Die Landkarte der Zeit / Mapa Trilogie Bd.1
Roman. Ausgezeichnet mit dem Premio Ateneo de Sevilla 2008
Ein Mann sucht mit einer Zeitmaschine seine verlorene Liebe. Eine Frau verliebt sich in einen Mann aus der Zukunft. Ein Inspektor jagt einen zeitreisenden Mörder: All ihre Fäden laufen bei einem dämonischen Bibliothekar...
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Produktinformationen zu „Die Landkarte der Zeit / Mapa Trilogie Bd.1 “
Ein Mann sucht mit einer Zeitmaschine seine verlorene Liebe. Eine Frau verliebt sich in einen Mann aus der Zukunft. Ein Inspektor jagt einen zeitreisenden Mörder: All ihre Fäden laufen bei einem dämonischen Bibliothekar zusammen: Er kennt die Landkarte der Zeit.
SPIEGEL Bestseller!
Klappentext zu „Die Landkarte der Zeit / Mapa Trilogie Bd.1 “
Eine Reise durch die Jahrhunderte. Eine Liebe ohne Grenzen. Eine Geschichte voller Wunder.
London, 1896: Die Vergangenheit ändern, die Zukunft sehen - alles scheint möglich durch Expeditionen in die vierte Dimension. Andrew, ein wohlhabender Fabrikantensohn, reist in der Zeit zurück, um seine große Liebe vor Jack the Ripper zu retten. Claire, frustriert vom viktorianischen London, flieht dagegen in die Zukunft - und verliebt sich dort. Inspektor Garrett jagt einen Mörder, der mit Waffen tötet, die noch gar nicht erfunden wurden. Alle Fäden der Geschichte laufen zusammen bei einem dämonischen Bibliothekar. Denn nur er kennt das Geheimnis der Landkarte der Zeit ...
Ein Fest für alle Zeitreise-Fans.» brigitte
Lese-Probe zu „Die Landkarte der Zeit / Mapa Trilogie Bd.1 “
Die Landkarte der Zeit von Felix J. PalmaI
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Andrew Harrington wäre gern mehrere Tode gestorben, wenn er sich unter all den Pistolen, die sein Vater in den Vitrinen des Salons aufbewahrte, nicht für eine einzige hätte entscheiden müssen. Entscheidungen waren nicht seine Stärke. Genau besehen erwies sich sein Dasein als eine Kette von Fehlentscheidungen, deren letzte ihren langen Schatten bis in die Zukunft zu werfen drohte. Doch mit diesem wenig beispielhaften Leben voller Fehlgriffe war jetzt Schluss. Diesmal glaubte er, die richtige Wahl getroffen zu haben, denn er hatte sich entschieden, gar keine Wahl mehr zu treffen. In Zukunft würde es keine Irrtümer mehr geben, denn es würde keine Zukunft geben. Zumindest nicht für ihn. Er würde sie auslöschen, indem er sich eine dieser Waffen an die Schläfe setzte. Einen anderen Ausweg sah er nicht: Die Zukunft zu vernichten war die einzige Möglichkeit, um die Vergangenheit zu bannen.
Er betrachtete den Inhalt der Vitrinen, jenen todbringenden Hausrat, den sein Vater liebevoll zusammengetragen hatte, seit er aus dem Krieg zurückgekommen war. Sein Erzeuger vergötterte diese Waffen, doch Andrew argwöhnte, dass er sie nicht aus nostalgischen Gründen sammelte, sondern weil ihn die verschiedenartigen Möglichkeiten fesselten, die der Mensch im Lauf der Jahre ersonnen hatte, um sich inoffiziell aus dem Leben zu verabschieden. Mit einer Gleichgültigkeit, die im Gegensatz zu der Hingabe seines Vaters stand, ließ er den Blick über die scheinbar gefügigen, zum Teil harmlosem Küchengerät ähnlichen Gegenstände schweifen, die der Hand den Donner gaben und den Kriegen die unerfreuliche Nähe des Mann gegen Mann genommen hatten. Andrew versuchte sich vorzustellen, welche Art von Tod sich in jeder dieser Waffen verbarg. Welche hätte ihm wohl sein Vater empfohlen, um sich ein Loch in den Kopf zu schießen? Die Steinschlosspistole, überlegte er, eine dieser alten Vorderlader, die man für jeden Schuss mit dem Pulverhorn befüllen, mit einer hinterhergeschobenen Kugel bestücken und diese mit einem Papierpfropfen fixieren musste, würde ihm zwar einen stilvollen, aber auch langwierigen, zähen Tod bescheren. Da war jener durchschlagende Tod vorzuziehen, den die modernen, in Samt gefütterten Holzkästen schlummernden Revolver anzubieten hatten. Er betrachtete einen ebenso handlich wie leistungsfähig aussehenden Colt Single Action, verwarf ihn jedoch, als er daran dachte, dass dies die Waffe war, die er Buffalo Bill in dessen Wild-West-Zirkus hatte schwingen sehen; einem erbärmlichen Spektakel, in dem der Westmann, um seine überseeischen Heldentaten nachzuspielen, sich einer Handvoll mitgebrachter Indianer und eines Dutzends Büffel bediente, die sich bewegten, als hätte man ihnen Opium zu fressen gegeben. Andrew wollte seinen Tod ja nicht als Abenteuer verstanden wissen. Einen herrlichen Smith & Wesson - die Waffe, mit der der Bandit Jesse James getötet worden war, mit dem Andrew sich nicht vergleichen mochte - verwarf er daher ebenso wie einen Webley-Kipplaufrevolver, der hauptsächlich zu dem Zweck ersonnen worden war, in den Kolonialkriegen widerspenstige Eingeborene auf Abstand zu halten, und der ihm außerdem viel zu schwer in der Hand lag. Danach nahm er einen niedlichen Pepperbox mit rotierenden Läufen in Augenschein, den Lieblingsrevolver seines Vaters. Er hegte jedoch ernsthafte Zweifel, ob diese affektierte Waffe eine Kugel mit der nötigen Überzeugungskraft abzuschießen vermochte. Schließlich entschied er sich für einen eleganten Colt von 1870 mit Griffschalen aus Perlmutt, der ihm das Lebenslicht mit der Zärtlichkeit einer liebenden Frau ausblasen würde.
Mit einem kühlen Lächeln nahm er ihn aus der Vitrine und dachte dabei an all die Male, die sein Vater ihm verboten hatte, die Waffen anzurühren. Der erlauchte Sir William Harrington befand sich in diesem Augenblick jedoch in Italien, wo er vermutlich gerade den Trevibrunnen mit seinem abschätzigen Blick einschüchterte. Ein angenehmer Zufall war es ja, dass seine Eltern ihre Europareise just zu der Zeit unternahmen, die er für seinen Selbstmord vorgesehen hatte. Er bezweifelte allerdings, dass einer von beiden die Botschaft zu entziffern vermochte, die darin verschlüsselt lag - dass er es vorgezogen hatte, allein zu sterben, so wie er gelebt hatte -, und gab sich mit der missbilligenden Miene zufrieden, die sein Vater zweifellos aufsetzen würde, wenn er feststellte, dass sein Sohn sich umgebracht hatte, ohne Rücksprache mit ihm zu halten.
Andrew öffnete das Schränkchen, in dem die Munition aufbewahrt wurde, und lud sechs Patronen in die Trommel. Er nahm zwar an, dass er mehr als eine kaum brauchen würde, aber man wusste ja nie. Schließlich brachte er sich zum ersten Mal um. Er wickelte den Revolver in ein Tuch und steckte ihn in die Tasche seines Gehrocks, als handle es sich um ein Stück Obst, das er auf einem Spaziergang zu verzehren gedachte. Dann fuhr er mit seinem ungehorsamen Tun fort, indem er die Vitrine offen stehen ließ. Wenn er diesen Mut früher aufgebracht hätte, dachte er, wenn er sich getraut hätte, seinem Vater im rechten Moment die Stirn zu bieten, würde sie jetzt noch leben. Als er es endlich getan hatte, war es zu spät gewesen. Acht lange Jahre bezahlte er schon für diese Verspätung. Acht lange Jahre, in denen der Schmerz wie giftiger Efeu in ihm wucherte, seine Organe mit feuchten Fingern umklammert hielt und seine Seele langsam absterben ließ. Trotz der Bemühungen seines Cousins Charles, trotz der Ablenkung durch andere Körper ließ sich der Schmerz um Maries Tod nicht begraben. In dieser Nacht jedoch würde alles enden. Sechsundzwanzig Jahre war ein hübsches Alter zum Sterben, dachte er, und betastete zufrieden die Wölbung seiner Jackentasche. Die Waffe hatte er schon. Jetzt brauchte er nur noch den passenden Ort für das Zeremoniell. Und es gab nur einen Ort, der dafür in Frage kam.
Schwer und tröstlich wie ein Talisman lag der Revolver in seiner Tasche, als er die herrschaftliche Treppe in Harrington Mansion, dem im vornehmen Kensington Gore gelegenen Familienwohnsitz am Westeingang des Hyde Park, hinunterschritt. Entschlossen, die Wände, die fast drei Jahrzehnte lang sein Zuhause gewesen waren, keines Blicks mehr zu würdigen, konnte er dann doch dem krankhaften Trieb nicht widerstehen, vor dem großen Porträt in der Empfangshalle einen Moment innezuhalten. Aus vergoldetem Rahmen schaute ihn sein Vater missbilligend an. In seine alte Infanterieuniform gezwängt, in der er als junger Mann im Krimkrieg gekämpft hatte, bis ihm ein russisches Bajonett einen Beinmuskel so zerfetzte, dass er fortan lahmte und beim Gehen beunruhigend schwankte, warf Sir William Harrington einen höhnisch tadelnden Blick auf die Welt, als sei die Schöpfung für ihn ein ganz und gar missratenes Werk, das er längst verlorengegeben hatte. Wer hatte befohlen, über die Schlacht von Sewastopol dieses Leichentuch eines höchst unangebrachten Nebels zu legen, in dem man nicht die Spitze seines Bajonetts mehr sehen konnte? Wer hatte entschieden, dass es eine Frau sein musste, der man die Führung des Englischen Empire anvertraute? War der Osten wirklich der geeignetste Ort, um die Sonne aufgehen zu lassen? Andrew hatte seinen Vater nie anders als mit dieser harschen Feindseligkeit im Blick gekannt, sodass er nicht wusste, ob er schon damit geboren war oder sich erst bei den grimmigen Osmanen auf der Krim damit angesteckt hatte; jedenfalls war sie nicht wie eine vorübergehende Pustel wieder aus seinem Gesicht verschwunden, obwohl man das Schicksal, das sich nach dem Krieg vor den Stiefeln dieses Soldaten ohne Zukunft aufgetan hatte, nicht anders als wohlwollend bezeichnen konnte. Was bedeutete es schon, dass er seinen Weg mit dem Handstock gehen musste, wenn ihn dieser Weg da hingeführt hatte, wohin er ihn geführt hatte! Denn ohne dass er seine Seele dem Teufel hatte verkaufen müssen, war der Mann mit dem dichten Schnauzbart und dem adretten, ja, peniblen Aussehen, welches die Malerleinwand zeigte, gleichsam über Nacht zu einem der reichsten Herren Londons geworden. Nichts von all dem, was er heute besaß, hätte er sich träumen lassen, als er noch mit aufgepflanztem Bajonett durch jenen fernen Krieg gestolpert war. Auf welche Weise er allerdings seinen Reichtum angehäuft hatte, das gehörte zu den bestgehüteten Familiengeheimnissen und war für Andrew daher ein absolutes Mysterium.
Jetzt nähert sich der Augenblick, in dem der junge Mann die lästige Entscheidung treffen muss, welchen Hut er aufsetzen und welchen Mantel er anziehen will von all den Hüten und Mänteln, mit denen der Kleiderschrank in der Empfangshalle vollgestopft ist, denn selbst für den Tod muss man ja präsentabel sein. Diese Szene kann, kennt man Andrew, mehrere unerträglich lange Minuten dauern, die näher zu beschreiben ich für unnötig halte, sodass ich lieber die Gelegenheit ergreife, Sie in dieser Geschichte willkommen zu heißen, die soeben begonnen hat, und die ich nach langem Nachdenken in diesem Moment und keinem anderen beginnen lassen wollte, so als hätte auch ich mich für einen Anfang unter all den vielen entscheiden müssen, die sich dicht an dicht im Schrank meiner Möglichkeiten drängen. Wenn ich diese Geschichte zu Ende erzählt haben werde und Sie immer noch dabei sind, werden einige von Ihnen wahrscheinlich denken, dass ich an dem falschen Faden gezogen habe, um das Knäuel abzuwickeln; dass es besser gewesen wäre, die Chronologie der Ereignisse einzuhalten und mit der Geschichte von Miss Haggerty zu beginnen. Vielleicht; aber es gibt Geschichten, die kann man nicht von ihrem Anfang her erzählen, und möglicherweise ist dies so eine Geschichte.
Vergessen wir also Miss Haggerty für den Moment, vergessen wir sogar, dass ich sie überhaupt erwähnt habe, und wenden wir uns wieder Andrew zu, der, bereits in Hut und Mantel und sogar mit dicken Handschuhen passend ausstaffiert, soeben das elterliche Anwesen verlässt. Draußen blieb der junge Mann am Abgang der Freitreppe stehen, die zum Garten hinabführte und sich wie eine Marmorbrandung zu seinen Füßen ergoss. Dort blieb er stehen und betrachtete die Welt, in der er aufgewachsen war, mit einem Mal sich bewusst werdend, dass er, wenn alles gutging, sie nicht mehr wiedersehen würde. Über Harrington Mansion legte sich jetzt die Nacht mit der wehenden Anmut eines herabsinkenden Schleiers. Der volle Mond stand in verblichenem Weiß am Himmel, ergoss seinen milchigen Glanz über die Ziergärten, die das Haus umgaben, steife Blumenbeete und Hecken und riesige Springbrunnen aus Stein mit pompösen Skulpturen von Sirenen, Faunen und der ganzen dazugehörigen unmöglichen Verwandtschaft. Sie standen zu Dutzenden herum, weil es seinem Vater an Feingeist mangelte und er seinen Reichtum nicht anders darzustellen wusste als durch die Anhäufung von ebenso teuren wie nutzlosen Dingen. Im Falle der Springbrunnen indes war diese haltlose Ansammlung entschuldbar, da sich ihre Klangeigenschaften zu einer Art fließendem Wiegenlied zusammenfanden und über ihr einschläferndes Plätschern alles andere vergessen ließen. Weiter hinten, jenseits einer ausgedehnten, makellos geschorenen Rasenfläche, erhob sich anmutig wie ein auffliegender Schwan das riesige Gewächshaus, in dem seine Mutter den größten Teil ihrer Tage verbrachte und sich von den traumhaften Blumen verzaubern ließ, die den aus den Kolonien herbeigebrachten Samenkörnern entsprossen.
Andrew betrachtete den Mond eine Weile und fragte sich, ob der Mensch eines Tages dahin gelangen könne, wie von Jules Verne oder Cyrano de Bergerac beschrieben. Was würde er vorfinden, wenn es ihm gelänge, auf dieser perlmuttfarbenen Oberfläche zu landen? Wobei es egal wäre, ob ihm das mit einem Luftschiff gelang, in einem riesigen, aus einer Kanone abgeschossenen Projektil oder indem er sich ein Dutzend mit Morgentau gefüllte Flaschen umband, die ihn beim Verdunsten gen Himmel tragen würden, wie es der Held in der Geschichte vom Gascogner Kadetten getan hatte. Beim Dichter Ariost war der Trabant zu einer Fundstelle für alte Flaschen geworden, in denen der Verstand jener aufbewahrt wurde, die ihn verloren hatten. Andrew indes fühlte sich mehr von Plutarchs Vorschlag angesprochen, der sich den Mond als einen Ort vorstellte, zu dem die reinen Seelen wanderten, wenn sie die Welt der Lebenden verlassen hatten. Auch Andrew gefiel die Vorstellung, dass die Toten dort oben in richtigen Häusern wohnten, in von einem Heer von Arbeitsengeln errichteten Elfenbeinpalästen oder in weißes Mondgestein gehauenen Höhlen friedlich zusammenlebten und darauf warteten, dass die Lebenden den Passierschein des Todes erhielten und dann zu ihnen kamen, um das Leben mit ihnen an genau demselben Punkt fortzusetzen, an dem sie es verlassen hatten. Manchmal dachte er, dass Marie in so einer Elfenbeingrotte lebte, alles vergessen hatte, was geschehen war, und sich freute, dass der Tod ihr ein besseres Dasein bot als das Leben. Die schöne Marie, die auf dem weißschimmernden Mond geduldig darauf wartete, dass er sich endlich dazu durchrang, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen und zu ihr zu kommen, um den leeren Platz in ihrem Bett auszufüllen.
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Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Andrew Harrington wäre gern mehrere Tode gestorben, wenn er sich unter all den Pistolen, die sein Vater in den Vitrinen des Salons aufbewahrte, nicht für eine einzige hätte entscheiden müssen. Entscheidungen waren nicht seine Stärke. Genau besehen erwies sich sein Dasein als eine Kette von Fehlentscheidungen, deren letzte ihren langen Schatten bis in die Zukunft zu werfen drohte. Doch mit diesem wenig beispielhaften Leben voller Fehlgriffe war jetzt Schluss. Diesmal glaubte er, die richtige Wahl getroffen zu haben, denn er hatte sich entschieden, gar keine Wahl mehr zu treffen. In Zukunft würde es keine Irrtümer mehr geben, denn es würde keine Zukunft geben. Zumindest nicht für ihn. Er würde sie auslöschen, indem er sich eine dieser Waffen an die Schläfe setzte. Einen anderen Ausweg sah er nicht: Die Zukunft zu vernichten war die einzige Möglichkeit, um die Vergangenheit zu bannen.
Er betrachtete den Inhalt der Vitrinen, jenen todbringenden Hausrat, den sein Vater liebevoll zusammengetragen hatte, seit er aus dem Krieg zurückgekommen war. Sein Erzeuger vergötterte diese Waffen, doch Andrew argwöhnte, dass er sie nicht aus nostalgischen Gründen sammelte, sondern weil ihn die verschiedenartigen Möglichkeiten fesselten, die der Mensch im Lauf der Jahre ersonnen hatte, um sich inoffiziell aus dem Leben zu verabschieden. Mit einer Gleichgültigkeit, die im Gegensatz zu der Hingabe seines Vaters stand, ließ er den Blick über die scheinbar gefügigen, zum Teil harmlosem Küchengerät ähnlichen Gegenstände schweifen, die der Hand den Donner gaben und den Kriegen die unerfreuliche Nähe des Mann gegen Mann genommen hatten. Andrew versuchte sich vorzustellen, welche Art von Tod sich in jeder dieser Waffen verbarg. Welche hätte ihm wohl sein Vater empfohlen, um sich ein Loch in den Kopf zu schießen? Die Steinschlosspistole, überlegte er, eine dieser alten Vorderlader, die man für jeden Schuss mit dem Pulverhorn befüllen, mit einer hinterhergeschobenen Kugel bestücken und diese mit einem Papierpfropfen fixieren musste, würde ihm zwar einen stilvollen, aber auch langwierigen, zähen Tod bescheren. Da war jener durchschlagende Tod vorzuziehen, den die modernen, in Samt gefütterten Holzkästen schlummernden Revolver anzubieten hatten. Er betrachtete einen ebenso handlich wie leistungsfähig aussehenden Colt Single Action, verwarf ihn jedoch, als er daran dachte, dass dies die Waffe war, die er Buffalo Bill in dessen Wild-West-Zirkus hatte schwingen sehen; einem erbärmlichen Spektakel, in dem der Westmann, um seine überseeischen Heldentaten nachzuspielen, sich einer Handvoll mitgebrachter Indianer und eines Dutzends Büffel bediente, die sich bewegten, als hätte man ihnen Opium zu fressen gegeben. Andrew wollte seinen Tod ja nicht als Abenteuer verstanden wissen. Einen herrlichen Smith & Wesson - die Waffe, mit der der Bandit Jesse James getötet worden war, mit dem Andrew sich nicht vergleichen mochte - verwarf er daher ebenso wie einen Webley-Kipplaufrevolver, der hauptsächlich zu dem Zweck ersonnen worden war, in den Kolonialkriegen widerspenstige Eingeborene auf Abstand zu halten, und der ihm außerdem viel zu schwer in der Hand lag. Danach nahm er einen niedlichen Pepperbox mit rotierenden Läufen in Augenschein, den Lieblingsrevolver seines Vaters. Er hegte jedoch ernsthafte Zweifel, ob diese affektierte Waffe eine Kugel mit der nötigen Überzeugungskraft abzuschießen vermochte. Schließlich entschied er sich für einen eleganten Colt von 1870 mit Griffschalen aus Perlmutt, der ihm das Lebenslicht mit der Zärtlichkeit einer liebenden Frau ausblasen würde.
Mit einem kühlen Lächeln nahm er ihn aus der Vitrine und dachte dabei an all die Male, die sein Vater ihm verboten hatte, die Waffen anzurühren. Der erlauchte Sir William Harrington befand sich in diesem Augenblick jedoch in Italien, wo er vermutlich gerade den Trevibrunnen mit seinem abschätzigen Blick einschüchterte. Ein angenehmer Zufall war es ja, dass seine Eltern ihre Europareise just zu der Zeit unternahmen, die er für seinen Selbstmord vorgesehen hatte. Er bezweifelte allerdings, dass einer von beiden die Botschaft zu entziffern vermochte, die darin verschlüsselt lag - dass er es vorgezogen hatte, allein zu sterben, so wie er gelebt hatte -, und gab sich mit der missbilligenden Miene zufrieden, die sein Vater zweifellos aufsetzen würde, wenn er feststellte, dass sein Sohn sich umgebracht hatte, ohne Rücksprache mit ihm zu halten.
Andrew öffnete das Schränkchen, in dem die Munition aufbewahrt wurde, und lud sechs Patronen in die Trommel. Er nahm zwar an, dass er mehr als eine kaum brauchen würde, aber man wusste ja nie. Schließlich brachte er sich zum ersten Mal um. Er wickelte den Revolver in ein Tuch und steckte ihn in die Tasche seines Gehrocks, als handle es sich um ein Stück Obst, das er auf einem Spaziergang zu verzehren gedachte. Dann fuhr er mit seinem ungehorsamen Tun fort, indem er die Vitrine offen stehen ließ. Wenn er diesen Mut früher aufgebracht hätte, dachte er, wenn er sich getraut hätte, seinem Vater im rechten Moment die Stirn zu bieten, würde sie jetzt noch leben. Als er es endlich getan hatte, war es zu spät gewesen. Acht lange Jahre bezahlte er schon für diese Verspätung. Acht lange Jahre, in denen der Schmerz wie giftiger Efeu in ihm wucherte, seine Organe mit feuchten Fingern umklammert hielt und seine Seele langsam absterben ließ. Trotz der Bemühungen seines Cousins Charles, trotz der Ablenkung durch andere Körper ließ sich der Schmerz um Maries Tod nicht begraben. In dieser Nacht jedoch würde alles enden. Sechsundzwanzig Jahre war ein hübsches Alter zum Sterben, dachte er, und betastete zufrieden die Wölbung seiner Jackentasche. Die Waffe hatte er schon. Jetzt brauchte er nur noch den passenden Ort für das Zeremoniell. Und es gab nur einen Ort, der dafür in Frage kam.
Schwer und tröstlich wie ein Talisman lag der Revolver in seiner Tasche, als er die herrschaftliche Treppe in Harrington Mansion, dem im vornehmen Kensington Gore gelegenen Familienwohnsitz am Westeingang des Hyde Park, hinunterschritt. Entschlossen, die Wände, die fast drei Jahrzehnte lang sein Zuhause gewesen waren, keines Blicks mehr zu würdigen, konnte er dann doch dem krankhaften Trieb nicht widerstehen, vor dem großen Porträt in der Empfangshalle einen Moment innezuhalten. Aus vergoldetem Rahmen schaute ihn sein Vater missbilligend an. In seine alte Infanterieuniform gezwängt, in der er als junger Mann im Krimkrieg gekämpft hatte, bis ihm ein russisches Bajonett einen Beinmuskel so zerfetzte, dass er fortan lahmte und beim Gehen beunruhigend schwankte, warf Sir William Harrington einen höhnisch tadelnden Blick auf die Welt, als sei die Schöpfung für ihn ein ganz und gar missratenes Werk, das er längst verlorengegeben hatte. Wer hatte befohlen, über die Schlacht von Sewastopol dieses Leichentuch eines höchst unangebrachten Nebels zu legen, in dem man nicht die Spitze seines Bajonetts mehr sehen konnte? Wer hatte entschieden, dass es eine Frau sein musste, der man die Führung des Englischen Empire anvertraute? War der Osten wirklich der geeignetste Ort, um die Sonne aufgehen zu lassen? Andrew hatte seinen Vater nie anders als mit dieser harschen Feindseligkeit im Blick gekannt, sodass er nicht wusste, ob er schon damit geboren war oder sich erst bei den grimmigen Osmanen auf der Krim damit angesteckt hatte; jedenfalls war sie nicht wie eine vorübergehende Pustel wieder aus seinem Gesicht verschwunden, obwohl man das Schicksal, das sich nach dem Krieg vor den Stiefeln dieses Soldaten ohne Zukunft aufgetan hatte, nicht anders als wohlwollend bezeichnen konnte. Was bedeutete es schon, dass er seinen Weg mit dem Handstock gehen musste, wenn ihn dieser Weg da hingeführt hatte, wohin er ihn geführt hatte! Denn ohne dass er seine Seele dem Teufel hatte verkaufen müssen, war der Mann mit dem dichten Schnauzbart und dem adretten, ja, peniblen Aussehen, welches die Malerleinwand zeigte, gleichsam über Nacht zu einem der reichsten Herren Londons geworden. Nichts von all dem, was er heute besaß, hätte er sich träumen lassen, als er noch mit aufgepflanztem Bajonett durch jenen fernen Krieg gestolpert war. Auf welche Weise er allerdings seinen Reichtum angehäuft hatte, das gehörte zu den bestgehüteten Familiengeheimnissen und war für Andrew daher ein absolutes Mysterium.
Jetzt nähert sich der Augenblick, in dem der junge Mann die lästige Entscheidung treffen muss, welchen Hut er aufsetzen und welchen Mantel er anziehen will von all den Hüten und Mänteln, mit denen der Kleiderschrank in der Empfangshalle vollgestopft ist, denn selbst für den Tod muss man ja präsentabel sein. Diese Szene kann, kennt man Andrew, mehrere unerträglich lange Minuten dauern, die näher zu beschreiben ich für unnötig halte, sodass ich lieber die Gelegenheit ergreife, Sie in dieser Geschichte willkommen zu heißen, die soeben begonnen hat, und die ich nach langem Nachdenken in diesem Moment und keinem anderen beginnen lassen wollte, so als hätte auch ich mich für einen Anfang unter all den vielen entscheiden müssen, die sich dicht an dicht im Schrank meiner Möglichkeiten drängen. Wenn ich diese Geschichte zu Ende erzählt haben werde und Sie immer noch dabei sind, werden einige von Ihnen wahrscheinlich denken, dass ich an dem falschen Faden gezogen habe, um das Knäuel abzuwickeln; dass es besser gewesen wäre, die Chronologie der Ereignisse einzuhalten und mit der Geschichte von Miss Haggerty zu beginnen. Vielleicht; aber es gibt Geschichten, die kann man nicht von ihrem Anfang her erzählen, und möglicherweise ist dies so eine Geschichte.
Vergessen wir also Miss Haggerty für den Moment, vergessen wir sogar, dass ich sie überhaupt erwähnt habe, und wenden wir uns wieder Andrew zu, der, bereits in Hut und Mantel und sogar mit dicken Handschuhen passend ausstaffiert, soeben das elterliche Anwesen verlässt. Draußen blieb der junge Mann am Abgang der Freitreppe stehen, die zum Garten hinabführte und sich wie eine Marmorbrandung zu seinen Füßen ergoss. Dort blieb er stehen und betrachtete die Welt, in der er aufgewachsen war, mit einem Mal sich bewusst werdend, dass er, wenn alles gutging, sie nicht mehr wiedersehen würde. Über Harrington Mansion legte sich jetzt die Nacht mit der wehenden Anmut eines herabsinkenden Schleiers. Der volle Mond stand in verblichenem Weiß am Himmel, ergoss seinen milchigen Glanz über die Ziergärten, die das Haus umgaben, steife Blumenbeete und Hecken und riesige Springbrunnen aus Stein mit pompösen Skulpturen von Sirenen, Faunen und der ganzen dazugehörigen unmöglichen Verwandtschaft. Sie standen zu Dutzenden herum, weil es seinem Vater an Feingeist mangelte und er seinen Reichtum nicht anders darzustellen wusste als durch die Anhäufung von ebenso teuren wie nutzlosen Dingen. Im Falle der Springbrunnen indes war diese haltlose Ansammlung entschuldbar, da sich ihre Klangeigenschaften zu einer Art fließendem Wiegenlied zusammenfanden und über ihr einschläferndes Plätschern alles andere vergessen ließen. Weiter hinten, jenseits einer ausgedehnten, makellos geschorenen Rasenfläche, erhob sich anmutig wie ein auffliegender Schwan das riesige Gewächshaus, in dem seine Mutter den größten Teil ihrer Tage verbrachte und sich von den traumhaften Blumen verzaubern ließ, die den aus den Kolonien herbeigebrachten Samenkörnern entsprossen.
Andrew betrachtete den Mond eine Weile und fragte sich, ob der Mensch eines Tages dahin gelangen könne, wie von Jules Verne oder Cyrano de Bergerac beschrieben. Was würde er vorfinden, wenn es ihm gelänge, auf dieser perlmuttfarbenen Oberfläche zu landen? Wobei es egal wäre, ob ihm das mit einem Luftschiff gelang, in einem riesigen, aus einer Kanone abgeschossenen Projektil oder indem er sich ein Dutzend mit Morgentau gefüllte Flaschen umband, die ihn beim Verdunsten gen Himmel tragen würden, wie es der Held in der Geschichte vom Gascogner Kadetten getan hatte. Beim Dichter Ariost war der Trabant zu einer Fundstelle für alte Flaschen geworden, in denen der Verstand jener aufbewahrt wurde, die ihn verloren hatten. Andrew indes fühlte sich mehr von Plutarchs Vorschlag angesprochen, der sich den Mond als einen Ort vorstellte, zu dem die reinen Seelen wanderten, wenn sie die Welt der Lebenden verlassen hatten. Auch Andrew gefiel die Vorstellung, dass die Toten dort oben in richtigen Häusern wohnten, in von einem Heer von Arbeitsengeln errichteten Elfenbeinpalästen oder in weißes Mondgestein gehauenen Höhlen friedlich zusammenlebten und darauf warteten, dass die Lebenden den Passierschein des Todes erhielten und dann zu ihnen kamen, um das Leben mit ihnen an genau demselben Punkt fortzusetzen, an dem sie es verlassen hatten. Manchmal dachte er, dass Marie in so einer Elfenbeingrotte lebte, alles vergessen hatte, was geschehen war, und sich freute, dass der Tod ihr ein besseres Dasein bot als das Leben. Die schöne Marie, die auf dem weißschimmernden Mond geduldig darauf wartete, dass er sich endlich dazu durchrang, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen und zu ihr zu kommen, um den leeren Platz in ihrem Bett auszufüllen.
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Autoren-Porträt von Félix J. Palma
Palma, Félix J.Félix J. Palma wurde 1968 in Sanlúcar de Barrameda geboren und lebt heute in Barcelona. Er absolvierte eine Ausbildung als Werbefachmann in Sevilla, bekam jedoch für seine ersten Erzählungen bereits so viele Stipendien und Preise, dass er den Beruf nie ausübte. Seine "Landkarten"-Trilogie war ein internationaler Erfolg.Zurbrüggen, WilliWilli Zurbrüggen, geboren 1949 in Borghorst, Westfalen. Er übersetzte u. a. Antonio Muñoz Molina, Luis Sepúlveda und Fernando Aramburu aus dem Spanischen. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis des spanischen Kulturministeriums und dem Jane Scatcherd-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Félix J. Palma
- 2013, 3. Aufl., 766 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Zurbrüggen, Willi
- Übersetzer: Willi Zurbrüggen
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499253194
- ISBN-13: 9783499253195
- Erscheinungsdatum: 01.12.2011
Rezension zu „Die Landkarte der Zeit / Mapa Trilogie Bd.1 “
Ein Fest für alle Zeitreise-Fans. Brigitte
Kommentare zu "Die Landkarte der Zeit / Mapa Trilogie Bd.1"
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