Die Liebe kommt auf weichen Tatzen
Fünf Wochen alt war die Straßenkatze Prudence, als sie die nette Sarah kennenlernte. Drei Jahre haben die beiden zusammengelebt. Doch Sarah ist nicht mehr da. Dafür taucht Laura, Sarahs Tochter, auf...
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Produktinformationen zu „Die Liebe kommt auf weichen Tatzen “
Fünf Wochen alt war die Straßenkatze Prudence, als sie die nette Sarah kennenlernte. Drei Jahre haben die beiden zusammengelebt. Doch Sarah ist nicht mehr da. Dafür taucht Laura, Sarahs Tochter, auf...
Lese-Probe zu „Die Liebe kommt auf weichen Tatzen “
Die Liebe kommt auf weichen Tatzen von Gwen Cooper Aus dem Amerikanischen von Heinz Tophinke
Teil 1
1
Prudence
... mehr
Es gibt zwei Arten, wie die Menschen nicht die Wahrheit sagen. Die erste zu begreifen fiel mir anfangs schwer, weil sie mit keinen der Anzeichen einhergeht, die verraten, wenn sie nicht die Wahrheit sagen. Wie zum Beispiel damals, als Sarah meine weißen Pfoten »Socken« nannte. Schau, was du für wunderschöne kleine Socken hast, sagte sie. Socken tragen die Menschen an ihren Füßen, damit sie mehr wie Katzenpfoten aussehen. Aber meine Pfoten sind schon gepolstert und weich, und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Katze, die auf sich hält, etwas so Dämliches wie Socken lange ertragen würde.
Deshalb dachte ich zuerst, Sarah würde versuchen, mich hinters Licht zu führen, indem sie etwas sagte, das nicht der Wahrheit entsprach. Wie damals, als sie mich an den Bösen Ort brachte und sagte Keine Bange, sie machen dich hier nur gesund und stark. An ihrer gepressten Stimme, als sie mich in meinen Tragekorb setzte, erkannte ich, dass eine Art von Verrat im Gange war. Und ich sollte recht behalten. Sie stachen mich dort mit spitzen Dingen und zwangen mich, stillzuhalten, während sich menschliche Finger überall in meinen Körper bohrten, sogar in meine Schnauze.
Als es endlich vorbei war, setzte mich die Frau im weißen Kittel wieder in meinen Tragekorb und sagte zu Sarah: Was für hübsche weiße Socken Prudence hat! Dabei lächelte sie, und daher wusste ich, dass sie Sarah nicht hinters Licht führen wollte, sowie die es bei mir versucht hatte, als sie mich dorthin brachte. Ich dachte, vielleicht sollte ich mir die Pfoten lecken oder etwas tun, um ihnen zu zeigen, dass dies meine echten Füße waren und nicht die falschen Füße, die sich die Menschen anziehen, bevor sie nach draußen gehen. Ich dachte, vielleicht sind Menschen nicht so schlau wie Katzen und verstehen solch subtile Unterschiede nicht, wenn man sie nicht darauf hinweist.
Damals war ich noch sehr jung, ein ganz kleines Kätzchen - als mein Zusammenleben mit Sarah begann. Inzwischen weiß ich, dass die Menschen am besten begreifen, ob etwas richtig ist, wenn sie es indirekt herausfinden. Etwa, dass man eine Maus, die direkt vor einem sitzt, manchmal am besten fängt, indem man vor dem Sprung ein wenig zurückweicht.
Und als ich später zu Hause mein Bild in Sarahs Spiegel betrachtete (sobald ich erkannt hatte, dass es mein Spiegelbild war und nicht eine andere Katze, die versuchte, mir mein Zuhause zu stehlen), sah ich, dass der untere Teil meiner Beine wirklich ein bisschen wie die Socken aussah, die Sarah manchmal trägt.
Aber trotzdem - zu sagen, dass es Socken sind anstatt, dass sie wie welche aussehen, das ist eindeutig nicht richtig.
Die zweite Art der Menschen, nicht die Wahrheit zu sagen, ist, wenn sie versuchen, sich gegenseitig hinters Licht zu führen. Zum Beispiel, wenn Laura zu Besuch kommt und sagt Tut mir leid, dass ich so lange nicht gekommen bin, Mom, ich wollte dich wirklich eher besuchen ... und dabei zeigen ihr Rotwerden und ihre sich zusammenziehenden Schultern klar, dass sie in Wirklichkeit am liebsten niemals kommen würde. Und Sarah sagt dann Na klar, ich verstehe schon, aber dabei verraten ihre höher werdende Stimme und ihre sich nach oben ziehenden Augenbrauen, dass sie überhaupt nicht versteht.
Oft habe ich mich gefragt, wo Lauras Wurfgeschwister sind und wieso sie uns nie besuchten. Aber ich glaube, Laura hat gar keine Wurfgeschwister. Vielleicht haben Menschen kleinere Würfe als Katzen, oder vielleicht ist den anderen etwas zugestoßen. Ich hatte schließlich auch einmal Wurfgeschwister.
Aber das ist lange her. Das war, bevor ich Sarah fand.
* * *
Der Böse Ort ist nur ein Stück zu Fuß von der Lower East Side entfernt, wo wir wohnen. (Genau genommen ging Sarah dorthin, weil ich ja in meinem Tragekorb war. Dennoch hat sie nicht lange gebraucht, auch wenn Katzen schneller laufen können als Menschen. Das ist eine Tatsache.) Die Frau dort erklärte Sarah, ich sei eine polydaktyle, braun getigerte Katze. Sarah fragte, ob das bedeute, dass ich eine Art fliegender Dinosaurier sei? Die Frau meinte lachend, nein, es würde lediglich bedeuten, dass ich überzählige Zehen hätte. Ich bin mir allerdings nicht sicher, welche meiner Zehen »überzählig« sein sollen, denn ich glaube, ich brauche sie alle. Und es stimmt nicht wirklich, zu sagen, ich bin braun, denn teilweise bin ich weiß - meine Brust und mein Kinn und die Enden meiner Beine. Außerdem habe ich grüne Augen. Und sogar da, wo ich braun bin, habe ich noch dunklere, fast schwarze Streifen. Aber ich weiß, dass die Menschen nicht so präzise sind wie Katzen. Kaum zu glauben, dass sie sich sicher genug fühlen, um nachts schlafen zu können.
Die Frau, die mich stach, erklärte Sarah auch, dass ich zu dünn sei. Das war zu erwarten gewesen, weil ich zuvor auf mich allein gestellt auf der Straße gelebt hatte. Sie meinte, ich würde wahrscheinlich rasch zunehmen. Seitdem bin ich viel schwerer und größer geworden, aber ich bin immer noch ziemlich dünn. Sarah meint, ich hätte Glück, so zu bleiben, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Aber die Wahrheit ist, dass ich schlank bin, weil ich nie alles fresse, was Sarah mir gibt. Das ist so, weil sie mich zwar täglich füttert, aber nie zur exakt gleichen Zeit. Manchmal füttert sie mich gleich als Erstes am Morgen, manchmal, wenn es fast schon Mittag ist. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass ich mein Fressen erst nach Einbruch der Dunkelheit bekam. Deshalb lasse ich immer ein wenig übrig für den Fall, dass Sarah das Füttern eines Tages ganz vergisst.
Und wie sich herausstellt, war meine Sorge berechtigt. Sarah war schon seit fünf Tagen nicht mehr hier, um mich zu füttern - sie war seit fünf Tagen überhaupt nicht mehr zu Hause. Die ersten beiden Tage musste ich mit dem auskommen, was noch in meiner Schüssel war. Ich bin sogar auf die Anrichte gesprungen, wo die Tüte mit meiner Trockennahrung steht, und machte mit Zähnen und Krallen ein kleines Loch hinein, damit ich mir selbst etwas zu fressen herausholen konnte. (Normalerweise würde ich so etwas nie tun, denn das ist schlechtes Benehmen. Aber manchmal gibt es Dinge, die wichtiger sind als Benehmen.)
Schließlich, am dritten Tag, kam eine Frau, die ich als eine Nachbarin erkannte, und machte eine Dose Futter für mich auf. Prudence!, rief sie. Komm und friss, du armes Kätzchen, du musst ja einen schrecklichen Hunger haben!
Ich hatte unter der Couch darauf gewartet, dass sie geht, aber als ich hörte, wie die Dose geöffnet wurde, kam ich hervor. Doch die Frau versuchte, mich am Kopf zu streicheln, und so musste ich wieder unter die Couch kriechen und ganz schnell mit meinen Rückenmuskeln zucken, um mich zu beruhigen. Ich mag es nicht, wenn mich Menschen berühren, die ich nicht gut kenne. Also wartete ich, bis sie gegangen war, und kam erst dann wieder hervor, obwohl ich nach zwei Tagen fast ohne etwas zu fressen einen gewaltigen Hunger hatte.
Die Frau ist seither jeden Tag wiedergekommen, um mich zu füttern, aber ich bleibe immer noch unter der Couch, bis sie weg ist. Vielleicht will sie mir mit dem Füttern eine Falle stellen. Vielleicht hat sie auch Sarah schon in eine Falle gelockt, und sie ist deswegen so lange nicht nach Hause gekommen.
Um mir die Zeit zu vertreiben, bis Sarah wiederkommt, setze ich mich auf das Fensterbrett - das, von dem aus man die Feuerleiter sieht, die ich Sarahs Worten zufolge niemals betreten darf - und beobachte, was auf der Straße vor sich geht. Von dort habe ich auch bestens den Eingang zu unserem Haus im Blick, sodass ich sehe, wenn Sarah zurückkommt.
Um auf das Fensterbrett zu gelangen, springe ich zuerst auf den Couchtisch und von dort auf die Couch. Dann klettere ich auf die Rückenlehne der Couch und von da direkt aufs Fensterbrett. Natürlich kann ich auch direkt vom Boden auf das Fensterbrett springen (ich könnte, wenn es sein müsste, sogar noch viel höher springen), aber auf diesem Weg kann ich überprüfen, dass alles sicher und genau so ist, wie ich es verlassen habe. Wenn sich die kleinen, alltäglichen Dinge nicht verändern, dann ist es einleuchtend, dass sich auch die größeren, wichtigeren Dinge nicht verändern werden. Wenn ich alles so mache wie immer, dann muss Sarah zurückkommen, so wie sie es immer tut. Wahrscheinlich habe ich vor ein paar Tagen irgendeinen Fehler gemacht - habe etwas anders gemacht, als ich es sollte - und sie ist deshalb weggegangen.
Sarah und ich sind nun schon seit drei Jahren, einem Monat und sechzehn Tagen zusammen. Ich würde dir auch sagen, wie viele Stunden und Sekunden wir zusammen waren, aber Katzen denken nicht in Stunden und Sekunden. Wir wissen aber, dass sie eine Erfindung der Menschen sind. Katzen haben einen Instinkt; er sagt uns genau, wann für alles der richtige Zeitpunkt ist. Die Menschen wissen nie, wann sie etwas tun sollen, deshalb brauchen sie Uhren und Zeitgeber, die es ihnen sagen. Zweimal im Jahr stellt Sarah alle Uhren in unserer Wohnung eine Stunde vor oder zurück. Das beweist eindeutig, dass Stunden eine reine Erfindung sind. Schließlich kann man ja auch nicht allen sagen, die Welt einen ganzen Tag zurück- oder ein ganzes Jahr vorzudrehen und das als die Wahrheit gelten lassen.
Man könnte meinen, dass Sarah und ich eine Familie sind, weil wir zusammen wohnen, aber nicht alle, die zusammen wohnen, sind auch eine Familie. Manchmal teilt man sich einfach nur eine Wohnung. Der Unterschied ist, in einer Familie macht man vieles miteinander, und man tut diese Dinge jeden Tag zur selben Zeit. Alle frühstücken zusammen, und das Frühstück ist jeden Tag morgens zur selben Zeit. Dann isst man zusammen zu Abend, und auch das findet jeden Tag zur gleichen Zeit statt. Die Menschen bringen einander in die Schule oder zur Arbeit und holen sich von dort einige Stunden später auch wieder ab, und sowohl das Abholen als auch das Hinbringen geschieht einem Zeitplan gemäß. Ich habe das alles von den Fernsehshows gelernt, die Sarah und ich zusammen ansehen. Sogar diese Familien-Fernsehshows kommen immer zur selben Zeit, jeden Tag.
(Früher dachte ich, das, was man im Fernsehen sieht, geschieht wirklich, so richtig in unserer Wohnung. Einmal versuchte ich, eine Maus zu fangen, die auf dem Bildschirm zu sehen war. Ich schlug meine Krallen immer wieder an das Glas und konnte nicht begreifen, warum ich die Maus nicht zu fassen bekam. Und Sarah lachte und erklärte mir, dass ein Fernseher wie ein Fenster ist, nur dass man darin Dinge sieht, die ganz weit weg geschehen.)
Mit Mitbewohnern ist es eher so, dass jeder sein eigenes Leben lebt, obwohl man zusammen wohnt. Die Dinge geschehen, wie sie kommen, und nicht zu einer speziellen Zeit. Außerdem leben Familien in einem Haus mit einem oberen und einem unteren Geschoss. Mitbewohner teilen sich Apartments. Sarah und ich wohnen in einem Apartment, und unser Zeitplan ist immer unterschiedlich. Sarah sagt, das ist so, weil sich ihre Arbeitszeiten ständig ändern. Sie schreibt in einem großen Büro an einem Ort namens Midtown, und sie kann das so gut, dass sie manchmal am frühen Morgen zum Schreiben gebraucht wird und manchmal auch später am Tag. Manchmal bekommt sie eine Menge extra Geld dafür bezahlt, dass sie die ganze Nacht durch schreibt und erst am nächsten Morgen nach Hause kommt, wenn die Sonne schon aufgeht und die meisten anderen Menschen mit ihrer Arbeit erst beginnen.
Mit Geld kauft Sarah Futter für mich, und sie bezahlt damit unsere Wohnung. Sie sagt immer, man muss es verdienen, so lange man es verdienen kann, selbst wenn man wünschte, es nicht zu müssen. Ich weiß genau, was sie damit meint, denn manchmal muss eine Katze ihr Fressen jagen, wenn es vorbeihuscht, selbst wenn sie gerade ein herrliches Nickerchen macht. Wer weiß schon, wann das nächste Mal etwas Fressbares vorbeirennt? Deshalb verbringen kluge Katzen die meiste Zeit mit Schlafen - damit sie genügend Energie haben, wenn sie plötzlich welche brauchen.
Aber auch an den Tagen, wenn sie nicht arbeitet, richtet sich Sarah nicht nach einem geregelten Zeitplan. Manchmal muss ich mit meiner traurigsten Stimme miauen und mit der Pfote über ihr Bein streichen, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit ist, mich zu füttern. Ich fühle mich nicht gut, wenn ich das tun muss, denn ich sehe es ihrem Gesicht an, wie unglücklich es sie macht, wenn sie vergisst, was sie für mich tun muss. Aber für gewöhnlich lacht sie ein wenig, wie es die Menschen tun, wenn sie etwas Trauriges in etwas Lustiges verkehren wollen, und sagt, der Grund für ihr Vergessen sei wahrscheinlich ihre künstlerische Veranlagung, auch wenn es schon Jahre her ist, dass sie etwas Kreatives getan hat.
Was eine »Veranlagung« ist, weiß ich nicht recht. Vielleicht etwas, was ein Künstler macht. Oder vielleicht ist es etwas, das ein Künstler benützt, um etwas zu machen. Aber was immer es auch ist, ich habe hier noch nie etwas Derartiges gesehen.
Vielleicht klingt das alles für dich so, als würde ich mich über mein Leben mit Sarah beschweren, aber das stimmt nicht. Eigentlich ist das Leben mit Sarah sogar ziemlich großartig. Zum einen ist sie immer bereit, mit mir zu teilen. Wenn sie sich zum Essen hinsetzt, stellt sie für gewöhnlich ein Tellerchen mit etwas von ihrem Essen darauf ein Stück neben ihren Teller, und ich setze mich auf den Tisch und esse mit ihr. Manchmal isst sie allerdings Sachen, die einfach widerlich sind. Es gibt da etwas, das »Kekse« heißt, das Sarah besonders mag, obwohl in diesen Häppchen weder Fleisch noch Gras noch sonst etwas drin ist. Sarah lacht, wenn ich dann angeekelt die Nase rümpfe, und sagt, ich wüsste nicht, was mir entgeht. Ich glaube aber, dass Sarah nicht weiß, was man essen sollte und was nicht.
Unser Apartment hat zwei Zimmer. In dem Zimmer mit unserer Küche ist auch unsere Couch, der Fernseher und der Couchtisch. In dieses Zimmer dürfen Besucher herein, aber es kommen nur selten Leute außer Laura und manchmal Sarahs beste Freundin Anise. Anise kommt nur zwei- oder dreimal im Jahr, weil ihr Job an einem Ort namens Asien auf Tournee geht. Laura kommt nicht, wenn sie weiß, dass Anise hier ist, aber Sarah und ich freuen uns immer, Anise zu sehen, denn wenn sie lächelt, dann lächelt sie mit ihrem ganzen Gesicht, und sie sagt nie etwas, das auch nur ein bisschen unwahr wäre. Außerdem ist Anise, wie Sarah gerne sagt, ein Mensch, der Katzen versteht. (Zumindest soweit ein Mensch das eben kann.) Kurz nachdem ich bei Sarah eingezogen war, brachte sie ein »selbstreinigendes « Katzenklo mit nach Hause, das jedes Mal, wenn ich versuchte, es zu benutzen, schrecklich zu surren begann. (Ich glaube, es wollte sich selbst sauber halten und ließ deshalb einfach nicht zu, dass ich es benutzte.) Dieses Ding jagte mir so viel Angst ein, dass ich auf den Teppich zu machen begann, und das machte Sarah sehr ärgerlich auf mich, obwohl das eindeutig nicht meine Schuld war. Das ging Wochen lang so, bis schließlich Anise kam und die Nase rümpfte wegen des Geruchs von dem Teppich, der die ganze Wohnung ausfüllte. Iihh!, meinte sie, hat Prudence denn kein Katzenklo? Dann sah sie das »selbstreinigende« Ungetüm, das Sarah angeschafft hatte und sagte, Sarah, mit diesem Ding jagst du ihr Todesangst ein. Sie ging sofort mit ihr los, um ein normales Katzenklo zu kaufen, und seither haben wir kein Problem mehr.
Im anderen Zimmer steht unser Bett, eine Kommode für Sarahs Kleidung und unser Schrank - mein Lieblingsplatz. In beiden Zimmern gibt es jede Menge tolles Spielzeug für mich, zum Beispiel alte Zeitschriften, die sich anfühlen wie die trockenen Blätter, auf denen ich manchmal lag, als ich noch draußen lebte, und an den Wänden gerahmte Poster, zu denen ich hochspringen und mit einer Pfote draufschlagen kann, bis sie zu wackeln anfangen. Es gibt Schuhschachteln mit kleinen Papierspielzeugen, die Sarah Streichholzbriefe nennt, und sie sagt, sie hat ein Streichholzbriefchen von jedem Club, jeder Bar und jedem Restaurant in New York, das sie besucht hat, seit sie vor vierunddreißig Jahren hierher zog. Obwohl Sarah eine Menge Sachen hat, passt sie auf, dass immer alles schön ordentlich und aufgeräumt ist, damit ich viel Platz zum Herumtoben habe. Ordnung zu halten ist wirklich Sarahs große Stärke.
Ganz hinten in unserem Schrank sind viele Kleider, die Sarah schon lange nicht mehr anzieht - die sie vor Jahren trug, als sie noch abends ausging, sagt sie. Einige sind mit Federn verziert, und ich dachte natürlich, das seien Vögel und versuchte, sie mit meinen Krallen zu packen. Das war das einzige Mal, dass Sarah wirklich wütend auf mich war. Aber wenn eine Frau nicht will, dass ihre Kleider von einer Katze gejagt werden, dann sollte sie eben keine haben, die wie Vögel aussehen.
Es brauchte eine Weile, aber schließlich hatte ich es geschafft, dass die ganze Wohnung einen angenehmen Katzengeruch hat. Ein Mensch kann das nicht riechen, aber wenn ein anderes Katzentier käme und bei uns einziehen wollte, wüsste es, dass hier bereits eine Katze wohnt. Vor allem der hintere Teil des Schranks hat ein sehr heimeliges und unzweideutiges Aroma. Sarah hat dort ein paar alte Sachen von sich hingelegt, auf denen ich schlafen kann, und das kommt einer eigenen Höhle für mich am nächsten.
Aber das Beste von allem ist, dass unser Apartment voller Musik ist. Die meiste lebt auf runden, flachen, schwarzen Scheiben, die Sarah in steifen Papphüllen aufbewahrt. Auf allen diesen Papphüllen sind Bilder oder Zeichnungen, und einige davon sehen genauso aus wie die Poster an unseren Wänden. An der Wand, wo die Musik wohnt, hängen allerdings keine Poster, denn diese Wand ist vom Boden bis zur Decke nichts als Musik. Sarah sagt, ich darf nichts davon mit meinen Krallen kennzeichnen, was bedeutet, sie gehört nur ihr und nicht uns beiden. Trotzdem kann ich sie mit ihr anhören. Die schwarzen Scheiben sehen aus, als könnten sie gar nichts, aber Sarah legt sie auf einen speziellen silbernen Tisch, der zwei schwarze Scheiben auf einmal aufnehmen kann. Dann drückt sie auf ein paar Knöpfe und bewegt einige Dinge, und die Scheiben beginnen, ihre Musik zu singen. Manchmal hören wir uns nur ein oder zwei Lieder an, aber es kommt auch vor, dass Sarah die schwarzen Scheiben den ganzen Tag lang singen lässt. Manchmal, wenn auch eher selten, singt Sarah selbst mit. Das mag ich immer am allerliebsten.
Überhaupt habe ich Sarah vor allem wegen der Musik adoptiert. Damals war ich noch sehr klein und lebte mit meinen Wurfgeschwistern draußen. Eines Tages liefen wir vor einigen Ratten davon; das sind die ekligsten Geschöpfe auf der ganzen Welt. Sie haben entsetzlich lange Zähne und Krallen und sie riechen schlecht, und wenn sie dich nicht jagen, um dir wehzutun, dann versuchen sie, dir jegliches Fressen, das du auftreiben konntest, zu stehlen. Dann fing es an zu regnen - ein fürchterlicher Gewitterschauer ging nieder, und ich war sicher, dass er jedes Lebewesen, das kein Versteck fand, ertränken würde. Beim Weglaufen vor den Ratten und dann vor dem Regen wurde ich von meinen Wurfgeschwistern getrennt. Schließlich kauerte ich mich unter einen Betonblock auf einem großen, leeren Baugelände. Ich hatte Angst, denn ich war zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein, und so begann ich zu miauen in der Hoffnung, dass meine Wurfgeschwister mich dann finden würden.
Stattdessen fand mich Sarah. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass es Sarah war. Ich wusste nur, dass sie ein Mensch war - größer als die meisten, mit braunen Haaren bis zu den Schultern. Sie sah älter aus als viele der Menschen, die in der Lower East Side wohnen, aber nicht wirklich alt.
Normalerweise kann ich mich vor den Menschen sehr gut verbergen, wenn ich nicht will, dass sie mich finden. Die meisten würden direkt an meinem Versteck vorbeigehen und mich nicht bemerken. Ich glaube, auch Sarah hätte mich nicht gesehen, aber dann blieb sie vor der Baustelle stehen und starrte lange darauf. Sie blieb so lange stehen, bis sich die Wolken verzogen und die Sonne herauskam, und da entdeckte sie mein Versteck.
Ich dachte, sie würde einfach weggehen und mich allein lassen. Doch sie kam näher, ging in die Hocke und streckte mir eine Hand entgegen. Aber ich war noch nie von einem Menschen berührt worden und traute keinem von ihnen. Zudem konnte ich nicht verstehen, was sie sagte, weil ich die Menschensprache damals noch kaum beherrschte. Ich wich zurück, bis ich in eine Pfütze fi el und zu zittern begann, weil das Regenwasser mein Fell so kalt machte.
Und dann begann Sarah zu singen. Es war das erste Mal, dass ich Musik hörte - bis dahin hatte ich fast nur hässliche und Angst machende Geräusche gehört, Maschinen zum Beispiel, und Sachen, die auf dem Gehsteig zerbarsten, oder Menschen, die meine Wurfgeschwister und mich anschrien, wenn sie uns wegjagten.
Sarahs Musik war das Schönste, was ich je gehört hatte. Ich hatte schon schöne Dinge gesehen, wunderbares Essen etwa, das die Menschen bei sonnigem Wetter an Tischen im Freien verspeisten. Oder das schattige Gras unter den Bäumen im Park, wo sich die Menschen hinsetzen, was für meine Wurfgeschwister und mich immer hieß, dass wir nichts tun konnten, als uns vor ihnen zu verstecken und voller Sehnsucht darauf zu schauen, wie hübsch das Sonnenlicht war und wie kühl der Schatten aussah.
Aber als Sarah sang, das war das erste Mal, dass etwas nur für mich schön war. Sarahs Musik war schön und nur für mich, und deshalb wollte ich mich von niemandem verjagen oder mir das wegnehmen lassen.
Ich verstand nicht, was sie sang, aber zwei Worte in ihrem Lied wiederholten sich immer wieder: Dear Prudence. Sie sang mir Dear Prudence vor, als sei das mein Name. Und wie sich gezeigt hat, ist Prudence mein Name. Ich wusste es damals nur noch nicht.
Aber Sarah hatte es von Anfang an gewusst. Deshalb wusste ich, dass ich ihr vertrauen konnte, obwohl sie ein Mensch war. Und so beschloss ich auf der Stelle, sie zu adoptieren, denn es war klar, dass wir zueinandergehörten.
Mäuse finden praktisch nie den Weg in unsere Wohnung. Wenn es doch einmal eine schafft, fange ich sie und präsentiere sie Sarah, um ihr zu zeigen, dass ich bereit bin, im Austausch dafür, dass sie Dinge für mich tut, etwas für sie zu tun. Und ich übe das Mäusefangen sehr fleißig, sogar wenn gar keine da sind. Ich trainiere mit leeren Toilettenpapierrollen oder zusammengeknüllten Papierkugeln, stürze mich auf sie und übe meine Kampftechniken, damit ich vorbereitet bin, wenn sich wirklich einmal eine Maus blicken lässt. Ich arbeite schwer in der Hoffnung, dass Sarah und ich eines Tages eine echte Familie sein werden und nicht nur Wohnungsgenossen.
Gerade als ich dies denke, sehe ich von meinem Platz auf dem Fensterbrett Laura auf der anderen Straßenseite. Sie steigt aus einem Auto aus, mit einem Mann, den ich nicht kenne. Beide tragen große, leere Kartons.
Und ich könnte dir nicht sagen, woher ich es weiß. Vielleicht deshalb, weil Laura so selten zu Besuch kommt, selbst wenn Sarah hier ist. Ich bekomme ein beklemmendes Gefühl in meinem Bauch, das sich bis zum Rücken hinaufzieht und mir das Fell aufstellt. Meine Barthaare biegen sich bis an die Wangen nach hinten, und die dunkle Mitte meiner Augen vergrößert sich offenbar, denn plötzlich ist alles alarmierend hell.
Noch ehe Laura die Haustür erreicht, weiß bereits jeder Teil meines Körpers, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss.
2
Prudence Laura und der seltsame Mann bringen den Geruch von draußen mit herein. Und sie riechen beide fast gleich. Es ist nicht genau der gleiche Geruch, weil männliche und weibliche Menschen unterschiedlich riechen, aber sie gleichen sich so sehr, dass ich weiß, dass die beiden zusammenleben.
Wäre Laura allein hereingekommen, so würde ich sie gleich an der Tür mit laut geforderten Erklärungen begrüßen. Wenngleich die Menschen die Katzensprache nicht so gut verstehen wie ich die ihre, erbringt ein festes und direktes Miau in der Regel eine Antwort. Wenn Sarah zum Beispiel vergessen hat, mir etwas zum Naschen zu geben, stelle ich mich neben die Anrichte in der Küche und miaue ostentativ. Dann gibt sie mir entweder etwas, oder sie erklärt mir, warum sie mir nichts gegeben hat, indem sie etwa sagt Oh Jammer! Wir haben keine Katzenleckerli mehr! Ich laufe gleich über die Straße und kaufe dir noch ein paar! Sarah sagt, das würde bedeuten, dass ich sie »abgerichtet « habe. Trainieren müssen die Menschen mit Hunden, denn ein Hund weiß nicht einmal, wann er sich hinsetzen oder hinlegen soll, wenn es ihm nicht ein Mensch sagt. (Die Menschen, die Hunde halten, müssen sehr geduldig und nett sein, sich mit derart unbedarften Geschöpfen abzugeben.) Ich sehe Sarah ganz anders. Es ist nicht so, dass ich sie abrichte; ich muss sie nur manchmal sanft erinnern.
Aber Laura ist hier mit einem Mann, den ich nicht kenne. Also beschließe ich, unter der Couch zu warten, bis ich sicher bin, dass es völlig gefahrlos ist, hervorzukommen. Menschen können unberechenbar sein. Manchmal stürzen sie sich auf einen und streichen einem das Fell in die falsche Richtung, oder (und das ist so erniedrigend!) sie heben mich vom Boden hoch! Ich kann also nur abwarten, während Laura mit dem Fuß die Tür aufhält, damit der Mann vor ihr hereinkommt, und sie sie dann hinter sich zustößt und die drei Schlösser absperrt.
Vor langer Zeit schenkte mir Sarah ein rotes Halsband mit einem kleinen Anhänger, auf dem PRUDENCE geschrieben steht, wie sie sagte. Manchmal, wenn ich mich zu schnell bewege, klappert der Anhänger ein wenig. Also krieche ich sehr langsam an den Rand unter der Couch, denn von dort kann ich den seltsamen Mann, den Laura dabei hat, besser beobachten.
Er ist größer als sie, hat hellbraunes Haar und dunkelblaue Augen, und er ist dünner als die meisten anderen Menschen. Am leichtesten sind für mich seine Füße und Knöchel zu sehen. Er trägt an den Füßen das, was die Menschen »Turnschuhe « oder auch »Sneaker« nennen (weil sie damit leise laufen können wie Katzen), und sie müssen alt sein, denn sie sind voller schwarzer Flecken und angetrocknetem Schmutz, und unter seiner linken großen Zehe ist ein kleines Loch, das er wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt hat. Er hatte in letzter Zeit nichts mit Katzen zu tun, denn an seinen Knöcheln sind keine Fellhaare und kein Katzengeruch - dort würde eine Katze als Erstes den Kopf reiben, um ihn mit ihrem Duft zu markieren. Eines seiner Schuhbänder hängt über die Seite seines Fußes. Ich beobachte, wie es hin und her schwingt, wenn er läuft, und die Versuchung, es anzufallen, ist fast unwiderstehlich. Aber ich zwinge mich stillzuhalten und ducke mich so tief, dass mein Bauchfell gegen den Boden drückt und mich unangenehm kitzelt.
Laura trägt ebenfalls Turnschuhe, aber ihre sind ganz weiß und sehen wesentlich neuer aus. Die kleinen Beulen oben in den Schuhen sagen mir, dass sie ihre Zehen krümmt, und das bedeutet, sie ist sehr angespannt. Sie riecht auch so. Sogar noch intensiver, als sie normalerweise riecht, wenn sie zu Besuch kommt. Auch der Mann mit den hellbraunen Haaren muss ihre Anspannung riechen können, denn er stellt seine Schachteln ab und legt die Hände auf Lauras Schultern. Sarah streichelt mir immer den Rücken, wenn ich mich über etwas ärgere, zum Beispiel, wenn ich glaube, ich hätte eine Fliege in die Enge getrieben, und dann fliegt sie einfach davon, oder wenn draußen ein Auto ganz plötzlich bumms! macht und mich erschreckt. Die Berührung des Mannes scheint Laura zu beruhigen, aber als er freundlich fragt: »Alles in Ordnung?«, krümmt sie wieder die Zehen und sagt: »Geht schon.« Dann fährt sie sich durch die Haare, so wie es auch Sarah macht. »Bringen wir's einfach hinter uns.«
»Wir könnten warten«, sagt der Mann. »Ich bin sicher, der Hausverwalter würde es verstehen, wenn ...«
Aber Laura schüttelt bereits den Kopf. »Am Donnerstag ist der Erste«, sagt sie. »Wenn wir warten, müssen wir die nächste Miete übernehmen.«
Mein rechtes Ohr dreht sich nach vorn, damit ich besser hören kann, als Laura dies sagt. Wenn Sarah keine Miete mehr bezahlt, um hier zu wohnen, dann heißt das, sie hat beschlossen, woanders zu wohnen. Das Gefühl der Furcht in meinem Bauch wird stärker; ich versuche zu verstehen, weshalb Sarah gehen würde, ohne mir etwas zu sagen und ohne die Dinge mitzunehmen, die ihr lieb sind. Wenn im Fernsehen zwei zusammen wohnen und eine beschließt auszuziehen, sagt sie zuerst ihrer Mitbewohnerin, warum sie gehen muss (normalerweise ist es wegen ihrer Karriere oder wegen des Mannes, den sie liebt). Sie werden beide wütend und streiten, doch dann erinnern sie sich an all die schönen Zeiten, die sie miteinander hatten. Dann heulen sie und umarmen sich und sind wieder Freunde, und dann sagt die zweite Mitbewohnerin, obwohl sie traurig ist, weil sie ihre Freundin verliert, sie würde verstehen, weshalb die erste Mitbewohnerin gehen muss.
Mitbewohner müssen es einander sagen, bevor sie ausziehen.
* * *
Laura hat eine Art sich zu bewegen, die verrät, dass sie genau weiß, wohin sie will, und dass sie sich wünscht, schon früher dort angelangt zu sein. Auf diese Art und Weise versucht sie, in unser Schlafzimmer zu gehen, aber sie schafft es nicht ganz. Ihre Schritte sind ein ganz klein wenig langsamer als sonst, und wenn sie etwas wäre, das ich jage, würde ich wahrscheinlich denken, dass dies ein guter Moment zum Sprung wäre. Sie sagt dem Mann, sie werde sich das Schlafzimmer vornehmen, und er solle in der Küche anfangen. Sie gibt ihm einige alte Zeitungen, und zuerst denke ich, vielleicht spielen sie eines meiner Lieblingsspiele mit mir, bei dem Sarah Zeitungspapier zerknüllt und es für mich wirft, sodass ich meine Mäusejagd üben kann. Aber stattdessen wickelt der Mann damit unser Geschirr und unsere Gläser ein und verstaut dann alles in den Kartons. Er wickelt sogar die große Keramikschüssel ein, die auf dem kleinen Tisch nahe der Wohnungstür steht. Das ist die Schüssel, in der ich gerne schlafe, wenn mir mein Körper sagt, dass es für Sarah fast an der Zeit ist heimzukommen, damit ich gleich an der Tür bin, wenn sie hereinkommt. Einmal war ich besonders aufgeregt, Sarah zu sehen, und ich sprang so schnell aus der Schüssel, dass sie zu Boden fiel und zerbrach. Das plötzliche Krachen jagte mich ins Schlafzimmer und unter das Bett, und dort blieb ich lange und mit zuckendem Fell. Aber Sarah war sehr geduldig und gefasst und klebte die Schüssel wieder zusammen. Man sah zwar danach noch, wo sie zerbrochen war, aber Sarah meinte, das sei okay, denn durch diese Linien würde Licht hineinkommen.
Laura und der Mann arbeiten stumm; nur einmal sagt sie zu ihm, die Heilsarmee würde später kommen und unsere Möbel und Küchengeräte und einen Teil von Sarahs Kleidung mitnehmen. Ich weiß nicht, was die Armee mit einem Bett will, das nach mir und Sarah riecht, wenn wir an kalten Nächten zusammen unter der Decke schlafen. Oder mit einer Couch, die so riecht wie damals, als ich versehentlich ein Glas Milch darauf verschüttete (schuld war das Glas; es gab vor, kürzer zu sein als es wirklich war) und erschrak, weil mich die Milch so plötzlich traf, und weil ich dachte, Sarah würde mich vielleicht anschreien, aber sie hob mich nur hoch, drückte ihre Wange an meine Stirn und sagte Arme Prudence! Dann umarmte sie mich fest und fuhr fort: Oh Prudence, ohne dich wäre das Leben so langweilig. (Das war so offensichtlich, sie hätte es gar nicht zu sagen brauchen.)
Ich verstehe nicht, was die Armee mit diesen Sachen machen könnte, aber im Moment geschieht vieles, das ich nicht verstehe. Sarah kannte einmal einen Mann, der seine Katze und alles andere verlor, was er hatte, alles an ein und demselben Tag. Danach, sagte Sarah, wollte er nicht mehr leben. Vielleicht ist Sarah gegangen, weil sie wusste, dass Laura mit diesem Mann herkommen und die beiden alle unsere schönen Sachen mitnehmen würden, und sie konnte es nicht aushalten, das zu sehen. Und jetzt kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, dass, wenn Sarah weggeht, zusammen mit all unseren Möbeln und allem anderen, das wir brauchen, dass dann womöglich auch ich gehen muss.
Ich krieche noch tiefer unter die Couch und wünsche mir, Sarah würde zurückkommen und mir das alles erklären. Sie hätte es mir sagen können, bevor sie ging, selbst wenn die Gründe für ihr Weggehen beängstigend oder verwirrend sein würden. Sie weiß, besser als jeder andere Mensch, wie viel ich verstehe.
Katzen verstehen immer. Deshalb sind wir so gute Mitbewohner.
Laura und der Mann mit den hellbraunen Haaren sind jeder auf einer Seite der Wohnung, was bedeutet, ich kann immer nur einen der beiden beobachten. Wenngleich ich mit meinen Schnurrhaaren auch in etwa auf die Person aufpassen kann, die jeweils hinter mir ist, kann ich nicht entscheiden, wem von beiden ich mit dem Blick folgen soll. Dann tritt Laura im Schlafzimmer zufällig auf das Bodenbrett, das wie ein menschlicher Schrei klingt, wenn jemand falsch darüberläuft. Dadurch werde ich sofort besonders auf sie aufmerksam. Die Schlafzimmertür ist genau gegenüber der rechten Armlehne der Couch, und wenn ich unter der Couch bis an deren Rand krieche, kann ich Laura sehen, wie sie arbeitet.
Sie und Sarah sehen nicht genau gleich aus, aber gleich genug, um sagen zu können, dass Laura aus einem Wurf von Sarah stammen muss. Sie haben die gleiche Haarfarbe und Haarlänge. Laura ist nicht ganz so groß wie Sarah, aber sie ist geschmeidiger, und wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellt, um an etwas auf einem hohen Regalbrett zu gelangen, kommt sie so hoch hinauf wie Sarah. Ihre Augen sind heller als die von Sarah und nicht so rund, und ihr Kinn ist breiter, und das Make-up, das sie gewöhnlich trägt, wenn sie zu uns kommt, betont diese Unterschiede noch. Heute trägt sie jedoch keines, das ist ungewöhnlich. Dafür ist die Haut unter ihren Augen dunkler als sonst, und so sehen sie fast so dunkelblau aus wie Sarahs Augen, und ihr Gesicht ist so bleich, dass es sogar heller ist als Sarahs. Aber sie und Sarah haben exakt dieselben Hände - überraschend groß für so schlanke Menschen, mit langen Fingern.
Jetzt zittern Lauras Hände ein wenig, aber sie bringt es trotzdem fertig, genau gefaltete und ordentliche Stapel zu machen. Sie ist so tüchtig dabei, Sarahs Kleidung aus unserem Schrank zu holen, wie ich, wenn ich etwas in meinem Katzenklo vergrabe. Aus Sarahs Kleidungsstücken fürs Büro macht Laura einen ordentlichen Stapel mit vier Ecken. Mit einem dicken schwarzen Stift schreibt sie Wörter auf einen der braunen Kartons und füllt ihn dann mit Sarahs Arbeits- und Alltagskleidung. Mit Sarahs anderen Kleidern, denen mit glänzenden Steinen und Fransen und den Federn, die ich für Vögel hielt, macht sie einen weniger ordentlichen Haufen und steckt diesen dann in einen Müllsack.
Sarah trägt die Vogelkleider nicht oft, aber ich weiß (zumindest glaubte ich, das zu wissen), dass sie ihr ebenso wichtig sind wie alles andere in unserem Apartment. Es ist wichtig, dass man seine Vergangenheit in Ordnung hält, sagt sie gerne.
An einem Abend vor drei Monaten telefonierte Sarah mit Anise und gebrauchte dabei häufig das Wort erinnern. Zum Beispiel sagte sie Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als ich kam, um euch im Monty Python's zu hören? Mann, war das ein Schuppen! Oder Erinnerst du dich an den Abend, an dem uns diese Verrückte mit einem Messer die Vierzehnte Straße hinunterjagte? Und wir mussten diesen Taxifahrer anbetteln, uns einsteigen zu lassen, obwohl wir kein Geld hatten?
Das hörte sich für mich nicht lustig an, aber Sarah lachte, bis sie keine Luft mehr bekam. Sonst habe ich sie nur dann noch so laut und so lange lachen gehört, wenn ich mich ungeschickt anstellte, und das ist äußerst selten. Wie damals, als ich durch ein geschlossenes Fenster rennen wollte (woher sollte ich wissen, dass man durch etwas hindurchsehen, aber nicht hindurchrennen kann?), oder als ich einmal nach einem Pappteller über mir auf dem Küchentisch angelte, um ein winziges Stückchen von dem Essen darauf zu probieren, und mir der ganze Teller mit allem Essen darauf auf den Kopf fiel. (Ich glaube immer noch, dass das Sarahs Fehler war; sie hätte niemals einen Teller mit Essen so am Rand des Tisches stehen lassen dürfen.)
Nachdem Sarah ihr Telefongespräch mit Anise beendet hatte, holte sie einige Schachteln und Tragetaschen aus dem großen Schrank im Wohnzimmer. Dann nahm sie ein paar schwarze Scheiben aus dem Regal, das Apartment füllte sich mit Musik, und wir beide schauten die Streichholzbriefchen durch. (Eigentlich sah Sarah sie durch, und ich kickte sie herum, denn wozu soll Spielzeug gut sein, wenn man nicht damit spielt?) Sie sagte immer wieder Dinge wie: Den Schuppen habe ich total vergessen! oder Das war der erste Club, in dem ich je aufl egen durfte, und sie haben mir nichts dafür bezahlt. Für weibliche DJs war es einfach ungleich schwerer. Sie zeigte mir Zeitungen und Illustrierte, die so alt waren, dass es sie heute gar nicht mehr gibt, voller geschriebener Wörter (die ich nicht lesen kann, aber Sarah hat mir einiges vorgelesen) über die Musik, die sie damals hörte, und die Orte, wo sie sie hörte. Dann ging Sarah ins Schlafzimmer und zog die Sachen an, die sie seit ihrer Jugend nicht mehr getragen hatte.
Sie war so glücklich, als sie sich in diesen Kleidern im Spiegel betrachtete! Doch nach einer Weile wurde ihr Gesicht etwas rot, und schließlich murmelte sie mit einem Kopfschütteln das Wort dumm vor sich hin. Dann zog sie wieder ihre normale Nachtwäsche an, brachte die schwarzen Scheiben zum Verstummen, räumte die Wohnung auf und ging schlafen.
Das Beste an all dem alten Zeug ist nicht, dass es Sarah hilft, die Vergangenheit zu ordnen. Das Beste ist, dass es riecht wie wir beide, hier zusammen in dieser Wohnung. Und nun verschwinden alle diese Kleider und alles andere aus unserem Schrank in diesen Müllsack und diese Kartons. Ich lasse mein Fell am Rücken zucken im Versuch, ruhig zu bleiben.
Wenn ich mit dem Sack und den Kartons mitkomme, werden die Sachen darin vielleicht noch immer nach mir riechen. Aber wenn Sarah nicht zurückkommt, dann wird ihr Geruch an ihnen langsam, aber sicher verschwinden. Und dann wird es irgendwann nichts mehr auf der Welt geben, das so riecht, wie wir beide zusammen.
Inzwischen sieht das Schlafzimmer schon leer aus und das Bett sowie an Waschtagen, wenn ich Sarah helfe, es frisch zu beziehen, indem ich von einer Ecke der Matratze zur nächsten renne, um sicherzustellen, dass das Bettzeug nicht irgendwo hinkommt, wo es nicht hin soll. Laura will einen der Kartons für die Heilsarmee ins Wohnzimmer tragen, doch der Knall einer zuschlagenden Tür im Apartment über uns erschreckt sie, und sie lässt ihn fallen. »Verdammt!«, murrt sie leise. Tränen treten ihr in die Augen; sie wischt sie ungeduldig mit dem Ärmel weg.
»Laura? Alles in Ordnung?«, ruft der Mann mit dem hellbraunen Haar aus der Küche.
»Ist schon gut, Josh«, antwortet sie. Ihre Stimme klingt zittrig, und sie atmet tief. »Ich hasse diese alten Mietshäuser«, fügt sie hinzu. »Man hört einfach alles.«
Jetzt wird mir klar, dass ich von diesem Mann schon gehört habe. Als uns Anise vor sieben Monaten das letzte Mal besuchte, erzählte Sarah ihr, Laura werde einen gewissen Josh heiraten. Anise schien überrascht zu sein, dass Laura überhaupt heiraten wollte, und Sarah meinte, sie sei zuerst auch überrascht gewesen, dass Josh aber ein »guter Mann« sei. Anise erwiderte, dass Laura einen solchen Mann heirate, das sei ein kleines Wunder, wenn man es recht bedenke. Dann begannen sie, über den Mann zu reden, mit dem Sarah einmal verheiratet gewesen war, und als ich merkte, dass niemand Prudence sagte, schlief ich schließlich ein.
Josh hat die Küche ausgeräumt; alles, was dort war, steckt jetzt in einem Karton oder einem Müllsack. Es sieht nicht mehr wie unsere Küche aus, und der einzige Anhaltspunkt, um sagen zu können, dass hier einmal ein Mensch und eine Katze lebten, ist die Tüte mit meinem Trockenfutter, die noch immer auf der Anrichte steht. Als Laura mit einer Sprühflasche und Papiertüchern kommt, um die Arbeitsflächen abzuwischen, sieht sie die Tüte an und schaut dann in der Wohnung umher, als würde sie mich suchen. Aber dann schiebt sie die Tüte einfach zur Seite und wischt weiter.
Ich habe Laura noch nie traurig gesehen, aber heute scheint sie genau das zu sein. Als sie ins Wohnzimmer geht, füllen sich ihre Augen wieder mit Wasser, doch sie blinzelt die Tränen rasch weg. Und auch wie sie spricht, kommt mir traurig vor. Normalerweise bildet sich Laura rasch eine Meinung und steht auch dazu, und man merkt, wenn sie und Sarah über etwas uneins sind, wie ungeduldig sie wird, wenn Sarah zögert und sagt: Na ja, vielleicht hast du ja recht ... ich weiß nicht ... Und obwohl ich immer auf Sarahs Seite bin, weil sie schließlich die wichtigste Person für mich ist, stimme ich insgeheim Laura zu, dass sich Sarah ja nur entscheiden muss. Das ist zum Teil der Grund dafür, dass Sarah und ich so gut miteinander auskommen, weil ich feste Meinungen habe, selbst wenn sie keine hat. Sie fragt zum Beispiel immer, was ich über ihre Kleidung denke, bevor sie ausgeht. Wenn es mir gefällt, starre ich sie mit großen Augen an und lege meine ganze Weisheit und meine Anerkennung in diesen Blick. Und wenn nicht, dann schließe ich die Augen leicht und drehe den Kopf zur Seite, so als wäre ich schläfrig, aber Sarah weiß, was das bedeutet. Und dann sagt sie: Du hast recht, dieser Rock braucht eine andere Jacke, und zieht etwas anderes an, bevor sie losgeht.
Aber als Laura zu Josh sagt, sie sollten jetzt wohl mal mit den großen Schränken im Wohnzimmer anfangen, klingt sie fast verwirrt. Anstatt zu sagen: Wir sollten jetzt mit den großen Schränken im Wohnzimmer anfangen, fragt sie: Meinst du, wir sollten jetzt mit den großen Schränken im Wohnzimmer anfangen? Schon zu fragen Meinst du anstatt einfach zu sagen Wir sollten zeigt, dass Laura heute unsicherer ist als normalerweise. Ich weiß nicht recht, was an diesem Zimmer sie so verwirrt. Mir kommt alles hier ganz normal vor. Es ist vielleicht etwas staubiger als sonst und riecht auch so, nachdem Sarah fast eine Woche lang nicht hier war und geputzt hat. Mein Katzenklo stinkt aus dem Bad heraus, und das ist peinlich, vor allem, wenn ein Fremder hier ist, der nicht weiß, wie reinlich ich normalerweise bin.
Aber ich glaube nicht, dass es Staub oder das Katzenklo ist, was Laura zögern lässt. Dann kommt mir der Gedanke: Laura geht es wie mir! Sie hat ebenso wenig wie ich erwartet, dass Sarah weggeht, und nun ist sie durcheinander und traurig, weil sie entscheiden muss, was mit Sarahs und meinen Sachen geschehen soll. Ich habe darauf gewartet, dass sie etwas dazu sagt, wohin Sarah gegangen ist und weshalb, aber Sarah hat sie genau wie mich einfach im Stich gelassen.
Dass nicht einmal Laura von Sarahs Weggehen wusste, gibt mir zum ersten Mal das Gefühl, dass ich Sarah vielleicht nie mehr wiedersehe. Es ist ein Gefühl, als käme mein Mageninhalt gleich zum Hals heraus. Es ist schlimmer, als wenn mich die Menschen auf der Straße anschrien, und schlimmer als an dem Tag, an dem ich im Gewitterregen meine Wurfgeschwister verlor.
Ich will jetzt unbedingt unter der Couch hervorkommen, um Laura zu sagen, vielleicht kommt Sarah doch noch zurück, wenn wir nur nicht alle ihre Sachen wegbringen, die für sie vertraut riechen und sie dies als ihr Zuhause erkennen lassen. Aber Laura hat mich nicht gelockt, wie Sarah es tun würde, und auch nicht versucht, mich dem fremden Mann vorzustellen, wie es sich eigentlich gehört. Zu vieles ist heute bereits ungewöhnlich, und bei dem Gedanken, dass ich irgendwie falsch unter der Couch hervorkomme und ohne dass jemand sagt Prudence, komm her, ich stelle dir So-und-so vor, wie es Sarah immer macht, zieht es mir den Magen noch heftiger zusammen.
Es ist Josh, der als Erster vor den großen Schrank tritt und oben mit dem Ausräumen beginnt. Die Streichholzbriefchen aus den Schuhschachteln ergießen sich über ihn. Ich erwarte, dass er wütend wird wie die meisten Menschen, wenn all das Spielzeug auf ihren Kopf fällt, aber er sagt nur »Oh!« und reibt ihn sich übertrieben, als hätten die Briefchen ihm wehgetan. So wie er zu Laura hinüberschaut, denke ich, dass er hofft, sie wird lachen, weil die Menschen ja denken, dass es lustig ist, wenn Dinge auf andere Menschen fallen.
Laura lächelt, das ist alles.
»Schau dir die alle an«, sagt er und kauert nieder, um eine Handvoll Streichholzbriefchen aufzuklauben. »Paradise Garage, Le Jardin, 8BC, Max's Kansas City.« Er wirft sie wieder in die Schachtel. »Die Autoren, mit denen ich arbeite, würden dafür morden, wenn sie auch nur fünf Minuten in Max's Kansas City hätten verbringen können.«
Laura hat endlich mit dem anderen Schrank angefangen, dem kleineren bei der Wohnungstür. Sie durchforstet Schachteln mit Papieren und legt einige in Ordner, die in einem großen braunen Karton verschwinden. Die anderen wandern direkt in einen Müllsack. »Wirf all das in einen Abfallsack«, sagt sie zu Josh. »Das wird die Heilsarmee nicht wollen.«
Vielleicht will die Armee sie nicht, aber ich! Wie kommt Laura dazu, mich nicht einmal zu fragen, was ich mit meinen (na ja, Sarahs und meinen) Sachen machen will?
Josh hält inne, als Laura dies sagt - seine Hand greift gerade nach oben, um Sachen vom obersten Brett zu nehmen. Dann setzt er diese Bewegung langsamer fort, so als wolle er darauf achten, kein Kleintier zu erschrecken. »Du willst doch das nicht alles wegschmeißen. Deine Mom hätte all dieses Zeug doch nicht aufgehoben, wenn es ihr nicht etwas bedeutet hätte. Eines Tages, wenn du so weit bist, willst du das bestimmt alles mal durchsehen.«
Laura klingt aufgebracht, so wie immer, wenn Sarah etwas einzuwenden hat gegen eine Sache, die für Laura absolut logisch ist. »Wo sollten wir denn das alles unterbringen?«
»Wir haben doch das zweite Schlafzimmer«, erwidert Josh in einem noch ruhigeren Ton als zuvor. »Da könnten wir alles reintun, zumindest vorübergehend.«
Lauras Gesicht verändert sich gerade so viel, dass ich weiß, dieser Gedanke gefällt ihr nicht. Käme er von Sarah, würde sie weiter argumentieren, bis sie sich durchgesetzt hat. Doch nun murmelt sie lediglich »Na gut« und sieht weiter Papiere durch. Josh verstaut die Streichholzbriefchen wieder in den Schuhschachteln und stellt sie dann in einen der großen braunen Kartons. Beide sind wieder still, bis Josh mit einer bauchigen Papiertasche kämpft, die ganz hinten in dem großen Schrank steht. Als er sie herausgeholt hat, schaut er hinein und macht dann erstaunt »Oh, wow!« Er zieht einige von Sarahs alten Zeitungen und Magazinen heraus. »Mixmaster, New York Rocker, East Village Eye«, sagt er und verdreht die Augen, als erinnere er sich an etwas. »Meine Schwester ging immer mit ihren Freunden in die Stadt und hat die dann für mich mitgebracht. Ich habe es meiner Mutter noch immer nicht verziehen, dass sie sie eines Tages als ›Schund‹ bezeichnete und alle wegwarf.«
Laura schichtet Sarahs Mäntel und Jacken aufeinander, die mehr nach Sarah riechen als alles andere. Warum muss sie alle Sachen von ihr wegschaffen? Sarah sagte einmal zu mir, wenn man sich an jemanden erinnert, dann ist er oder sie immer bei einem. Aber was ist, wenn auch das Gegenteil wahr ist? Was ist, wenn du alles, was dich an jemanden erinnert, weggibst - bedeutet das, dass er oder sie dann nie mehr zu dir zurückkommt? Ich spüre, wie sich die Muskeln um mein Gesicht herum anspannen und meine Barthaare sich wieder nach hinten biegen.
Laura weiß das natürlich nicht. Sie wendet sich Josh zu, der am Boden sitzt, und als sie die Tasche sieht, die er durchwühlt, geht sie zu ihm. Sie hebt die Tasche auf und betrachtet die Schrift darauf. »Die Liebe rettet den Tag«, sagt sie laut.
»Hm?«, fragt Josh. Er sieht noch immer die alten Zeitungen durch.
»Love Saves the Day«, wiederholt sie. »Da kommt diese Tasche her. Das war dieser Vintage-Shop an der Ecke Siebte Straße und Zweite Avenue.« Jetzt gleitet Lauras Blick nach oben und links. Ihre Stimme klingt weicher, so wie die Sarahs, wenn sie mir etwas Nettes erzählt, das sie vor langer Zeit erlebt hat. »Meine Mutter und ich sind da manchmal hingegangen, als ich noch klein war. Wir haben Stunden damit zugebracht, witzige Outfits anzuprobieren, und dann sind wir die Zweite hinauf zu Gem Spa gegangen und haben dort Egg Cream getrunken. «
Josh grinst zu ihr hoch. »Hast du Bilder?« Ich kann mir denken, dass er sich Laura vorstellt, nur viel kleiner als sie jetzt ist, in Klamotten wie Sarahs Vogelkleidern. Er sieht sich im Zimmer um. »Ich hoffe ja immer noch, deine Babybilder zu finden, aber ich sehe sie nirgends.«
Lauras Pupillen werden etwas größer, und ihr Gesicht bekommt Farbe, was mir sagt, dass das, was sie nun sagt, zumindest teilweise unwahr sein wird. »Die haben wir bei einem Umzug verloren.«
»Ach so.« Josh klingt enttäuscht und nicht überzeugt. Aber er sagt lediglich: »Wie schade.« Dann schaut er zu dem Tisch neben der Couch, wo Sarah und ich eine Lampe und ein paar gerahmte Bilder aufgestellt haben; ich habe gelernt, zwischen ihnen hindurchzumanövrieren, ohne sie umzustoßen. »Na«, sagt Josh, »wenigstens ist da eins von deiner Mom und ihrer Katze.« Er sieht sich im Zimmer um. »Hey, wo ist die Katze?«
Lauras Kopf bewegt sich nicht. »Versteckt sich unter der Couch.«
Ich »verstecke« mich nicht! Ich warte! Natürlich kann ich nicht davon ausgehen, dass ein Mensch einen derart subtilen Unterschied begreift. Aber näher wird Laura meinem Ersuchen für eine angemessene Vorstellung wahrscheinlich nicht kommen. Also, zum Teil, um ihr eine Chance zu geben, alles richtig zu machen, und zum Teil, um diesen Menschen absolut klarzumachen, dass ich mich nicht »versteckt« habe, krieche ich nun unter der Couch hervor und kündige mich mit einem kurzen Miauen an. Dann beginne ich ein ausführliches Streck-und- Pflege-Ritual, als wolle ich sagen, Oh, es ist jemand hier? Ich habe es noch gar nicht bemerkt, so fest habe ich geschlafen. Aber ich habe mich sicher nicht versteckt, falls ihr das dachtet.
Es ist leicht, die beiden zum Narren zu halten, denn Menschen fällt es wesentlich schwerer, Unwahrheiten herauszufinden als Katzen.
»Ja hey, Prudence«, sagt Josh und dreht sich zu mir um. »Du siehst ja wie ein süßes Mädchen aus. Du bist doch ein süßes Mädchen, nicht wahr?«
Sein herablassender Ton ist unerträglich. Ich fixiere ihn mit einem eisigen Blick und peitsche mit dem Schwanz, um ihn an seine Manieren zu erinnern, und dann fahre ich fort, mit der linken Vorderpfote mein Gesicht zu reinigen. Josh streckt langsam eine Hand nach meinem Kopf aus, aber ich gebiete ihm mit einem warnenden Fauchen Einhalt. Mit jemandem zu sprechen, dem man nicht geziemend vorgestellt wurde, ist unhöflich, doch jemanden zu berühren, dem man nicht geziemend vorgestellt wurde, ist noch viel schlimmer. Laura lacht zum ersten Mal, seit sie hier ist, und sagt: »Nimm's nicht persönlich. Prudence ist keine ›Leutekatze‹.«
Die beiden beobachten mich, wie ich beginne, mich hinter meinem Ohr zu putzen. Warum schauen sie mir so interessiert beim Putzen zu? Dann sagt Josh: »Ich freue mich, wenn wir sie bei uns aufnehmen, Laura, aber wenn du ein anderes Zuhause für sie fi nden möchtest, würde ich das verstehen. Jeder würde das verstehen.«
Laura schweigt einen Moment und sieht mir in die Augen. Ich setze ganz bewusst eine ausdruckslose Miene auf, denn ich will ihr nicht zeigen, wie nervös es mich macht, an all die unerträglichen Veränderungen zu denken, die mit einem Leben mit Fremden an einem neuen Ort einhergehen würden. »Es war meiner Mutter wichtig, dass Prudence zu uns kommt«, sagt Laura schließlich. »Sie hat sich diesbezüglich in ihrem Testament sehr präzise ausgedrückt.«
Ich denke an den Tag, an dem ich Laura kennenlernte. Ich war noch klein und hatte erst vier Wochen und drei Tage mit Sarah zusammengelebt. Mit der Stimme, mit der sie nur zu mir spricht, sagte Sarah: »Prudence, das ist meine Tochter, Laura.« Laura versteifte sich, als ich mich ihr so näherte, wie ich wusste, dass es von mir erwartet wurde, wenn Sarah in diesem Tonfall mit mir redete. Sie beugte sich nicht herunter, um näher an mich heranzukommen, sie bewegte sich überhaupt nicht, aber ihr Blick folgte mir. »Ich bin sicher, es würde ihr gefallen, wenn du sie streichelst«, sagte Sarah. Auch wenn ich nicht gerne von Menschen berührt werde, die ich nicht gut kenne, roch Laura doch genügend wie Sarah, sodass ich dachte, ich hätte sie, als ich Sarah adoptierte, vielleicht auch angenommen. Ich rieb mich an ihren Knöcheln und schnurrte sogar für sie. Nicht so stark, wie ich für Sarah schnurre, aber genug, um Laura wissen zu lassen, dass ich sie akzeptierte.
Sie lächelten sich zu, als sie mich schnurren hörten, aber damals wusste ich noch nicht, wie ungewöhnlich es war, dass die beiden einander so glücklich zulächelten wie in diesem Augenblick. Dann sagte Sarah: »Tiere haben dich immer gemocht. Ich weiß noch gut, wie verrückt die Katze der Mandelbaums nach dir war.«
Und in diesem Augenblick veränderte sich schlagartig Lauras Gesicht. Einmal, als ich noch sehr klein war, trat Sarah aus Versehen auf meinen Schwanz. Der Schmerz fuhr mir durch den ganzen Rücken. Und dieser plötzliche, heftige Schmerz machte mich zornig, so zornig, dass ich fauchte und mit den Krallen nach Sarah schlug. So sah Lauras Gesicht in diesem Moment aus. Zuerst war da ein schneller und schrecklicher Schmerz, und dann war da, ebenso schnell und schrecklich, Zorn auf Sarah, weil sie schuld daran war. Laura hörte auf zu lächeln, und ihre Schultern wurden steifer.
»Honey«, sagte sie zu Sarah. »Die Katze der Mandelbaums hieß Honey.« Und dann sagte sie mit einer Stimme, die sie benutzte wie ich meine Krallen: »Ich weiß gar nicht, warum du eine Katze haben willst, Mom. Ich dachte eigentlich nicht, dass du dir viel aus Katzen machst.«
Damals sah Sarahs Gesicht traurig aus, obschon sie nicht versuchte, sich zu verteidigen. Sie wusste, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, auch wenn ich wusste, dass sie das nicht gewollt hatte.
Ich will nicht mit Laura zusammenleben. Ich will nirgendwo mit niemandem leben außer hier mit Sarah. Aber wenn Sarah nicht mehr dafür bezahlt, dass wir hier wohnen können, bedeutet das, ich kann hier auch nicht mehr leben. Offenbar wusste Sarah, dass sie wegging, und wollte, dass ich zu Laura ziehe. Vielleicht plant sie ja zurückzukommen und will sichergehen, mich wiederzufi nden. Das muss es sein!
Die Erleichterung, die ich bei diesem Gedanken spüre, ist wunderbar - so wunderbar, dass ich mich anstrengen muss, um nicht in einen tiefen, wohligen Schlaf zu fallen, sobald die Spannung meinen Körper verlässt. Doch so wie mich Laura ansieht, weiß ich, dass sie immer noch über Joshs Worte nachdenkt - dass er es verstehen würde, wenn sie mich weggeben wollte. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ihr Gesicht für einen Moment aussah, als sie mich an jenem ersten Tag schnurren hörte, und ich denke, dass sie Katzen mehr mögen muss, als sie im Augenblick eingestehen will. (Was gibt es am Leben mit einer Katze nicht zu mögen?)
Also ignoriere ich Josh mit seinen schlechten Manieren, gehe zu Laura und tätschle ihr Bein mit meiner Pfote, die Krallen eingezogen, so wie ich es tue, wenn ich Sarah auf mich aufmerksam machen will. Dann reibe ich meinen Kopf an ihren Knöcheln, um sie mit meinem Duft zu markieren und ihr klarzumachen, dass sie keine Wahl hat, als mich mitzunehmen.
Laura bückt sich nicht, um mich zu streicheln, aber sie seufzt etwas resigniert. Die Spannung in meinem Bauch lässt weiter nach, und ich reibe meinen Kopf noch fester an ihren Beinen.
Vielleicht hat Josh nie eine Katze gehabt, die ihm Manieren beigebracht hätte, aber schon die ersten Minuten mit mir haben ihn ein wenig klüger gemacht. Er sagt nichts, aber als er Lauras Seufzer hört, weiß er so gut wie ich, dass die Sache geregelt ist.
Die Sonne sinkt tiefer, und das Apartment ist fast leer. Die Schränke sind ausgeräumt und die Teppiche aufgerollt, sodass die Heilsarmee sie mitnehmen kann, wenn sie wegen der Möbel kommt. Die Poster an der Wand, die ich gern angeschubst habe, sind aus ihren Glasrahmen genommen und zusammengerollt worden, damit sie in die Kartons mit all den Sachen passen, die wir mitnehmen. Es riecht und sieht so anders aus, dass es mir schon jetzt schwerfällt, mich an das Leben zu erinnern, das Sarah und ich hier zusammen hatten. Mein Plastik- Tragekorb steht an der Tür, und obwohl ich es normalerweise hasse, mich in ihn zu setzen (denn Sarah setzt mich nur dann hinein, wenn sie mich zum Bösen Ort trägt), krieche ich nun freiwillig hinein. Ich weiß, dass ich heute nicht zum Bösen Ort gehe. Außerdem ist er fast das Einzige, das hier noch so riecht wie Sarah und ich zusammen.
Als Laura und Josh die Teppiche aufrollten, fanden sie die alten Quietsch-Spielzeuge, die Sarah für mich besorgte, als ich hier neu eingezogen war. Sie sagte immer, wie leid es ihr tue, mich alleine lassen zu müssen, wenn sie zur Arbeit ging, und sie wollte unbedingt, dass ich etwas zum Spielen hatte, das auch Geräusche für mich machte, wenn ich allein war. Sie hat nie verstanden, dass ich gerne meine Ruhe habe und es liebe, manchmal ganz für mich zu sein. Vielleicht war das so, weil Sarah eigentlich nie gerne allein war.
Diese Spielzeuge waren nicht so interessant für mich wie die Streichholzbriefchen oder die Zeitungen, die Sarah zusammenknüllte (es macht keinen Spaß, mit Dingen zu spielen, mit denen man spielen soll; es ist viel toller, mit Sachen zu spielen, die man einfach fi ndet), und ich habe sie schon vor langer Zeit aus den Augen verloren. Aber ich weiß noch, wie ich mich freute, als Sarah sie damals nach Hause brachte. So wusste ich, trotzdem sie sich nie korrekt an Fütterungszeiten oder Ähnliches gehalten hat, dass sie selbst dann an mich dachte, wenn sie nicht hier war und mich sah. So wie ich auch an sie dachte, wenn sie weg war. Das bedeutete, dass ich an jenem Tag, als ich sie adoptierte, das Richtige getan habe.
Ich bin immer noch böse auf Sarah, weil sie mich verlassen hat, ohne sich zu verabschieden. Aber in erster Linie hoffe ich, dass ich sie eines Tages wiedersehe. Sie ist der einzige Mensch, den ich je geliebt habe.
Die einzigen noch nicht verpackten Sachen in der ganzen Wohnung sind Sarahs Sammlung schwarzer Scheiben und der spezielle Tisch, auf dem sie sie spielt. Josh wäscht sich die Hände, bevor er sie berührt, und so wie er mit ihnen umgeht, merke ich, dass er sich schon die ganze Zeit, seit er hier ist, wünscht, die schwarzen Scheiben durchzusehen. Ich mag das nicht, denn es sind Sarahs schwarze Scheiben, und nicht einmal ich darf sie berühren. Aber Sarah wohnt hier nicht mehr. Sie muss ihre Gründe gehabt haben, sie zurückzulassen, und das kann nur bedeuten, dass sie auch da, wo immer sie jetzt wohnt, noch Musik hören kann.
»Ich kann's nicht fassen, wie viele das sind«, sagt Josh zu Laura. »Ich glaube, so eine gigantische Sammlung Vinyl habe ich noch nie gesehen.«
»Mir ist auch nie aufgefallen, wie groß sie ist«, stimmt Laura zu. »Sie hat nach dem Verkauf des Plattenladens wohl mehr behalten, als ich mitgekriegt habe.«
»Es ist so eine große Bandbreite.« So wie Josh klingt, frage ich mich, ob vielleicht nicht alle Menschen eine Wand aus schwarzen Scheiben haben wie Sarah. Hinter den Metallstäben meines Tragekorbs sitzend sehe ich ihn zerteilt, so wie ich die Welt sah, wenn ich mich unter unser großes Fenster legte und durch die Stäbe der Feuerleiter nach oben sah. Er setzt sich im Schneidersitz vor die Schallplatten. »Schau dir das alles an!«
»Meine Mutter stand hauptsächlich auf Musik zum Tanzen«, sagt Laura. »Aber ihre Mitbewohnerin war in einer Punkband, und die beiden haben oft Platten getauscht.«
Josh grinst. »Ich schätze, das erklärt, warum sie Go Girl Crazy! von den Dictators neben Disco Tex and the Sex-O-Lettes stehen hat.«
»Packen wir sie ein. Durchsehen können wir sie später zu Hause«, meint Laura. Als er zögert, zieht sie die Mundwinkel nach oben und sagt: »Großes Ehrenwort.«
Josh nickt. Dann macht er »Oh!«, steht auf, geht zu einem offenen braunen Karton und nimmt etwas heraus. »Ich habe das nicht eingewickelt, weil ich dachte, das magst du vielleicht für die Wohnung.«
Laura geht zu ihm und sieht sich an, was er in der Hand hält. Es sieht aus wie eines der gerahmten Fotos, die auf dem Tisch neben der Couch standen.
»Wie alt war sie da?«, fragt er. »Sie sieht so jung aus.«
Laura nimmt ihm das Bild aus der Hand. »Sie war neunzehn. Das war kurz bevor sie mich bekam.«
»Sie war schön.« Josh sieht Laura an und lächelt. »Wie du.«
»Nein«, entgegnet Laura. »Ich werde nie so schön sein wie es meine Mutter war.«
Zuerst denke ich, sie übt sich in dem, was die Menschen Bescheidenheit nennen - wenn sie vorgeben, etwas nicht so gut zu können, wie es in Wirklichkeit der Fall ist. (Eine Katze würde so etwas nie tun.) Aber in ihrem Blick ist zu viel Traurigkeit, als sie hinzufügt: »Als ich klein war, dachte ich immer, was für ein Glück für mich, dass ich die hübscheste Mami habe.«
»So werden unsere Kinder einmal über dich denken.« Als Laura nichts erwidert, legt Josh ihr einen Arm um die Schultern und sagt in einem sanfteren Ton: »Das werden sie, Laura. Ich verspreche es dir.«
Damit hat er ihr anscheinend etwas richtig Nettes gesagt. Mir fällt es allerdings schwer, menschliche Schönheit zu beurteilen (alles, was seines Fells beraubt und gezwungen ist, auf den Hinterläufen zu gehen, sieht für mich nackt und peinlich aus). Es scheint keinen Grund dafür zu geben, dass sich Lauras Augen wegen Joshs Worten erneut mit Wasser füllen. Aber sie tun es.
Ich glaube, Josh möchte Laura nicht stören, damit ihre Tränen weggehen, auch wenn sie schwer schluckt und ein paar Mal blinzelt, bevor sie fallen können. Er geht wieder zu den schwarzen Scheiben hinüber, nimmt eine heraus und legt sie auf Sarahs speziellen Tisch. Einmal mehr wird das Apartment von Musik erfüllt. Das erinnert mich so sehr an das, was auch Sarah tun würde, dass ich zum ersten Mal denke, vielleicht könnte ich Josh mögen. Er singt sogar mit, so wie es Sarah manchmal gemacht hat.
Liebe ist die Botschaft, Liebe, Liebe ist, Liebe ist die ...
Die meisten der großen braunen Kartons bleiben in der Wohnung, um von der Armee abgeholt zu werden. Die restlichen tragen Laura und Josh hinunter zu dem großen metallenen Kasten auf Rädern, der am Auto hängt. Laura bringt die Abfalltüten in den Müllraum. Dabei lässt sie die Vordertür auf, und durch die offene Tür höre ich, wie ihre Schritte auf dem Weg vom Müllraum zurück innehalten. Dann höre ich, wie sie zurückgeht und eine der Abfalltüten wieder herausholt. Ihre Schritte entfernen sich, als würde sie die Tüte nach draußen bringen, und ich vermute, sie legt sie zu den Kartons, die wir mitnehmen.
Ich bleibe die ganze Zeit in meinem Tragekorb. Das muss ich. Laura hat ihn nämlich abgesperrt, was absolut ungehörig ist, denn bin ich etwa nicht völlig freiwillig hineingegangen? Gibt es irgendeinen Grund, mich wie einen dummen Hund zu behandeln, der versucht, aus seinem Zwinger auszureißen? Ich glaube, Menschen haben keine Ahnung, wie sehr sie die Würde von Katzen manchmal verletzen. Aber mir bleibt nicht lange Zeit, mich darüber zu ärgern, denn Laura kommt rasch ins Haus zurück und nimmt meinen Tragekorb hoch. Durch die Gitterstäbe erhasche ich einen letzten Blick auf das Apartment und frage mich, ob ich hier jemals wieder wohnen werde.
Laura nimmt mich mit hinaus, und ich muss auf halbem Wege die Augen schließen, so hell ist das Sonnenlicht, das durch die Gitterstäbe fällt. Sie steigt in den Wagen und stellt meinen Korb auf ihren Schoß, und Josh steigt auf der anderen Seite ein, damit er hinter dem großen runden Ding Platz nehmen kann, welches macht, dass das Auto fährt.
Ich war noch nie zuvor in einem Auto. Es ist gar nicht so übel, sobald ich mich daran gewöhnt habe, dass mich etwas anderes als meine Beine vorwärtsbewegt. Es macht mich sogar ein wenig schläfrig; ich muss mich bemühen, die Augen offen zu halten, denn ich will nichts versäumen. Ich hatte keine Ahnung, was ich bisher alles noch nicht gesehen habe, und beobachte alles, was sich am Fenster des Autos vorbeibewegt.
Je länger wir fahren, desto breiter werden die Straßen, bis ich mir sicher bin, dass wir jetzt nicht mehr in der Lower East Side sind. Einige der Straßen sind so breit, dass ich es gar nicht glauben kann. Und die Gebäude! Ich kann nicht einmal von allen die Dächer sehen, obwohl ich meinen Kopf so weit nach oben strecke, wie es der Tragekorb zulässt. In der Lower East Side habe ich nie so hohe Gebäude gesehen. In einigen ihrer Fenster sehe ich andere Katzen, die im Licht der späten Nachmittagssonne liegen oder gegen Vorhänge schlagen, die ihnen die Sicht rauben. Ich frage mich, ob sie auf immer in ihren Wohnungen leben, oder ob sie vielleicht auch eines Tages umziehen müssen wie ich, weil ihre Menschen nicht mehr nach Hause kommen. Ich wünschte, ich könnte sie fragen. Vielleicht wüsste eine von ihnen, was man tun muss, damit ein Mensch, der einen verlassen hat, wiederkommt.
Josh erklärt Laura, er werde den West Side Highway nehmen. Wir fahren an einem breiten Fluss entlang, in dem mehr Wasser ist, als ich mir je im wirklichen Leben zu sehen vorgestellt hatte. Auf dem Wasser sind Schiffe, und Menschen in anderen, seltsamen kleinen Maschinen, mit denen sie sich auf dem Wasser bewegen können, als ob sie darauf laufen würden. (Mir haben die Menschen schon immer leidgetan, weil sie ganz ins Wasser gehen müssen, um sauber zu werden, aber hier sind diese Menschen, die das aus gar keinem vernünftigen Grund tun!) Die Gehsteige entlang des Flusses wimmeln nur so von Menschen mit Essen, Einkaufstüten oder kleineren Menschen, die sie an der Hand führen. Einer von ihnen wirft einer enorm großen Schar Tauben Brotreste zu und - oh! Wie schön wäre es, mitten in diese Menge hineinzuspringen und diesen dummen Vögeln zu zeigen, wer hier der Boss ist!
Laura öffnet das Fenster auf unserer Seite, und alle möglichen Gerüche schlagen mir entgegen. Diese gemischten Aromen erinnern mich an die Zeit vor Sarah, als ich mit meinen Wurfgeschwistern draußen lebte. Ich rieche andere Autos, und Vögel, und Menschen, die in ihren Kleidern schwitzen, und da ist der Geruch von neuem, frischem Schmutz. Es ist die Zeit des Jahres, wenn die Kälte vergeht, und so rieche ich auch Blumen, und andere Dinge, die ich nicht benennen kann, weil ich zu sehr überwältigt bin. Ich wünschte ich könnte da, wo wir sind, lange genug bleiben, um alles, was ich rieche, einzeln zu erkennen und ihm seinen richtigen Namen zu geben.
Und wenn ich hier bleiben könnte - genau hier, an diesem Fleck -, dann müsste ich nicht in die Wohnung von Laura und Josh ziehen. Ich müsste niemals das Leben beginnen, das mich jetzt erwartet und das zumindest für den Moment ein Leben ohne Sarah bedeutet.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es gibt zwei Arten, wie die Menschen nicht die Wahrheit sagen. Die erste zu begreifen fiel mir anfangs schwer, weil sie mit keinen der Anzeichen einhergeht, die verraten, wenn sie nicht die Wahrheit sagen. Wie zum Beispiel damals, als Sarah meine weißen Pfoten »Socken« nannte. Schau, was du für wunderschöne kleine Socken hast, sagte sie. Socken tragen die Menschen an ihren Füßen, damit sie mehr wie Katzenpfoten aussehen. Aber meine Pfoten sind schon gepolstert und weich, und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Katze, die auf sich hält, etwas so Dämliches wie Socken lange ertragen würde.
Deshalb dachte ich zuerst, Sarah würde versuchen, mich hinters Licht zu führen, indem sie etwas sagte, das nicht der Wahrheit entsprach. Wie damals, als sie mich an den Bösen Ort brachte und sagte Keine Bange, sie machen dich hier nur gesund und stark. An ihrer gepressten Stimme, als sie mich in meinen Tragekorb setzte, erkannte ich, dass eine Art von Verrat im Gange war. Und ich sollte recht behalten. Sie stachen mich dort mit spitzen Dingen und zwangen mich, stillzuhalten, während sich menschliche Finger überall in meinen Körper bohrten, sogar in meine Schnauze.
Als es endlich vorbei war, setzte mich die Frau im weißen Kittel wieder in meinen Tragekorb und sagte zu Sarah: Was für hübsche weiße Socken Prudence hat! Dabei lächelte sie, und daher wusste ich, dass sie Sarah nicht hinters Licht führen wollte, sowie die es bei mir versucht hatte, als sie mich dorthin brachte. Ich dachte, vielleicht sollte ich mir die Pfoten lecken oder etwas tun, um ihnen zu zeigen, dass dies meine echten Füße waren und nicht die falschen Füße, die sich die Menschen anziehen, bevor sie nach draußen gehen. Ich dachte, vielleicht sind Menschen nicht so schlau wie Katzen und verstehen solch subtile Unterschiede nicht, wenn man sie nicht darauf hinweist.
Damals war ich noch sehr jung, ein ganz kleines Kätzchen - als mein Zusammenleben mit Sarah begann. Inzwischen weiß ich, dass die Menschen am besten begreifen, ob etwas richtig ist, wenn sie es indirekt herausfinden. Etwa, dass man eine Maus, die direkt vor einem sitzt, manchmal am besten fängt, indem man vor dem Sprung ein wenig zurückweicht.
Und als ich später zu Hause mein Bild in Sarahs Spiegel betrachtete (sobald ich erkannt hatte, dass es mein Spiegelbild war und nicht eine andere Katze, die versuchte, mir mein Zuhause zu stehlen), sah ich, dass der untere Teil meiner Beine wirklich ein bisschen wie die Socken aussah, die Sarah manchmal trägt.
Aber trotzdem - zu sagen, dass es Socken sind anstatt, dass sie wie welche aussehen, das ist eindeutig nicht richtig.
Die zweite Art der Menschen, nicht die Wahrheit zu sagen, ist, wenn sie versuchen, sich gegenseitig hinters Licht zu führen. Zum Beispiel, wenn Laura zu Besuch kommt und sagt Tut mir leid, dass ich so lange nicht gekommen bin, Mom, ich wollte dich wirklich eher besuchen ... und dabei zeigen ihr Rotwerden und ihre sich zusammenziehenden Schultern klar, dass sie in Wirklichkeit am liebsten niemals kommen würde. Und Sarah sagt dann Na klar, ich verstehe schon, aber dabei verraten ihre höher werdende Stimme und ihre sich nach oben ziehenden Augenbrauen, dass sie überhaupt nicht versteht.
Oft habe ich mich gefragt, wo Lauras Wurfgeschwister sind und wieso sie uns nie besuchten. Aber ich glaube, Laura hat gar keine Wurfgeschwister. Vielleicht haben Menschen kleinere Würfe als Katzen, oder vielleicht ist den anderen etwas zugestoßen. Ich hatte schließlich auch einmal Wurfgeschwister.
Aber das ist lange her. Das war, bevor ich Sarah fand.
* * *
Der Böse Ort ist nur ein Stück zu Fuß von der Lower East Side entfernt, wo wir wohnen. (Genau genommen ging Sarah dorthin, weil ich ja in meinem Tragekorb war. Dennoch hat sie nicht lange gebraucht, auch wenn Katzen schneller laufen können als Menschen. Das ist eine Tatsache.) Die Frau dort erklärte Sarah, ich sei eine polydaktyle, braun getigerte Katze. Sarah fragte, ob das bedeute, dass ich eine Art fliegender Dinosaurier sei? Die Frau meinte lachend, nein, es würde lediglich bedeuten, dass ich überzählige Zehen hätte. Ich bin mir allerdings nicht sicher, welche meiner Zehen »überzählig« sein sollen, denn ich glaube, ich brauche sie alle. Und es stimmt nicht wirklich, zu sagen, ich bin braun, denn teilweise bin ich weiß - meine Brust und mein Kinn und die Enden meiner Beine. Außerdem habe ich grüne Augen. Und sogar da, wo ich braun bin, habe ich noch dunklere, fast schwarze Streifen. Aber ich weiß, dass die Menschen nicht so präzise sind wie Katzen. Kaum zu glauben, dass sie sich sicher genug fühlen, um nachts schlafen zu können.
Die Frau, die mich stach, erklärte Sarah auch, dass ich zu dünn sei. Das war zu erwarten gewesen, weil ich zuvor auf mich allein gestellt auf der Straße gelebt hatte. Sie meinte, ich würde wahrscheinlich rasch zunehmen. Seitdem bin ich viel schwerer und größer geworden, aber ich bin immer noch ziemlich dünn. Sarah meint, ich hätte Glück, so zu bleiben, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Aber die Wahrheit ist, dass ich schlank bin, weil ich nie alles fresse, was Sarah mir gibt. Das ist so, weil sie mich zwar täglich füttert, aber nie zur exakt gleichen Zeit. Manchmal füttert sie mich gleich als Erstes am Morgen, manchmal, wenn es fast schon Mittag ist. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass ich mein Fressen erst nach Einbruch der Dunkelheit bekam. Deshalb lasse ich immer ein wenig übrig für den Fall, dass Sarah das Füttern eines Tages ganz vergisst.
Und wie sich herausstellt, war meine Sorge berechtigt. Sarah war schon seit fünf Tagen nicht mehr hier, um mich zu füttern - sie war seit fünf Tagen überhaupt nicht mehr zu Hause. Die ersten beiden Tage musste ich mit dem auskommen, was noch in meiner Schüssel war. Ich bin sogar auf die Anrichte gesprungen, wo die Tüte mit meiner Trockennahrung steht, und machte mit Zähnen und Krallen ein kleines Loch hinein, damit ich mir selbst etwas zu fressen herausholen konnte. (Normalerweise würde ich so etwas nie tun, denn das ist schlechtes Benehmen. Aber manchmal gibt es Dinge, die wichtiger sind als Benehmen.)
Schließlich, am dritten Tag, kam eine Frau, die ich als eine Nachbarin erkannte, und machte eine Dose Futter für mich auf. Prudence!, rief sie. Komm und friss, du armes Kätzchen, du musst ja einen schrecklichen Hunger haben!
Ich hatte unter der Couch darauf gewartet, dass sie geht, aber als ich hörte, wie die Dose geöffnet wurde, kam ich hervor. Doch die Frau versuchte, mich am Kopf zu streicheln, und so musste ich wieder unter die Couch kriechen und ganz schnell mit meinen Rückenmuskeln zucken, um mich zu beruhigen. Ich mag es nicht, wenn mich Menschen berühren, die ich nicht gut kenne. Also wartete ich, bis sie gegangen war, und kam erst dann wieder hervor, obwohl ich nach zwei Tagen fast ohne etwas zu fressen einen gewaltigen Hunger hatte.
Die Frau ist seither jeden Tag wiedergekommen, um mich zu füttern, aber ich bleibe immer noch unter der Couch, bis sie weg ist. Vielleicht will sie mir mit dem Füttern eine Falle stellen. Vielleicht hat sie auch Sarah schon in eine Falle gelockt, und sie ist deswegen so lange nicht nach Hause gekommen.
Um mir die Zeit zu vertreiben, bis Sarah wiederkommt, setze ich mich auf das Fensterbrett - das, von dem aus man die Feuerleiter sieht, die ich Sarahs Worten zufolge niemals betreten darf - und beobachte, was auf der Straße vor sich geht. Von dort habe ich auch bestens den Eingang zu unserem Haus im Blick, sodass ich sehe, wenn Sarah zurückkommt.
Um auf das Fensterbrett zu gelangen, springe ich zuerst auf den Couchtisch und von dort auf die Couch. Dann klettere ich auf die Rückenlehne der Couch und von da direkt aufs Fensterbrett. Natürlich kann ich auch direkt vom Boden auf das Fensterbrett springen (ich könnte, wenn es sein müsste, sogar noch viel höher springen), aber auf diesem Weg kann ich überprüfen, dass alles sicher und genau so ist, wie ich es verlassen habe. Wenn sich die kleinen, alltäglichen Dinge nicht verändern, dann ist es einleuchtend, dass sich auch die größeren, wichtigeren Dinge nicht verändern werden. Wenn ich alles so mache wie immer, dann muss Sarah zurückkommen, so wie sie es immer tut. Wahrscheinlich habe ich vor ein paar Tagen irgendeinen Fehler gemacht - habe etwas anders gemacht, als ich es sollte - und sie ist deshalb weggegangen.
Sarah und ich sind nun schon seit drei Jahren, einem Monat und sechzehn Tagen zusammen. Ich würde dir auch sagen, wie viele Stunden und Sekunden wir zusammen waren, aber Katzen denken nicht in Stunden und Sekunden. Wir wissen aber, dass sie eine Erfindung der Menschen sind. Katzen haben einen Instinkt; er sagt uns genau, wann für alles der richtige Zeitpunkt ist. Die Menschen wissen nie, wann sie etwas tun sollen, deshalb brauchen sie Uhren und Zeitgeber, die es ihnen sagen. Zweimal im Jahr stellt Sarah alle Uhren in unserer Wohnung eine Stunde vor oder zurück. Das beweist eindeutig, dass Stunden eine reine Erfindung sind. Schließlich kann man ja auch nicht allen sagen, die Welt einen ganzen Tag zurück- oder ein ganzes Jahr vorzudrehen und das als die Wahrheit gelten lassen.
Man könnte meinen, dass Sarah und ich eine Familie sind, weil wir zusammen wohnen, aber nicht alle, die zusammen wohnen, sind auch eine Familie. Manchmal teilt man sich einfach nur eine Wohnung. Der Unterschied ist, in einer Familie macht man vieles miteinander, und man tut diese Dinge jeden Tag zur selben Zeit. Alle frühstücken zusammen, und das Frühstück ist jeden Tag morgens zur selben Zeit. Dann isst man zusammen zu Abend, und auch das findet jeden Tag zur gleichen Zeit statt. Die Menschen bringen einander in die Schule oder zur Arbeit und holen sich von dort einige Stunden später auch wieder ab, und sowohl das Abholen als auch das Hinbringen geschieht einem Zeitplan gemäß. Ich habe das alles von den Fernsehshows gelernt, die Sarah und ich zusammen ansehen. Sogar diese Familien-Fernsehshows kommen immer zur selben Zeit, jeden Tag.
(Früher dachte ich, das, was man im Fernsehen sieht, geschieht wirklich, so richtig in unserer Wohnung. Einmal versuchte ich, eine Maus zu fangen, die auf dem Bildschirm zu sehen war. Ich schlug meine Krallen immer wieder an das Glas und konnte nicht begreifen, warum ich die Maus nicht zu fassen bekam. Und Sarah lachte und erklärte mir, dass ein Fernseher wie ein Fenster ist, nur dass man darin Dinge sieht, die ganz weit weg geschehen.)
Mit Mitbewohnern ist es eher so, dass jeder sein eigenes Leben lebt, obwohl man zusammen wohnt. Die Dinge geschehen, wie sie kommen, und nicht zu einer speziellen Zeit. Außerdem leben Familien in einem Haus mit einem oberen und einem unteren Geschoss. Mitbewohner teilen sich Apartments. Sarah und ich wohnen in einem Apartment, und unser Zeitplan ist immer unterschiedlich. Sarah sagt, das ist so, weil sich ihre Arbeitszeiten ständig ändern. Sie schreibt in einem großen Büro an einem Ort namens Midtown, und sie kann das so gut, dass sie manchmal am frühen Morgen zum Schreiben gebraucht wird und manchmal auch später am Tag. Manchmal bekommt sie eine Menge extra Geld dafür bezahlt, dass sie die ganze Nacht durch schreibt und erst am nächsten Morgen nach Hause kommt, wenn die Sonne schon aufgeht und die meisten anderen Menschen mit ihrer Arbeit erst beginnen.
Mit Geld kauft Sarah Futter für mich, und sie bezahlt damit unsere Wohnung. Sie sagt immer, man muss es verdienen, so lange man es verdienen kann, selbst wenn man wünschte, es nicht zu müssen. Ich weiß genau, was sie damit meint, denn manchmal muss eine Katze ihr Fressen jagen, wenn es vorbeihuscht, selbst wenn sie gerade ein herrliches Nickerchen macht. Wer weiß schon, wann das nächste Mal etwas Fressbares vorbeirennt? Deshalb verbringen kluge Katzen die meiste Zeit mit Schlafen - damit sie genügend Energie haben, wenn sie plötzlich welche brauchen.
Aber auch an den Tagen, wenn sie nicht arbeitet, richtet sich Sarah nicht nach einem geregelten Zeitplan. Manchmal muss ich mit meiner traurigsten Stimme miauen und mit der Pfote über ihr Bein streichen, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit ist, mich zu füttern. Ich fühle mich nicht gut, wenn ich das tun muss, denn ich sehe es ihrem Gesicht an, wie unglücklich es sie macht, wenn sie vergisst, was sie für mich tun muss. Aber für gewöhnlich lacht sie ein wenig, wie es die Menschen tun, wenn sie etwas Trauriges in etwas Lustiges verkehren wollen, und sagt, der Grund für ihr Vergessen sei wahrscheinlich ihre künstlerische Veranlagung, auch wenn es schon Jahre her ist, dass sie etwas Kreatives getan hat.
Was eine »Veranlagung« ist, weiß ich nicht recht. Vielleicht etwas, was ein Künstler macht. Oder vielleicht ist es etwas, das ein Künstler benützt, um etwas zu machen. Aber was immer es auch ist, ich habe hier noch nie etwas Derartiges gesehen.
Vielleicht klingt das alles für dich so, als würde ich mich über mein Leben mit Sarah beschweren, aber das stimmt nicht. Eigentlich ist das Leben mit Sarah sogar ziemlich großartig. Zum einen ist sie immer bereit, mit mir zu teilen. Wenn sie sich zum Essen hinsetzt, stellt sie für gewöhnlich ein Tellerchen mit etwas von ihrem Essen darauf ein Stück neben ihren Teller, und ich setze mich auf den Tisch und esse mit ihr. Manchmal isst sie allerdings Sachen, die einfach widerlich sind. Es gibt da etwas, das »Kekse« heißt, das Sarah besonders mag, obwohl in diesen Häppchen weder Fleisch noch Gras noch sonst etwas drin ist. Sarah lacht, wenn ich dann angeekelt die Nase rümpfe, und sagt, ich wüsste nicht, was mir entgeht. Ich glaube aber, dass Sarah nicht weiß, was man essen sollte und was nicht.
Unser Apartment hat zwei Zimmer. In dem Zimmer mit unserer Küche ist auch unsere Couch, der Fernseher und der Couchtisch. In dieses Zimmer dürfen Besucher herein, aber es kommen nur selten Leute außer Laura und manchmal Sarahs beste Freundin Anise. Anise kommt nur zwei- oder dreimal im Jahr, weil ihr Job an einem Ort namens Asien auf Tournee geht. Laura kommt nicht, wenn sie weiß, dass Anise hier ist, aber Sarah und ich freuen uns immer, Anise zu sehen, denn wenn sie lächelt, dann lächelt sie mit ihrem ganzen Gesicht, und sie sagt nie etwas, das auch nur ein bisschen unwahr wäre. Außerdem ist Anise, wie Sarah gerne sagt, ein Mensch, der Katzen versteht. (Zumindest soweit ein Mensch das eben kann.) Kurz nachdem ich bei Sarah eingezogen war, brachte sie ein »selbstreinigendes « Katzenklo mit nach Hause, das jedes Mal, wenn ich versuchte, es zu benutzen, schrecklich zu surren begann. (Ich glaube, es wollte sich selbst sauber halten und ließ deshalb einfach nicht zu, dass ich es benutzte.) Dieses Ding jagte mir so viel Angst ein, dass ich auf den Teppich zu machen begann, und das machte Sarah sehr ärgerlich auf mich, obwohl das eindeutig nicht meine Schuld war. Das ging Wochen lang so, bis schließlich Anise kam und die Nase rümpfte wegen des Geruchs von dem Teppich, der die ganze Wohnung ausfüllte. Iihh!, meinte sie, hat Prudence denn kein Katzenklo? Dann sah sie das »selbstreinigende« Ungetüm, das Sarah angeschafft hatte und sagte, Sarah, mit diesem Ding jagst du ihr Todesangst ein. Sie ging sofort mit ihr los, um ein normales Katzenklo zu kaufen, und seither haben wir kein Problem mehr.
Im anderen Zimmer steht unser Bett, eine Kommode für Sarahs Kleidung und unser Schrank - mein Lieblingsplatz. In beiden Zimmern gibt es jede Menge tolles Spielzeug für mich, zum Beispiel alte Zeitschriften, die sich anfühlen wie die trockenen Blätter, auf denen ich manchmal lag, als ich noch draußen lebte, und an den Wänden gerahmte Poster, zu denen ich hochspringen und mit einer Pfote draufschlagen kann, bis sie zu wackeln anfangen. Es gibt Schuhschachteln mit kleinen Papierspielzeugen, die Sarah Streichholzbriefe nennt, und sie sagt, sie hat ein Streichholzbriefchen von jedem Club, jeder Bar und jedem Restaurant in New York, das sie besucht hat, seit sie vor vierunddreißig Jahren hierher zog. Obwohl Sarah eine Menge Sachen hat, passt sie auf, dass immer alles schön ordentlich und aufgeräumt ist, damit ich viel Platz zum Herumtoben habe. Ordnung zu halten ist wirklich Sarahs große Stärke.
Ganz hinten in unserem Schrank sind viele Kleider, die Sarah schon lange nicht mehr anzieht - die sie vor Jahren trug, als sie noch abends ausging, sagt sie. Einige sind mit Federn verziert, und ich dachte natürlich, das seien Vögel und versuchte, sie mit meinen Krallen zu packen. Das war das einzige Mal, dass Sarah wirklich wütend auf mich war. Aber wenn eine Frau nicht will, dass ihre Kleider von einer Katze gejagt werden, dann sollte sie eben keine haben, die wie Vögel aussehen.
Es brauchte eine Weile, aber schließlich hatte ich es geschafft, dass die ganze Wohnung einen angenehmen Katzengeruch hat. Ein Mensch kann das nicht riechen, aber wenn ein anderes Katzentier käme und bei uns einziehen wollte, wüsste es, dass hier bereits eine Katze wohnt. Vor allem der hintere Teil des Schranks hat ein sehr heimeliges und unzweideutiges Aroma. Sarah hat dort ein paar alte Sachen von sich hingelegt, auf denen ich schlafen kann, und das kommt einer eigenen Höhle für mich am nächsten.
Aber das Beste von allem ist, dass unser Apartment voller Musik ist. Die meiste lebt auf runden, flachen, schwarzen Scheiben, die Sarah in steifen Papphüllen aufbewahrt. Auf allen diesen Papphüllen sind Bilder oder Zeichnungen, und einige davon sehen genauso aus wie die Poster an unseren Wänden. An der Wand, wo die Musik wohnt, hängen allerdings keine Poster, denn diese Wand ist vom Boden bis zur Decke nichts als Musik. Sarah sagt, ich darf nichts davon mit meinen Krallen kennzeichnen, was bedeutet, sie gehört nur ihr und nicht uns beiden. Trotzdem kann ich sie mit ihr anhören. Die schwarzen Scheiben sehen aus, als könnten sie gar nichts, aber Sarah legt sie auf einen speziellen silbernen Tisch, der zwei schwarze Scheiben auf einmal aufnehmen kann. Dann drückt sie auf ein paar Knöpfe und bewegt einige Dinge, und die Scheiben beginnen, ihre Musik zu singen. Manchmal hören wir uns nur ein oder zwei Lieder an, aber es kommt auch vor, dass Sarah die schwarzen Scheiben den ganzen Tag lang singen lässt. Manchmal, wenn auch eher selten, singt Sarah selbst mit. Das mag ich immer am allerliebsten.
Überhaupt habe ich Sarah vor allem wegen der Musik adoptiert. Damals war ich noch sehr klein und lebte mit meinen Wurfgeschwistern draußen. Eines Tages liefen wir vor einigen Ratten davon; das sind die ekligsten Geschöpfe auf der ganzen Welt. Sie haben entsetzlich lange Zähne und Krallen und sie riechen schlecht, und wenn sie dich nicht jagen, um dir wehzutun, dann versuchen sie, dir jegliches Fressen, das du auftreiben konntest, zu stehlen. Dann fing es an zu regnen - ein fürchterlicher Gewitterschauer ging nieder, und ich war sicher, dass er jedes Lebewesen, das kein Versteck fand, ertränken würde. Beim Weglaufen vor den Ratten und dann vor dem Regen wurde ich von meinen Wurfgeschwistern getrennt. Schließlich kauerte ich mich unter einen Betonblock auf einem großen, leeren Baugelände. Ich hatte Angst, denn ich war zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein, und so begann ich zu miauen in der Hoffnung, dass meine Wurfgeschwister mich dann finden würden.
Stattdessen fand mich Sarah. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass es Sarah war. Ich wusste nur, dass sie ein Mensch war - größer als die meisten, mit braunen Haaren bis zu den Schultern. Sie sah älter aus als viele der Menschen, die in der Lower East Side wohnen, aber nicht wirklich alt.
Normalerweise kann ich mich vor den Menschen sehr gut verbergen, wenn ich nicht will, dass sie mich finden. Die meisten würden direkt an meinem Versteck vorbeigehen und mich nicht bemerken. Ich glaube, auch Sarah hätte mich nicht gesehen, aber dann blieb sie vor der Baustelle stehen und starrte lange darauf. Sie blieb so lange stehen, bis sich die Wolken verzogen und die Sonne herauskam, und da entdeckte sie mein Versteck.
Ich dachte, sie würde einfach weggehen und mich allein lassen. Doch sie kam näher, ging in die Hocke und streckte mir eine Hand entgegen. Aber ich war noch nie von einem Menschen berührt worden und traute keinem von ihnen. Zudem konnte ich nicht verstehen, was sie sagte, weil ich die Menschensprache damals noch kaum beherrschte. Ich wich zurück, bis ich in eine Pfütze fi el und zu zittern begann, weil das Regenwasser mein Fell so kalt machte.
Und dann begann Sarah zu singen. Es war das erste Mal, dass ich Musik hörte - bis dahin hatte ich fast nur hässliche und Angst machende Geräusche gehört, Maschinen zum Beispiel, und Sachen, die auf dem Gehsteig zerbarsten, oder Menschen, die meine Wurfgeschwister und mich anschrien, wenn sie uns wegjagten.
Sarahs Musik war das Schönste, was ich je gehört hatte. Ich hatte schon schöne Dinge gesehen, wunderbares Essen etwa, das die Menschen bei sonnigem Wetter an Tischen im Freien verspeisten. Oder das schattige Gras unter den Bäumen im Park, wo sich die Menschen hinsetzen, was für meine Wurfgeschwister und mich immer hieß, dass wir nichts tun konnten, als uns vor ihnen zu verstecken und voller Sehnsucht darauf zu schauen, wie hübsch das Sonnenlicht war und wie kühl der Schatten aussah.
Aber als Sarah sang, das war das erste Mal, dass etwas nur für mich schön war. Sarahs Musik war schön und nur für mich, und deshalb wollte ich mich von niemandem verjagen oder mir das wegnehmen lassen.
Ich verstand nicht, was sie sang, aber zwei Worte in ihrem Lied wiederholten sich immer wieder: Dear Prudence. Sie sang mir Dear Prudence vor, als sei das mein Name. Und wie sich gezeigt hat, ist Prudence mein Name. Ich wusste es damals nur noch nicht.
Aber Sarah hatte es von Anfang an gewusst. Deshalb wusste ich, dass ich ihr vertrauen konnte, obwohl sie ein Mensch war. Und so beschloss ich auf der Stelle, sie zu adoptieren, denn es war klar, dass wir zueinandergehörten.
Mäuse finden praktisch nie den Weg in unsere Wohnung. Wenn es doch einmal eine schafft, fange ich sie und präsentiere sie Sarah, um ihr zu zeigen, dass ich bereit bin, im Austausch dafür, dass sie Dinge für mich tut, etwas für sie zu tun. Und ich übe das Mäusefangen sehr fleißig, sogar wenn gar keine da sind. Ich trainiere mit leeren Toilettenpapierrollen oder zusammengeknüllten Papierkugeln, stürze mich auf sie und übe meine Kampftechniken, damit ich vorbereitet bin, wenn sich wirklich einmal eine Maus blicken lässt. Ich arbeite schwer in der Hoffnung, dass Sarah und ich eines Tages eine echte Familie sein werden und nicht nur Wohnungsgenossen.
Gerade als ich dies denke, sehe ich von meinem Platz auf dem Fensterbrett Laura auf der anderen Straßenseite. Sie steigt aus einem Auto aus, mit einem Mann, den ich nicht kenne. Beide tragen große, leere Kartons.
Und ich könnte dir nicht sagen, woher ich es weiß. Vielleicht deshalb, weil Laura so selten zu Besuch kommt, selbst wenn Sarah hier ist. Ich bekomme ein beklemmendes Gefühl in meinem Bauch, das sich bis zum Rücken hinaufzieht und mir das Fell aufstellt. Meine Barthaare biegen sich bis an die Wangen nach hinten, und die dunkle Mitte meiner Augen vergrößert sich offenbar, denn plötzlich ist alles alarmierend hell.
Noch ehe Laura die Haustür erreicht, weiß bereits jeder Teil meines Körpers, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss.
2
Prudence Laura und der seltsame Mann bringen den Geruch von draußen mit herein. Und sie riechen beide fast gleich. Es ist nicht genau der gleiche Geruch, weil männliche und weibliche Menschen unterschiedlich riechen, aber sie gleichen sich so sehr, dass ich weiß, dass die beiden zusammenleben.
Wäre Laura allein hereingekommen, so würde ich sie gleich an der Tür mit laut geforderten Erklärungen begrüßen. Wenngleich die Menschen die Katzensprache nicht so gut verstehen wie ich die ihre, erbringt ein festes und direktes Miau in der Regel eine Antwort. Wenn Sarah zum Beispiel vergessen hat, mir etwas zum Naschen zu geben, stelle ich mich neben die Anrichte in der Küche und miaue ostentativ. Dann gibt sie mir entweder etwas, oder sie erklärt mir, warum sie mir nichts gegeben hat, indem sie etwa sagt Oh Jammer! Wir haben keine Katzenleckerli mehr! Ich laufe gleich über die Straße und kaufe dir noch ein paar! Sarah sagt, das würde bedeuten, dass ich sie »abgerichtet « habe. Trainieren müssen die Menschen mit Hunden, denn ein Hund weiß nicht einmal, wann er sich hinsetzen oder hinlegen soll, wenn es ihm nicht ein Mensch sagt. (Die Menschen, die Hunde halten, müssen sehr geduldig und nett sein, sich mit derart unbedarften Geschöpfen abzugeben.) Ich sehe Sarah ganz anders. Es ist nicht so, dass ich sie abrichte; ich muss sie nur manchmal sanft erinnern.
Aber Laura ist hier mit einem Mann, den ich nicht kenne. Also beschließe ich, unter der Couch zu warten, bis ich sicher bin, dass es völlig gefahrlos ist, hervorzukommen. Menschen können unberechenbar sein. Manchmal stürzen sie sich auf einen und streichen einem das Fell in die falsche Richtung, oder (und das ist so erniedrigend!) sie heben mich vom Boden hoch! Ich kann also nur abwarten, während Laura mit dem Fuß die Tür aufhält, damit der Mann vor ihr hereinkommt, und sie sie dann hinter sich zustößt und die drei Schlösser absperrt.
Vor langer Zeit schenkte mir Sarah ein rotes Halsband mit einem kleinen Anhänger, auf dem PRUDENCE geschrieben steht, wie sie sagte. Manchmal, wenn ich mich zu schnell bewege, klappert der Anhänger ein wenig. Also krieche ich sehr langsam an den Rand unter der Couch, denn von dort kann ich den seltsamen Mann, den Laura dabei hat, besser beobachten.
Er ist größer als sie, hat hellbraunes Haar und dunkelblaue Augen, und er ist dünner als die meisten anderen Menschen. Am leichtesten sind für mich seine Füße und Knöchel zu sehen. Er trägt an den Füßen das, was die Menschen »Turnschuhe « oder auch »Sneaker« nennen (weil sie damit leise laufen können wie Katzen), und sie müssen alt sein, denn sie sind voller schwarzer Flecken und angetrocknetem Schmutz, und unter seiner linken großen Zehe ist ein kleines Loch, das er wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt hat. Er hatte in letzter Zeit nichts mit Katzen zu tun, denn an seinen Knöcheln sind keine Fellhaare und kein Katzengeruch - dort würde eine Katze als Erstes den Kopf reiben, um ihn mit ihrem Duft zu markieren. Eines seiner Schuhbänder hängt über die Seite seines Fußes. Ich beobachte, wie es hin und her schwingt, wenn er läuft, und die Versuchung, es anzufallen, ist fast unwiderstehlich. Aber ich zwinge mich stillzuhalten und ducke mich so tief, dass mein Bauchfell gegen den Boden drückt und mich unangenehm kitzelt.
Laura trägt ebenfalls Turnschuhe, aber ihre sind ganz weiß und sehen wesentlich neuer aus. Die kleinen Beulen oben in den Schuhen sagen mir, dass sie ihre Zehen krümmt, und das bedeutet, sie ist sehr angespannt. Sie riecht auch so. Sogar noch intensiver, als sie normalerweise riecht, wenn sie zu Besuch kommt. Auch der Mann mit den hellbraunen Haaren muss ihre Anspannung riechen können, denn er stellt seine Schachteln ab und legt die Hände auf Lauras Schultern. Sarah streichelt mir immer den Rücken, wenn ich mich über etwas ärgere, zum Beispiel, wenn ich glaube, ich hätte eine Fliege in die Enge getrieben, und dann fliegt sie einfach davon, oder wenn draußen ein Auto ganz plötzlich bumms! macht und mich erschreckt. Die Berührung des Mannes scheint Laura zu beruhigen, aber als er freundlich fragt: »Alles in Ordnung?«, krümmt sie wieder die Zehen und sagt: »Geht schon.« Dann fährt sie sich durch die Haare, so wie es auch Sarah macht. »Bringen wir's einfach hinter uns.«
»Wir könnten warten«, sagt der Mann. »Ich bin sicher, der Hausverwalter würde es verstehen, wenn ...«
Aber Laura schüttelt bereits den Kopf. »Am Donnerstag ist der Erste«, sagt sie. »Wenn wir warten, müssen wir die nächste Miete übernehmen.«
Mein rechtes Ohr dreht sich nach vorn, damit ich besser hören kann, als Laura dies sagt. Wenn Sarah keine Miete mehr bezahlt, um hier zu wohnen, dann heißt das, sie hat beschlossen, woanders zu wohnen. Das Gefühl der Furcht in meinem Bauch wird stärker; ich versuche zu verstehen, weshalb Sarah gehen würde, ohne mir etwas zu sagen und ohne die Dinge mitzunehmen, die ihr lieb sind. Wenn im Fernsehen zwei zusammen wohnen und eine beschließt auszuziehen, sagt sie zuerst ihrer Mitbewohnerin, warum sie gehen muss (normalerweise ist es wegen ihrer Karriere oder wegen des Mannes, den sie liebt). Sie werden beide wütend und streiten, doch dann erinnern sie sich an all die schönen Zeiten, die sie miteinander hatten. Dann heulen sie und umarmen sich und sind wieder Freunde, und dann sagt die zweite Mitbewohnerin, obwohl sie traurig ist, weil sie ihre Freundin verliert, sie würde verstehen, weshalb die erste Mitbewohnerin gehen muss.
Mitbewohner müssen es einander sagen, bevor sie ausziehen.
* * *
Laura hat eine Art sich zu bewegen, die verrät, dass sie genau weiß, wohin sie will, und dass sie sich wünscht, schon früher dort angelangt zu sein. Auf diese Art und Weise versucht sie, in unser Schlafzimmer zu gehen, aber sie schafft es nicht ganz. Ihre Schritte sind ein ganz klein wenig langsamer als sonst, und wenn sie etwas wäre, das ich jage, würde ich wahrscheinlich denken, dass dies ein guter Moment zum Sprung wäre. Sie sagt dem Mann, sie werde sich das Schlafzimmer vornehmen, und er solle in der Küche anfangen. Sie gibt ihm einige alte Zeitungen, und zuerst denke ich, vielleicht spielen sie eines meiner Lieblingsspiele mit mir, bei dem Sarah Zeitungspapier zerknüllt und es für mich wirft, sodass ich meine Mäusejagd üben kann. Aber stattdessen wickelt der Mann damit unser Geschirr und unsere Gläser ein und verstaut dann alles in den Kartons. Er wickelt sogar die große Keramikschüssel ein, die auf dem kleinen Tisch nahe der Wohnungstür steht. Das ist die Schüssel, in der ich gerne schlafe, wenn mir mein Körper sagt, dass es für Sarah fast an der Zeit ist heimzukommen, damit ich gleich an der Tür bin, wenn sie hereinkommt. Einmal war ich besonders aufgeregt, Sarah zu sehen, und ich sprang so schnell aus der Schüssel, dass sie zu Boden fiel und zerbrach. Das plötzliche Krachen jagte mich ins Schlafzimmer und unter das Bett, und dort blieb ich lange und mit zuckendem Fell. Aber Sarah war sehr geduldig und gefasst und klebte die Schüssel wieder zusammen. Man sah zwar danach noch, wo sie zerbrochen war, aber Sarah meinte, das sei okay, denn durch diese Linien würde Licht hineinkommen.
Laura und der Mann arbeiten stumm; nur einmal sagt sie zu ihm, die Heilsarmee würde später kommen und unsere Möbel und Küchengeräte und einen Teil von Sarahs Kleidung mitnehmen. Ich weiß nicht, was die Armee mit einem Bett will, das nach mir und Sarah riecht, wenn wir an kalten Nächten zusammen unter der Decke schlafen. Oder mit einer Couch, die so riecht wie damals, als ich versehentlich ein Glas Milch darauf verschüttete (schuld war das Glas; es gab vor, kürzer zu sein als es wirklich war) und erschrak, weil mich die Milch so plötzlich traf, und weil ich dachte, Sarah würde mich vielleicht anschreien, aber sie hob mich nur hoch, drückte ihre Wange an meine Stirn und sagte Arme Prudence! Dann umarmte sie mich fest und fuhr fort: Oh Prudence, ohne dich wäre das Leben so langweilig. (Das war so offensichtlich, sie hätte es gar nicht zu sagen brauchen.)
Ich verstehe nicht, was die Armee mit diesen Sachen machen könnte, aber im Moment geschieht vieles, das ich nicht verstehe. Sarah kannte einmal einen Mann, der seine Katze und alles andere verlor, was er hatte, alles an ein und demselben Tag. Danach, sagte Sarah, wollte er nicht mehr leben. Vielleicht ist Sarah gegangen, weil sie wusste, dass Laura mit diesem Mann herkommen und die beiden alle unsere schönen Sachen mitnehmen würden, und sie konnte es nicht aushalten, das zu sehen. Und jetzt kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, dass, wenn Sarah weggeht, zusammen mit all unseren Möbeln und allem anderen, das wir brauchen, dass dann womöglich auch ich gehen muss.
Ich krieche noch tiefer unter die Couch und wünsche mir, Sarah würde zurückkommen und mir das alles erklären. Sie hätte es mir sagen können, bevor sie ging, selbst wenn die Gründe für ihr Weggehen beängstigend oder verwirrend sein würden. Sie weiß, besser als jeder andere Mensch, wie viel ich verstehe.
Katzen verstehen immer. Deshalb sind wir so gute Mitbewohner.
Laura und der Mann mit den hellbraunen Haaren sind jeder auf einer Seite der Wohnung, was bedeutet, ich kann immer nur einen der beiden beobachten. Wenngleich ich mit meinen Schnurrhaaren auch in etwa auf die Person aufpassen kann, die jeweils hinter mir ist, kann ich nicht entscheiden, wem von beiden ich mit dem Blick folgen soll. Dann tritt Laura im Schlafzimmer zufällig auf das Bodenbrett, das wie ein menschlicher Schrei klingt, wenn jemand falsch darüberläuft. Dadurch werde ich sofort besonders auf sie aufmerksam. Die Schlafzimmertür ist genau gegenüber der rechten Armlehne der Couch, und wenn ich unter der Couch bis an deren Rand krieche, kann ich Laura sehen, wie sie arbeitet.
Sie und Sarah sehen nicht genau gleich aus, aber gleich genug, um sagen zu können, dass Laura aus einem Wurf von Sarah stammen muss. Sie haben die gleiche Haarfarbe und Haarlänge. Laura ist nicht ganz so groß wie Sarah, aber sie ist geschmeidiger, und wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellt, um an etwas auf einem hohen Regalbrett zu gelangen, kommt sie so hoch hinauf wie Sarah. Ihre Augen sind heller als die von Sarah und nicht so rund, und ihr Kinn ist breiter, und das Make-up, das sie gewöhnlich trägt, wenn sie zu uns kommt, betont diese Unterschiede noch. Heute trägt sie jedoch keines, das ist ungewöhnlich. Dafür ist die Haut unter ihren Augen dunkler als sonst, und so sehen sie fast so dunkelblau aus wie Sarahs Augen, und ihr Gesicht ist so bleich, dass es sogar heller ist als Sarahs. Aber sie und Sarah haben exakt dieselben Hände - überraschend groß für so schlanke Menschen, mit langen Fingern.
Jetzt zittern Lauras Hände ein wenig, aber sie bringt es trotzdem fertig, genau gefaltete und ordentliche Stapel zu machen. Sie ist so tüchtig dabei, Sarahs Kleidung aus unserem Schrank zu holen, wie ich, wenn ich etwas in meinem Katzenklo vergrabe. Aus Sarahs Kleidungsstücken fürs Büro macht Laura einen ordentlichen Stapel mit vier Ecken. Mit einem dicken schwarzen Stift schreibt sie Wörter auf einen der braunen Kartons und füllt ihn dann mit Sarahs Arbeits- und Alltagskleidung. Mit Sarahs anderen Kleidern, denen mit glänzenden Steinen und Fransen und den Federn, die ich für Vögel hielt, macht sie einen weniger ordentlichen Haufen und steckt diesen dann in einen Müllsack.
Sarah trägt die Vogelkleider nicht oft, aber ich weiß (zumindest glaubte ich, das zu wissen), dass sie ihr ebenso wichtig sind wie alles andere in unserem Apartment. Es ist wichtig, dass man seine Vergangenheit in Ordnung hält, sagt sie gerne.
An einem Abend vor drei Monaten telefonierte Sarah mit Anise und gebrauchte dabei häufig das Wort erinnern. Zum Beispiel sagte sie Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als ich kam, um euch im Monty Python's zu hören? Mann, war das ein Schuppen! Oder Erinnerst du dich an den Abend, an dem uns diese Verrückte mit einem Messer die Vierzehnte Straße hinunterjagte? Und wir mussten diesen Taxifahrer anbetteln, uns einsteigen zu lassen, obwohl wir kein Geld hatten?
Das hörte sich für mich nicht lustig an, aber Sarah lachte, bis sie keine Luft mehr bekam. Sonst habe ich sie nur dann noch so laut und so lange lachen gehört, wenn ich mich ungeschickt anstellte, und das ist äußerst selten. Wie damals, als ich durch ein geschlossenes Fenster rennen wollte (woher sollte ich wissen, dass man durch etwas hindurchsehen, aber nicht hindurchrennen kann?), oder als ich einmal nach einem Pappteller über mir auf dem Küchentisch angelte, um ein winziges Stückchen von dem Essen darauf zu probieren, und mir der ganze Teller mit allem Essen darauf auf den Kopf fiel. (Ich glaube immer noch, dass das Sarahs Fehler war; sie hätte niemals einen Teller mit Essen so am Rand des Tisches stehen lassen dürfen.)
Nachdem Sarah ihr Telefongespräch mit Anise beendet hatte, holte sie einige Schachteln und Tragetaschen aus dem großen Schrank im Wohnzimmer. Dann nahm sie ein paar schwarze Scheiben aus dem Regal, das Apartment füllte sich mit Musik, und wir beide schauten die Streichholzbriefchen durch. (Eigentlich sah Sarah sie durch, und ich kickte sie herum, denn wozu soll Spielzeug gut sein, wenn man nicht damit spielt?) Sie sagte immer wieder Dinge wie: Den Schuppen habe ich total vergessen! oder Das war der erste Club, in dem ich je aufl egen durfte, und sie haben mir nichts dafür bezahlt. Für weibliche DJs war es einfach ungleich schwerer. Sie zeigte mir Zeitungen und Illustrierte, die so alt waren, dass es sie heute gar nicht mehr gibt, voller geschriebener Wörter (die ich nicht lesen kann, aber Sarah hat mir einiges vorgelesen) über die Musik, die sie damals hörte, und die Orte, wo sie sie hörte. Dann ging Sarah ins Schlafzimmer und zog die Sachen an, die sie seit ihrer Jugend nicht mehr getragen hatte.
Sie war so glücklich, als sie sich in diesen Kleidern im Spiegel betrachtete! Doch nach einer Weile wurde ihr Gesicht etwas rot, und schließlich murmelte sie mit einem Kopfschütteln das Wort dumm vor sich hin. Dann zog sie wieder ihre normale Nachtwäsche an, brachte die schwarzen Scheiben zum Verstummen, räumte die Wohnung auf und ging schlafen.
Das Beste an all dem alten Zeug ist nicht, dass es Sarah hilft, die Vergangenheit zu ordnen. Das Beste ist, dass es riecht wie wir beide, hier zusammen in dieser Wohnung. Und nun verschwinden alle diese Kleider und alles andere aus unserem Schrank in diesen Müllsack und diese Kartons. Ich lasse mein Fell am Rücken zucken im Versuch, ruhig zu bleiben.
Wenn ich mit dem Sack und den Kartons mitkomme, werden die Sachen darin vielleicht noch immer nach mir riechen. Aber wenn Sarah nicht zurückkommt, dann wird ihr Geruch an ihnen langsam, aber sicher verschwinden. Und dann wird es irgendwann nichts mehr auf der Welt geben, das so riecht, wie wir beide zusammen.
Inzwischen sieht das Schlafzimmer schon leer aus und das Bett sowie an Waschtagen, wenn ich Sarah helfe, es frisch zu beziehen, indem ich von einer Ecke der Matratze zur nächsten renne, um sicherzustellen, dass das Bettzeug nicht irgendwo hinkommt, wo es nicht hin soll. Laura will einen der Kartons für die Heilsarmee ins Wohnzimmer tragen, doch der Knall einer zuschlagenden Tür im Apartment über uns erschreckt sie, und sie lässt ihn fallen. »Verdammt!«, murrt sie leise. Tränen treten ihr in die Augen; sie wischt sie ungeduldig mit dem Ärmel weg.
»Laura? Alles in Ordnung?«, ruft der Mann mit dem hellbraunen Haar aus der Küche.
»Ist schon gut, Josh«, antwortet sie. Ihre Stimme klingt zittrig, und sie atmet tief. »Ich hasse diese alten Mietshäuser«, fügt sie hinzu. »Man hört einfach alles.«
Jetzt wird mir klar, dass ich von diesem Mann schon gehört habe. Als uns Anise vor sieben Monaten das letzte Mal besuchte, erzählte Sarah ihr, Laura werde einen gewissen Josh heiraten. Anise schien überrascht zu sein, dass Laura überhaupt heiraten wollte, und Sarah meinte, sie sei zuerst auch überrascht gewesen, dass Josh aber ein »guter Mann« sei. Anise erwiderte, dass Laura einen solchen Mann heirate, das sei ein kleines Wunder, wenn man es recht bedenke. Dann begannen sie, über den Mann zu reden, mit dem Sarah einmal verheiratet gewesen war, und als ich merkte, dass niemand Prudence sagte, schlief ich schließlich ein.
Josh hat die Küche ausgeräumt; alles, was dort war, steckt jetzt in einem Karton oder einem Müllsack. Es sieht nicht mehr wie unsere Küche aus, und der einzige Anhaltspunkt, um sagen zu können, dass hier einmal ein Mensch und eine Katze lebten, ist die Tüte mit meinem Trockenfutter, die noch immer auf der Anrichte steht. Als Laura mit einer Sprühflasche und Papiertüchern kommt, um die Arbeitsflächen abzuwischen, sieht sie die Tüte an und schaut dann in der Wohnung umher, als würde sie mich suchen. Aber dann schiebt sie die Tüte einfach zur Seite und wischt weiter.
Ich habe Laura noch nie traurig gesehen, aber heute scheint sie genau das zu sein. Als sie ins Wohnzimmer geht, füllen sich ihre Augen wieder mit Wasser, doch sie blinzelt die Tränen rasch weg. Und auch wie sie spricht, kommt mir traurig vor. Normalerweise bildet sich Laura rasch eine Meinung und steht auch dazu, und man merkt, wenn sie und Sarah über etwas uneins sind, wie ungeduldig sie wird, wenn Sarah zögert und sagt: Na ja, vielleicht hast du ja recht ... ich weiß nicht ... Und obwohl ich immer auf Sarahs Seite bin, weil sie schließlich die wichtigste Person für mich ist, stimme ich insgeheim Laura zu, dass sich Sarah ja nur entscheiden muss. Das ist zum Teil der Grund dafür, dass Sarah und ich so gut miteinander auskommen, weil ich feste Meinungen habe, selbst wenn sie keine hat. Sie fragt zum Beispiel immer, was ich über ihre Kleidung denke, bevor sie ausgeht. Wenn es mir gefällt, starre ich sie mit großen Augen an und lege meine ganze Weisheit und meine Anerkennung in diesen Blick. Und wenn nicht, dann schließe ich die Augen leicht und drehe den Kopf zur Seite, so als wäre ich schläfrig, aber Sarah weiß, was das bedeutet. Und dann sagt sie: Du hast recht, dieser Rock braucht eine andere Jacke, und zieht etwas anderes an, bevor sie losgeht.
Aber als Laura zu Josh sagt, sie sollten jetzt wohl mal mit den großen Schränken im Wohnzimmer anfangen, klingt sie fast verwirrt. Anstatt zu sagen: Wir sollten jetzt mit den großen Schränken im Wohnzimmer anfangen, fragt sie: Meinst du, wir sollten jetzt mit den großen Schränken im Wohnzimmer anfangen? Schon zu fragen Meinst du anstatt einfach zu sagen Wir sollten zeigt, dass Laura heute unsicherer ist als normalerweise. Ich weiß nicht recht, was an diesem Zimmer sie so verwirrt. Mir kommt alles hier ganz normal vor. Es ist vielleicht etwas staubiger als sonst und riecht auch so, nachdem Sarah fast eine Woche lang nicht hier war und geputzt hat. Mein Katzenklo stinkt aus dem Bad heraus, und das ist peinlich, vor allem, wenn ein Fremder hier ist, der nicht weiß, wie reinlich ich normalerweise bin.
Aber ich glaube nicht, dass es Staub oder das Katzenklo ist, was Laura zögern lässt. Dann kommt mir der Gedanke: Laura geht es wie mir! Sie hat ebenso wenig wie ich erwartet, dass Sarah weggeht, und nun ist sie durcheinander und traurig, weil sie entscheiden muss, was mit Sarahs und meinen Sachen geschehen soll. Ich habe darauf gewartet, dass sie etwas dazu sagt, wohin Sarah gegangen ist und weshalb, aber Sarah hat sie genau wie mich einfach im Stich gelassen.
Dass nicht einmal Laura von Sarahs Weggehen wusste, gibt mir zum ersten Mal das Gefühl, dass ich Sarah vielleicht nie mehr wiedersehe. Es ist ein Gefühl, als käme mein Mageninhalt gleich zum Hals heraus. Es ist schlimmer, als wenn mich die Menschen auf der Straße anschrien, und schlimmer als an dem Tag, an dem ich im Gewitterregen meine Wurfgeschwister verlor.
Ich will jetzt unbedingt unter der Couch hervorkommen, um Laura zu sagen, vielleicht kommt Sarah doch noch zurück, wenn wir nur nicht alle ihre Sachen wegbringen, die für sie vertraut riechen und sie dies als ihr Zuhause erkennen lassen. Aber Laura hat mich nicht gelockt, wie Sarah es tun würde, und auch nicht versucht, mich dem fremden Mann vorzustellen, wie es sich eigentlich gehört. Zu vieles ist heute bereits ungewöhnlich, und bei dem Gedanken, dass ich irgendwie falsch unter der Couch hervorkomme und ohne dass jemand sagt Prudence, komm her, ich stelle dir So-und-so vor, wie es Sarah immer macht, zieht es mir den Magen noch heftiger zusammen.
Es ist Josh, der als Erster vor den großen Schrank tritt und oben mit dem Ausräumen beginnt. Die Streichholzbriefchen aus den Schuhschachteln ergießen sich über ihn. Ich erwarte, dass er wütend wird wie die meisten Menschen, wenn all das Spielzeug auf ihren Kopf fällt, aber er sagt nur »Oh!« und reibt ihn sich übertrieben, als hätten die Briefchen ihm wehgetan. So wie er zu Laura hinüberschaut, denke ich, dass er hofft, sie wird lachen, weil die Menschen ja denken, dass es lustig ist, wenn Dinge auf andere Menschen fallen.
Laura lächelt, das ist alles.
»Schau dir die alle an«, sagt er und kauert nieder, um eine Handvoll Streichholzbriefchen aufzuklauben. »Paradise Garage, Le Jardin, 8BC, Max's Kansas City.« Er wirft sie wieder in die Schachtel. »Die Autoren, mit denen ich arbeite, würden dafür morden, wenn sie auch nur fünf Minuten in Max's Kansas City hätten verbringen können.«
Laura hat endlich mit dem anderen Schrank angefangen, dem kleineren bei der Wohnungstür. Sie durchforstet Schachteln mit Papieren und legt einige in Ordner, die in einem großen braunen Karton verschwinden. Die anderen wandern direkt in einen Müllsack. »Wirf all das in einen Abfallsack«, sagt sie zu Josh. »Das wird die Heilsarmee nicht wollen.«
Vielleicht will die Armee sie nicht, aber ich! Wie kommt Laura dazu, mich nicht einmal zu fragen, was ich mit meinen (na ja, Sarahs und meinen) Sachen machen will?
Josh hält inne, als Laura dies sagt - seine Hand greift gerade nach oben, um Sachen vom obersten Brett zu nehmen. Dann setzt er diese Bewegung langsamer fort, so als wolle er darauf achten, kein Kleintier zu erschrecken. »Du willst doch das nicht alles wegschmeißen. Deine Mom hätte all dieses Zeug doch nicht aufgehoben, wenn es ihr nicht etwas bedeutet hätte. Eines Tages, wenn du so weit bist, willst du das bestimmt alles mal durchsehen.«
Laura klingt aufgebracht, so wie immer, wenn Sarah etwas einzuwenden hat gegen eine Sache, die für Laura absolut logisch ist. »Wo sollten wir denn das alles unterbringen?«
»Wir haben doch das zweite Schlafzimmer«, erwidert Josh in einem noch ruhigeren Ton als zuvor. »Da könnten wir alles reintun, zumindest vorübergehend.«
Lauras Gesicht verändert sich gerade so viel, dass ich weiß, dieser Gedanke gefällt ihr nicht. Käme er von Sarah, würde sie weiter argumentieren, bis sie sich durchgesetzt hat. Doch nun murmelt sie lediglich »Na gut« und sieht weiter Papiere durch. Josh verstaut die Streichholzbriefchen wieder in den Schuhschachteln und stellt sie dann in einen der großen braunen Kartons. Beide sind wieder still, bis Josh mit einer bauchigen Papiertasche kämpft, die ganz hinten in dem großen Schrank steht. Als er sie herausgeholt hat, schaut er hinein und macht dann erstaunt »Oh, wow!« Er zieht einige von Sarahs alten Zeitungen und Magazinen heraus. »Mixmaster, New York Rocker, East Village Eye«, sagt er und verdreht die Augen, als erinnere er sich an etwas. »Meine Schwester ging immer mit ihren Freunden in die Stadt und hat die dann für mich mitgebracht. Ich habe es meiner Mutter noch immer nicht verziehen, dass sie sie eines Tages als ›Schund‹ bezeichnete und alle wegwarf.«
Laura schichtet Sarahs Mäntel und Jacken aufeinander, die mehr nach Sarah riechen als alles andere. Warum muss sie alle Sachen von ihr wegschaffen? Sarah sagte einmal zu mir, wenn man sich an jemanden erinnert, dann ist er oder sie immer bei einem. Aber was ist, wenn auch das Gegenteil wahr ist? Was ist, wenn du alles, was dich an jemanden erinnert, weggibst - bedeutet das, dass er oder sie dann nie mehr zu dir zurückkommt? Ich spüre, wie sich die Muskeln um mein Gesicht herum anspannen und meine Barthaare sich wieder nach hinten biegen.
Laura weiß das natürlich nicht. Sie wendet sich Josh zu, der am Boden sitzt, und als sie die Tasche sieht, die er durchwühlt, geht sie zu ihm. Sie hebt die Tasche auf und betrachtet die Schrift darauf. »Die Liebe rettet den Tag«, sagt sie laut.
»Hm?«, fragt Josh. Er sieht noch immer die alten Zeitungen durch.
»Love Saves the Day«, wiederholt sie. »Da kommt diese Tasche her. Das war dieser Vintage-Shop an der Ecke Siebte Straße und Zweite Avenue.« Jetzt gleitet Lauras Blick nach oben und links. Ihre Stimme klingt weicher, so wie die Sarahs, wenn sie mir etwas Nettes erzählt, das sie vor langer Zeit erlebt hat. »Meine Mutter und ich sind da manchmal hingegangen, als ich noch klein war. Wir haben Stunden damit zugebracht, witzige Outfits anzuprobieren, und dann sind wir die Zweite hinauf zu Gem Spa gegangen und haben dort Egg Cream getrunken. «
Josh grinst zu ihr hoch. »Hast du Bilder?« Ich kann mir denken, dass er sich Laura vorstellt, nur viel kleiner als sie jetzt ist, in Klamotten wie Sarahs Vogelkleidern. Er sieht sich im Zimmer um. »Ich hoffe ja immer noch, deine Babybilder zu finden, aber ich sehe sie nirgends.«
Lauras Pupillen werden etwas größer, und ihr Gesicht bekommt Farbe, was mir sagt, dass das, was sie nun sagt, zumindest teilweise unwahr sein wird. »Die haben wir bei einem Umzug verloren.«
»Ach so.« Josh klingt enttäuscht und nicht überzeugt. Aber er sagt lediglich: »Wie schade.« Dann schaut er zu dem Tisch neben der Couch, wo Sarah und ich eine Lampe und ein paar gerahmte Bilder aufgestellt haben; ich habe gelernt, zwischen ihnen hindurchzumanövrieren, ohne sie umzustoßen. »Na«, sagt Josh, »wenigstens ist da eins von deiner Mom und ihrer Katze.« Er sieht sich im Zimmer um. »Hey, wo ist die Katze?«
Lauras Kopf bewegt sich nicht. »Versteckt sich unter der Couch.«
Ich »verstecke« mich nicht! Ich warte! Natürlich kann ich nicht davon ausgehen, dass ein Mensch einen derart subtilen Unterschied begreift. Aber näher wird Laura meinem Ersuchen für eine angemessene Vorstellung wahrscheinlich nicht kommen. Also, zum Teil, um ihr eine Chance zu geben, alles richtig zu machen, und zum Teil, um diesen Menschen absolut klarzumachen, dass ich mich nicht »versteckt« habe, krieche ich nun unter der Couch hervor und kündige mich mit einem kurzen Miauen an. Dann beginne ich ein ausführliches Streck-und- Pflege-Ritual, als wolle ich sagen, Oh, es ist jemand hier? Ich habe es noch gar nicht bemerkt, so fest habe ich geschlafen. Aber ich habe mich sicher nicht versteckt, falls ihr das dachtet.
Es ist leicht, die beiden zum Narren zu halten, denn Menschen fällt es wesentlich schwerer, Unwahrheiten herauszufinden als Katzen.
»Ja hey, Prudence«, sagt Josh und dreht sich zu mir um. »Du siehst ja wie ein süßes Mädchen aus. Du bist doch ein süßes Mädchen, nicht wahr?«
Sein herablassender Ton ist unerträglich. Ich fixiere ihn mit einem eisigen Blick und peitsche mit dem Schwanz, um ihn an seine Manieren zu erinnern, und dann fahre ich fort, mit der linken Vorderpfote mein Gesicht zu reinigen. Josh streckt langsam eine Hand nach meinem Kopf aus, aber ich gebiete ihm mit einem warnenden Fauchen Einhalt. Mit jemandem zu sprechen, dem man nicht geziemend vorgestellt wurde, ist unhöflich, doch jemanden zu berühren, dem man nicht geziemend vorgestellt wurde, ist noch viel schlimmer. Laura lacht zum ersten Mal, seit sie hier ist, und sagt: »Nimm's nicht persönlich. Prudence ist keine ›Leutekatze‹.«
Die beiden beobachten mich, wie ich beginne, mich hinter meinem Ohr zu putzen. Warum schauen sie mir so interessiert beim Putzen zu? Dann sagt Josh: »Ich freue mich, wenn wir sie bei uns aufnehmen, Laura, aber wenn du ein anderes Zuhause für sie fi nden möchtest, würde ich das verstehen. Jeder würde das verstehen.«
Laura schweigt einen Moment und sieht mir in die Augen. Ich setze ganz bewusst eine ausdruckslose Miene auf, denn ich will ihr nicht zeigen, wie nervös es mich macht, an all die unerträglichen Veränderungen zu denken, die mit einem Leben mit Fremden an einem neuen Ort einhergehen würden. »Es war meiner Mutter wichtig, dass Prudence zu uns kommt«, sagt Laura schließlich. »Sie hat sich diesbezüglich in ihrem Testament sehr präzise ausgedrückt.«
Ich denke an den Tag, an dem ich Laura kennenlernte. Ich war noch klein und hatte erst vier Wochen und drei Tage mit Sarah zusammengelebt. Mit der Stimme, mit der sie nur zu mir spricht, sagte Sarah: »Prudence, das ist meine Tochter, Laura.« Laura versteifte sich, als ich mich ihr so näherte, wie ich wusste, dass es von mir erwartet wurde, wenn Sarah in diesem Tonfall mit mir redete. Sie beugte sich nicht herunter, um näher an mich heranzukommen, sie bewegte sich überhaupt nicht, aber ihr Blick folgte mir. »Ich bin sicher, es würde ihr gefallen, wenn du sie streichelst«, sagte Sarah. Auch wenn ich nicht gerne von Menschen berührt werde, die ich nicht gut kenne, roch Laura doch genügend wie Sarah, sodass ich dachte, ich hätte sie, als ich Sarah adoptierte, vielleicht auch angenommen. Ich rieb mich an ihren Knöcheln und schnurrte sogar für sie. Nicht so stark, wie ich für Sarah schnurre, aber genug, um Laura wissen zu lassen, dass ich sie akzeptierte.
Sie lächelten sich zu, als sie mich schnurren hörten, aber damals wusste ich noch nicht, wie ungewöhnlich es war, dass die beiden einander so glücklich zulächelten wie in diesem Augenblick. Dann sagte Sarah: »Tiere haben dich immer gemocht. Ich weiß noch gut, wie verrückt die Katze der Mandelbaums nach dir war.«
Und in diesem Augenblick veränderte sich schlagartig Lauras Gesicht. Einmal, als ich noch sehr klein war, trat Sarah aus Versehen auf meinen Schwanz. Der Schmerz fuhr mir durch den ganzen Rücken. Und dieser plötzliche, heftige Schmerz machte mich zornig, so zornig, dass ich fauchte und mit den Krallen nach Sarah schlug. So sah Lauras Gesicht in diesem Moment aus. Zuerst war da ein schneller und schrecklicher Schmerz, und dann war da, ebenso schnell und schrecklich, Zorn auf Sarah, weil sie schuld daran war. Laura hörte auf zu lächeln, und ihre Schultern wurden steifer.
»Honey«, sagte sie zu Sarah. »Die Katze der Mandelbaums hieß Honey.« Und dann sagte sie mit einer Stimme, die sie benutzte wie ich meine Krallen: »Ich weiß gar nicht, warum du eine Katze haben willst, Mom. Ich dachte eigentlich nicht, dass du dir viel aus Katzen machst.«
Damals sah Sarahs Gesicht traurig aus, obschon sie nicht versuchte, sich zu verteidigen. Sie wusste, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, auch wenn ich wusste, dass sie das nicht gewollt hatte.
Ich will nicht mit Laura zusammenleben. Ich will nirgendwo mit niemandem leben außer hier mit Sarah. Aber wenn Sarah nicht mehr dafür bezahlt, dass wir hier wohnen können, bedeutet das, ich kann hier auch nicht mehr leben. Offenbar wusste Sarah, dass sie wegging, und wollte, dass ich zu Laura ziehe. Vielleicht plant sie ja zurückzukommen und will sichergehen, mich wiederzufi nden. Das muss es sein!
Die Erleichterung, die ich bei diesem Gedanken spüre, ist wunderbar - so wunderbar, dass ich mich anstrengen muss, um nicht in einen tiefen, wohligen Schlaf zu fallen, sobald die Spannung meinen Körper verlässt. Doch so wie mich Laura ansieht, weiß ich, dass sie immer noch über Joshs Worte nachdenkt - dass er es verstehen würde, wenn sie mich weggeben wollte. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ihr Gesicht für einen Moment aussah, als sie mich an jenem ersten Tag schnurren hörte, und ich denke, dass sie Katzen mehr mögen muss, als sie im Augenblick eingestehen will. (Was gibt es am Leben mit einer Katze nicht zu mögen?)
Also ignoriere ich Josh mit seinen schlechten Manieren, gehe zu Laura und tätschle ihr Bein mit meiner Pfote, die Krallen eingezogen, so wie ich es tue, wenn ich Sarah auf mich aufmerksam machen will. Dann reibe ich meinen Kopf an ihren Knöcheln, um sie mit meinem Duft zu markieren und ihr klarzumachen, dass sie keine Wahl hat, als mich mitzunehmen.
Laura bückt sich nicht, um mich zu streicheln, aber sie seufzt etwas resigniert. Die Spannung in meinem Bauch lässt weiter nach, und ich reibe meinen Kopf noch fester an ihren Beinen.
Vielleicht hat Josh nie eine Katze gehabt, die ihm Manieren beigebracht hätte, aber schon die ersten Minuten mit mir haben ihn ein wenig klüger gemacht. Er sagt nichts, aber als er Lauras Seufzer hört, weiß er so gut wie ich, dass die Sache geregelt ist.
Die Sonne sinkt tiefer, und das Apartment ist fast leer. Die Schränke sind ausgeräumt und die Teppiche aufgerollt, sodass die Heilsarmee sie mitnehmen kann, wenn sie wegen der Möbel kommt. Die Poster an der Wand, die ich gern angeschubst habe, sind aus ihren Glasrahmen genommen und zusammengerollt worden, damit sie in die Kartons mit all den Sachen passen, die wir mitnehmen. Es riecht und sieht so anders aus, dass es mir schon jetzt schwerfällt, mich an das Leben zu erinnern, das Sarah und ich hier zusammen hatten. Mein Plastik- Tragekorb steht an der Tür, und obwohl ich es normalerweise hasse, mich in ihn zu setzen (denn Sarah setzt mich nur dann hinein, wenn sie mich zum Bösen Ort trägt), krieche ich nun freiwillig hinein. Ich weiß, dass ich heute nicht zum Bösen Ort gehe. Außerdem ist er fast das Einzige, das hier noch so riecht wie Sarah und ich zusammen.
Als Laura und Josh die Teppiche aufrollten, fanden sie die alten Quietsch-Spielzeuge, die Sarah für mich besorgte, als ich hier neu eingezogen war. Sie sagte immer, wie leid es ihr tue, mich alleine lassen zu müssen, wenn sie zur Arbeit ging, und sie wollte unbedingt, dass ich etwas zum Spielen hatte, das auch Geräusche für mich machte, wenn ich allein war. Sie hat nie verstanden, dass ich gerne meine Ruhe habe und es liebe, manchmal ganz für mich zu sein. Vielleicht war das so, weil Sarah eigentlich nie gerne allein war.
Diese Spielzeuge waren nicht so interessant für mich wie die Streichholzbriefchen oder die Zeitungen, die Sarah zusammenknüllte (es macht keinen Spaß, mit Dingen zu spielen, mit denen man spielen soll; es ist viel toller, mit Sachen zu spielen, die man einfach fi ndet), und ich habe sie schon vor langer Zeit aus den Augen verloren. Aber ich weiß noch, wie ich mich freute, als Sarah sie damals nach Hause brachte. So wusste ich, trotzdem sie sich nie korrekt an Fütterungszeiten oder Ähnliches gehalten hat, dass sie selbst dann an mich dachte, wenn sie nicht hier war und mich sah. So wie ich auch an sie dachte, wenn sie weg war. Das bedeutete, dass ich an jenem Tag, als ich sie adoptierte, das Richtige getan habe.
Ich bin immer noch böse auf Sarah, weil sie mich verlassen hat, ohne sich zu verabschieden. Aber in erster Linie hoffe ich, dass ich sie eines Tages wiedersehe. Sie ist der einzige Mensch, den ich je geliebt habe.
Die einzigen noch nicht verpackten Sachen in der ganzen Wohnung sind Sarahs Sammlung schwarzer Scheiben und der spezielle Tisch, auf dem sie sie spielt. Josh wäscht sich die Hände, bevor er sie berührt, und so wie er mit ihnen umgeht, merke ich, dass er sich schon die ganze Zeit, seit er hier ist, wünscht, die schwarzen Scheiben durchzusehen. Ich mag das nicht, denn es sind Sarahs schwarze Scheiben, und nicht einmal ich darf sie berühren. Aber Sarah wohnt hier nicht mehr. Sie muss ihre Gründe gehabt haben, sie zurückzulassen, und das kann nur bedeuten, dass sie auch da, wo immer sie jetzt wohnt, noch Musik hören kann.
»Ich kann's nicht fassen, wie viele das sind«, sagt Josh zu Laura. »Ich glaube, so eine gigantische Sammlung Vinyl habe ich noch nie gesehen.«
»Mir ist auch nie aufgefallen, wie groß sie ist«, stimmt Laura zu. »Sie hat nach dem Verkauf des Plattenladens wohl mehr behalten, als ich mitgekriegt habe.«
»Es ist so eine große Bandbreite.« So wie Josh klingt, frage ich mich, ob vielleicht nicht alle Menschen eine Wand aus schwarzen Scheiben haben wie Sarah. Hinter den Metallstäben meines Tragekorbs sitzend sehe ich ihn zerteilt, so wie ich die Welt sah, wenn ich mich unter unser großes Fenster legte und durch die Stäbe der Feuerleiter nach oben sah. Er setzt sich im Schneidersitz vor die Schallplatten. »Schau dir das alles an!«
»Meine Mutter stand hauptsächlich auf Musik zum Tanzen«, sagt Laura. »Aber ihre Mitbewohnerin war in einer Punkband, und die beiden haben oft Platten getauscht.«
Josh grinst. »Ich schätze, das erklärt, warum sie Go Girl Crazy! von den Dictators neben Disco Tex and the Sex-O-Lettes stehen hat.«
»Packen wir sie ein. Durchsehen können wir sie später zu Hause«, meint Laura. Als er zögert, zieht sie die Mundwinkel nach oben und sagt: »Großes Ehrenwort.«
Josh nickt. Dann macht er »Oh!«, steht auf, geht zu einem offenen braunen Karton und nimmt etwas heraus. »Ich habe das nicht eingewickelt, weil ich dachte, das magst du vielleicht für die Wohnung.«
Laura geht zu ihm und sieht sich an, was er in der Hand hält. Es sieht aus wie eines der gerahmten Fotos, die auf dem Tisch neben der Couch standen.
»Wie alt war sie da?«, fragt er. »Sie sieht so jung aus.«
Laura nimmt ihm das Bild aus der Hand. »Sie war neunzehn. Das war kurz bevor sie mich bekam.«
»Sie war schön.« Josh sieht Laura an und lächelt. »Wie du.«
»Nein«, entgegnet Laura. »Ich werde nie so schön sein wie es meine Mutter war.«
Zuerst denke ich, sie übt sich in dem, was die Menschen Bescheidenheit nennen - wenn sie vorgeben, etwas nicht so gut zu können, wie es in Wirklichkeit der Fall ist. (Eine Katze würde so etwas nie tun.) Aber in ihrem Blick ist zu viel Traurigkeit, als sie hinzufügt: »Als ich klein war, dachte ich immer, was für ein Glück für mich, dass ich die hübscheste Mami habe.«
»So werden unsere Kinder einmal über dich denken.« Als Laura nichts erwidert, legt Josh ihr einen Arm um die Schultern und sagt in einem sanfteren Ton: »Das werden sie, Laura. Ich verspreche es dir.«
Damit hat er ihr anscheinend etwas richtig Nettes gesagt. Mir fällt es allerdings schwer, menschliche Schönheit zu beurteilen (alles, was seines Fells beraubt und gezwungen ist, auf den Hinterläufen zu gehen, sieht für mich nackt und peinlich aus). Es scheint keinen Grund dafür zu geben, dass sich Lauras Augen wegen Joshs Worten erneut mit Wasser füllen. Aber sie tun es.
Ich glaube, Josh möchte Laura nicht stören, damit ihre Tränen weggehen, auch wenn sie schwer schluckt und ein paar Mal blinzelt, bevor sie fallen können. Er geht wieder zu den schwarzen Scheiben hinüber, nimmt eine heraus und legt sie auf Sarahs speziellen Tisch. Einmal mehr wird das Apartment von Musik erfüllt. Das erinnert mich so sehr an das, was auch Sarah tun würde, dass ich zum ersten Mal denke, vielleicht könnte ich Josh mögen. Er singt sogar mit, so wie es Sarah manchmal gemacht hat.
Liebe ist die Botschaft, Liebe, Liebe ist, Liebe ist die ...
Die meisten der großen braunen Kartons bleiben in der Wohnung, um von der Armee abgeholt zu werden. Die restlichen tragen Laura und Josh hinunter zu dem großen metallenen Kasten auf Rädern, der am Auto hängt. Laura bringt die Abfalltüten in den Müllraum. Dabei lässt sie die Vordertür auf, und durch die offene Tür höre ich, wie ihre Schritte auf dem Weg vom Müllraum zurück innehalten. Dann höre ich, wie sie zurückgeht und eine der Abfalltüten wieder herausholt. Ihre Schritte entfernen sich, als würde sie die Tüte nach draußen bringen, und ich vermute, sie legt sie zu den Kartons, die wir mitnehmen.
Ich bleibe die ganze Zeit in meinem Tragekorb. Das muss ich. Laura hat ihn nämlich abgesperrt, was absolut ungehörig ist, denn bin ich etwa nicht völlig freiwillig hineingegangen? Gibt es irgendeinen Grund, mich wie einen dummen Hund zu behandeln, der versucht, aus seinem Zwinger auszureißen? Ich glaube, Menschen haben keine Ahnung, wie sehr sie die Würde von Katzen manchmal verletzen. Aber mir bleibt nicht lange Zeit, mich darüber zu ärgern, denn Laura kommt rasch ins Haus zurück und nimmt meinen Tragekorb hoch. Durch die Gitterstäbe erhasche ich einen letzten Blick auf das Apartment und frage mich, ob ich hier jemals wieder wohnen werde.
Laura nimmt mich mit hinaus, und ich muss auf halbem Wege die Augen schließen, so hell ist das Sonnenlicht, das durch die Gitterstäbe fällt. Sie steigt in den Wagen und stellt meinen Korb auf ihren Schoß, und Josh steigt auf der anderen Seite ein, damit er hinter dem großen runden Ding Platz nehmen kann, welches macht, dass das Auto fährt.
Ich war noch nie zuvor in einem Auto. Es ist gar nicht so übel, sobald ich mich daran gewöhnt habe, dass mich etwas anderes als meine Beine vorwärtsbewegt. Es macht mich sogar ein wenig schläfrig; ich muss mich bemühen, die Augen offen zu halten, denn ich will nichts versäumen. Ich hatte keine Ahnung, was ich bisher alles noch nicht gesehen habe, und beobachte alles, was sich am Fenster des Autos vorbeibewegt.
Je länger wir fahren, desto breiter werden die Straßen, bis ich mir sicher bin, dass wir jetzt nicht mehr in der Lower East Side sind. Einige der Straßen sind so breit, dass ich es gar nicht glauben kann. Und die Gebäude! Ich kann nicht einmal von allen die Dächer sehen, obwohl ich meinen Kopf so weit nach oben strecke, wie es der Tragekorb zulässt. In der Lower East Side habe ich nie so hohe Gebäude gesehen. In einigen ihrer Fenster sehe ich andere Katzen, die im Licht der späten Nachmittagssonne liegen oder gegen Vorhänge schlagen, die ihnen die Sicht rauben. Ich frage mich, ob sie auf immer in ihren Wohnungen leben, oder ob sie vielleicht auch eines Tages umziehen müssen wie ich, weil ihre Menschen nicht mehr nach Hause kommen. Ich wünschte, ich könnte sie fragen. Vielleicht wüsste eine von ihnen, was man tun muss, damit ein Mensch, der einen verlassen hat, wiederkommt.
Josh erklärt Laura, er werde den West Side Highway nehmen. Wir fahren an einem breiten Fluss entlang, in dem mehr Wasser ist, als ich mir je im wirklichen Leben zu sehen vorgestellt hatte. Auf dem Wasser sind Schiffe, und Menschen in anderen, seltsamen kleinen Maschinen, mit denen sie sich auf dem Wasser bewegen können, als ob sie darauf laufen würden. (Mir haben die Menschen schon immer leidgetan, weil sie ganz ins Wasser gehen müssen, um sauber zu werden, aber hier sind diese Menschen, die das aus gar keinem vernünftigen Grund tun!) Die Gehsteige entlang des Flusses wimmeln nur so von Menschen mit Essen, Einkaufstüten oder kleineren Menschen, die sie an der Hand führen. Einer von ihnen wirft einer enorm großen Schar Tauben Brotreste zu und - oh! Wie schön wäre es, mitten in diese Menge hineinzuspringen und diesen dummen Vögeln zu zeigen, wer hier der Boss ist!
Laura öffnet das Fenster auf unserer Seite, und alle möglichen Gerüche schlagen mir entgegen. Diese gemischten Aromen erinnern mich an die Zeit vor Sarah, als ich mit meinen Wurfgeschwistern draußen lebte. Ich rieche andere Autos, und Vögel, und Menschen, die in ihren Kleidern schwitzen, und da ist der Geruch von neuem, frischem Schmutz. Es ist die Zeit des Jahres, wenn die Kälte vergeht, und so rieche ich auch Blumen, und andere Dinge, die ich nicht benennen kann, weil ich zu sehr überwältigt bin. Ich wünschte ich könnte da, wo wir sind, lange genug bleiben, um alles, was ich rieche, einzeln zu erkennen und ihm seinen richtigen Namen zu geben.
Und wenn ich hier bleiben könnte - genau hier, an diesem Fleck -, dann müsste ich nicht in die Wohnung von Laura und Josh ziehen. Ich müsste niemals das Leben beginnen, das mich jetzt erwartet und das zumindest für den Moment ein Leben ohne Sarah bedeutet.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Gwen Cooper
Gwen Cooper wurde in Miami geboren und arbeitete dort fünf Jahre lang für eine gemeinnützige Organisation. Sie koordinierte unter anderem ehrenamtliche Aktivitäten für „Pet Rescue". Derzeit lebt Gwen mit ihrem Mann Laurence in Manhattan. Sie hat drei perfekte Katzen - Scarlett, Vashti und Homer -, die von alldem nicht beeindruckt sind. Bibliographische Angaben
- Autor: Gwen Cooper
- 2013, 1, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863657780
- ISBN-13: 9783863657789
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