Die letzte Schlacht
Als Wehrmacht und GIs gegen die SS kämpften
Kurz vor Ende des 2. Weltkriegs: Wehrmacht und US-Truppen kämpfen gemeinsam gegen die SS - eine unglaubliche wahre Geschichte
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Produktinformationen zu „Die letzte Schlacht “
Kurz vor Ende des 2. Weltkriegs: Wehrmacht und US-Truppen kämpfen gemeinsam gegen die SS - eine unglaubliche wahre Geschichte
Klappentext zu „Die letzte Schlacht “
Anfang Mai 1945: Hitler ist tot, Nazi-Deutschland steht vor der Kapitulation. Doch Captain Jack Lee hat noch eine schwierige Mission: Er soll vierzehn prominente französische Häftlinge befreien, die auf einem Schloss in den Alpen gefangen sind - darunter Édouard Daladier, ehemaliger Premierminister Frankreichs, Paul Reynaud und die Schwester von Charles de Gaulle. Gemeinsam mit einem Wehrmachtsoffizier, der seine Soldaten und die Bevölkerung schützen will, stellt er sich den fanatischen SS-Einheiten entgegen - ein einmaliges Bündnis. Der amerikanische Historiker Stephen Harding hat ein spannendes, genau recherchiertes Buch über die Ereignisse auf Schloss Itter geschrieben.
Lese-Probe zu „Die letzte Schlacht “
Die letzte Schlacht von Stephan Harding... mehr
Am Morgen des 4. Mai 1945 saß Captain John C. »Jack« Lee Jr.
auf dem Geschützturm seines M4-Sherman-Panzers und
verglich die engen Straßen vor sich mit den Angaben auf der
Landkarte, die halb auseinandergefaltet auf seinem Schoß
lag. Lee, ein stämmiger 27-Jähriger aus Norwich im US-Bundesstaat
New York, hatte die vorangegangenen fünf Monate
damit verbracht, die Kompanie B des 23. US-Panzerbataillons
– und zeitweise die gesamte 12. US-Panzerdivision –
in einem wahren Höllenritt quer durch Frankreich zunächst
nach Deutschland und nun, in den, wie sich zeigen sollte,
letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in Europa, ins österreichische
Tirol zu führen.
Lees Panzer stand an einer Straßenkreuzung im Städtchen
Kufstein, nur wenige Kilometer südwestlich der deutschen
Grenze am linken Ufer des flott dahinfließenden Inns
gelegen. Alle drei Kompanien des Panzerbataillons hatten
tags zuvor die Grenze überquert und die Kampfgruppe R der
12. US-Panzerdivision auf ihrem Marsch aus den Vororten
Münchens Richtung Süden angeführt. Lees Kompanie war als
Speerspitze in Kufstein eingerückt und hatte sich durch eine
deutsche Straßenblockade hindurchgekämpft, bevor sie die
Stadt rasch von ihren wenigen Verteidigern befreite. Nachdem
sich die Lage stabilisiert hatte und erste Einheiten der
36. US-Infanteriedivision eingetroffen waren, um die Verantwortung
für das Gebiet zu übernehmen, durften sich Lee und
seine Männer ein paar Minuten Pause gönnen.
Nur ein paar Kilometer weiter südwestlich studierte ein anderer
müder Offizier ebenfalls die Karte und versuchte sich
Klarheit darüber zu verschaffen, was ihn und seine Männer
in den kommenden Stunden erwarten würde. Josef »Sepp«
Gangl, gebürtiger Bayer und hochdekorierter Major der
Wehrmacht, wusste, dass die amerikanische Kriegsmaschinerie
unaufhaltsam heranrollte; das Donnern der Artillerie, das
Dröhnen der Panzerkanonen und das Rattern der Maschinenpistolen
würden schon bald ihr Eintreffen ankündigen.
Dass er selbst dabei möglicherweise sein Leben lassen
würde, bereitete Gangl nicht wirklich Kopfzerbrechen. Im
Kampf gegen die Russen an der Ostfront und gegen die Alliierten
in der Normandie hatte er gelernt, mit der eigenen
Sterblichkeit zurechtzukommen. Viel mehr Sorgen machte er
sich um seine Männer, denn nicht alle waren Soldaten und
viele nicht einmal Deutsche. Er wusste, dass der Krieg verloren
war, und wollte nicht noch mehr Menschenleben opfern,
um ein System zu verteidigen, an das er schon lange nicht
mehr glaubte, und so hatte er ein paar Tage zuvor seinen persönlichen
Waffenstillstand verkündet und sich mit seinen
Leuten dem österreichischen Widerstand gegen die Nazis
angeschlossen. Sein einziges Ziel war es nun zu verhindern,
dass die heranrückenden Amerikaner – oder auch die deutschen
Einheiten, die noch immer loyal für »Führer« und Reich
kämpften – die Männer, die sich ihm angeschlossen hatten,
niedermetzelten.
Auf einem Felssporn hoch über der Ebene, in welche die
Amerikaner schon bald vorrücken sollten, grübelte eine
Schar streitlustiger Franzosen ebenfalls darüber nach, welches
Schicksal ihnen womöglich blühte. Die Männer lugten
über die Zinnen einer Burg, die seit Jahrhunderten auf diesem
Felssporn stand und die bis zu diesem Morgen ihr Gefängnis
gewesen war, und sie wussten nur zu gut, dass ihre neu gewonnene
Freiheit sie nicht vor dem Zorn zäh weiterkämpfender
SS-Einheiten schützte, die noch immer durch die umliegenden
Wälder streiften. Sie brauchten Hilfe, und zwar bald.
Wenn nicht vor Sonnenuntergang Rettung eintraf, würden sie
mit ziemlicher Sicherheit hier in ihrer Tiroler Burg sterben.
Die wärmende Frühjahrssonne und die Erschöpfung sorgten
dafür, dass Lee sich nur schwer auf die Karte konzentrieren
konnte. Er war hundemüde und hoffte inständig, dass Kufstein
für Kompanie B die letzte Schlacht war. Lee wusste so
gut wie jeder andere Soldat auf dem europäischen Schlachtfeld,
dass der Krieg jeden Moment zu Ende sein konnte – Hitler
hatte sich vor fünf Tagen umgebracht, und der organisierte
deutsche Widerstand bröckelte sichtlich –, und obwohl er in
mancherlei Hinsicht alles andere als froh über diese Aussicht
war, wollte er auf keinen Fall, dass ausgerechnet einer seiner
Männer als letzter Amerikaner in Europa fiel.
Während Lee noch darüber nachsann, was das Kriegsende
für ihn und seine Kameraden bedeuten würde, begannen im
wahrsten Sinne des Wortes gleich ums Eck Ereignisse, die
alle Friedensträume seiner Männer zunichtemachten. Noch
konnte Lee nicht ahnen, dass er schon bald in ein höchst seltsames
Gefecht um das Alpenschloss verwickelt sein würde,
dessen Symbol sich in einem Knick auf seiner Karte verbarg –
ein Gefecht, in dem es um eine Gruppe kampfeslustiger Prominenter
aus Frankreich ging, um ein unangenehmes Bündnis
mit dem Feind und um einen Kampf auf Leben und Tod,
bei dem die Chancen äußerst schlecht standen. Es sollte die
letzte – und vielleicht seltsamste –Bodenkampfhandlung des
Zweiten Weltkriegs in Europa sein.
1. Eine Bergfestung
Das Schloss, das schon bald eine so dramatische Rolle in Jack
Lees Leben spielen sollte, lag rund zwanzig Kilometer südwestlich
der Kreuzung, an der der junge Offizier entspannt
auf seinem Panzer saß. Schloss Itter thront auf einem langgestreckten
Bergsporn über dem Eingang zum Tiroler Brixental.
Der Bau erhebt sich über einer Schlucht, und eine kurze
Brücke verbindet das Schloss mit der Bergflanke. Östlich davon,
auf rund 700 Meter Seehöhe, schmiegt sich das Dorf
Itter an die Westhänge der 1828 Meter aufragenden Hohen
Salve, die zu den Kitzbüheler Alpen gehört.
Zwar dürfte das Lee und seinen Männern in den Stunden,
die vor ihnen lagen, ziemlich egal gewesen sein, doch Schloss
Itter verfügt über eine lange, reiche und nicht selten von Gewalt
geprägte Geschichte. Die umliegende Gegend ist mindestens
seit der Mittleren Bronzezeit (1800 bis 1300 v. Chr.)
besiedelt, und die Tatsache, dass die Täler des Inns und der
Brixentaler Ache eine recht flache und direkte Route zwischen
Mitteleuropa und der italienischen Halbinsel darstellen,
sorgte dafür, dass Tirol überdurchschnittlich viele Konflikte
erlebte. Nachdem die Region im Jahre 15 v. Chr. von den
Römern erobert worden war, drangen nacheinander die Ostgoten,
verschiedene Germanenstämme und die Franken Karls
des Großen nach Tirol ein. Im 9. Jahrhundert geriet es unter
bayerische Herrschaft, und in dieser Zeit wurden auf dem
Felssporn, der später Schloss Itter beheimaten sollte, zwei robuste
Steintürme mit einer Mauer drum herum errichtet. Im
Jahr 902 überließ ein Graf Radolt die Befestigungsanlage als
Schenkung den Bischöfen von Regensburg.
Um seine expandierenden Tiroler Besitzungen besser zu
schützen – und natürlich auch, um besser Steuern fürs Bistum
eintreiben zu können –, befahl Bischof Totu (der von 893
bis 930 amtierte), die Türme und die Mauer durch eine dauerhaftere
Festungsanlage zu ersetzen. Bis daraus eine wirkliche
Burg wurde, dauerte es jedoch mehr als ein Jahrhundert,
denn der Bauprozess schritt recht gemächlich und mit vielen
Unterbrechungen voran. Im Jahr 1239 besetzte der bayerische
Pfalzgraf2 Rapoto III. von Sponheim-Ortenburg infolge seiner
heftigen Fehde mit dem damaligen Regensburger Bischof
Siegfried die Burg. Letzterer nahm Rapoto im Jahr darauf gefangen,
und um seine Freiheit wiederzuerlangen, war der besiegte
Adelsmann gezwungen, viele seiner Besitzungen in
Bayern und Tirol an das Stift Regensburg abzutreten. Zu diesen
gehörten auch die Burg Itter sowie das Dorf, das vor ihren
Mauern entstanden war. Erstmals urkundlich erwähnt werden
Burg wie Dorf im Jahr 1241.
Die Bischöfe von Regensburg waren freilich nicht nur
Männer Gottes und des Friedens, sondern auch Fürsten des
Heiligen Römischen Reiches. Als weltliche Herrscher waren
die Bischöfe oft unbarmherzig und unnötig streng, und
Schloss Itter diente häufig als Ausgangspunkt für Strafexpeditionen,
mit denen die Bischöfe ihre schwer geknechteten
Untertanen überzogen. Als Tirol 1363 unter habsburgische
Herrschaft geriet, blieben Schloss und Dorf Itter weiter unter
kirchlicher Kontrolle des Bistums Regensburg. Erst 1380 verkaufte
Bischof Konrad VI. von Haimberg sie für 26 000 ungarische
Gulden an Pilgrim II. von Puchheim, den Erzbischof
von Salzburg.
Nachdem das Schloss während des Tiroler Bauernaufstands
(1515 bis 1526) geplündert und teilweise zerstört worden
war4, wurde es ab 1532 wiederaufgebaut. In den letzten
Jahren des 16. Jahrhunderts beherbergte es ein kirchliches
Gericht, das das Hexenunwesen in der Region bekämpfen
sollte, und die Legende will es, dass die letzte in Tirol verbrannte
Hexe 1590 auf einem Scheiterhaufen im Haupthof
des Schlosses ihr trauriges Ende fand.5 Etwa um diese Zeit
muss es auch gewesen sein – und vermutlich geschah es auf
Anweisung derjenigen, in deren Auftrag die Hexenverbrennung
stattfand –, dass über dem Tor, das zum gewölbten
Schlosszugang führt, der berühmte Vers aus Dantes Göttlicher
Komödie auf Deutsch in Stein gemeißelt wurde: »Lasst,
die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!«
In den folgenden zweieinhalb Jahrhunderten wechselte das
Schloss mehrmals den Besitzer, und 1782 gehörte es schließlich
zu den persönlichen Ländereien von Joseph II., der seit
1765 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war und seit dem
Tod seiner Mutter, Kaiserin Maria Theresia, 1780 auch den
Titel eines Königs von Böhmen, Kroatien und Ungarn trug.
Joseph liebte seine Tiroler Burg so sehr, dass er Papst Pius VI.,
der kurz nach Josephs Thronbesteigung durch Österreich
reiste, drängte, den Altar in der kleinen, aber feinen Schlosskapelle
persönlich zu segnen. Der Papst tat, wie ihm geheißen
– nicht zuletzt, weil ihm sehr daran gelegen war, ein
Zerwürfnis zwischen Joseph und der Kirche aus der Welt zu
schaffen –, und ließ im Schloss überdies ein reich verziertes
gotisches Kruzifix sowie andere Kirchenschätze zurück.
Doch bei aller Vernarrtheit in Schloss Itter lebte Joseph
II. – wie schon die meisten Vorbesitzer – lieber anderswo.
Ende Dezember 1805 trat ein anderer, zugegebenermaßen
noch weitaus bedeutenderer abwesender Schlossherr
an Josephs Stelle, nämlich Napoléon Bonaparte. Dem kleingewachsenen
Kaiser der Franzosen war die Besitzung infolge
des Friedens von Pressburg zugefallen, der nach seinen Siegen
über Österreich bei Ulm Mitte Oktober und in der Dreikaiserschlacht
von Austerlitz Anfang Dezember 1805 geschlossen
worden war. Bonaparte behielt das Schloss freilich
nicht lange, denn 1809 überließ er es seinem treuen Verbündeten
König Maximilian I. von Bayern.6 Dieser tat wenig, um
die Burganlage in Schuss zu halten, und als die Dorfvorsteher
von Itter Maximilian 1812 die relativ läppische Summe von
fünfzehn österreichisch-ungarischen Gulden für das gesamte
Gebäude boten, nahm der König dieses Angebot eilfertig an.
Tatsächlich hatten die Dorfbewohner keineswegs die Absicht,
das Schloss wieder instand zu setzen, sondern sie wollten es
lediglich als Quelle für Baumaterial nutzen. Und so wurden
in den folgenden Jahrzehnten Steine aus den Schlossmauern
und Holzbalken aus dem Inneren für den Bau des Dorfgasthauses
und verschiedener anderer Gebäude verwendet.
Doch auch nachdem Tirol im Gefolge des Wiener Kongresses
1814/15 wieder unter österreichische Herrschaft zurückgekehrt
war, blieb das Schloss weiter in einem Zustand des
Verfalls. 1878 schließlich verkaufte die offenbar in Geldnöten
befindliche Gemeinde das Schloss – das damals nur noch
eine idyllisch gelegene Ruine war – für stolze 3000 Gulden
an einen Münchner Unternehmer namens Paul Spieß,
der ein großes und vermutlich recht exklusives Hotel daraus
machen wollte. Und so nahm der angehende Hotelier eine
umfassende Renovierung in Angriff, in deren Zuge Schloss
Itter einen zentralen, mehrstöckigen Wohnflügel mit fünfzig
Gästezimmern bekam, dazu einen größeren, bergfriedähnlichen
Turm sowie kleinere Seitenflügel, in denen Küchen,
Lagerräume und die Unterkünfte für das Personal untergebracht
waren. Zudem ließ Spieß die Schlossmauer wieder instand
setzen, baute das verfallene Torhaus wieder auf und ließ
die schmale, knapp 150 Meter lange Straße zwischen Schloss
und Dorf neu pflastern. Doch trotz aller Investitionen scheiterte
das Hotelprojekt, und so verkaufte der enttäuschte Geschäftsmann
die Anlage 1884 an eine der berühmtesten – und
schönsten – Musikerinnen Europas, nämlich die gefeierte
Klaviervirtuosin und Komponistin Sophie Menter.
Die 1846 in München geborene Menter war so etwas wie
ein Wunderkind. Die Tochter begabter Musiker – ihr Vater
war Cellist, ihre Mutter Sängerin – gab schon als Teenager
ihr erstes öffentliches Konzert. Im Alter von 23 Jahren wurde
sie Schülerin von Franz Liszt, der sie als seine »einzig legitime
Klaviertochter« bezeichnete und schließlich zur weltweit
bedeutendsten lebenden Pianistin erklärte. 1872 heiratete
sie den böhmischen Cellisten David Popper, mit dem sie
mehrere Jahre auf Tournee ging. Mit dem Kauf von Schloss
Itter erfüllte sie sich den schon lange gehegten Wunsch nach
einem stattlichen Zuhause, das sowohl als privater Rückzugsort
vor den Unbilden des Berufslebens als auch als Salon für
andere Musiker dienen sollte, und so ließ sie mehrere Räume
im Erdgeschoss renovieren, um sie zum Üben und für kleinere
Auftritte nutzen zu können.
von Schloss Itter war, beherbergte sie so berühmte Gäste wie
Richard Wagner und Pjotr Iljitsch Tschaikowskij, und auch ihr
Freund und Mentor Franz Liszt kam natürlich oft und gerne
zu Besuch. Er war so sehr willkommen, dass er des Öfteren
mit feierlichen Salutschüssen begrüßt wurde, und sein Weg
zum Schloss führte ihn durch blumengeschmückte Triumphbögen
hindurch. Liszt genoss diese pompösen Gesten durchaus,
doch seine Aufenthalte als Menters Gast nutzte er in erster
Linie zum Arbeiten. So stand er beispielsweise während
eines Besuchs im November 1885 jeden Tag um vier Uhr in
der Früh auf, arbeitete konzentriert drei Stunden lang, legte
eine kurze Pause ein, um in der Schlosskapelle den Gottesdienst
zu besuchen, und setzte dann sein Schaffen bis in den
Nachmittag hinein fort.8 In seinen Briefen an Sophie Menter
schwärmte er in höchsten Tönen von den Aufenthalten
auf ihrem »bezauberungsvollen« Schloss (oder auch »Zauberschlosse
«) und beschwor die »bezauberte Erinnerung« an
seine Zeit dort oben.
Sophie Menter lebte auch nach dem Ende ihrer Ehe mit
Popper 1886 weiter auf Schloss Itter und nutzte es häufig für
öffentliche Ereignisse, etwa im Oktober 1891 für eine Benefizveranstaltung
zugunsten der neu gegründeten Chorgemeinschaft
im nahe gelegenen Städtchen Wörgl. Und sie sorgte
dafür, dass berühmte Besucher auch weiterhin eine kreative
Atmosphäre vorfanden. So schrieb Tschaikowskij während
eines zweiwöchigen Aufenthalts im September 1892 aller
Wahrscheinlichkeit nach den Orchesterpart zu Menters Ungarischen
Zigeunerweisen, einer siebzehnminütigen Komposition
für Klavier und Orchester, die von Menter und Tschaikowskij
im Februar 1893 im russischen Sankt Petersburg
uraufgeführt wurde.
Leider zwangen die Kosten für die Instandhaltung des al-
ternden Bauwerks die Besitzerin, das Schloss 1902 wieder zu
veräußern.10 Käufer war ein gewisser Eugen Mayr aus Berlin,
ein reicher Arzt und Geschäftsmann, der Teile des Gebäudes
mit elektrischem Licht ausstattete und in den Küchen sowie
in den Hauptwohnräumen moderne Sanitäranlagen installieren
ließ. Er nutzte das Schloss im August 1904 als angemessen
prunkvollen Ort für seine Trauung mit Maria Kunert
und verwandte anschließend mehrere Jahre und ein kleines
Vermögen darauf, dem Bau einen neugotischen Charakter zu
verpassen. Wehrhafte Zinnen und im Innern jede Menge Gebälk
wurden hinzugefügt – dazu kamen mehrere riesige Gemälde
mit aufwühlenden Szenen aus der deutschen Mythologie
–, was das märchenhaft wirkende Schloss in den ersten
Jahren des 20. Jahrhunderts so populär machte, dass Eugen
Mayr und seine Frau es mit einigem Erfolg als kleines Luxushotel
betreiben konnten.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gewann das Schlosshotel
Itter, als das es nun firmierte, weiter an Renommee, und
entsprechend stieg die Zahl betuchter Gäste. Die wachsende
Popularität des Skilaufs sorgte dafür, dass vormals verschlafene
Dörfer überall in Tirol zu beliebten Urlaubszielen wurden,
und der Flecken Itter machte hier keine Ausnahme. Das
Schloss war der weit und breit schickste Ort, an dem man logieren
konnte, wenn man in der Region Wintersport treiben
wollte, und erfreute sich schon bald auch außerhalb der
Saison großer Beliebtheit. Im Jahr 1925 erwarb Dr. Franz
Gruener, Landeshauptmann-Stellvertreter im Tirol der Ersten
Republik, das Schloss, um dort in erster Linie seine beeindruckende
– und riesige – Kunstsammlung von Gemälden
und Skulpturen auszustellen. Es wirkt fast wie eine Ironie der
Geschichte, dass ausgerechnet Édouard Daladier, der während
des Zweiten Weltkriegs zu den prominenten Häftlingen
in Itter gehörte, 1932 auf dem Schloss logierte, als er die
rasch wachsende Stadt Wörgl besuchte und sich über das dortige
Experiment einer lokalen Währung informierte, mit deren
Ausgabe die Erholung von der Weltwirtschaftskrise beschleunigt
werden sollte.
Es war nicht zuletzt diese weltweite Wirtschaftskrise, die
Hitlers Aufstieg zur Macht begünstigte – und damit letztlich
auch den »Anschluss« Österreichs im März 1938. Und dieses
traurige Ereignis wiederum sorgte unmittelbar dafür, dass
aus dem Märchenschloss und Edelhotel etwas dezidiert Teuflisches
wurde.
Nach dem »Anschluss« machte sich das nationalsozialistische
Deutschland daran, alle Überreste eines unabhängigen
Österreichs zu tilgen – was schon damit begann, dass das
Land jetzt innerhalb des »Großdeutschen Reiches« als »Ostmark
«12 firmierte und in sieben Reichsgaue aufgeteilt wurde.
Itter und das übrige Tirol sowie Vorarlberg unterstanden nun
einem NS-Funktionär, der knapp 70 Kilometer weiter südwestlich
in Innsbruck residierte.
Am Leben auf Schloss Itter änderte sich in den ersten Monaten
nach dem deutschen Einmarsch zunächst einmal nicht
wirklich etwas; die Nazis waren viel zu sehr damit beschäftigt,
Österreich ins »Großdeutsche Reich« zu integrieren.
Ein Aspekt dieser »Integration« jedoch – die Ausdehnung
des NS-Systems von Geheimpolizei und Konzentrationslagern
auf Österreich – sollte unmittelbare Auswirkungen
auf Schloss Itter und die dort später Festgehaltenen haben.
Während die Mehrheit der Österreicher die 105 000
Mann von Generaloberst Fedor von Bocks13 8. Armee, die am
12. März 1938 um 5.30 Uhr morgens über die Grenze rollten,
begeistert begrüßte, verspürten andere Bewohner der nunmehrigen
»Ostmark« deutlich weniger Neigung, zu Bürgern
des »Großdeutschen Reiches« zu werden. Schon bald nach
dem »Anschluss« formierten sich überall in Österreich Widerstandszellen,
und Tirol mit seiner tiefkatholischen Bevölkerung,
seiner kompakten Geografie und seinem traditionellen
regionalen Identitätsgefühl wurde rasch zu einem
Zentrum der Opposition gegen die deutsche Herrschaft und
ihre immer bedrängenderen Regelungen. Wie andere der
noch jungen Widerstandsgruppen überall in Österreich waren
auch die in Tirol anfangs aufgrund von Misstrauen weitgehend
fragmentiert, und zwar mit Recht. Denn die Geheime
Staatspolizei (Gestapo) bemühte sich nach Kräften, jede
Opposition gegen die NS-Herrschaft zu zerschlagen. Dabei
wurde sie allzu oft von deutschfreundlichen Österreichern
unterstützt, die nur zu gerne bereit waren, ihre Nachbarn zu
bespitzeln, wenn sie den Verdacht hegten, diese würden die
neue Ordnung nicht aus vollem Herzen unterstützen.
Doch trotz aller Bemühungen der Gestapo bestanden
nicht nur in größeren Städten wie Wien, Salzburg oder Innsbruck
Widerstandszellen fort, sondern auch in Kleinstädten
und Dörfern überall im Land. In Wörgl musste die Gruppe
der Widerstandskämpfer wie die meisten ihrer Mitstreiter
zunächst warten, bis der rechte Augenblick gekommen war,
und mit ihren begrenzten Ressourcen haushalten, doch über
die Monate und Jahre der deutschen Besatzung konnten sie
langsam und sorgsam die Organisation aufbauen, die dann
in der Geschichte um Schloss Itter eine zentrale Rolle spielen
sollte. Und ironischerweise sollte die Zelle in Wörgl – wie der
Widerstand in Österreich insgesamt – in ihrem Kampf ausgerechnet
von einer Seite Unterstützung erfahren, von der
man es nicht unbedingt erwarten durfte: von der deutschen
Wehrmacht.
Schon wenige Tage nach dem »Anschluss« wurde das gesamte
österreichische Bundesheer en masse in die Wehr
macht überführt – ein Vorgang, der von der Mehrheit der
Bundesheersoldaten aus einer Vielzahl von Gründen begrüßt
wurde.14 Zudem vergrößerte die Annexion Österreichs für
die Deutschen den Pool an potenziellen Soldaten; zwischen
1938 und 1945 wurden rund 1,3 Millionen Österreicher zum
Militärdienst für Deutschland eingezogen. Österreichische
Soldaten kämpften in allen deutschen Einheiten und an allen
Fronten, und mehr als 240 000 von ihnen starben im Kampf
oder durch Krankheit oder Unfälle.
Während viele Österreicher also bereitwillig oder gar mit
Eifer dem Dritten Reich dienten16, leisteten andere ihre Militärpflicht
nur ab, weil jeder Versuch, sich der Einberufung zu
entziehen oder im Dienst zu desertieren, die allerhärteste Bestrafung
zur Folge gehabt hätte. Zwar waren die Deutschen
bestrebt, bestimmte Österreicher, die sie als unzuverlässig
einstuften – Linke, Nationalisten und andere17 –, vom Militär
fernzuhalten, doch dienten viele junge Männer, die insgeheim
die Nationalsozialisten verabscheuten, letztlich als
»deutsche« Soldaten. Und in dieser widerwillig erduldeten
Wehrmachtszeit erlernten – und praktizierten – viele österreichische
NS-Gegner die militärischen Fertigkeiten, die sich
in den letzten Kriegsmonaten für den Widerstand und für die
Bewohner von Schloss Itter als so wertvoll erweisen sollten.
Einige Quellen glauben zu wissen, die Verwandlung von
Schloss Itter von einem pittoresken Schlosshotel und einem
Ort der Kunst zu einem formidablen Gefängnis sei auf unmittelbaren
Befehl von Reichsführer-SS Heinrich Himmler
persönlich erfolgt. Himmler landete nur wenige Stunden, bevor
deutsche Truppen am 12. März die Grenze zu Österreich
überschritten, auf einem Flugplatz außerhalb von Wien, um
die Befriedung des Nachbarlandes persönlich zu leiten – ein
Prozess, der es in Himmlers Augen erforderlich machte, jeden
einzusperren, der die neue Ordnung auch nur im Geringsten
bedrohte. Der kleingewachsene ehemalige Hühnerzüchter
übernahm deshalb sogleich persönlich die Kontrolle
über alle bestehenden Polizeikräfte und über die österreichische
SS, die seit 1934 im Untergrund daran gearbeitet hatte,
die Unabhängigkeit des Landes zu untergraben und das Fundament
für den »Anschluss« zu legen.
Während also die Mehrheit der Österreicher die deutschen
Truppen mit Freudenbekundungen und Blumen begrüßte,
kam es allerorten zur Verhaftung derjenigen, die aus politischen,
religiösen oder ethnischen Gründen nicht akzeptabel
zu sein schienen. Himmler brauchte dringend Orte, an denen
er die Unmengen an neuen Häftlingen unterbringen konnte,
bis sie in die bestehenden Gefängnisse und Konzentrationslager
in Deutschland verlegt werden konnten19, und insofern
ist es durchaus möglich, dass die wehrhafte Konstruktion und
die relative Abgelegenheit von Schloss Itter die Aufmerksamkeit
des notorisch geheimniskrämerischen Himmler weckten.
Sie muss sich dann jedoch auf andere Orte gerichtet haben,
denn erst Anfang 1940 pachtete die deutsche Regierung das
Schloss von Dr. Franz Gruener für eine nicht näher bezeichnete
staatliche Nutzung.
Wozu genau das Gebäude in den ersten beiden Jahren nach
Unterzeichnung des Pachtvertrags diente, bleibt unklar, auch
wenn einige Quellen darauf schließen lassen, dass es als erster
Haft- und Verhörort für hochrangige Gefangene fungierte,
die nach Deutschland deportiert werden sollten. Was
wir mit Sicherheit wissen, ist, dass das Schloss Anfang 1942
als Hauptquartier des Deutschen Bundes zur Bekämpfung
der Tabakgefahren für die Ostmark fungierte.
Trotz ihres etwas eigenartigen Namens widmete sich diese
von den Nationalsozialisten ins Leben gerufene und aus
Steuermitteln finanzierte Organisation dem Kampf gegen das
Rauchen im »Großdeutschen Reich«. Auch wenn der Gedanke
etwas seltsam erscheinen mag, dass Hitler und seine
Gefolgsleute sich aus moralischen Gründen gegen irgendetwas
wandten, so war doch allgemein bekannt, dass der
»Führer« jeglichen Tabakgenuss verabscheute. In seinen
Augen schadete diese Gewohnheit nicht nur der öffentlichen
Moral, sondern auch der Gesundheit und Einsatzfähigkeit
des militärischen Personals. Seine Haltung war dabei keineswegs
ungewöhnlich; obwohl oder vielleicht auch gerade weil
die Deutschen viel und gerne rauchten, war das Land seit
Mitte des 19. Jahrhunderts führend bei der Erforschung der
Gefahren des Rauchens. Der Deutsche Bund zur Bekämpfung
der Tabakgefahren sah seine Aufgabe in erster Linie darin,
Broschüren und Pressemitteilungen herauszugeben, in denen
auf die gesundheitlichen Gefahren des Tabakkonsums hingewiesen
wurde, und das regionale Hauptquartier auf Schloss
Itter sollte diese »aufklärerischen« Produkte überall im früheren
Österreich vertreiben.
Doch so wichtig der Feldzug gegen das Rauchen für Hitler
auch gewesen sein mag: Himmlers anfängliches Interesse,
Schloss Itter für deutlich schändlichere Zwecke zu nutzen,
blieb bestehen. Am 23. November 1942 veranlasste er Hitler
dazu, einen Befehl zu unterzeichnen, mit dem er SS-Gruppenführer
Oswald Pohl, der als Leiter des SS-Wirtschaftsund
Verwaltungshauptamts für die Verwaltung des KZ-Systems
verantwortlich war21, anwies, das Schloss explizit für
den »speziellen Gebrauch durch die SS« zu erwerben. Himmler
wollte aus Schloss Itter eine Internierungseinrichtung für
sogenannte »Ehrenhäftlinge« machen, die die Deutschen für
ausreichend berühmt, ausreichend mächtig oder potenziell
wertvoll erachteten, um sie am Leben zu lassen und unter relativ
würdevollen Bedingungen gefangen zu halten.
Am 7. Februar 1943 requirierten Pohls Leute auf direkten
Befehl Himmlers das Schloss sowie die Außengebäude und
beendeten damit abrupt den Pachtvertrag, der dem Besitzer
Gruener in den vergangenen drei Jahren respektable Einkünfte
verschafft hatte. Das Schloss firmierte nunmehr offiziell
als »Evakuierungslager« und unterstand der Kontrolle
durch die Lagerleitung des KZ Dachau bei München. Als eines
der insgesamt 197 Dachauer Außenlager in Süddeutschland
und Westösterreich sollte Schloss Itter fortan Finanzmittel,
Wachpersonal und Hilfsdienste direkt vom schon bald
berüchtigten Hauptlager beziehen.
Gleich nach der Beschlagnahmung des Schlosses begann
man damit, aus der Einrichtung gegen das Rauchen ein Hochsicherheitsgefängnis
für »Ehrenhäftlinge« zu machen. Die
Pläne für die Umwandlung wurden offenbar von keinem Geringeren
als Generalbauinspektor Albert Speer abgesegnet,
seit 1942 Hitlers Reichsminister für Bewaffnung und Munition,
während die konkreten Baumaßnahmen vor Ort von
SS-Obersturmführer Ludwig Petz24 aus Dachau beaufsichtigt
wurden. Er traf am 8. Februar 1943 mit 27 Gefangenen –
zwölf aus Dachau und fünfzehn aus Flossenbürg25 –, die vor
ihrer Inhaftierung als Schreiner, Installateure und dergleichen
gearbeitet hatten, auf Schloss Itter ein.26 Mit dabei waren
auch zehn Angehörige der Dachauer Einheit der SS-Totenkopfverbände
(SS-TV)27, die während der Umbauarbeiten
als Wachpersonal fungieren sollten. Sobald der Umbau abgeschlossen
war, sollten sie durch dauerhaft hier stationierte
Wärter ersetzt werden.
Die erste Aufgabe für Petz und seine Zwangsarbeiter bestand
darin, die noch im Schloss verbliebenen hochwertigen
Möbelstücke und Kunstwerke zusammenzupacken, und
zwar unter aufmerksamer Beobachtung ihres Besitzers. Wir
wissen nicht, was Gruener über die Enteignung des Schlos
ses und die Beendigung des lukrativen Pachtvertrags dachte,
aber verbürgt ist, dass er bei der offiziellen Übergabe der Anlage
an Petz das Parteiabzeichen der NSDAP am Revers trug.
Als Möbel und Kunstwerke verpackt waren, befahl Petz seinen
Arbeitskräften, den einst von Pius VI. geweihten Altar
in der kleinen Schlosskapelle abzubauen. Auch das gotische
Kruzifix und alle anderen christlichen Symbole ließ er entfernen;
das mag aus nationalsozialistischem Übereifer von seiner
Seite geschehen sein, vielleicht sollte den künftigen Gefangenen
aber auch jede Möglichkeit geistlichen Beistands
genommen werden. Sobald die Kapelle leer war, wurden die
Gegenstände verpackt und zusammen mit den anderen Dingen
auf Lastwagen in ein Salzburger Lagerhaus transportiert,
das Gruener gehörte.
Nun konnte sich Petz mit seinen Häftlingen an den Umbau
des Schlosses machen. Wie im KZ-System üblich, kommunizierte
der SS-Offizier nicht direkt mit den Arbeitern, sondern
ließ ihnen über einen Funktionshäftling, den sogenannten
Kapo, Befehle zukommen. Diese Kapos genossen oft eine
bessere Behandlung als die anderen Häftlinge, und manche
waren sogar für ihr brutales Verhalten gegenüber den Mitgefangenen
berüchtigt, mit dem sie sich bei ihren SS-Herren
noch beliebter machen wollten. Die Arbeiter auf Schloss Itter
aber hatten Glück, denn ihr Kapo, ein politischer Häftling namens
Franz Fiedler, war allen Aussagen zufolge ein anständiger
Mensch, der alles in seiner Macht Stehende tat, um seine
Männer vor den häufigen Zornesausbrüchen von Petz zu
schützen.
Diese Wutanfälle hatten ihren Grund unter anderem darin,
dass Petz unter enormem Druck vonseiten seiner Vorgesetzten
in Dachau stand, die Arbeiten auf Schloss Itter so rasch
wie möglich zu vollenden. Der SS-Mann wusste: Jede Verzögerung
konnte zur Folge habe, dass er sofort an irgendeinen
deutlich gefährlicheren Ort versetzt wurde, als das beschauliche
Tirol es war, und so war seine Angst von Anfang an vermutlich
recht groß. Seine Gefangenen mussten sich deshalb
unverzüglich an den Umbau machen, und er wies sie an, im
Keller anzufangen und sich dann nach oben vorzuarbeiten.
Schloss Itter verfügte über ausladende Kellergewölbe, in
denen es erwartungsgemäß kalt und feucht war. Das war jedoch
nicht zwangsläufig ein Nachteil, denn keiner der fünf
großen Räume im Untergeschoss war für Wohnzwecke gedacht.
Die beiden trockensten wurden zu Lagerräumen für
große Mengen an Lebensmitteln umgebaut – einer für Obst,
der andere für Kartoffeln und anderes Gemüse –, während die
drei anderen fortan Werkstätten für Schreiner, Installateure
und Elektriker beherbergten. Die Steintreppe, die nach oben
führte, wurde repariert und mit einem Geländer versehen, die
bereits vorhandene dicke Kellertür wurde noch weiter verstärkt
und mit einem Doppelschloss gesichert.
Der Umbau der zehn Räume im Untergeschoss schuf
Wohn- und Arbeitsbereiche für die Männer mit dem SSTotenkopf,
die schließlich die dauerhafte Wachmannschaft
auf dem Schloss bilden sollten. Mit Holz, das aus SS-Depots
in Bayern herangeschafft wurde, richteten die Handwerker einen
Schlafraum ein, in dem bis zu 35 Mann nächtigen konnten:
Es gab dort für jeden Soldaten einen eigenen Spind, eine
Waffenkammer, die durch eine schwere Tür mit mehreren
Schlössern gesichert war, Latrinen mit Toiletten und Duschen
sowie eine Küche mit Spülbecken, Herd und Speisekammer.
Sophie Menters herrliches Musikzimmer wurde zweigeteilt:
Aus der einen Hälfte wurde ein Aufenthaltsraum für die Soldaten,
aus der anderen die Schreibstube für den Stabsunteroffizier
der Wachmannschaft.
Anschließend machten sich die Arbeitshäftlinge daran, die
neun Zimmer im ersten Stock umzubauen. Zwei wurden als
Büros für den künftigen Kommandeur der SS-Wachen und
seinen Stellvertreter ausgestattet; dazu kamen eine kleine
private Lounge für die beiden Offiziere sowie eine Toilette;
aus den fünf übrigen Räume wurden die ersten der insgesamt
neunzehn Zellen für die prominenten Häftlinge, die auf
Schloss Itter unterkommen sollten.
Da die Unterkünfte für die Gefangenen Persönlichkeiten
beherbergen sollten, die für das Reich von großem Wert
waren, waren sie deutlich komfortabler als die Zellen, in denen
NS-Häftlinge üblicherweise landeten. Die VIP-Zellen im
Schloss – Nummer 1 bis 5 im ersten Stock, 6 bis 9 im zweiten
und 10 bis 19 im dritten Stock – basierten auf den bestehenden
Gästezimmern und sollten jeweils nicht mehr als
zwei Gefangene beherbergen. Die Fenster der entsprechenden
Zimmer wurden von außen vergittert, die Türen mit zwei
robusten Schlössern versehen. Da man davon ausging, bestimmte
Gefangene völlig isolieren zu müssen, wurde rund
die Hälfte der Zellen mit primitiven Waschbecken und Toiletten
ausgestattet.
Deutlich besser waren die Verhältnisse in der Suite im
vierten Stockwerk, wo der Kommandeur der im Schloss stationierten
SS-Truppen wohnen sollte. Dieser Offizier – eventuell
zusammen mit seiner Frau – sollte in den Genuss eines
exquisit möblierten Wohnzimmers, eines Schlafzimmers,
einer privaten Küche sowie eines Esszimmers kommen. Neben
den üblichen Annehmlichkeiten verfügte die Suite des
Kommandeurs auch über eine Telefonanlage, die es ihm ermöglichen
sollte, direkten Kontakt zu den regionalen Befehlsstellen
in Dachau aufzunehmen sowie, falls er sofortige
militärische Unterstützung benötigte, zum Kommandanten
der Heeresunteroffiziersschule für Gebirgsjäger im nahe gelegenen
Wörgl.
Nachdem der Umbau des Hauptgebäudes beendet war,
kam der Schlosshof an die Reihe, ein freistehendes zweites
Torhaus rund fünfzehn Meter hinter dem kleineren ersten
Gebäude und von diesem durch einen dreieckigen abgeschlossenen
Hof getrennt, der als Parkplatz diente. Dieser
Schlosshof war aus dem gleichen Stein erbaut, der auch für
das Schloss verwendet worden war, und wies in der Mitte ein
Bogentor auf, dessen Stufen auf eine ummauerte Terrasse
und zum Hauptgebäude führten. Neben dem Durchgang gab
es im Schlosshof eine Garage, einen Stall sowie einen Lagerbereich
für Gartengeräte und Vorräte. Die Zwangsarbeiter
– die am Ende ihres langen, harten Arbeitstags im beengten
oberen Stockwerk des Gebäudes schliefen – fügten eine
kleine medizinische Einrichtung hinzu, die aus einem Wartezimmer,
einem Behandlungszimmer, einem Büro für einen
Arzt und einer primitiven Zahnarztpraxis bestand.
Zum Schluss wies Petz seine Arbeitskräfte an, die Vorrichtungen
zu installieren, die das Schloss ausbruchsicher machen
sollten. Da Schloss Itter bereits über massive Mauern
verfügte, im Westen, Norden und Osten steile Abhänge aufwies
und im Süden einen ausgetrockneten Burggraben hatte,
musste man nur zusätzlich an strategisch wichtigen Punkten
Stacheldraht platzieren und das Eingangstor mit einer
großen Schließvorrichtung versehen. Um jeden freiheitsliebenden
Gefangenen noch weiter zu entmutigen, befahl Petz
einigen seiner SS-Männer, um den inneren Ring der Hauptmauer
herum Flutlichter zu installieren. Überdies errichteten
die Soldaten drei kleine, mit Holz umrandete Stellungen für
Maschinengewehre vom Typ MG-42, von denen aus man die
Schlossvorderseite und den rückwärtigen Schlosshof überblickte.
Der Umbau des Schlosses zu einer Internierungseinrichtung
für hochrangige Persönlichkeiten war im Wesentlichen
am 25. April 1943 abgeschlossen, auch wenn letzte Verände
rungen an der Elektrik noch nicht beendet waren, als Petz den
Befehl erhielt, mit seinem Arbeitstrupp und dem Wachpersonal
nach Dachau zurückzukehren. Petz wollte keine Zeit verlieren
– und hatte vermutlich auch Angst, sich den Zorn eines
Vorgesetzten zuzuziehen – und machte sich sogleich mit
einem Großteil seiner Mannen auf den Heimweg; nur der
Häftling, der für die Elektroarbeiten zuständig gewesen war,
bekam Anweisung, vor Ort zu bleiben und die notwendigen
Arbeiten abzuschließen; zu seiner Bewachung wurden zwei
SS-Männer abgestellt.
Während die Namen der beiden Wachmänner nicht überliefert
sind, kennen wir die Identität des Elektrikers – er sollte
bei den späteren Geschehnissen auf dem Schloss eine wichtige
Rolle spielen. Es handelte sich um den 36 Jahre alten
Zvonimir »Zvonko« u kovi 31, einen Katholiken aus dem
kroatischen Sisak, der vor dem deutschen Einmarsch in Jugoslawien
im April 1941 zusammen mit seiner Frau Ema und
seinem Sohn, der ebenfalls Zvonimir hieß, in Belgrad lebte
und dort als Elektriker arbeitete.32 Nach der Kapitulation seines
Landes schloss er sich dem Widerstand gegen die Deutschen
an, wurde jedoch im Dezember 1941 von der Gestapo
verhaftet. Nachdem er mehrere Monate in Gefängnissen in
Belgrad, Graz, Wien und Salzburg verbracht hatte, wurde er
am 26. September 1942 nach Dachau überstellt.
Ursprünglich sollte er hingerichtet werden, doch u kovi
entging dem Tod, als er bei seiner ersten Vernehmung nach
der Ankunft im Lager – in nicht akzentfreiem, aber fließendem
Deutsch – betonte, dass er als Elektriker den Deutschen
möglicherweise gute Dienste leisten könne. Das sah die Lagerleitung
genauso, und so wurde er dem Lagerbautrupp von
Petz zugeteilt. Von November 1942 bis Februar 1943 gehörte
u kovi einem externen Arbeitskommando in Traunstein
an, wo es ebenfalls ein Außenlager von Dachau gab, wurde
jedoch nach Dachau zurückbeordert, um an Petz’ Expedition
nach Itter teilzunehmen. Dort waren er und ein österreichischer
Häftling namens Karl Horeis unter anderem dafür zuständig,
die gesamte Elektrik des Schlosses auf Vordermann
zu bringen. Petz’ Entscheidung, den Kroaten in Tirol zurückzulassen,
als er mit seinem Trupp nach Dachau zurückkehrte,
zeigt, wie sehr er dessen Fertigkeiten schätzte. u kovi hat
diese Entscheidung vermutlich das Leben gerettet.
Nun, da Schloss Itter bereit war, die Häftlinge aufzunehmen,
mussten die Verwalter in Dachau nur noch das dafür
nötige Personal besorgen. Vierzehn Angehörige des SSTotenkopfverbands
aus diesem Lager sowie eine weibliche
Hilfskraft dieser Organisation (dazu sechs Wachhunde aus
dem Elsass) sollten als Wachpersonal fungieren und firmierten
offiziell als SS-Sonderkommando Itter. Es handelte sich
in der Mehrzahl um ältere Männer ohne Kampferfahrung.
Die meisten hatten als Wachen in den größeren Lagern gedient
und waren froh, nun im relativ komfortablen Schloss
postiert zu werden. Wir dürfen überdies annehmen, dass die
etwas weitsichtigeren Wachen – denen nach und nach bewusst
wurde, dass ein alliierter Sieg möglicherweise die Hinrichtung
all derer bedeutete, die in das NS-Lagersystem verstrickt
waren – froh darüber waren, den Rest des Krieges mit
der Bewachung prominenter Häftlinge auf einem abgelegenen
Schloss fern der Gräuel der »Endlösung« zuzubringen.
Falls die Wachen allerdings geglaubt hatten, den Rest des
Krieges in einer Oase relativer Ruhe zu verbringen, so hatten
sie sich gründlich getäuscht, denn die beiden Offiziere, die
man als ihre Vorgesetzten bestimmte, waren in Sachen militärischer
Führung wahrlich keine Anhänger des Laissezfaire.
Der Jüngere, der als stellvertretender Befehlshaber
des SS-Sonderkommandos Itter fungieren sollte, SS-Untersturmführer
Otto Stefan, gehörte dem Sicherheitsdienst (SD)
an, dem Geheimdienst der SS. Seine Hauptaufgabe bestand
darin, jedem der prominenten Häftlinge, die schließlich auf
Schloss Itter verlegt werden sollten, wichtige Informationen
zu entlocken, doch das Wachpersonal wusste nur zu gut, dass
er auch auf sie ein Auge haben und jede militärische oder
ideologische Laxheit akribisch registrieren würde. Wer als
Soldat das Pech hatte, sich bei Stefan unbeliebt zu machen,
konnte schneller, als ihm lieb war, bei einer Kampfeinheit an
der Front oder gar bei einem Strafbataillon landen.
Schlimmer noch: Aus uns unbekannten Gründen entschieden
sich die SS-Planer in Dachau dafür, das Kommando auf
Schloss Itter – eine Einrichtung, die einige der höchstrangigen
und potenziell wertvollsten Häftlinge des Dritten Reiches
beherbergen sollte – einem brutalen, primitiven und politisch
unfähigen Offizier anzuvertrauen, der in der SS weithin berüchtigt
war als Mann, der mit seinen Untergebenen fast so
grausam verfuhr wie mit denen, die das Pech hatten, seine
Gefangenen zu werden.
p> Oder anders gesagt: Der SS-Hauptsturmführer Sebastian
»Wastl« (oder auch »Westel«) Wimmer war ein veritables
Arschloch. Geboren wurde er 1902 in der niederbayerischen
Kleinstadt Dingolfing. 1923 begann er als Wachtmeister bei
der Münchner Polizei und stieg im Laufe der Jahre zum Oberwachtmeister
auf – obwohl oder vielleicht gerade weil er im
Ruf stand, rasch Geständnisse zu erhalten, indem er Verdächtige
bei Verhören fast zu Tode prügelte. Dieser kaum des Lesens
und Schreibens kundige, ungepflegte und im Suff zu gewalttätigem
Jähzorn neigende Mann war der ideale Rekrut für
die noch junge SS. Im März 1935 trat er in Himmlers Organisation
ein, nachdem er einen Monat zuvor bei der Münchner
Polizei gekündigt hatte.
Warum Wimmer sich der SS anschloss, wissen wir nicht.
Mag sein, dass hier ein politisch überzeugter Mann in einer
Eliteorganisation, deren Ideale auch die seinen waren, zu
Ruhm kommen wollte, doch angesichts dessen, was wir über
seine Persönlichkeit wissen, sah Wimmer diese Organisation
wohl eher als Ausweg aus einer beruflichen Sackgasse und als
Möglichkeit, nunmehr mit offizieller Billigung weiter möglichst
brutal gegen all diejenigen vorzugehen, denen gegenüber
er sich schon immer minderwertig gefühlt hatte: gegen
Intellektuelle, gegen die Reichen und natürlich gegen die Juden
und andere, die den Nationalsozialisten als »Untermenschen
« galten.
Doch welche Motive ihn auch immer getrieben haben mögen:
Schon bald sollte Wimmer die finstere Seite von Hitlers
neuem Deutschland kennenlernen – und ein Teil davon werden.
Nach einer ersten Ausbildung in Dachau wurde der frisch
gekürte Offizier des SS-Totenkopfverbands36 dem permanenten
Wachbataillon des Lagers zugeteilt, dem SS-Wachsturmbann
Oberbayern.37 Zwar war das Lager in Dachau 1935 gerade
einmal zwei Jahre alt und relativ klein – der Ausbau und
die Einrichtung von Krematorien sollten erst 1937 beginnen
–, doch beherbergte es bereits mehrere tausend Insassen,
vor allem Juden und politische Häftlinge. Mit der systematischen
Exekution von Gefangenen hatte man noch nicht
begonnen, doch Wimmer und die anderen Wachen durften
im Grunde nach Belieben Lagerinsassen demütigen, brutal
behandeln und, wenn sie eine vernünftige Begründung dafür
vorbrachten, auch töten, ohne Strafe fürchten zu müssen.
© Hanser Literaturverlage
Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H
Am Morgen des 4. Mai 1945 saß Captain John C. »Jack« Lee Jr.
auf dem Geschützturm seines M4-Sherman-Panzers und
verglich die engen Straßen vor sich mit den Angaben auf der
Landkarte, die halb auseinandergefaltet auf seinem Schoß
lag. Lee, ein stämmiger 27-Jähriger aus Norwich im US-Bundesstaat
New York, hatte die vorangegangenen fünf Monate
damit verbracht, die Kompanie B des 23. US-Panzerbataillons
– und zeitweise die gesamte 12. US-Panzerdivision –
in einem wahren Höllenritt quer durch Frankreich zunächst
nach Deutschland und nun, in den, wie sich zeigen sollte,
letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in Europa, ins österreichische
Tirol zu führen.
Lees Panzer stand an einer Straßenkreuzung im Städtchen
Kufstein, nur wenige Kilometer südwestlich der deutschen
Grenze am linken Ufer des flott dahinfließenden Inns
gelegen. Alle drei Kompanien des Panzerbataillons hatten
tags zuvor die Grenze überquert und die Kampfgruppe R der
12. US-Panzerdivision auf ihrem Marsch aus den Vororten
Münchens Richtung Süden angeführt. Lees Kompanie war als
Speerspitze in Kufstein eingerückt und hatte sich durch eine
deutsche Straßenblockade hindurchgekämpft, bevor sie die
Stadt rasch von ihren wenigen Verteidigern befreite. Nachdem
sich die Lage stabilisiert hatte und erste Einheiten der
36. US-Infanteriedivision eingetroffen waren, um die Verantwortung
für das Gebiet zu übernehmen, durften sich Lee und
seine Männer ein paar Minuten Pause gönnen.
Nur ein paar Kilometer weiter südwestlich studierte ein anderer
müder Offizier ebenfalls die Karte und versuchte sich
Klarheit darüber zu verschaffen, was ihn und seine Männer
in den kommenden Stunden erwarten würde. Josef »Sepp«
Gangl, gebürtiger Bayer und hochdekorierter Major der
Wehrmacht, wusste, dass die amerikanische Kriegsmaschinerie
unaufhaltsam heranrollte; das Donnern der Artillerie, das
Dröhnen der Panzerkanonen und das Rattern der Maschinenpistolen
würden schon bald ihr Eintreffen ankündigen.
Dass er selbst dabei möglicherweise sein Leben lassen
würde, bereitete Gangl nicht wirklich Kopfzerbrechen. Im
Kampf gegen die Russen an der Ostfront und gegen die Alliierten
in der Normandie hatte er gelernt, mit der eigenen
Sterblichkeit zurechtzukommen. Viel mehr Sorgen machte er
sich um seine Männer, denn nicht alle waren Soldaten und
viele nicht einmal Deutsche. Er wusste, dass der Krieg verloren
war, und wollte nicht noch mehr Menschenleben opfern,
um ein System zu verteidigen, an das er schon lange nicht
mehr glaubte, und so hatte er ein paar Tage zuvor seinen persönlichen
Waffenstillstand verkündet und sich mit seinen
Leuten dem österreichischen Widerstand gegen die Nazis
angeschlossen. Sein einziges Ziel war es nun zu verhindern,
dass die heranrückenden Amerikaner – oder auch die deutschen
Einheiten, die noch immer loyal für »Führer« und Reich
kämpften – die Männer, die sich ihm angeschlossen hatten,
niedermetzelten.
Auf einem Felssporn hoch über der Ebene, in welche die
Amerikaner schon bald vorrücken sollten, grübelte eine
Schar streitlustiger Franzosen ebenfalls darüber nach, welches
Schicksal ihnen womöglich blühte. Die Männer lugten
über die Zinnen einer Burg, die seit Jahrhunderten auf diesem
Felssporn stand und die bis zu diesem Morgen ihr Gefängnis
gewesen war, und sie wussten nur zu gut, dass ihre neu gewonnene
Freiheit sie nicht vor dem Zorn zäh weiterkämpfender
SS-Einheiten schützte, die noch immer durch die umliegenden
Wälder streiften. Sie brauchten Hilfe, und zwar bald.
Wenn nicht vor Sonnenuntergang Rettung eintraf, würden sie
mit ziemlicher Sicherheit hier in ihrer Tiroler Burg sterben.
Die wärmende Frühjahrssonne und die Erschöpfung sorgten
dafür, dass Lee sich nur schwer auf die Karte konzentrieren
konnte. Er war hundemüde und hoffte inständig, dass Kufstein
für Kompanie B die letzte Schlacht war. Lee wusste so
gut wie jeder andere Soldat auf dem europäischen Schlachtfeld,
dass der Krieg jeden Moment zu Ende sein konnte – Hitler
hatte sich vor fünf Tagen umgebracht, und der organisierte
deutsche Widerstand bröckelte sichtlich –, und obwohl er in
mancherlei Hinsicht alles andere als froh über diese Aussicht
war, wollte er auf keinen Fall, dass ausgerechnet einer seiner
Männer als letzter Amerikaner in Europa fiel.
Während Lee noch darüber nachsann, was das Kriegsende
für ihn und seine Kameraden bedeuten würde, begannen im
wahrsten Sinne des Wortes gleich ums Eck Ereignisse, die
alle Friedensträume seiner Männer zunichtemachten. Noch
konnte Lee nicht ahnen, dass er schon bald in ein höchst seltsames
Gefecht um das Alpenschloss verwickelt sein würde,
dessen Symbol sich in einem Knick auf seiner Karte verbarg –
ein Gefecht, in dem es um eine Gruppe kampfeslustiger Prominenter
aus Frankreich ging, um ein unangenehmes Bündnis
mit dem Feind und um einen Kampf auf Leben und Tod,
bei dem die Chancen äußerst schlecht standen. Es sollte die
letzte – und vielleicht seltsamste –Bodenkampfhandlung des
Zweiten Weltkriegs in Europa sein.
1. Eine Bergfestung
Das Schloss, das schon bald eine so dramatische Rolle in Jack
Lees Leben spielen sollte, lag rund zwanzig Kilometer südwestlich
der Kreuzung, an der der junge Offizier entspannt
auf seinem Panzer saß. Schloss Itter thront auf einem langgestreckten
Bergsporn über dem Eingang zum Tiroler Brixental.
Der Bau erhebt sich über einer Schlucht, und eine kurze
Brücke verbindet das Schloss mit der Bergflanke. Östlich davon,
auf rund 700 Meter Seehöhe, schmiegt sich das Dorf
Itter an die Westhänge der 1828 Meter aufragenden Hohen
Salve, die zu den Kitzbüheler Alpen gehört.
Zwar dürfte das Lee und seinen Männern in den Stunden,
die vor ihnen lagen, ziemlich egal gewesen sein, doch Schloss
Itter verfügt über eine lange, reiche und nicht selten von Gewalt
geprägte Geschichte. Die umliegende Gegend ist mindestens
seit der Mittleren Bronzezeit (1800 bis 1300 v. Chr.)
besiedelt, und die Tatsache, dass die Täler des Inns und der
Brixentaler Ache eine recht flache und direkte Route zwischen
Mitteleuropa und der italienischen Halbinsel darstellen,
sorgte dafür, dass Tirol überdurchschnittlich viele Konflikte
erlebte. Nachdem die Region im Jahre 15 v. Chr. von den
Römern erobert worden war, drangen nacheinander die Ostgoten,
verschiedene Germanenstämme und die Franken Karls
des Großen nach Tirol ein. Im 9. Jahrhundert geriet es unter
bayerische Herrschaft, und in dieser Zeit wurden auf dem
Felssporn, der später Schloss Itter beheimaten sollte, zwei robuste
Steintürme mit einer Mauer drum herum errichtet. Im
Jahr 902 überließ ein Graf Radolt die Befestigungsanlage als
Schenkung den Bischöfen von Regensburg.
Um seine expandierenden Tiroler Besitzungen besser zu
schützen – und natürlich auch, um besser Steuern fürs Bistum
eintreiben zu können –, befahl Bischof Totu (der von 893
bis 930 amtierte), die Türme und die Mauer durch eine dauerhaftere
Festungsanlage zu ersetzen. Bis daraus eine wirkliche
Burg wurde, dauerte es jedoch mehr als ein Jahrhundert,
denn der Bauprozess schritt recht gemächlich und mit vielen
Unterbrechungen voran. Im Jahr 1239 besetzte der bayerische
Pfalzgraf2 Rapoto III. von Sponheim-Ortenburg infolge seiner
heftigen Fehde mit dem damaligen Regensburger Bischof
Siegfried die Burg. Letzterer nahm Rapoto im Jahr darauf gefangen,
und um seine Freiheit wiederzuerlangen, war der besiegte
Adelsmann gezwungen, viele seiner Besitzungen in
Bayern und Tirol an das Stift Regensburg abzutreten. Zu diesen
gehörten auch die Burg Itter sowie das Dorf, das vor ihren
Mauern entstanden war. Erstmals urkundlich erwähnt werden
Burg wie Dorf im Jahr 1241.
Die Bischöfe von Regensburg waren freilich nicht nur
Männer Gottes und des Friedens, sondern auch Fürsten des
Heiligen Römischen Reiches. Als weltliche Herrscher waren
die Bischöfe oft unbarmherzig und unnötig streng, und
Schloss Itter diente häufig als Ausgangspunkt für Strafexpeditionen,
mit denen die Bischöfe ihre schwer geknechteten
Untertanen überzogen. Als Tirol 1363 unter habsburgische
Herrschaft geriet, blieben Schloss und Dorf Itter weiter unter
kirchlicher Kontrolle des Bistums Regensburg. Erst 1380 verkaufte
Bischof Konrad VI. von Haimberg sie für 26 000 ungarische
Gulden an Pilgrim II. von Puchheim, den Erzbischof
von Salzburg.
Nachdem das Schloss während des Tiroler Bauernaufstands
(1515 bis 1526) geplündert und teilweise zerstört worden
war4, wurde es ab 1532 wiederaufgebaut. In den letzten
Jahren des 16. Jahrhunderts beherbergte es ein kirchliches
Gericht, das das Hexenunwesen in der Region bekämpfen
sollte, und die Legende will es, dass die letzte in Tirol verbrannte
Hexe 1590 auf einem Scheiterhaufen im Haupthof
des Schlosses ihr trauriges Ende fand.5 Etwa um diese Zeit
muss es auch gewesen sein – und vermutlich geschah es auf
Anweisung derjenigen, in deren Auftrag die Hexenverbrennung
stattfand –, dass über dem Tor, das zum gewölbten
Schlosszugang führt, der berühmte Vers aus Dantes Göttlicher
Komödie auf Deutsch in Stein gemeißelt wurde: »Lasst,
die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!«
In den folgenden zweieinhalb Jahrhunderten wechselte das
Schloss mehrmals den Besitzer, und 1782 gehörte es schließlich
zu den persönlichen Ländereien von Joseph II., der seit
1765 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war und seit dem
Tod seiner Mutter, Kaiserin Maria Theresia, 1780 auch den
Titel eines Königs von Böhmen, Kroatien und Ungarn trug.
Joseph liebte seine Tiroler Burg so sehr, dass er Papst Pius VI.,
der kurz nach Josephs Thronbesteigung durch Österreich
reiste, drängte, den Altar in der kleinen, aber feinen Schlosskapelle
persönlich zu segnen. Der Papst tat, wie ihm geheißen
– nicht zuletzt, weil ihm sehr daran gelegen war, ein
Zerwürfnis zwischen Joseph und der Kirche aus der Welt zu
schaffen –, und ließ im Schloss überdies ein reich verziertes
gotisches Kruzifix sowie andere Kirchenschätze zurück.
Doch bei aller Vernarrtheit in Schloss Itter lebte Joseph
II. – wie schon die meisten Vorbesitzer – lieber anderswo.
Ende Dezember 1805 trat ein anderer, zugegebenermaßen
noch weitaus bedeutenderer abwesender Schlossherr
an Josephs Stelle, nämlich Napoléon Bonaparte. Dem kleingewachsenen
Kaiser der Franzosen war die Besitzung infolge
des Friedens von Pressburg zugefallen, der nach seinen Siegen
über Österreich bei Ulm Mitte Oktober und in der Dreikaiserschlacht
von Austerlitz Anfang Dezember 1805 geschlossen
worden war. Bonaparte behielt das Schloss freilich
nicht lange, denn 1809 überließ er es seinem treuen Verbündeten
König Maximilian I. von Bayern.6 Dieser tat wenig, um
die Burganlage in Schuss zu halten, und als die Dorfvorsteher
von Itter Maximilian 1812 die relativ läppische Summe von
fünfzehn österreichisch-ungarischen Gulden für das gesamte
Gebäude boten, nahm der König dieses Angebot eilfertig an.
Tatsächlich hatten die Dorfbewohner keineswegs die Absicht,
das Schloss wieder instand zu setzen, sondern sie wollten es
lediglich als Quelle für Baumaterial nutzen. Und so wurden
in den folgenden Jahrzehnten Steine aus den Schlossmauern
und Holzbalken aus dem Inneren für den Bau des Dorfgasthauses
und verschiedener anderer Gebäude verwendet.
Doch auch nachdem Tirol im Gefolge des Wiener Kongresses
1814/15 wieder unter österreichische Herrschaft zurückgekehrt
war, blieb das Schloss weiter in einem Zustand des
Verfalls. 1878 schließlich verkaufte die offenbar in Geldnöten
befindliche Gemeinde das Schloss – das damals nur noch
eine idyllisch gelegene Ruine war – für stolze 3000 Gulden
an einen Münchner Unternehmer namens Paul Spieß,
der ein großes und vermutlich recht exklusives Hotel daraus
machen wollte. Und so nahm der angehende Hotelier eine
umfassende Renovierung in Angriff, in deren Zuge Schloss
Itter einen zentralen, mehrstöckigen Wohnflügel mit fünfzig
Gästezimmern bekam, dazu einen größeren, bergfriedähnlichen
Turm sowie kleinere Seitenflügel, in denen Küchen,
Lagerräume und die Unterkünfte für das Personal untergebracht
waren. Zudem ließ Spieß die Schlossmauer wieder instand
setzen, baute das verfallene Torhaus wieder auf und ließ
die schmale, knapp 150 Meter lange Straße zwischen Schloss
und Dorf neu pflastern. Doch trotz aller Investitionen scheiterte
das Hotelprojekt, und so verkaufte der enttäuschte Geschäftsmann
die Anlage 1884 an eine der berühmtesten – und
schönsten – Musikerinnen Europas, nämlich die gefeierte
Klaviervirtuosin und Komponistin Sophie Menter.
Die 1846 in München geborene Menter war so etwas wie
ein Wunderkind. Die Tochter begabter Musiker – ihr Vater
war Cellist, ihre Mutter Sängerin – gab schon als Teenager
ihr erstes öffentliches Konzert. Im Alter von 23 Jahren wurde
sie Schülerin von Franz Liszt, der sie als seine »einzig legitime
Klaviertochter« bezeichnete und schließlich zur weltweit
bedeutendsten lebenden Pianistin erklärte. 1872 heiratete
sie den böhmischen Cellisten David Popper, mit dem sie
mehrere Jahre auf Tournee ging. Mit dem Kauf von Schloss
Itter erfüllte sie sich den schon lange gehegten Wunsch nach
einem stattlichen Zuhause, das sowohl als privater Rückzugsort
vor den Unbilden des Berufslebens als auch als Salon für
andere Musiker dienen sollte, und so ließ sie mehrere Räume
im Erdgeschoss renovieren, um sie zum Üben und für kleinere
Auftritte nutzen zu können.
von Schloss Itter war, beherbergte sie so berühmte Gäste wie
Richard Wagner und Pjotr Iljitsch Tschaikowskij, und auch ihr
Freund und Mentor Franz Liszt kam natürlich oft und gerne
zu Besuch. Er war so sehr willkommen, dass er des Öfteren
mit feierlichen Salutschüssen begrüßt wurde, und sein Weg
zum Schloss führte ihn durch blumengeschmückte Triumphbögen
hindurch. Liszt genoss diese pompösen Gesten durchaus,
doch seine Aufenthalte als Menters Gast nutzte er in erster
Linie zum Arbeiten. So stand er beispielsweise während
eines Besuchs im November 1885 jeden Tag um vier Uhr in
der Früh auf, arbeitete konzentriert drei Stunden lang, legte
eine kurze Pause ein, um in der Schlosskapelle den Gottesdienst
zu besuchen, und setzte dann sein Schaffen bis in den
Nachmittag hinein fort.8 In seinen Briefen an Sophie Menter
schwärmte er in höchsten Tönen von den Aufenthalten
auf ihrem »bezauberungsvollen« Schloss (oder auch »Zauberschlosse
«) und beschwor die »bezauberte Erinnerung« an
seine Zeit dort oben.
Sophie Menter lebte auch nach dem Ende ihrer Ehe mit
Popper 1886 weiter auf Schloss Itter und nutzte es häufig für
öffentliche Ereignisse, etwa im Oktober 1891 für eine Benefizveranstaltung
zugunsten der neu gegründeten Chorgemeinschaft
im nahe gelegenen Städtchen Wörgl. Und sie sorgte
dafür, dass berühmte Besucher auch weiterhin eine kreative
Atmosphäre vorfanden. So schrieb Tschaikowskij während
eines zweiwöchigen Aufenthalts im September 1892 aller
Wahrscheinlichkeit nach den Orchesterpart zu Menters Ungarischen
Zigeunerweisen, einer siebzehnminütigen Komposition
für Klavier und Orchester, die von Menter und Tschaikowskij
im Februar 1893 im russischen Sankt Petersburg
uraufgeführt wurde.
Leider zwangen die Kosten für die Instandhaltung des al-
ternden Bauwerks die Besitzerin, das Schloss 1902 wieder zu
veräußern.10 Käufer war ein gewisser Eugen Mayr aus Berlin,
ein reicher Arzt und Geschäftsmann, der Teile des Gebäudes
mit elektrischem Licht ausstattete und in den Küchen sowie
in den Hauptwohnräumen moderne Sanitäranlagen installieren
ließ. Er nutzte das Schloss im August 1904 als angemessen
prunkvollen Ort für seine Trauung mit Maria Kunert
und verwandte anschließend mehrere Jahre und ein kleines
Vermögen darauf, dem Bau einen neugotischen Charakter zu
verpassen. Wehrhafte Zinnen und im Innern jede Menge Gebälk
wurden hinzugefügt – dazu kamen mehrere riesige Gemälde
mit aufwühlenden Szenen aus der deutschen Mythologie
–, was das märchenhaft wirkende Schloss in den ersten
Jahren des 20. Jahrhunderts so populär machte, dass Eugen
Mayr und seine Frau es mit einigem Erfolg als kleines Luxushotel
betreiben konnten.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gewann das Schlosshotel
Itter, als das es nun firmierte, weiter an Renommee, und
entsprechend stieg die Zahl betuchter Gäste. Die wachsende
Popularität des Skilaufs sorgte dafür, dass vormals verschlafene
Dörfer überall in Tirol zu beliebten Urlaubszielen wurden,
und der Flecken Itter machte hier keine Ausnahme. Das
Schloss war der weit und breit schickste Ort, an dem man logieren
konnte, wenn man in der Region Wintersport treiben
wollte, und erfreute sich schon bald auch außerhalb der
Saison großer Beliebtheit. Im Jahr 1925 erwarb Dr. Franz
Gruener, Landeshauptmann-Stellvertreter im Tirol der Ersten
Republik, das Schloss, um dort in erster Linie seine beeindruckende
– und riesige – Kunstsammlung von Gemälden
und Skulpturen auszustellen. Es wirkt fast wie eine Ironie der
Geschichte, dass ausgerechnet Édouard Daladier, der während
des Zweiten Weltkriegs zu den prominenten Häftlingen
in Itter gehörte, 1932 auf dem Schloss logierte, als er die
rasch wachsende Stadt Wörgl besuchte und sich über das dortige
Experiment einer lokalen Währung informierte, mit deren
Ausgabe die Erholung von der Weltwirtschaftskrise beschleunigt
werden sollte.
Es war nicht zuletzt diese weltweite Wirtschaftskrise, die
Hitlers Aufstieg zur Macht begünstigte – und damit letztlich
auch den »Anschluss« Österreichs im März 1938. Und dieses
traurige Ereignis wiederum sorgte unmittelbar dafür, dass
aus dem Märchenschloss und Edelhotel etwas dezidiert Teuflisches
wurde.
Nach dem »Anschluss« machte sich das nationalsozialistische
Deutschland daran, alle Überreste eines unabhängigen
Österreichs zu tilgen – was schon damit begann, dass das
Land jetzt innerhalb des »Großdeutschen Reiches« als »Ostmark
«12 firmierte und in sieben Reichsgaue aufgeteilt wurde.
Itter und das übrige Tirol sowie Vorarlberg unterstanden nun
einem NS-Funktionär, der knapp 70 Kilometer weiter südwestlich
in Innsbruck residierte.
Am Leben auf Schloss Itter änderte sich in den ersten Monaten
nach dem deutschen Einmarsch zunächst einmal nicht
wirklich etwas; die Nazis waren viel zu sehr damit beschäftigt,
Österreich ins »Großdeutsche Reich« zu integrieren.
Ein Aspekt dieser »Integration« jedoch – die Ausdehnung
des NS-Systems von Geheimpolizei und Konzentrationslagern
auf Österreich – sollte unmittelbare Auswirkungen
auf Schloss Itter und die dort später Festgehaltenen haben.
Während die Mehrheit der Österreicher die 105 000
Mann von Generaloberst Fedor von Bocks13 8. Armee, die am
12. März 1938 um 5.30 Uhr morgens über die Grenze rollten,
begeistert begrüßte, verspürten andere Bewohner der nunmehrigen
»Ostmark« deutlich weniger Neigung, zu Bürgern
des »Großdeutschen Reiches« zu werden. Schon bald nach
dem »Anschluss« formierten sich überall in Österreich Widerstandszellen,
und Tirol mit seiner tiefkatholischen Bevölkerung,
seiner kompakten Geografie und seinem traditionellen
regionalen Identitätsgefühl wurde rasch zu einem
Zentrum der Opposition gegen die deutsche Herrschaft und
ihre immer bedrängenderen Regelungen. Wie andere der
noch jungen Widerstandsgruppen überall in Österreich waren
auch die in Tirol anfangs aufgrund von Misstrauen weitgehend
fragmentiert, und zwar mit Recht. Denn die Geheime
Staatspolizei (Gestapo) bemühte sich nach Kräften, jede
Opposition gegen die NS-Herrschaft zu zerschlagen. Dabei
wurde sie allzu oft von deutschfreundlichen Österreichern
unterstützt, die nur zu gerne bereit waren, ihre Nachbarn zu
bespitzeln, wenn sie den Verdacht hegten, diese würden die
neue Ordnung nicht aus vollem Herzen unterstützen.
Doch trotz aller Bemühungen der Gestapo bestanden
nicht nur in größeren Städten wie Wien, Salzburg oder Innsbruck
Widerstandszellen fort, sondern auch in Kleinstädten
und Dörfern überall im Land. In Wörgl musste die Gruppe
der Widerstandskämpfer wie die meisten ihrer Mitstreiter
zunächst warten, bis der rechte Augenblick gekommen war,
und mit ihren begrenzten Ressourcen haushalten, doch über
die Monate und Jahre der deutschen Besatzung konnten sie
langsam und sorgsam die Organisation aufbauen, die dann
in der Geschichte um Schloss Itter eine zentrale Rolle spielen
sollte. Und ironischerweise sollte die Zelle in Wörgl – wie der
Widerstand in Österreich insgesamt – in ihrem Kampf ausgerechnet
von einer Seite Unterstützung erfahren, von der
man es nicht unbedingt erwarten durfte: von der deutschen
Wehrmacht.
Schon wenige Tage nach dem »Anschluss« wurde das gesamte
österreichische Bundesheer en masse in die Wehr
macht überführt – ein Vorgang, der von der Mehrheit der
Bundesheersoldaten aus einer Vielzahl von Gründen begrüßt
wurde.14 Zudem vergrößerte die Annexion Österreichs für
die Deutschen den Pool an potenziellen Soldaten; zwischen
1938 und 1945 wurden rund 1,3 Millionen Österreicher zum
Militärdienst für Deutschland eingezogen. Österreichische
Soldaten kämpften in allen deutschen Einheiten und an allen
Fronten, und mehr als 240 000 von ihnen starben im Kampf
oder durch Krankheit oder Unfälle.
Während viele Österreicher also bereitwillig oder gar mit
Eifer dem Dritten Reich dienten16, leisteten andere ihre Militärpflicht
nur ab, weil jeder Versuch, sich der Einberufung zu
entziehen oder im Dienst zu desertieren, die allerhärteste Bestrafung
zur Folge gehabt hätte. Zwar waren die Deutschen
bestrebt, bestimmte Österreicher, die sie als unzuverlässig
einstuften – Linke, Nationalisten und andere17 –, vom Militär
fernzuhalten, doch dienten viele junge Männer, die insgeheim
die Nationalsozialisten verabscheuten, letztlich als
»deutsche« Soldaten. Und in dieser widerwillig erduldeten
Wehrmachtszeit erlernten – und praktizierten – viele österreichische
NS-Gegner die militärischen Fertigkeiten, die sich
in den letzten Kriegsmonaten für den Widerstand und für die
Bewohner von Schloss Itter als so wertvoll erweisen sollten.
Einige Quellen glauben zu wissen, die Verwandlung von
Schloss Itter von einem pittoresken Schlosshotel und einem
Ort der Kunst zu einem formidablen Gefängnis sei auf unmittelbaren
Befehl von Reichsführer-SS Heinrich Himmler
persönlich erfolgt. Himmler landete nur wenige Stunden, bevor
deutsche Truppen am 12. März die Grenze zu Österreich
überschritten, auf einem Flugplatz außerhalb von Wien, um
die Befriedung des Nachbarlandes persönlich zu leiten – ein
Prozess, der es in Himmlers Augen erforderlich machte, jeden
einzusperren, der die neue Ordnung auch nur im Geringsten
bedrohte. Der kleingewachsene ehemalige Hühnerzüchter
übernahm deshalb sogleich persönlich die Kontrolle
über alle bestehenden Polizeikräfte und über die österreichische
SS, die seit 1934 im Untergrund daran gearbeitet hatte,
die Unabhängigkeit des Landes zu untergraben und das Fundament
für den »Anschluss« zu legen.
Während also die Mehrheit der Österreicher die deutschen
Truppen mit Freudenbekundungen und Blumen begrüßte,
kam es allerorten zur Verhaftung derjenigen, die aus politischen,
religiösen oder ethnischen Gründen nicht akzeptabel
zu sein schienen. Himmler brauchte dringend Orte, an denen
er die Unmengen an neuen Häftlingen unterbringen konnte,
bis sie in die bestehenden Gefängnisse und Konzentrationslager
in Deutschland verlegt werden konnten19, und insofern
ist es durchaus möglich, dass die wehrhafte Konstruktion und
die relative Abgelegenheit von Schloss Itter die Aufmerksamkeit
des notorisch geheimniskrämerischen Himmler weckten.
Sie muss sich dann jedoch auf andere Orte gerichtet haben,
denn erst Anfang 1940 pachtete die deutsche Regierung das
Schloss von Dr. Franz Gruener für eine nicht näher bezeichnete
staatliche Nutzung.
Wozu genau das Gebäude in den ersten beiden Jahren nach
Unterzeichnung des Pachtvertrags diente, bleibt unklar, auch
wenn einige Quellen darauf schließen lassen, dass es als erster
Haft- und Verhörort für hochrangige Gefangene fungierte,
die nach Deutschland deportiert werden sollten. Was
wir mit Sicherheit wissen, ist, dass das Schloss Anfang 1942
als Hauptquartier des Deutschen Bundes zur Bekämpfung
der Tabakgefahren für die Ostmark fungierte.
Trotz ihres etwas eigenartigen Namens widmete sich diese
von den Nationalsozialisten ins Leben gerufene und aus
Steuermitteln finanzierte Organisation dem Kampf gegen das
Rauchen im »Großdeutschen Reich«. Auch wenn der Gedanke
etwas seltsam erscheinen mag, dass Hitler und seine
Gefolgsleute sich aus moralischen Gründen gegen irgendetwas
wandten, so war doch allgemein bekannt, dass der
»Führer« jeglichen Tabakgenuss verabscheute. In seinen
Augen schadete diese Gewohnheit nicht nur der öffentlichen
Moral, sondern auch der Gesundheit und Einsatzfähigkeit
des militärischen Personals. Seine Haltung war dabei keineswegs
ungewöhnlich; obwohl oder vielleicht auch gerade weil
die Deutschen viel und gerne rauchten, war das Land seit
Mitte des 19. Jahrhunderts führend bei der Erforschung der
Gefahren des Rauchens. Der Deutsche Bund zur Bekämpfung
der Tabakgefahren sah seine Aufgabe in erster Linie darin,
Broschüren und Pressemitteilungen herauszugeben, in denen
auf die gesundheitlichen Gefahren des Tabakkonsums hingewiesen
wurde, und das regionale Hauptquartier auf Schloss
Itter sollte diese »aufklärerischen« Produkte überall im früheren
Österreich vertreiben.
Doch so wichtig der Feldzug gegen das Rauchen für Hitler
auch gewesen sein mag: Himmlers anfängliches Interesse,
Schloss Itter für deutlich schändlichere Zwecke zu nutzen,
blieb bestehen. Am 23. November 1942 veranlasste er Hitler
dazu, einen Befehl zu unterzeichnen, mit dem er SS-Gruppenführer
Oswald Pohl, der als Leiter des SS-Wirtschaftsund
Verwaltungshauptamts für die Verwaltung des KZ-Systems
verantwortlich war21, anwies, das Schloss explizit für
den »speziellen Gebrauch durch die SS« zu erwerben. Himmler
wollte aus Schloss Itter eine Internierungseinrichtung für
sogenannte »Ehrenhäftlinge« machen, die die Deutschen für
ausreichend berühmt, ausreichend mächtig oder potenziell
wertvoll erachteten, um sie am Leben zu lassen und unter relativ
würdevollen Bedingungen gefangen zu halten.
Am 7. Februar 1943 requirierten Pohls Leute auf direkten
Befehl Himmlers das Schloss sowie die Außengebäude und
beendeten damit abrupt den Pachtvertrag, der dem Besitzer
Gruener in den vergangenen drei Jahren respektable Einkünfte
verschafft hatte. Das Schloss firmierte nunmehr offiziell
als »Evakuierungslager« und unterstand der Kontrolle
durch die Lagerleitung des KZ Dachau bei München. Als eines
der insgesamt 197 Dachauer Außenlager in Süddeutschland
und Westösterreich sollte Schloss Itter fortan Finanzmittel,
Wachpersonal und Hilfsdienste direkt vom schon bald
berüchtigten Hauptlager beziehen.
Gleich nach der Beschlagnahmung des Schlosses begann
man damit, aus der Einrichtung gegen das Rauchen ein Hochsicherheitsgefängnis
für »Ehrenhäftlinge« zu machen. Die
Pläne für die Umwandlung wurden offenbar von keinem Geringeren
als Generalbauinspektor Albert Speer abgesegnet,
seit 1942 Hitlers Reichsminister für Bewaffnung und Munition,
während die konkreten Baumaßnahmen vor Ort von
SS-Obersturmführer Ludwig Petz24 aus Dachau beaufsichtigt
wurden. Er traf am 8. Februar 1943 mit 27 Gefangenen –
zwölf aus Dachau und fünfzehn aus Flossenbürg25 –, die vor
ihrer Inhaftierung als Schreiner, Installateure und dergleichen
gearbeitet hatten, auf Schloss Itter ein.26 Mit dabei waren
auch zehn Angehörige der Dachauer Einheit der SS-Totenkopfverbände
(SS-TV)27, die während der Umbauarbeiten
als Wachpersonal fungieren sollten. Sobald der Umbau abgeschlossen
war, sollten sie durch dauerhaft hier stationierte
Wärter ersetzt werden.
Die erste Aufgabe für Petz und seine Zwangsarbeiter bestand
darin, die noch im Schloss verbliebenen hochwertigen
Möbelstücke und Kunstwerke zusammenzupacken, und
zwar unter aufmerksamer Beobachtung ihres Besitzers. Wir
wissen nicht, was Gruener über die Enteignung des Schlos
ses und die Beendigung des lukrativen Pachtvertrags dachte,
aber verbürgt ist, dass er bei der offiziellen Übergabe der Anlage
an Petz das Parteiabzeichen der NSDAP am Revers trug.
Als Möbel und Kunstwerke verpackt waren, befahl Petz seinen
Arbeitskräften, den einst von Pius VI. geweihten Altar
in der kleinen Schlosskapelle abzubauen. Auch das gotische
Kruzifix und alle anderen christlichen Symbole ließ er entfernen;
das mag aus nationalsozialistischem Übereifer von seiner
Seite geschehen sein, vielleicht sollte den künftigen Gefangenen
aber auch jede Möglichkeit geistlichen Beistands
genommen werden. Sobald die Kapelle leer war, wurden die
Gegenstände verpackt und zusammen mit den anderen Dingen
auf Lastwagen in ein Salzburger Lagerhaus transportiert,
das Gruener gehörte.
Nun konnte sich Petz mit seinen Häftlingen an den Umbau
des Schlosses machen. Wie im KZ-System üblich, kommunizierte
der SS-Offizier nicht direkt mit den Arbeitern, sondern
ließ ihnen über einen Funktionshäftling, den sogenannten
Kapo, Befehle zukommen. Diese Kapos genossen oft eine
bessere Behandlung als die anderen Häftlinge, und manche
waren sogar für ihr brutales Verhalten gegenüber den Mitgefangenen
berüchtigt, mit dem sie sich bei ihren SS-Herren
noch beliebter machen wollten. Die Arbeiter auf Schloss Itter
aber hatten Glück, denn ihr Kapo, ein politischer Häftling namens
Franz Fiedler, war allen Aussagen zufolge ein anständiger
Mensch, der alles in seiner Macht Stehende tat, um seine
Männer vor den häufigen Zornesausbrüchen von Petz zu
schützen.
Diese Wutanfälle hatten ihren Grund unter anderem darin,
dass Petz unter enormem Druck vonseiten seiner Vorgesetzten
in Dachau stand, die Arbeiten auf Schloss Itter so rasch
wie möglich zu vollenden. Der SS-Mann wusste: Jede Verzögerung
konnte zur Folge habe, dass er sofort an irgendeinen
deutlich gefährlicheren Ort versetzt wurde, als das beschauliche
Tirol es war, und so war seine Angst von Anfang an vermutlich
recht groß. Seine Gefangenen mussten sich deshalb
unverzüglich an den Umbau machen, und er wies sie an, im
Keller anzufangen und sich dann nach oben vorzuarbeiten.
Schloss Itter verfügte über ausladende Kellergewölbe, in
denen es erwartungsgemäß kalt und feucht war. Das war jedoch
nicht zwangsläufig ein Nachteil, denn keiner der fünf
großen Räume im Untergeschoss war für Wohnzwecke gedacht.
Die beiden trockensten wurden zu Lagerräumen für
große Mengen an Lebensmitteln umgebaut – einer für Obst,
der andere für Kartoffeln und anderes Gemüse –, während die
drei anderen fortan Werkstätten für Schreiner, Installateure
und Elektriker beherbergten. Die Steintreppe, die nach oben
führte, wurde repariert und mit einem Geländer versehen, die
bereits vorhandene dicke Kellertür wurde noch weiter verstärkt
und mit einem Doppelschloss gesichert.
Der Umbau der zehn Räume im Untergeschoss schuf
Wohn- und Arbeitsbereiche für die Männer mit dem SSTotenkopf,
die schließlich die dauerhafte Wachmannschaft
auf dem Schloss bilden sollten. Mit Holz, das aus SS-Depots
in Bayern herangeschafft wurde, richteten die Handwerker einen
Schlafraum ein, in dem bis zu 35 Mann nächtigen konnten:
Es gab dort für jeden Soldaten einen eigenen Spind, eine
Waffenkammer, die durch eine schwere Tür mit mehreren
Schlössern gesichert war, Latrinen mit Toiletten und Duschen
sowie eine Küche mit Spülbecken, Herd und Speisekammer.
Sophie Menters herrliches Musikzimmer wurde zweigeteilt:
Aus der einen Hälfte wurde ein Aufenthaltsraum für die Soldaten,
aus der anderen die Schreibstube für den Stabsunteroffizier
der Wachmannschaft.
Anschließend machten sich die Arbeitshäftlinge daran, die
neun Zimmer im ersten Stock umzubauen. Zwei wurden als
Büros für den künftigen Kommandeur der SS-Wachen und
seinen Stellvertreter ausgestattet; dazu kamen eine kleine
private Lounge für die beiden Offiziere sowie eine Toilette;
aus den fünf übrigen Räume wurden die ersten der insgesamt
neunzehn Zellen für die prominenten Häftlinge, die auf
Schloss Itter unterkommen sollten.
Da die Unterkünfte für die Gefangenen Persönlichkeiten
beherbergen sollten, die für das Reich von großem Wert
waren, waren sie deutlich komfortabler als die Zellen, in denen
NS-Häftlinge üblicherweise landeten. Die VIP-Zellen im
Schloss – Nummer 1 bis 5 im ersten Stock, 6 bis 9 im zweiten
und 10 bis 19 im dritten Stock – basierten auf den bestehenden
Gästezimmern und sollten jeweils nicht mehr als
zwei Gefangene beherbergen. Die Fenster der entsprechenden
Zimmer wurden von außen vergittert, die Türen mit zwei
robusten Schlössern versehen. Da man davon ausging, bestimmte
Gefangene völlig isolieren zu müssen, wurde rund
die Hälfte der Zellen mit primitiven Waschbecken und Toiletten
ausgestattet.
Deutlich besser waren die Verhältnisse in der Suite im
vierten Stockwerk, wo der Kommandeur der im Schloss stationierten
SS-Truppen wohnen sollte. Dieser Offizier – eventuell
zusammen mit seiner Frau – sollte in den Genuss eines
exquisit möblierten Wohnzimmers, eines Schlafzimmers,
einer privaten Küche sowie eines Esszimmers kommen. Neben
den üblichen Annehmlichkeiten verfügte die Suite des
Kommandeurs auch über eine Telefonanlage, die es ihm ermöglichen
sollte, direkten Kontakt zu den regionalen Befehlsstellen
in Dachau aufzunehmen sowie, falls er sofortige
militärische Unterstützung benötigte, zum Kommandanten
der Heeresunteroffiziersschule für Gebirgsjäger im nahe gelegenen
Wörgl.
Nachdem der Umbau des Hauptgebäudes beendet war,
kam der Schlosshof an die Reihe, ein freistehendes zweites
Torhaus rund fünfzehn Meter hinter dem kleineren ersten
Gebäude und von diesem durch einen dreieckigen abgeschlossenen
Hof getrennt, der als Parkplatz diente. Dieser
Schlosshof war aus dem gleichen Stein erbaut, der auch für
das Schloss verwendet worden war, und wies in der Mitte ein
Bogentor auf, dessen Stufen auf eine ummauerte Terrasse
und zum Hauptgebäude führten. Neben dem Durchgang gab
es im Schlosshof eine Garage, einen Stall sowie einen Lagerbereich
für Gartengeräte und Vorräte. Die Zwangsarbeiter
– die am Ende ihres langen, harten Arbeitstags im beengten
oberen Stockwerk des Gebäudes schliefen – fügten eine
kleine medizinische Einrichtung hinzu, die aus einem Wartezimmer,
einem Behandlungszimmer, einem Büro für einen
Arzt und einer primitiven Zahnarztpraxis bestand.
Zum Schluss wies Petz seine Arbeitskräfte an, die Vorrichtungen
zu installieren, die das Schloss ausbruchsicher machen
sollten. Da Schloss Itter bereits über massive Mauern
verfügte, im Westen, Norden und Osten steile Abhänge aufwies
und im Süden einen ausgetrockneten Burggraben hatte,
musste man nur zusätzlich an strategisch wichtigen Punkten
Stacheldraht platzieren und das Eingangstor mit einer
großen Schließvorrichtung versehen. Um jeden freiheitsliebenden
Gefangenen noch weiter zu entmutigen, befahl Petz
einigen seiner SS-Männer, um den inneren Ring der Hauptmauer
herum Flutlichter zu installieren. Überdies errichteten
die Soldaten drei kleine, mit Holz umrandete Stellungen für
Maschinengewehre vom Typ MG-42, von denen aus man die
Schlossvorderseite und den rückwärtigen Schlosshof überblickte.
Der Umbau des Schlosses zu einer Internierungseinrichtung
für hochrangige Persönlichkeiten war im Wesentlichen
am 25. April 1943 abgeschlossen, auch wenn letzte Verände
rungen an der Elektrik noch nicht beendet waren, als Petz den
Befehl erhielt, mit seinem Arbeitstrupp und dem Wachpersonal
nach Dachau zurückzukehren. Petz wollte keine Zeit verlieren
– und hatte vermutlich auch Angst, sich den Zorn eines
Vorgesetzten zuzuziehen – und machte sich sogleich mit
einem Großteil seiner Mannen auf den Heimweg; nur der
Häftling, der für die Elektroarbeiten zuständig gewesen war,
bekam Anweisung, vor Ort zu bleiben und die notwendigen
Arbeiten abzuschließen; zu seiner Bewachung wurden zwei
SS-Männer abgestellt.
Während die Namen der beiden Wachmänner nicht überliefert
sind, kennen wir die Identität des Elektrikers – er sollte
bei den späteren Geschehnissen auf dem Schloss eine wichtige
Rolle spielen. Es handelte sich um den 36 Jahre alten
Zvonimir »Zvonko« u kovi 31, einen Katholiken aus dem
kroatischen Sisak, der vor dem deutschen Einmarsch in Jugoslawien
im April 1941 zusammen mit seiner Frau Ema und
seinem Sohn, der ebenfalls Zvonimir hieß, in Belgrad lebte
und dort als Elektriker arbeitete.32 Nach der Kapitulation seines
Landes schloss er sich dem Widerstand gegen die Deutschen
an, wurde jedoch im Dezember 1941 von der Gestapo
verhaftet. Nachdem er mehrere Monate in Gefängnissen in
Belgrad, Graz, Wien und Salzburg verbracht hatte, wurde er
am 26. September 1942 nach Dachau überstellt.
Ursprünglich sollte er hingerichtet werden, doch u kovi
entging dem Tod, als er bei seiner ersten Vernehmung nach
der Ankunft im Lager – in nicht akzentfreiem, aber fließendem
Deutsch – betonte, dass er als Elektriker den Deutschen
möglicherweise gute Dienste leisten könne. Das sah die Lagerleitung
genauso, und so wurde er dem Lagerbautrupp von
Petz zugeteilt. Von November 1942 bis Februar 1943 gehörte
u kovi einem externen Arbeitskommando in Traunstein
an, wo es ebenfalls ein Außenlager von Dachau gab, wurde
jedoch nach Dachau zurückbeordert, um an Petz’ Expedition
nach Itter teilzunehmen. Dort waren er und ein österreichischer
Häftling namens Karl Horeis unter anderem dafür zuständig,
die gesamte Elektrik des Schlosses auf Vordermann
zu bringen. Petz’ Entscheidung, den Kroaten in Tirol zurückzulassen,
als er mit seinem Trupp nach Dachau zurückkehrte,
zeigt, wie sehr er dessen Fertigkeiten schätzte. u kovi hat
diese Entscheidung vermutlich das Leben gerettet.
Nun, da Schloss Itter bereit war, die Häftlinge aufzunehmen,
mussten die Verwalter in Dachau nur noch das dafür
nötige Personal besorgen. Vierzehn Angehörige des SSTotenkopfverbands
aus diesem Lager sowie eine weibliche
Hilfskraft dieser Organisation (dazu sechs Wachhunde aus
dem Elsass) sollten als Wachpersonal fungieren und firmierten
offiziell als SS-Sonderkommando Itter. Es handelte sich
in der Mehrzahl um ältere Männer ohne Kampferfahrung.
Die meisten hatten als Wachen in den größeren Lagern gedient
und waren froh, nun im relativ komfortablen Schloss
postiert zu werden. Wir dürfen überdies annehmen, dass die
etwas weitsichtigeren Wachen – denen nach und nach bewusst
wurde, dass ein alliierter Sieg möglicherweise die Hinrichtung
all derer bedeutete, die in das NS-Lagersystem verstrickt
waren – froh darüber waren, den Rest des Krieges mit
der Bewachung prominenter Häftlinge auf einem abgelegenen
Schloss fern der Gräuel der »Endlösung« zuzubringen.
Falls die Wachen allerdings geglaubt hatten, den Rest des
Krieges in einer Oase relativer Ruhe zu verbringen, so hatten
sie sich gründlich getäuscht, denn die beiden Offiziere, die
man als ihre Vorgesetzten bestimmte, waren in Sachen militärischer
Führung wahrlich keine Anhänger des Laissezfaire.
Der Jüngere, der als stellvertretender Befehlshaber
des SS-Sonderkommandos Itter fungieren sollte, SS-Untersturmführer
Otto Stefan, gehörte dem Sicherheitsdienst (SD)
an, dem Geheimdienst der SS. Seine Hauptaufgabe bestand
darin, jedem der prominenten Häftlinge, die schließlich auf
Schloss Itter verlegt werden sollten, wichtige Informationen
zu entlocken, doch das Wachpersonal wusste nur zu gut, dass
er auch auf sie ein Auge haben und jede militärische oder
ideologische Laxheit akribisch registrieren würde. Wer als
Soldat das Pech hatte, sich bei Stefan unbeliebt zu machen,
konnte schneller, als ihm lieb war, bei einer Kampfeinheit an
der Front oder gar bei einem Strafbataillon landen.
Schlimmer noch: Aus uns unbekannten Gründen entschieden
sich die SS-Planer in Dachau dafür, das Kommando auf
Schloss Itter – eine Einrichtung, die einige der höchstrangigen
und potenziell wertvollsten Häftlinge des Dritten Reiches
beherbergen sollte – einem brutalen, primitiven und politisch
unfähigen Offizier anzuvertrauen, der in der SS weithin berüchtigt
war als Mann, der mit seinen Untergebenen fast so
grausam verfuhr wie mit denen, die das Pech hatten, seine
Gefangenen zu werden.
p> Oder anders gesagt: Der SS-Hauptsturmführer Sebastian
»Wastl« (oder auch »Westel«) Wimmer war ein veritables
Arschloch. Geboren wurde er 1902 in der niederbayerischen
Kleinstadt Dingolfing. 1923 begann er als Wachtmeister bei
der Münchner Polizei und stieg im Laufe der Jahre zum Oberwachtmeister
auf – obwohl oder vielleicht gerade weil er im
Ruf stand, rasch Geständnisse zu erhalten, indem er Verdächtige
bei Verhören fast zu Tode prügelte. Dieser kaum des Lesens
und Schreibens kundige, ungepflegte und im Suff zu gewalttätigem
Jähzorn neigende Mann war der ideale Rekrut für
die noch junge SS. Im März 1935 trat er in Himmlers Organisation
ein, nachdem er einen Monat zuvor bei der Münchner
Polizei gekündigt hatte.
Warum Wimmer sich der SS anschloss, wissen wir nicht.
Mag sein, dass hier ein politisch überzeugter Mann in einer
Eliteorganisation, deren Ideale auch die seinen waren, zu
Ruhm kommen wollte, doch angesichts dessen, was wir über
seine Persönlichkeit wissen, sah Wimmer diese Organisation
wohl eher als Ausweg aus einer beruflichen Sackgasse und als
Möglichkeit, nunmehr mit offizieller Billigung weiter möglichst
brutal gegen all diejenigen vorzugehen, denen gegenüber
er sich schon immer minderwertig gefühlt hatte: gegen
Intellektuelle, gegen die Reichen und natürlich gegen die Juden
und andere, die den Nationalsozialisten als »Untermenschen
« galten.
Doch welche Motive ihn auch immer getrieben haben mögen:
Schon bald sollte Wimmer die finstere Seite von Hitlers
neuem Deutschland kennenlernen – und ein Teil davon werden.
Nach einer ersten Ausbildung in Dachau wurde der frisch
gekürte Offizier des SS-Totenkopfverbands36 dem permanenten
Wachbataillon des Lagers zugeteilt, dem SS-Wachsturmbann
Oberbayern.37 Zwar war das Lager in Dachau 1935 gerade
einmal zwei Jahre alt und relativ klein – der Ausbau und
die Einrichtung von Krematorien sollten erst 1937 beginnen
–, doch beherbergte es bereits mehrere tausend Insassen,
vor allem Juden und politische Häftlinge. Mit der systematischen
Exekution von Gefangenen hatte man noch nicht
begonnen, doch Wimmer und die anderen Wachen durften
im Grunde nach Belieben Lagerinsassen demütigen, brutal
behandeln und, wenn sie eine vernünftige Begründung dafür
vorbrachten, auch töten, ohne Strafe fürchten zu müssen.
© Hanser Literaturverlage
Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H
... weniger
Autoren-Porträt von Stephen Harding
Stephen Harding ist ein US-amerikanischer Militärhistoriker, als Journalist hat er aus Nordirland, Bosnien und dem Irak berichtet. Er lebt heute in Virginia und ist Chefredakteur der Zeitschrift "Military History".
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen Harding
- 2015, 2. Aufl., 319 Seiten, mit Abbildungen, Geb. mit Su., Deutsch
- Übersetzer: Andreas Wirthensohn
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552057188
- ISBN-13: 9783552057180
- Erscheinungsdatum: 23.02.2015
Rezension zu „Die letzte Schlacht “
"Solche Geschichten kann man nicht erfinden, sondern nur finden. Stephen Harding hat sie mit großem Gusto für uns in Buchform gebracht." Walter Klier, Wiener Zeitung, 01.05.15"Eine der letzten und bizarrsten Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs: Die beinahe unglaubliche und einzigartige Militäraktion, in der GIs und Wehrmacht miteinander den Kampf gegen die SS aufnahmen, fasziniert." Marianne Enigl, Profil, 16.02.15
"Ein Showdown in bester Westernmanier." Marc von Lüpke, Der Spiegel, 24.02.15
"Die Geschichte ist wahr und wirklich passiert, dennoch klingt sie wie ein Drehbuch für einen Film von Quentin
Tarantino. Die Handlung ist in ihren Grundzügen dramatisch, enthält eine Menge sehr grotesker Momente und
endet mit einer wüsten Schießerei um die Mauern einer mittelalterlich erscheinenden Burg." Paul Stänner, Deutschlandradio, 26.4.15
"Die Schilderung gebrochener, moralisch uneindeutiger Figuren gehört zu den Stärken des Buches." Christoph Schröder, Der Tagesspiegel, 06.05.15
"Gewiss, es handelt sich hier lediglich um eine Fußnote zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Aber was für eine Fußnote! Sie schreit laut und vernehmlich danach, verfilmt zu werden." Hannes Stein, Die Welt, 09.07.13
Kommentar zu "Die letzte Schlacht"
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