern und Benutzern eine Bewegung vor oder verlangen eine von ihnen, wie sie ohne die Konstruktion eines Bauwerks oder Films nicht möglich wäre.
Raumteilung
Die grundlegende Operation der Architektur liegt in einem Verfahren der Raumteilung sowie der Raumgliederung. Dabei werden Differenzen von Innen und Außen etabliert, die vielfach wiederholt, variiert, gespiegelt und durchbrochen werden können. Mit jedem Gebäude entsteht ein Raum von Räumen, die auf unterschiedliche Weise voneinander getrennt und füreinander offen sind. Viele Gebäude errichten nicht nur Abgrenzungen eines inneren Raums von einem äußeren, sie leisten eine Vervielfältigung ihres Raums. Dieses Ensemble von Räumen bildet zugleich einen Raum für Räume, indem es Übergänge und Durchgänge, Brüstungen und Schwellen, Aussichten und Hereinsichten hervorbringt, die auf verschiedene Weise miteinander in Beziehung stehen. Sie korrespondieren nicht allein nach innen, sondern ebenso sehr nach außen: mit Bauten und Bäumen, mit Licht und Schatten, mit Ruhe und Lärm, kurz: mit allem, wofür sich das Gebäude in der Umgebung seines Ortes öffnet. Darin zeigt sich, dass jedes Bauwerk zugleich einen Raum in Räumen hervorbringt. Es stellt seinen pluralen Raum in einen größeren Raum, der ebenfalls ein Erzeugnis vielfältiger Kräfte ist. Es sind stets geographische, kulturelle, historische und alltägliche Orte, an denen das einzelne Gebäude seine Wirksamkeit entfaltet. Diese Räume aber, in denen ein Bauwerk steht, verbinden sich letztlich wieder zu einem Raum: zu dem Raum einer Landschaft, der das Gebäude seit seiner Entstehung angehört und der es mit seiner Entstehung einen eigenen Akzent verliehen hat.
Wie bei dem Raum buchstäblicher Architekturen handelt es sich auch bei demjenigen, durch den die Bewegung von Filmen führt, um einen durch und durch konstruierten Raum. Dieser geht nicht minder aus Operationen der Raumteilung und Raumgliederung sowie der Vervielfältigung, Öffnung und Schließung von Räumen hervor. Wie die Baukunst erzeugt der Film einen Raum von Räumen und für Räume im Ganzen eines unüberschaubaren Raums. Auf den Bewegungsraum des Films trifft daher alles das zu, was meine Skizze der Dynamik des architektonischen Raums festgehalten hat. Den einen Raum jedoch können wir tatsächlich begehen, wodurch sich seine Ansichten in Relation zu unserer körperlichen Bewegung fortwährend verändern. Dagegen sind wir den Bewegungen des anderen Raums in einem seinerseits architektonischen Raum - dem Kino - ausgesetzt, ohne dass wir einen Einfluss auf den Rhythmus seiner Ansichten und Aussichten hätten. Im ersten Fall bewegen wir uns in dem Raum oder in seiner Umgebung; im zweiten Fall sind wir mit der Eigenbewegung eines bildlichen Raums konfrontiert.
Die Parallele zwischen Architektur und Film kann daher nur aufschlussreich sein, wenn es gelingt, den über das Offensichtliche hinaus entscheidenden Unterschied zwischen dem filmischen und dem architektonischen Raum zu benennen. Der springende Punkt liegt in einem alternativen Verfahren der Raumteilung. Der Grundunterscheidung von Innenund Außenraum im Fall der Architektur entspricht im Film diejenige zwischen dem, was sich on screen und off screen zuträgt. Seine Bewegung vollzieht sich als ein steter Wechsel zwischen dem auf der Leinwand Erscheinenden und dem auf ihr noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht Sichtbaren (und ist als potentieller Wechsel auch dort immer virulent, wo wir es mit extrem statischen Aufnahmen zu tun haben). Die Innen / AußenVerhältnisse, die im Film sichtbar werden - Ausblicke, Einblicke, Blickbewegungen, Aufblenden, Abblenden, Schwenks, Blicksprünge etc. -, werden im Medium einer Differenz zwischen dem auf der Leinwand jeweils Sichtbaren und dem dort jeweils Unsichtbaren organisiert. Kraft der Kadrierung und Montage der Bildausschnitte etablieren Filme den spezifischen Raum ihres Geschehens: jenen Raum, in dem sich alles ereignet, was sich in ihnen ereignet, und zugleich einen Raum, der sich ereignet, während sich der filmische Fortgang ereignet.
Raumklang
Seit Filme im Kino von Musik begleitet wurden und erst recht seit es den Tonfilm gibt, hat die akustische Dimension einen wesentlichen Anteil an der filmischen Raumbildung. Durch Musik, Sprache und andere Geräusche wird das auf der Leinwand Sichtbare ebenso wie das auf ihr Unsichtbare auf vielfältige Weise akzentuiert und modelliert. Je nach Art der Lokalisierung von Geräuschquellen im Verhältnis zu den auf der Leinwand erscheinenden Szenen werden durch die akustischen Effekte ebenfalls komplexe Innen / AußenVerhältnisse geschaffen, die mit der visuellen Raumgliederung auf vielfältige Weise korrespondieren. Tonquellen können innerhalb der auf der Leinwand sichtbaren Szene lokalisiert sein oder aber außerhalb von ihr. Klänge, die eine Szene von außen charakterisieren, können gleichwohl innerhalb der filmisch entworfenen Situationen verortet sein oder aber - wie bei »Filmmusik« oder Formen des voice-over - ohne solche Verortung eingesetzt werden. Diese Grundmöglichkeiten der akustischen Organisation von Filmen können mehr oder weniger deutlich voneinander abgehoben sein oder fließend ineinander übergehen. In einer Szene oder im Verlauf eines Films lassen sie sich zudem beliebig mit einander kombinieren. Wie immer dies geschieht, stets erweist sich die akustische Sphäre von Filmen als eine Dimension des Ereignisraums, der durch seine Verläufe eröffnet wird. In ästhetischer Hinsicht ist es die primäre Funktion der Tonspur, den filmischen Raum aus Räumen zu erweitern und zu bereichern - und zwar nicht allein als Ausgestaltung dessen, was jeweils auf der Leinwand geschieht, sondern zugleich als eine Verschränkung des filmischen Raums mit demjenigen, in dem der Film präsentiert wird. Im Kino wird der Klangraum zum Raumklang.
Gebäude aller Art haben immer auch eine bestimmte Akustik. Bei der Errichtung von Konzerthallen, Vortragssälen, Kirchen oder Kinos wird ihr im günstigen Fall eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Als Resonanzraum für ein differenziertes akustisches Geschehen sind diese Bauwerke selbst Klangkörper, in denen sich die Wirkung der jeweiligen akustischen Ereignisse möglichst angemessen entfalten kann. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik hat Hegel den »Tongebäuden« der Musik nicht ohne Grund »einen architektonischen Charakter« zugesprochen. Der gleichen Spur folgt Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder der Architekt, wenn er die raumbildende und Räume verwandelnde Magie der Musik betont. 1 Diese Affinität zwischen architektonischem Raum und musikalischer Zeit wirft ein Licht auf die besonderen Architekturen des Films. Ihre akustische Bewegtheit lässt die filmbildliche Bewegung in den Raum ihrer Wahrnehmung intervenieren. Der Klang der Filme füllt den Raum ihres Erscheinens in einem ganz und gar buchstäblichen Sinn: Er umfasst das Publikum und bezieht es allein damit in seine visuellen Landschaften ein. Die Komposition akustischer Ereignisse verbindet auf diese Weise den virtuellen Raum von Filmen mit dem realen, leiblich besetzten Raum ihrer Präsentation. Sie vollbringt dies durch Klangquellen, die in einer dichten Beziehung zu allem stehen, was sich auf der Leinwand ereignet.
Ein Vorspann
Klacken einer Türklinke, musikalisches Leitmotiv, erstes Dialogwort - der Auftakt der Handlung des Films The Searchers setzt einen dreifachen Akkord. Ein Geräusch wird hörbar, die Musik bereitet eine Grundstimmung vor, ein erstes Ereignis wird verbal kommentiert, während die Zuschauer in den Schauplatz des Films eingeführt werden. Der Auftakt des Films hingegen gibt noch keinen Einblick in seinen Handlungsraum. Sein Vorspann ist anderthalb Minuten lang. Auf einem schlichten Bildgrund (einer konventionell gemalten Backsteinmauer) erscheint zunächst das Signet der Warner Brothers und dann der Name des Produzenten. Anschließend wird in schwarzen Lettern der Darsteller des Ethan Edwards genannt: John Wayne. Erst danach wird in leuchtend roter Schrift der Titel des Films eingeblendet. Begleitet werden diese ersten 23 Sekunden von einer dramatischen Orchestermusik. Diese klingt aus und wird von dem sentimentalen WesternSong »The Searchers« von Stan Jones abgelöst, während die übrigen credits folgen. Der Song erstirbt, während die Leinwand zweimal schwarz wird; er wird unmittelbar von der einsetzenden Titelmelodie abgelöst, als die Tür zum Raum der Fiktion geöffnet wird.
Selbst für die damaligen Gewohnheiten ist dies ein ausgesprochen schmuckloser Vorspann. Er stellt einen ostentativen Kontrast zu dem kunstvollen Auftakt der Filmhandlung her. Die drei verschiedenen Musiken, die später im Film wieder ihren Auftritt haben werden, intonieren vorgreifend die instabile Stimmungslage seiner Entwicklung. Sie füllen bereits den Raum des Kinos, bevor der sichtbare Raum des Films sich geöffnet hat. Visuell bleibt vorerst alles flach. Vor der narrativen Aktion tritt das akustische Geschehen in Aktion. Die Landschaft des Films ist da, bevor seine Landschaft da ist. Sie umfängt die Betrachter, noch bevor sie sich sehend in ihr befinden.
Landschaften
Geräusch und Klang sind tragende Säulen der Architekturen des Films. Ihr Verfahren besteht darin, Räume zu teilen und zu verbinden, zu wechseln und zu verschachteln, zu erkunden und zu verbergen und auf diese Weise einen Raum von Räumen und für Räume zu erzeugen - einen Raum aber, in dem alle jeweils sichtbaren Räume zu der ungreifbaren Sphäre der dargebotenen filmischen Welt hin offen bleiben. Dieser Zustand des filmischen Raums ist für den Landschaftscharakter der Präsenz von Filmen verantwortlich. Landschaftserfahrung ergibt sich wesentlich aus einer Position mitten unter einer vielgestaltigen und variablen Fülle von Zuständen und Ereignissen, die das Vernehmen und Verstehen ihrer Subjekte immer auch überschreitet. Ästhetisch erfahrene Landschaft hat den Charakter eines geschehenden Raums. Im Angesicht von Gebäuden ist dies die Präsenz der Weite der realen Welt, in der das Bauwerk seine Stellung einnimmt und zu der es eine Stellung bezieht. Im Kino ergibt sich dieser Effekt aus dem Umstand, dass ein Film seinen Zuschauern kein annähernd vollständiges Bild des Raums gibt, in dem er sich abspielt, sondern immer nur Aspekte desselben, die in einem Spiel von Erinnerung und Erwartung ergänzt werden müssen, ohne sich je zu einem überschaubaren Ganzen zu formen. In der Montage von visuellen und akustischen Verläufen stellen Filme einen bewegten und die Zuschauer bewegenden Raum her, der als Fragment einer filmischen Welt erfahren wird.
Dieser Charakter des filmischen Geschehens besteht unabhängig davon, ob oder in welchem Maß Landschaften der Natur oder der Stadt in ihm eine Rolle spielen. Selbst in einem Film wie The Man Who Shot Liberty Valance (John Ford, USA 1962), in dem es durchweg um das Recht auf Landnahme und um die Kultivierung von Landschaft geht, bleibt diese mit Ausnahme kurzer Sequenzen am Anfang und am Ende bildlich weitgehend ausgeschlossen. Der Begriff des Landschaftscharakters gibt vielmehr eine formale Bestimmung der Art von Raumbewegung, die für das Erscheinen von Filmen im Kino kennzeichnend ist. Zu ihrer Architektur gehört die Möglichkeit, für ihre Betrachter die Position des Innerhalb und Inmitten einer Szenerie und Ereignisfolge zu etablieren, die im Verlauf des Films erkundet wird, wodurch sich stets wechselnde Verhältnisse des Innen und Außen, Sichtbaren und Unsichtbaren, Heimlichen und Unheimlichen, des Präsenten und Absenten ergeben. Die Zuschauer können sich so wahrnehmend in einen ihrem leiblichen Zugriff entzogenen Raum begeben und sich dabei von dem, was in ihm geschieht und wie er geschieht, sehend und hörend, fühlend und verstehend animieren lassen. Die filmische Raumteilung gliedert, akzentuiert, vervielfältigt und verändert nicht einen Raum, der zuvor schon gegeben wäre, sondern stellt - ebenso wie, aber doch anders als die buchstäbliche Architektur - eine Raumerfahrung sui generis her.
Hieraus ergibt sich ein grundsätzlicher Primat des Bewegungsraums vor dem Bedeutungsraum. Aus der Raumbewegung von Filmen gehen die Schauplätze ihrer Darbietung hervor. Alles, was sie uns gegebenenfalls »sagen« mögen, was sie dokumentierend oder fingierend (oder dokumentierend und fingierend) vor Augen führen, hängt ab von den Räumen, durch die sie uns führen - von Räumen, die sie uns so zeigen, dass sie sich stets zugleich vor unserem Blick verbergen. So verfährt die filmische Architektur: Sie baut eine Welt, in der wir uns wahrnehmend aufhalten dürfen, ohne wirklich in ihr zu sein. Diese Virtualität des filmischen Raums aber ist ihrerseits etwas höchst Wirkliches. Sie verdankt sich dem Erscheinen einer bildlichen und klanglichen Bewegung, das die Zuschauer in Prozesse eines spürenden Vernehmens verstrickt, die durchweg an das unwahrscheinliche Dasein dieses Erscheinens gebunden sind.
Zwei Extreme
Eines der ingeniösesten Beispiele filmischer Architektur vollzieht sich in einem fast vollkommen leeren Raum - in der berühmten, bei Bakersfield in Kalifornien gedrehten Maisfeldszene in Alfred Hitchcocks North by Northwest (Der unsichtbare Dritte, USA 1959). Die Landschaft im Film wird hier zu einem Lehrstück der Gestaltung der Landschaft eines Films. Roger O. Thornhill (Cary Grant), ein vermeintlicher CIAAgent, wird von der schönen Doppelagentin Eve Kendall (Eva Marie Saint) in die Fänge der Spione geschickt, die ihm nach dem Leben trachten. Am Bestimmungsort angekommen, steht Thornhill allein auf weiter Flur und wartet in einer zunächst extrem ruhigen, dann zunehmend lebhafteren Schnittfolge auf sein Schicksal - dem er schließlich mit einem Knalleffekt entkommt.
Die fast zehn Minuten lange Sequenz beginnt mit einer Überblendung der Großaufnahme des Gesichts von Kendall mit einer Totalen auf die von einer geraden Straße durchzogenen Weite abgeernteter Maisfelder. Die letzten Töne der vorangehenden Musik verstummen. Das anschließende Geschehen kommt ohne Musik aus. In einer statischen Aufsicht sieht man aus der Ferne den Überlandbus heranfahren, dem Thornhill mitten im Niemandsland entsteigt. Der Bus verlässt die Szene am rechten unteren Bildrand. Man hört ihn noch, als er schon längst aus dem Blick ist. Es folgt ein ruhiger Wechsel von objektiven und subjektiven Einstellungen, die das ratlose Herumstehen und die suchenden Blicke des elegant gekleideten New Yorker Werbefachmanns zeigen. Die wenigen auf der staubigen Straße vorbeirauschenden Fahrzeuge betonen nur die Leere der Ackerlandschaft. Bald ist im Hintergrund das Flugzeug zunächst zu hören und dann zu sehen, aus dem die Angriffe auf Thornhill erfolgen werden. Es fungiert vorerst als ein weiterer Raumindikator, der die Grenzenlosigkeit der Szenerie markiert. In einem ebenso klaren wie stetigen Rhythmus zieht sich der sichtbare Raum anschließend immer stärker um die zentrale Figur zusammen, während die aus der Luft operierenden Attentäter ihr näher auf den Leib rücken. Der Raum und die Zeit der Episode werden artifiziell ausgedehnt, um schließlich an einem einzigen Punkt zusammengeballt zu werden.
Zum Witz dieser Sequenz gehört es, dass sich in einem Gelände, das dem gehetzten Helden keinerlei Schutz zu bieten scheint, dennoch zwei Fluchträume finden. Der erste ist ein zu Beginn beiläufig in den Blick gerücktes, noch nicht abgeerntetes Maisfeld, in dem Thornhill Unterschlupf zu finden sucht. Durch das Versprühen von Schädlingsbekämpfungsmitteln aus dem angreifenden Flugzeug wird er daraus vertrieben. Hustend und keuchend sucht er nach einem Ausweg. Durch ein links und rechts von Maishalmen umrahmtes Blickfenster sieht Thornhill auf der Straße einen Tanklastwagen heranfahren. Der erstickende Innenraum gewährt eine Aussicht ins Freie. Thornhill rettet sich, indem er den Tanklaster in letzter Sekunde zum Anhalten zwingt. Großaufnahme der heranfahrenden Kühlerhaube des Lastwagens; Hupen, Bremsgeräusche. Schnitt. Großaufnahme des panischen Gesichts von Thornhill; Hupen, Bremsgeräusche. Schnitt. Großaufnahme der Kühlerhaube; Hupen, Bremsgeräusche. Schnitt. Naheinstellung: Thornhill lässt sich unter das Führerhaus fallen; Bremsgeräusche. Schnitt. Naheinstellung: Thornhill liegt unter dem Lastwagen; Motorengeräusche. Der Raum hat jetzt seine geringste Ausdehnung erreicht. Die Weite der Landschaft ist gänzlich verschwunden. Schnitt. Naheinstellung: Thornhill blickt in Richtung des heranfliegenden Doppeldeckers; Motorengeräusche. Schnitt. Erweiterte Einstellung: Das schwankende Flugzeug steuert auf den Lastwagen zu; Motorenlärm. Schnitt. Totale: Straße, Felder; das Flugzeug kracht in den hinteren Tank des Lastwagens; Explosion; einsetzende dramatische Musik. Die Musik markiert den Anfang des Endes der Episode und mit ihr die Auflösung ihrer Spannung. Während der finalen Einstellungen geschieht wieder eine zunehmende Öffnung des filmischen Raums, in dem es zu einem komödiantischen Abschluss kommt.
Einen umgekehrten Fall der Raumkonstruktion präsentiert der Film Cube von Vincenzo Natali (CAN 1997). Verschiedene Personen, die nach und nach zu einer Gruppe zusammenkommen, finden sich auf - ihnen wie den Zuschauern - unerklärliche Weise in einem gigantischen Areal wieder, das aus großen, von einem indirekten Licht farbig beleuchteten Kuben besteht, an deren Wänden rätselhafte, wie technische Zeichnungen aussehende Ornamente zu sehen sind. Der Film führt Figuren und Betrachter durch diesen Irrgarten von - wie sich herausstellt - 17 577 zirkulierenden Würfeln in einem riesigen Würfel, von denen einige mit tödlichen Fallen ausgestattet sind. Diese Räume im Raum lassen sich zwar füreinander öffnen, jedoch nur, um sich bald darauf wieder automatisch zu schließen. In dieser Situation, in der sich der gesamte Film abspielt, gibt es mit Ausnahme der letzten Einstellung kein Draußen - und daher auch kein schützendes Drinnen. Abgesehen von dem am Ende der Handlung erreichten Kubus führt keiner in einen Raum außerhalb der alles umgebenden Hülle. Und auch dieser tritt nur als eine gleißende Helligkeit in Erscheinung, in der die einzig überlebende Figur verschwindet, ohne dass in ihr etwas sichtbar würde. Das Publikum wird mit Konfigurationen des Raums und der Zeit unterhalten, die um vieles weiter reichen als diejenigen, die der filmische Verlauf durchmisst.
Die Extreme eines fast vollkommen offenen und eines fast vollkommen geschlossenen Raums zeigen, dass der filmische wie der architektonische Raum nicht gedacht und nicht hergestellt werden kann ohne Bezug zu einem äußeren Raum und damit zu einem Gefüge von inneren und äußeren Räumen. Wie die Architektur ist der Film ein Geschehen von und zwischen Räumen, und insofern immer das Ereignis eines Raums, das durch Gebäude eröffnet und durch Filme einer dynamisierten Imagination zugeführt wird. Eine anthropologische Konstante macht sich dabei gleichermaßen in der buchstäblichen wie der filmischen Architektonik bemerkbar. Im bloßen Drinnen drohen wir zu ersticken; im bloßen Draußen drohen wir uns zu verlieren. In der einen Lage verlangt es uns nach der anderen. Dieses antagonistische und darum labile Begehren führen die Landschaften des Kinos ein ums andere Mal vor. So sehr das Kino aber - mal heiter, mal düster, mal grausam, mal tröstend und nicht selten in allen diesen Modi zugleich - mit diesem doppelten Verlangen spielt, es spielt auch mit seiner doppelten Erfüllung. Denn es hält im Draußen immer ein Drinnen und im Drinnen immer ein Draußen offen.
Ein Ende
Diese Offenheit des filmischen Raums dramatisiert auch die finale Sequenz von John Fords The Searchers. Während der WesternSong zum zweiten Mal erklingt (nachdem zuvor das musikalische Leitmotiv den letzten Stimmungsumschwung mitgestaltet hat), zieht sich die Kamera in den Innenraum eines Farmerhauses zurück und lässt den ruhelosen Ethan Edwards in der Weite der Prärie einem ungewissen Schicksal entgegengehen. Diese Schlusseinstellung nimmt mit umgekehrter Bewegung die allererste Einstellung wieder auf, die sich in der Mitte des Films bereits einmal wiederholt hat. Am Ende des Films, bei der zweiten Wiederholung, bringt Ethan nach langen Jahren der Suche die von den Indianern entführte Debbie (Natalie Wood) zu den Nachbarn ihrer ermordeten Eltern zurück. Mr. und Mrs. Jorgensen (John Qualen / Olive Carey) nehmen die junge Frau fürsorglich in Empfang und geleiten sie in ihr Haus, der Kamera entgegen, die sich rückwärts ins Innere des Hauses bewegt. Wieder füllt der Ausschnitt der Tür und mit ihm der Anblick der hellen Landschaft nur noch etwa ein Drittel der Leinwand aus, wie zu Beginn schwarz eingerahmt von der Wand des Innenraums. Ethan Edwards macht einige Schritte auf die Haustür zu, dreht sich um, lässt Martin Pawley (Jeffrey Hunter) und Laurie Jorgensen (Vera Miles), das wieder vereinte junge Paar, vorbei, wendet sich dem Haus zu, zögert, dreht ab und schreitet langsam davon. Daraufhin schwingt die Tür des Hauses zu. Sie wird jedoch von niemandem, von keiner Figur im Haus geschlossen. Alle Charaktere sind nach rechts abgegangen, die Tür aber schließt sich von links. Kein Geräusch der Klinke ist zu hören. Gleichzeitig wird das sentimentale Lied von Akkorden der aufwühlenden Orchestermusik abgelöst, mit der der Vorspann des Films begonnen hatte (womit auch die dortige Reihung der Melodien umgekehrt wird). Mit dem Zugehen der Tür schließt sich der Raum des Films selbst. Mit der Weite wird zugleich die Nähe, mit dem Außen das Innen ausgeblendet. Keine Raumteilung geschieht mehr, es ist nur noch ein schwarzer Bildgrund da, auf dem das Insert The End erscheint. Die Leinwand wird wieder zu einer Wand, die nurmehr den Raum des Kinos begrenzt; sie fungiert nicht länger als Passage zu einem bewegten Raum in seinem Raum. Wie häufig in der Kunst leistet diese Selbstpräsentation des künstlerischen Mediums eine nochmalige Intensivierung dessen, was in der Art seiner Verwendung dargeboten wird. Das Schließen des Raums der Fiktion nämlich ist hier zugleich ein Ausschluss des Helden aus der Welt, die sie entwirft. Für eine Figur, bei der sich das beinahe Übermenschliche mit dem Unmenschlichen paart, gibt es in der Sphäre einer um Zivilisierung bemühten Gemeinschaft keinen Platz. Die Allegorie des filmischen Bildes konvergiert mit einer Allegorie der sozialen Ortlosigkeit des modernen Helden.
Diese Passage ist nicht nur ein Wahrzeichen des gespaltenen Begehrens zugleich nach einem bergenden Drinnen und einem befreienden Draußen, das die Erzählung vieler Filme antreibt. Sie demonstriert zugleich die grundsätzliche Ausschnitthaftigkeit des Filmraums, wie sie gerade dort gegeben ist, wo seine Einstellungen den Blick in eine offene Weite gewähren. Jeder Bezug auf Zustände und Ereignisse, das stellt diese Szene aus, geht im Film mit einem permanenten Entzug einher; alle Sichtbarkeiten des filmischen Geschehens erzeugen einen Horizont des in ihm Unsichtbaren, der spürbar auf alles innerbildlich Manifeste einwirkt. Zusammen mit dem Anfang lässt sich das Ende von The Searchers als eine Inszenierung der unsteten Rahmung deuten, der alles filmische Geschehen wenigstens potentiell unterliegt.
Raumimagination
Von dieser variablen Umgrenzung ist die filmische Raumbildung jederzeit geprägt. An ihr zeigt sich, dass der filmische Raum ungleich offener und geschlossener, dass er zugleich stabiler und instabiler ist als alle Räume, in denen wir uns ansonsten befinden und bewegen. Geschlossener und stabiler ist der filmische Raum, weil sich die Bewegung, der er unterliegt und die sich in ihm abspielt, unabhängig von der Position der Wahrnehmenden in unabänderlicher Abfolge ereignet. Alles an dieser Bewegung liegt fest; alle Betrachter unterliegen ihr. Offener und instabiler aber ist dieser Raum, eben weil es ein sich bewegender Raum ist, der stets dem Gesetz seiner eigenen Dynamik folgt. Der Horizont, in dem das, was jeweils zu sehen ist, erscheint, verschiebt sich nicht und verschmilzt nicht in Relation mit der leiblichen Bewegung der Betrachter; er hält sie fest und springt mit ihnen um, indem er sich fortwährend entzieht. Denn so viel Horizont im Bild auch sichtbar sein mag, der des Bildes ist es nicht. Er liegt außerhalb seines Rahmens, und dies in einer grundsätzlich anderen Weise als dies bei anderen Bildformen der Fall ist. Der Raum von Filmen geht nicht über unseren Horizont, wie es ja nur die besten vermögen, er geht über seinen Horizont. Mit jeder Einstellung, jedem Schnitt, jedem Schwenk, jedem Zoom, jedem Objekt, das in das sichtbare Feld hinein oder aus ihm heraus bewegt wird, verändert sich der Bereich dessen, was außerhalb seines Erscheinens liegt, ohne dass dieses Außerhalb anders als in immer neuen Aspekten gegenwärtig würde.
Deswegen ist der filmische Raum ein imaginierter Raum. Er ist es nicht allein, weil er durch Imagination erzeugt wäre; er ist es nicht nur, weil er durch Imagination der Zuschauer ergänzt werden muss; er ist es, weil er sich mit allem, was in ihm sichtbar wird, in einem unsichtbaren Horizont bewegt. Dies macht seine Erfahrung zu der eines Mitgenommenwerdens in eine in ihrer Zugänglichkeit stets unzugänglich bleibende Welt, die es in dieser Kombination nur im Film gibt. Der filmische Raum ist ein beweglicher Anschauungsraum, der das Publikum in eine wahrnehmende Bewegung versetzt, die gerade dort über sich hinausweist, wo es sich von dem Spiel der in ihm sichtbaren Erscheinungen fesseln lässt.
Noch ein Vorspann
Viele dieser Verhältnisse bündeln sich in einem filmischen Aphorismus, wie ihn der Vorspann zu Hitchcocks North by Northwest formuliert. Nach dem brüllenden Löwen von MetroGoldwynMayer, begleitet von einer dramatischen Musik von Bernard Herrmann, die auch am Ende der Maisfeldszene und im Finale des Films zum Einsatz kommt, bilden sich auf grünem Hintergrund die blauen Linien einer Architekturzeichnung, mit der die Rasterstruktur der Fassade eines New Yorker Hochhauses festgehalten wird. Daraufhin wird in einer langsamen Überblendung diese Fassade selbst sichtbar, mitsamt dem Leben der Stadt, das sich in ihren Fenstern spiegelt, sowie, in der rechten unteren Ecke der Leinwand, ein winziger Ausschnitt des Bürgersteigs vor dem Gebäude. Es wird eine Welt vorgezeichnet, die in vielen Zügen und Bezügen so aussieht wie die reale, in der sich jedoch eine Geschichte entfalten wird, die sich in ihr niemals abgespielt hat. Es wird eine Fassade aufgebaut, welche die Fassaden der Lebenswirklichkeit spiegelt, indem sie sie durchbricht und die sie durchbricht, indem sie sie spiegelt. Die gläserne Fassade des Hochhauses fungiert wie eine Leinwand auf der Leinwand, die nochmals die Dialektik der Raumteilung vor Augen führt, um die es in diesem Kapitel ging. Wo wir uns - sei es vor oder in Gebäuden, sei es in der Höhle des Kinos - nach drinnen orientieren, orientieren wir uns zugleich nach draußen; die Räume, die wir leibhaftig oder bloß spürend durchqueren, halten zugleich diejenigen präsent, die vorerst oder dauerhaft abwesend bleiben. So gewiss die architektonischen Räume um einiges stabiler sind als die sprunghaften und flüchtigen Klangbildräume des Films, beide Formen des Bauens - die mit Stein und Stahl nicht weniger als die mit Licht und Schatten operierende - leiten uns in Räume im Raum unseres Lebens, deren buchstäbliche und metaphorische Bewegtheit wir nötig haben wie die Luft zum Atmen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Nachdem der Vorspann des Films The Searchers von John Ford (USA 1956) zu Ende ist, wird die Leinwand für einen kurzen Moment schwarz. In weißer Schrift erscheint die Einblendung »Texas 1868«. Wieder wird das Bild schwarz. Im nächsten Augenblick geschieht dreierlei auf einmal. Man hört das Geräusch einer Türklinke; das bittersüße musikalische Leitmotiv setzt ein; mit dem Aufschwingen einer Tür, in der die Silhouette der Frau erscheint, die sie gerade geöffnet hat, öffnet sich der Raum dieses Films.
Seine erste Einstellung etabliert einen starken Kontrast zwischen dem drei Viertel der Leinwand ausfüllenden, in völligem Dunkel verbleibenden Innenraum und dem scharf begrenzten Ausschnitt des in hellem Licht liegenden Außenraums einer weiten Landschaft. Diese bildliche Anordnung verweist bereits auf einen Grundkonflikt dieses Films (und zahlloser anderer Filme weit über den Western hinaus): Ein bedrohter Schutzraum sieht sich einem bedrohenden Ereignisraum ausgesetzt; ein nicht geheures Draußen verlangt nach einem befriedeten Drinnen; ein beklemmendes Drinnen verlangt nach einem befreienden Draußen. Die anschließende Kamerafahrt folgt der Frau in ihrem Gang auf die Veranda des Hauses, wodurch sich auch das Bild der Landschaft langsam weitet. Nochmals wird hier die Bewegung des Films vorgreifend vollzogen: In der Weite des Landes lauert eine Gefahr für dessen soziale und rechtliche Domestizierung. In der rechten Bildhälfte sieht man aus der Ferne einen Reiter herankommen, nach dem die Frau mit unruhigen Blicken Ausschau hält. Ein Mann tritt neben sie und spricht mit fragender Intonation das erste Wort des Films, das seinem Helden einen Namen gibt: »Ethan?«
Die Frage, was es mit Ethan Edwards auf sich hat, wird der gesamte Film nicht eindeutig beantworten. Doch schon in den ersten 30 Sekunden seiner Handlung öffnet er die Tür zu einer Betrachtung der Konstruktion einer filmischen Welt. Er gibt einen Einblick nicht allein in seine Architektur, sondern in die von Filmen überhaupt. In seiner anfänglichen Geste liegt bereits ein Hinweis auf die Verwandtschaft von Architektur und Film. Beide sind - je auf ihre Weise - Künste der Raumbildung. Wie alle Künste sind sie darüber hinaus Zeitkünste: Sie führen ihren Betrachtern und Benutzern eine Bewegung vor oder verlangen eine von ihnen, wie sie ohne die Konstruktion eines Bauwerks oder Films nicht möglich wäre.
Raumteilung
Die grundlegende Operation der Architektur liegt in einem Verfahren der Raumteilung sowie der Raumgliederung. Dabei werden Differenzen von Innen und Außen etabliert, die vielfach wiederholt, variiert, gespiegelt und durchbrochen werden können. Mit jedem Gebäude entsteht ein Raum von Räumen, die auf unterschiedliche Weise voneinander getrennt und füreinander offen sind. Viele Gebäude errichten nicht nur Abgrenzungen eines inneren Raums von einem äußeren, sie leisten eine Vervielfältigung ihres Raums. Dieses Ensemble von Räumen bildet zugleich einen Raum für Räume, indem es Übergänge und Durchgänge, Brüstungen und Schwellen, Aussichten und Hereinsichten hervorbringt, die auf verschiedene Weise miteinander in Beziehung stehen. Sie korrespondieren nicht allein nach innen, sondern ebenso sehr nach außen: mit Bauten und Bäumen, mit Licht und Schatten, mit Ruhe und Lärm, kurz: mit allem, wofür sich das Gebäude in der Umgebung seines Ortes öffnet. Darin zeigt sich, dass jedes Bauwerk zugleich einen Raum in Räumen hervorbringt. Es stellt seinen pluralen Raum in einen größeren Raum, der ebenfalls ein Erzeugnis vielfältiger Kräfte ist. Es sind stets geographische, kulturelle, historische und alltägliche Orte, an denen das einzelne Gebäude seine Wirksamkeit entfaltet. Diese Räume aber, in denen ein Bauwerk steht, verbinden sich letztlich wieder zu einem Raum: zu dem Raum einer Landschaft, der das Gebäude seit seiner Entstehung angehört und der es mit seiner Entstehung einen eigenen Akzent verliehen hat.
Wie bei dem Raum buchstäblicher Architekturen handelt es sich auch bei demjenigen, durch den die Bewegung von Filmen führt, um einen durch und durch konstruierten Raum. Dieser geht nicht minder aus Operationen der Raumteilung und Raumgliederung sowie der Vervielfältigung, Öffnung und Schließung von Räumen hervor. Wie die Baukunst erzeugt der Film einen Raum von Räumen und für Räume im Ganzen eines unüberschaubaren Raums. Auf den Bewegungsraum des Films trifft daher alles das zu, was meine Skizze der Dynamik des architektonischen Raums festgehalten hat. Den einen Raum jedoch können wir tatsächlich begehen, wodurch sich seine Ansichten in Relation zu unserer körperlichen Bewegung fortwährend verändern. Dagegen sind wir den Bewegungen des anderen Raums in einem seinerseits architektonischen Raum - dem Kino - ausgesetzt, ohne dass wir einen Einfluss auf den Rhythmus seiner Ansichten und Aussichten hätten. Im ersten Fall bewegen wir uns in dem Raum oder in seiner Umgebung; im zweiten Fall sind wir mit der Eigenbewegung eines bildlichen Raums konfrontiert.
Die Parallele zwischen Architektur und Film kann daher nur aufschlussreich sein, wenn es gelingt, den über das Offensichtliche hinaus entscheidenden Unterschied zwischen dem filmischen und dem architektonischen Raum zu benennen. Der springende Punkt liegt in einem alternativen Verfahren der Raumteilung. Der Grundunterscheidung von Innenund Außenraum im Fall der Architektur entspricht im Film diejenige zwischen dem, was sich on screen und off screen zuträgt. Seine Bewegung vollzieht sich als ein steter Wechsel zwischen dem auf der Leinwand Erscheinenden und dem auf ihr noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht Sichtbaren (und ist als potentieller Wechsel auch dort immer virulent, wo wir es mit extrem statischen Aufnahmen zu tun haben). Die Innen / AußenVerhältnisse, die im Film sichtbar werden - Ausblicke, Einblicke, Blickbewegungen, Aufblenden, Abblenden, Schwenks, Blicksprünge etc. -, werden im Medium einer Differenz zwischen dem auf der Leinwand jeweils Sichtbaren und dem dort jeweils Unsichtbaren organisiert. Kraft der Kadrierung und Montage der Bildausschnitte etablieren Filme den spezifischen Raum ihres Geschehens: jenen Raum, in dem sich alles ereignet, was sich in ihnen ereignet, und zugleich einen Raum, der sich ereignet, während sich der filmische Fortgang ereignet.
Raumklang
Seit Filme im Kino von Musik begleitet wurden und erst recht seit es den Tonfilm gibt, hat die akustische Dimension einen wesentlichen Anteil an der filmischen Raumbildung. Durch Musik, Sprache und andere Geräusche wird das auf der Leinwand Sichtbare ebenso wie das auf ihr Unsichtbare auf vielfältige Weise akzentuiert und modelliert. Je nach Art der Lokalisierung von Geräuschquellen im Verhältnis zu den auf der Leinwand erscheinenden Szenen werden durch die akustischen Effekte ebenfalls komplexe Innen / AußenVerhältnisse geschaffen, die mit der visuellen Raumgliederung auf vielfältige Weise korrespondieren. Tonquellen können innerhalb der auf der Leinwand sichtbaren Szene lokalisiert sein oder aber außerhalb von ihr. Klänge, die eine Szene von außen charakterisieren, können gleichwohl innerhalb der filmisch entworfenen Situationen verortet sein oder aber - wie bei »Filmmusik« oder Formen des voice-over - ohne solche Verortung eingesetzt werden. Diese Grundmöglichkeiten der akustischen Organisation von Filmen können mehr oder weniger deutlich voneinander abgehoben sein oder fließend ineinander übergehen. In einer Szene oder im Verlauf eines Films lassen sie sich zudem beliebig mit einander kombinieren. Wie immer dies geschieht, stets erweist sich die akustische Sphäre von Filmen als eine Dimension des Ereignisraums, der durch seine Verläufe eröffnet wird. In ästhetischer Hinsicht ist es die primäre Funktion der Tonspur, den filmischen Raum aus Räumen zu erweitern und zu bereichern - und zwar nicht allein als Ausgestaltung dessen, was jeweils auf der Leinwand geschieht, sondern zugleich als eine Verschränkung des filmischen Raums mit demjenigen, in dem der Film präsentiert wird. Im Kino wird der Klangraum zum Raumklang.
Gebäude aller Art haben immer auch eine bestimmte Akustik. Bei der Errichtung von Konzerthallen, Vortragssälen, Kirchen oder Kinos wird ihr im günstigen Fall eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Als Resonanzraum für ein differenziertes akustisches Geschehen sind diese Bauwerke selbst Klangkörper, in denen sich die Wirkung der jeweiligen akustischen Ereignisse möglichst angemessen entfalten kann. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik hat Hegel den »Tongebäuden« der Musik nicht ohne Grund »einen architektonischen Charakter« zugesprochen. Der gleichen Spur folgt Paul Valéry in seinem Dialog Eupalinos oder der Architekt, wenn er die raumbildende und Räume verwandelnde Magie der Musik betont. 1 Diese Affinität zwischen architektonischem Raum und musikalischer Zeit wirft ein Licht auf die besonderen Architekturen des Films. Ihre akustische Bewegtheit lässt die filmbildliche Bewegung in den Raum ihrer Wahrnehmung intervenieren. Der Klang der Filme füllt den Raum ihres Erscheinens in einem ganz und gar buchstäblichen Sinn: Er umfasst das Publikum und bezieht es allein damit in seine visuellen Landschaften ein. Die Komposition akustischer Ereignisse verbindet auf diese Weise den virtuellen Raum von Filmen mit dem realen, leiblich besetzten Raum ihrer Präsentation. Sie vollbringt dies durch Klangquellen, die in einer dichten Beziehung zu allem stehen, was sich auf der Leinwand ereignet.
Ein Vorspann
Klacken einer Türklinke, musikalisches Leitmotiv, erstes Dialogwort - der Auftakt der Handlung des Films The Searchers setzt einen dreifachen Akkord. Ein Geräusch wird hörbar, die Musik bereitet eine Grundstimmung vor, ein erstes Ereignis wird verbal kommentiert, während die Zuschauer in den Schauplatz des Films eingeführt werden. Der Auftakt des Films hingegen gibt noch keinen Einblick in seinen Handlungsraum. Sein Vorspann ist anderthalb Minuten lang. Auf einem schlichten Bildgrund (einer konventionell gemalten Backsteinmauer) erscheint zunächst das Signet der Warner Brothers und dann der Name des Produzenten. Anschließend wird in schwarzen Lettern der Darsteller des Ethan Edwards genannt: John Wayne. Erst danach wird in leuchtend roter Schrift der Titel des Films eingeblendet. Begleitet werden diese ersten 23 Sekunden von einer dramatischen Orchestermusik. Diese klingt aus und wird von dem sentimentalen WesternSong »The Searchers« von Stan Jones abgelöst, während die übrigen credits folgen. Der Song erstirbt, während die Leinwand zweimal schwarz wird; er wird unmittelbar von der einsetzenden Titelmelodie abgelöst, als die Tür zum Raum der Fiktion geöffnet wird.
Selbst für die damaligen Gewohnheiten ist dies ein ausgesprochen schmuckloser Vorspann. Er stellt einen ostentativen Kontrast zu dem kunstvollen Auftakt der Filmhandlung her. Die drei verschiedenen Musiken, die später im Film wieder ihren Auftritt haben werden, intonieren vorgreifend die instabile Stimmungslage seiner Entwicklung. Sie füllen bereits den Raum des Kinos, bevor der sichtbare Raum des Films sich geöffnet hat. Visuell bleibt vorerst alles flach. Vor der narrativen Aktion tritt das akustische Geschehen in Aktion. Die Landschaft des Films ist da, bevor seine Landschaft da ist. Sie umfängt die Betrachter, noch bevor sie sich sehend in ihr befinden.
Landschaften
Geräusch und Klang sind tragende Säulen der Architekturen des Films. Ihr Verfahren besteht darin, Räume zu teilen und zu verbinden, zu wechseln und zu verschachteln, zu erkunden und zu verbergen und auf diese Weise einen Raum von Räumen und für Räume zu erzeugen - einen Raum aber, in dem alle jeweils sichtbaren Räume zu der ungreifbaren Sphäre der dargebotenen filmischen Welt hin offen bleiben. Dieser Zustand des filmischen Raums ist für den Landschaftscharakter der Präsenz von Filmen verantwortlich. Landschaftserfahrung ergibt sich wesentlich aus einer Position mitten unter einer vielgestaltigen und variablen Fülle von Zuständen und Ereignissen, die das Vernehmen und Verstehen ihrer Subjekte immer auch überschreitet. Ästhetisch erfahrene Landschaft hat den Charakter eines geschehenden Raums. Im Angesicht von Gebäuden ist dies die Präsenz der Weite der realen Welt, in der das Bauwerk seine Stellung einnimmt und zu der es eine Stellung bezieht. Im Kino ergibt sich dieser Effekt aus dem Umstand, dass ein Film seinen Zuschauern kein annähernd vollständiges Bild des Raums gibt, in dem er sich abspielt, sondern immer nur Aspekte desselben, die in einem Spiel von Erinnerung und Erwartung ergänzt werden müssen, ohne sich je zu einem überschaubaren Ganzen zu formen. In der Montage von visuellen und akustischen Verläufen stellen Filme einen bewegten und die Zuschauer bewegenden Raum her, der als Fragment einer filmischen Welt erfahren wird.
Dieser Charakter des filmischen Geschehens besteht unabhängig davon, ob oder in welchem Maß Landschaften der Natur oder der Stadt in ihm eine Rolle spielen. Selbst in einem Film wie The Man Who Shot Liberty Valance (John Ford, USA 1962), in dem es durchweg um das Recht auf Landnahme und um die Kultivierung von Landschaft geht, bleibt diese mit Ausnahme kurzer Sequenzen am Anfang und am Ende bildlich weitgehend ausgeschlossen. Der Begriff des Landschaftscharakters gibt vielmehr eine formale Bestimmung der Art von Raumbewegung, die für das Erscheinen von Filmen im Kino kennzeichnend ist. Zu ihrer Architektur gehört die Möglichkeit, für ihre Betrachter die Position des Innerhalb und Inmitten einer Szenerie und Ereignisfolge zu etablieren, die im Verlauf des Films erkundet wird, wodurch sich stets wechselnde Verhältnisse des Innen und Außen, Sichtbaren und Unsichtbaren, Heimlichen und Unheimlichen, des Präsenten und Absenten ergeben. Die Zuschauer können sich so wahrnehmend in einen ihrem leiblichen Zugriff entzogenen Raum begeben und sich dabei von dem, was in ihm geschieht und wie er geschieht, sehend und hörend, fühlend und verstehend animieren lassen. Die filmische Raumteilung gliedert, akzentuiert, vervielfältigt und verändert nicht einen Raum, der zuvor schon gegeben wäre, sondern stellt - ebenso wie, aber doch anders als die buchstäbliche Architektur - eine Raumerfahrung sui generis her.
Hieraus ergibt sich ein grundsätzlicher Primat des Bewegungsraums vor dem Bedeutungsraum. Aus der Raumbewegung von Filmen gehen die Schauplätze ihrer Darbietung hervor. Alles, was sie uns gegebenenfalls »sagen« mögen, was sie dokumentierend oder fingierend (oder dokumentierend und fingierend) vor Augen führen, hängt ab von den Räumen, durch die sie uns führen - von Räumen, die sie uns so zeigen, dass sie sich stets zugleich vor unserem Blick verbergen. So verfährt die filmische Architektur: Sie baut eine Welt, in der wir uns wahrnehmend aufhalten dürfen, ohne wirklich in ihr zu sein. Diese Virtualität des filmischen Raums aber ist ihrerseits etwas höchst Wirkliches. Sie verdankt sich dem Erscheinen einer bildlichen und klanglichen Bewegung, das die Zuschauer in Prozesse eines spürenden Vernehmens verstrickt, die durchweg an das unwahrscheinliche Dasein dieses Erscheinens gebunden sind.
Zwei Extreme
Eines der ingeniösesten Beispiele filmischer Architektur vollzieht sich in einem fast vollkommen leeren Raum - in der berühmten, bei Bakersfield in Kalifornien gedrehten Maisfeldszene in Alfred Hitchcocks North by Northwest (Der unsichtbare Dritte, USA 1959). Die Landschaft im Film wird hier zu einem Lehrstück der Gestaltung der Landschaft eines Films. Roger O. Thornhill (Cary Grant), ein vermeintlicher CIAAgent, wird von der schönen Doppelagentin Eve Kendall (Eva Marie Saint) in die Fänge der Spione geschickt, die ihm nach dem Leben trachten. Am Bestimmungsort angekommen, steht Thornhill allein auf weiter Flur und wartet in einer zunächst extrem ruhigen, dann zunehmend lebhafteren Schnittfolge auf sein Schicksal - dem er schließlich mit einem Knalleffekt entkommt.
Die fast zehn Minuten lange Sequenz beginnt mit einer Überblendung der Großaufnahme des Gesichts von Kendall mit einer Totalen auf die von einer geraden Straße durchzogenen Weite abgeernteter Maisfelder. Die letzten Töne der vorangehenden Musik verstummen. Das anschließende Geschehen kommt ohne Musik aus. In einer statischen Aufsicht sieht man aus der Ferne den Überlandbus heranfahren, dem Thornhill mitten im Niemandsland entsteigt. Der Bus verlässt die Szene am rechten unteren Bildrand. Man hört ihn noch, als er schon längst aus dem Blick ist. Es folgt ein ruhiger Wechsel von objektiven und subjektiven Einstellungen, die das ratlose Herumstehen und die suchenden Blicke des elegant gekleideten New Yorker Werbefachmanns zeigen. Die wenigen auf der staubigen Straße vorbeirauschenden Fahrzeuge betonen nur die Leere der Ackerlandschaft. Bald ist im Hintergrund das Flugzeug zunächst zu hören und dann zu sehen, aus dem die Angriffe auf Thornhill erfolgen werden. Es fungiert vorerst als ein weiterer Raumindikator, der die Grenzenlosigkeit der Szenerie markiert. In einem ebenso klaren wie stetigen Rhythmus zieht sich der sichtbare Raum anschließend immer stärker um die zentrale Figur zusammen, während die aus der Luft operierenden Attentäter ihr näher auf den Leib rücken. Der Raum und die Zeit der Episode werden artifiziell ausgedehnt, um schließlich an einem einzigen Punkt zusammengeballt zu werden.
Zum Witz dieser Sequenz gehört es, dass sich in einem Gelände, das dem gehetzten Helden keinerlei Schutz zu bieten scheint, dennoch zwei Fluchträume finden. Der erste ist ein zu Beginn beiläufig in den Blick gerücktes, noch nicht abgeerntetes Maisfeld, in dem Thornhill Unterschlupf zu finden sucht. Durch das Versprühen von Schädlingsbekämpfungsmitteln aus dem angreifenden Flugzeug wird er daraus vertrieben. Hustend und keuchend sucht er nach einem Ausweg. Durch ein links und rechts von Maishalmen umrahmtes Blickfenster sieht Thornhill auf der Straße einen Tanklastwagen heranfahren. Der erstickende Innenraum gewährt eine Aussicht ins Freie. Thornhill rettet sich, indem er den Tanklaster in letzter Sekunde zum Anhalten zwingt. Großaufnahme der heranfahrenden Kühlerhaube des Lastwagens; Hupen, Bremsgeräusche. Schnitt. Großaufnahme des panischen Gesichts von Thornhill; Hupen, Bremsgeräusche. Schnitt. Großaufnahme der Kühlerhaube; Hupen, Bremsgeräusche. Schnitt. Naheinstellung: Thornhill lässt sich unter das Führerhaus fallen; Bremsgeräusche. Schnitt. Naheinstellung: Thornhill liegt unter dem Lastwagen; Motorengeräusche. Der Raum hat jetzt seine geringste Ausdehnung erreicht. Die Weite der Landschaft ist gänzlich verschwunden. Schnitt. Naheinstellung: Thornhill blickt in Richtung des heranfliegenden Doppeldeckers; Motorengeräusche. Schnitt. Erweiterte Einstellung: Das schwankende Flugzeug steuert auf den Lastwagen zu; Motorenlärm. Schnitt. Totale: Straße, Felder; das Flugzeug kracht in den hinteren Tank des Lastwagens; Explosion; einsetzende dramatische Musik. Die Musik markiert den Anfang des Endes der Episode und mit ihr die Auflösung ihrer Spannung. Während der finalen Einstellungen geschieht wieder eine zunehmende Öffnung des filmischen Raums, in dem es zu einem komödiantischen Abschluss kommt.
Einen umgekehrten Fall der Raumkonstruktion präsentiert der Film Cube von Vincenzo Natali (CAN 1997). Verschiedene Personen, die nach und nach zu einer Gruppe zusammenkommen, finden sich auf - ihnen wie den Zuschauern - unerklärliche Weise in einem gigantischen Areal wieder, das aus großen, von einem indirekten Licht farbig beleuchteten Kuben besteht, an deren Wänden rätselhafte, wie technische Zeichnungen aussehende Ornamente zu sehen sind. Der Film führt Figuren und Betrachter durch diesen Irrgarten von - wie sich herausstellt - 17 577 zirkulierenden Würfeln in einem riesigen Würfel, von denen einige mit tödlichen Fallen ausgestattet sind. Diese Räume im Raum lassen sich zwar füreinander öffnen, jedoch nur, um sich bald darauf wieder automatisch zu schließen. In dieser Situation, in der sich der gesamte Film abspielt, gibt es mit Ausnahme der letzten Einstellung kein Draußen - und daher auch kein schützendes Drinnen. Abgesehen von dem am Ende der Handlung erreichten Kubus führt keiner in einen Raum außerhalb der alles umgebenden Hülle. Und auch dieser tritt nur als eine gleißende Helligkeit in Erscheinung, in der die einzig überlebende Figur verschwindet, ohne dass in ihr etwas sichtbar würde. Das Publikum wird mit Konfigurationen des Raums und der Zeit unterhalten, die um vieles weiter reichen als diejenigen, die der filmische Verlauf durchmisst.
Die Extreme eines fast vollkommen offenen und eines fast vollkommen geschlossenen Raums zeigen, dass der filmische wie der architektonische Raum nicht gedacht und nicht hergestellt werden kann ohne Bezug zu einem äußeren Raum und damit zu einem Gefüge von inneren und äußeren Räumen. Wie die Architektur ist der Film ein Geschehen von und zwischen Räumen, und insofern immer das Ereignis eines Raums, das durch Gebäude eröffnet und durch Filme einer dynamisierten Imagination zugeführt wird. Eine anthropologische Konstante macht sich dabei gleichermaßen in der buchstäblichen wie der filmischen Architektonik bemerkbar. Im bloßen Drinnen drohen wir zu ersticken; im bloßen Draußen drohen wir uns zu verlieren. In der einen Lage verlangt es uns nach der anderen. Dieses antagonistische und darum labile Begehren führen die Landschaften des Kinos ein ums andere Mal vor. So sehr das Kino aber - mal heiter, mal düster, mal grausam, mal tröstend und nicht selten in allen diesen Modi zugleich - mit diesem doppelten Verlangen spielt, es spielt auch mit seiner doppelten Erfüllung. Denn es hält im Draußen immer ein Drinnen und im Drinnen immer ein Draußen offen.
Ein Ende
Diese Offenheit des filmischen Raums dramatisiert auch die finale Sequenz von John Fords The Searchers. Während der WesternSong zum zweiten Mal erklingt (nachdem zuvor das musikalische Leitmotiv den letzten Stimmungsumschwung mitgestaltet hat), zieht sich die Kamera in den Innenraum eines Farmerhauses zurück und lässt den ruhelosen Ethan Edwards in der Weite der Prärie einem ungewissen Schicksal entgegengehen. Diese Schlusseinstellung nimmt mit umgekehrter Bewegung die allererste Einstellung wieder auf, die sich in der Mitte des Films bereits einmal wiederholt hat. Am Ende des Films, bei der zweiten Wiederholung, bringt Ethan nach langen Jahren der Suche die von den Indianern entführte Debbie (Natalie Wood) zu den Nachbarn ihrer ermordeten Eltern zurück. Mr. und Mrs. Jorgensen (John Qualen / Olive Carey) nehmen die junge Frau fürsorglich in Empfang und geleiten sie in ihr Haus, der Kamera entgegen, die sich rückwärts ins Innere des Hauses bewegt. Wieder füllt der Ausschnitt der Tür und mit ihm der Anblick der hellen Landschaft nur noch etwa ein Drittel der Leinwand aus, wie zu Beginn schwarz eingerahmt von der Wand des Innenraums. Ethan Edwards macht einige Schritte auf die Haustür zu, dreht sich um, lässt Martin Pawley (Jeffrey Hunter) und Laurie Jorgensen (Vera Miles), das wieder vereinte junge Paar, vorbei, wendet sich dem Haus zu, zögert, dreht ab und schreitet langsam davon. Daraufhin schwingt die Tür des Hauses zu. Sie wird jedoch von niemandem, von keiner Figur im Haus geschlossen. Alle Charaktere sind nach rechts abgegangen, die Tür aber schließt sich von links. Kein Geräusch der Klinke ist zu hören. Gleichzeitig wird das sentimentale Lied von Akkorden der aufwühlenden Orchestermusik abgelöst, mit der der Vorspann des Films begonnen hatte (womit auch die dortige Reihung der Melodien umgekehrt wird). Mit dem Zugehen der Tür schließt sich der Raum des Films selbst. Mit der Weite wird zugleich die Nähe, mit dem Außen das Innen ausgeblendet. Keine Raumteilung geschieht mehr, es ist nur noch ein schwarzer Bildgrund da, auf dem das Insert The End erscheint. Die Leinwand wird wieder zu einer Wand, die nurmehr den Raum des Kinos begrenzt; sie fungiert nicht länger als Passage zu einem bewegten Raum in seinem Raum. Wie häufig in der Kunst leistet diese Selbstpräsentation des künstlerischen Mediums eine nochmalige Intensivierung dessen, was in der Art seiner Verwendung dargeboten wird. Das Schließen des Raums der Fiktion nämlich ist hier zugleich ein Ausschluss des Helden aus der Welt, die sie entwirft. Für eine Figur, bei der sich das beinahe Übermenschliche mit dem Unmenschlichen paart, gibt es in der Sphäre einer um Zivilisierung bemühten Gemeinschaft keinen Platz. Die Allegorie des filmischen Bildes konvergiert mit einer Allegorie der sozialen Ortlosigkeit des modernen Helden.
Diese Passage ist nicht nur ein Wahrzeichen des gespaltenen Begehrens zugleich nach einem bergenden Drinnen und einem befreienden Draußen, das die Erzählung vieler Filme antreibt. Sie demonstriert zugleich die grundsätzliche Ausschnitthaftigkeit des Filmraums, wie sie gerade dort gegeben ist, wo seine Einstellungen den Blick in eine offene Weite gewähren. Jeder Bezug auf Zustände und Ereignisse, das stellt diese Szene aus, geht im Film mit einem permanenten Entzug einher; alle Sichtbarkeiten des filmischen Geschehens erzeugen einen Horizont des in ihm Unsichtbaren, der spürbar auf alles innerbildlich Manifeste einwirkt. Zusammen mit dem Anfang lässt sich das Ende von The Searchers als eine Inszenierung der unsteten Rahmung deuten, der alles filmische Geschehen wenigstens potentiell unterliegt.
Raumimagination
Von dieser variablen Umgrenzung ist die filmische Raumbildung jederzeit geprägt. An ihr zeigt sich, dass der filmische Raum ungleich offener und geschlossener, dass er zugleich stabiler und instabiler ist als alle Räume, in denen wir uns ansonsten befinden und bewegen. Geschlossener und stabiler ist der filmische Raum, weil sich die Bewegung, der er unterliegt und die sich in ihm abspielt, unabhängig von der Position der Wahrnehmenden in unabänderlicher Abfolge ereignet. Alles an dieser Bewegung liegt fest; alle Betrachter unterliegen ihr. Offener und instabiler aber ist dieser Raum, eben weil es ein sich bewegender Raum ist, der stets dem Gesetz seiner eigenen Dynamik folgt. Der Horizont, in dem das, was jeweils zu sehen ist, erscheint, verschiebt sich nicht und verschmilzt nicht in Relation mit der leiblichen Bewegung der Betrachter; er hält sie fest und springt mit ihnen um, indem er sich fortwährend entzieht. Denn so viel Horizont im Bild auch sichtbar sein mag, der des Bildes ist es nicht. Er liegt außerhalb seines Rahmens, und dies in einer grundsätzlich anderen Weise als dies bei anderen Bildformen der Fall ist. Der Raum von Filmen geht nicht über unseren Horizont, wie es ja nur die besten vermögen, er geht über seinen Horizont. Mit jeder Einstellung, jedem Schnitt, jedem Schwenk, jedem Zoom, jedem Objekt, das in das sichtbare Feld hinein oder aus ihm heraus bewegt wird, verändert sich der Bereich dessen, was außerhalb seines Erscheinens liegt, ohne dass dieses Außerhalb anders als in immer neuen Aspekten gegenwärtig würde.
Deswegen ist der filmische Raum ein imaginierter Raum. Er ist es nicht allein, weil er durch Imagination erzeugt wäre; er ist es nicht nur, weil er durch Imagination der Zuschauer ergänzt werden muss; er ist es, weil er sich mit allem, was in ihm sichtbar wird, in einem unsichtbaren Horizont bewegt. Dies macht seine Erfahrung zu der eines Mitgenommenwerdens in eine in ihrer Zugänglichkeit stets unzugänglich bleibende Welt, die es in dieser Kombination nur im Film gibt. Der filmische Raum ist ein beweglicher Anschauungsraum, der das Publikum in eine wahrnehmende Bewegung versetzt, die gerade dort über sich hinausweist, wo es sich von dem Spiel der in ihm sichtbaren Erscheinungen fesseln lässt.
Noch ein Vorspann
Viele dieser Verhältnisse bündeln sich in einem filmischen Aphorismus, wie ihn der Vorspann zu Hitchcocks North by Northwest formuliert. Nach dem brüllenden Löwen von MetroGoldwynMayer, begleitet von einer dramatischen Musik von Bernard Herrmann, die auch am Ende der Maisfeldszene und im Finale des Films zum Einsatz kommt, bilden sich auf grünem Hintergrund die blauen Linien einer Architekturzeichnung, mit der die Rasterstruktur der Fassade eines New Yorker Hochhauses festgehalten wird. Daraufhin wird in einer langsamen Überblendung diese Fassade selbst sichtbar, mitsamt dem Leben der Stadt, das sich in ihren Fenstern spiegelt, sowie, in der rechten unteren Ecke der Leinwand, ein winziger Ausschnitt des Bürgersteigs vor dem Gebäude. Es wird eine Welt vorgezeichnet, die in vielen Zügen und Bezügen so aussieht wie die reale, in der sich jedoch eine Geschichte entfalten wird, die sich in ihr niemals abgespielt hat. Es wird eine Fassade aufgebaut, welche die Fassaden der Lebenswirklichkeit spiegelt, indem sie sie durchbricht und die sie durchbricht, indem sie sie spiegelt. Die gläserne Fassade des Hochhauses fungiert wie eine Leinwand auf der Leinwand, die nochmals die Dialektik der Raumteilung vor Augen führt, um die es in diesem Kapitel ging. Wo wir uns - sei es vor oder in Gebäuden, sei es in der Höhle des Kinos - nach drinnen orientieren, orientieren wir uns zugleich nach draußen; die Räume, die wir leibhaftig oder bloß spürend durchqueren, halten zugleich diejenigen präsent, die vorerst oder dauerhaft abwesend bleiben. So gewiss die architektonischen Räume um einiges stabiler sind als die sprunghaften und flüchtigen Klangbildräume des Films, beide Formen des Bauens - die mit Stein und Stahl nicht weniger als die mit Licht und Schatten operierende - leiten uns in Räume im Raum unseres Lebens, deren buchstäbliche und metaphorische Bewegtheit wir nötig haben wie die Luft zum Atmen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Martin Seel
Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. FISCHER sind erschienen »Paradoxien der Erfüllung« (2006), »Theorien« (2009), »111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue« (2011), »Die Künste des Kinos« (2013), »Aktive Passivität« (2014) sowie »'Hollywood' ignorieren. Vom Kino« (2017).
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Seel
- 2013, 1. Auflage, 256 Seiten, Maße: 13,1 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100710126
- ISBN-13: 9783100710123
- Erscheinungsdatum: 24.09.2013
Rezension zu „Die Künste des Kinos “
In seinem anregenden schmalen Band sucht der Frankfurter Philosoph nach dem Wesen und vor allem dem Besonderen des Films. Thomas Kleinspehn Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20140502
Pressezitat
In seinem anregenden schmalen Band sucht der Frankfurter Philosoph nach dem Wesen und vor allem dem Besonderen des Films. Thomas Kleinspehn Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20140502
Kommentar zu "Die Künste des Kinos"
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