Die Macht der Disziplin
Wie wir unseren Willen trainieren können
Tausende Motivationstrainer haben uns gesagt: Erfolg zu haben ist einfach. Wir müssen nur an uns glauben. Aber warum sind dann immer noch so viele erfolglos? Roy Baumeister und John Tierney kennen die Antwort. Auf der Grundlage neuer...
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Produktinformationen zu „Die Macht der Disziplin “
Tausende Motivationstrainer haben uns gesagt: Erfolg zu haben ist einfach. Wir müssen nur an uns glauben. Aber warum sind dann immer noch so viele erfolglos? Roy Baumeister und John Tierney kennen die Antwort. Auf der Grundlage neuer Forschungsergebnisse zeigen sie: Nicht positives Denken ist der Schlüssel zum Erfolg, sondern Disziplin.
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Die Macht der Disziplin von Roy Baumeister & John Tierney ... mehr
Einleitung
Menschen, die ein erfolgreiches Leben führen - egal ob das für Sie eine glückliche Familie bedeutet, eine befriedigende Arbeit, Gesundheit, finanzielle Sicherheit oder die Freiheit, Ihre Träume zu verwirklichen -, bringen in der Regel bestimmte persönliche Eigenschaften mit. Auf der Suche nach dem Geheimnis der Lebenszufriedenheit haben Psychologen zwei besonders wichtige Eigenschaften identifiziert: Intelligenz und Selbstdisziplin. Wie sich die Intelligenz dauerhaft steigern lässt, haben sie noch nicht herausgefunden. Aber sie haben entdeckt (oder wiederentdeckt), wie wir uns selbst besser in den Griff bekommen können.
Und genau darum geht es in diesem Buch. Mit der neuen Forschung zur Willenskraft und zur Selbstdisziplin kann die Psychologie unserer Ansicht nach einen echten Beitrag dazu leisten, das Leben der Menschen zu verbessern. Willenskraft ermöglicht es uns, uns selbst und unsere Gesellschaft im Kleinen wie im Großen zu verändern. Wie Charles Darwin in Die Abstammung des Menschen schrieb: »Die höchste mögliche Stufe in der moralischen Kultur, zu der wir gelangen können, ist die, wenn wir erkennen, dass wir unsere Gedanken kontrollieren sollen.« Diese viktorianische Vorstellung von Willenskraft kam irgendwann außer Mode, und viele Psychologen und Philosophen des 20. Jahrhunderts zweifelten, ob sie überhaupt je existiert habe. Auch Roy Baumeister, einer der beiden Autoren dieses Buches, begann als Skeptiker. Doch dann beobachtete er im Labor, wie der Wille den Menschen die Kraft gibt, weiterzumachen; wie sie die Beherrschung verlieren, wenn ihr Wille geschwächt wird, und dass diese mentale Energie von der Glukose im Blut befeuert wird. Er beobachtete, dass der Wille wie ein Muskel ermüdet, wenn er überstrapaziert wird, aber sich auch durch Training langfristig stärken lässt. Nachdem Baumeister mit seinen Experimenten die Existenz des Willens nachweisen konnte, begannen die Sozialwissenschaften mit seiner intensiven Erforschung. Psychologen in aller Welt bestätigten, dass eine Stärkung unseres Willens der sicherste Weg zu einem besseren Leben ist.
Viele unserer persönlichen und gesellschaftlichen Probleme hängen mit mangelnder Selbstdisziplin zusammen: zwanghafter Konsum, Verschuldung, Gewalt, schlechte schulische Leistungen, mangelnde Produktivität am Arbeitsplatz, Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungesunde Ernährung, mangelnde sportliche Betätigung, chronische Angst, Jähzorn, und so weiter und so fort. Mangelnde Selbstdisziplin ist die Ursache der verschiedensten persönlichen Traumata, angefangen von der Entlassung über den Verlust von Freunden bis zur Scheidung oder sogar zu Gefängnisstrafen. Tennisspieler verlieren das Finale, weil sie ihre Gefühle nicht im Griff haben. Politiker zerstören mit einem Seitensprung ihre Laufbahn. Die Finanzwirtschaft wird durch eine Epidemie von riskanten Krediten und Investitionen ruiniert. Viele Menschen leben im Alter in Armut, weil sie nicht genug Geld auf die Seite gelegt haben.
Wenn wir nach unseren persönlichen Stärken gefragt werden, dann nennen wir oft Ehrlichkeit, Güte, Humor, Kreativität, Mut und andere Tugenden - selbst Bescheidenheit. Aber Selbstdisziplin zählt nicht dazu. Bei einer Befragung von mehr als zwei Millionen Menschen in aller Welt landete die Selbstdisziplin auf der letzten Stelle. Von den zwei Dutzend auf dem Fragebogen aufgelisteten »Charakterstärken « wurde sie am seltensten genannt. Dafür stand bei den Schwächen die mangelnde Selbstdisziplin ganz oben.
In einer Zeit, in der es mehr Versuchungen gibt als je zuvor, fühlen sich viele Menschen überfordert. Ihr Körper erscheint zwar pünktlich am Arbeitsplatz, doch Ihr Kopf kann durch einen einzigen Mausklick oder das Klingeln des Telefons ganz woanders sein. Mit einem Klick auf den Eingangsordner Ihres E-Mail-Programms oder auf Facebook, mit einem Ausflug auf eine Klatschseite oder zu einem Video- spiel lässt sich jede Aufgabe aufschieben. Ein typischer Computernutzer besucht pro Tag mehr als drei Dutzend Websites. Mit einer zehnminütigen Einkaufstour auf einer Internet-Shopping-Seite können Sie Ihr komplettes Jahresbudget durcheinanderbringen. Die Versuchungen sind schier grenzenlos. Wir meinen oft, der Wille sei eine außergewöhnliche Kraft, die wir nur in Notfällen mobilisieren. Dass diese Annahme falsch ist, konnte Roy Baumeister bei einer Untersuchung von mehr als zweihundert Männern und Frauen feststellen. Die Testpersonen wurden mit einem Beeper ausgestattet, der siebenmal am Tag zu zufälligen Zeitpunkten klingelte; dann sollten die Teilnehmer notieren, ob sie in diesem Moment einen Wunsch oder ein Bedürfnis verspürten oder kurz zuvor eines verspürt hatten. Bei dieser Untersuchung wurden über den ganzen Tag verteilt Zehntausende Momentaufnahmen gesammelt.
Dabei stellte sich heraus, dass Bedürfnisse und Wünsche die Regel waren, nicht die Ausnahme. In der Hälfte der Fälle verspürten die Testpersonen in dem Moment, in dem der Beeper losging, ein bestimmtes Bedürfnis, und ein weiteres Viertel gab an, in den vergangenen Minuten ein Bedürfnis verspürt zu haben. In den meisten Fällen hatten sie diesen Bedürfnisse nicht nachgegeben. Die Untersuchung ergab, dass wir pro Tag zwischen drei und vier Stunden damit zubringen, Versuchungen zu widerstehen - wenn man die Zeit abzieht, während der wir schlafen, ist das mindestens ein Fünftel des Tages. Anders ausgedrückt: Wenn Sie zu einem beliebigen Zeitpunkt fünf willkürlich gewählte Personen ansprechen, dann widersteht gerade mindestens einer davon mit Hilfe seiner Willenskraft einem Bedürfnis oder einem Wunsch. Aber wir setzen unseren Willen deutlich häufiger ein, denn wir nutzen ihn auch bei Entscheidungen und in einer Reihe anderer Situationen.
In der Beeper-Untersuchung wurde das Bedürfnis, etwas zu essen, am häufigsten genannt. Gleich darauf folgten das Bedürfnis, zu schlafen, und der Wunsch, die Arbeit liegen zu lassen, um ein Rätsel zu lösen oder ein Spiel zu spielen. Sexuelle Bedürfnisse gehörten ebenfalls zu den am häufigsten unterdrückten, knapp vor dem Bedürfnis nach anderen zwischenmenschlichen Interaktionen wie dem Aufruf von E-Mails, dem Besuch sozialer Netzwerke, Internetsurfen, Musikhören oder Fernsehen. Die Testpersonen verwendeten verschiedene Strategien, um diesen Versuchungen zu widerstehen. Die meisten suchten nach einer Ablenkung oder begannen eine neue Aufgabe, einige versuchten jedoch, das Bedürfnis einfach zu unterdrücken oder es auszuhalten. Alles in allem erlagen sie etwa einem Sechstel der Versuchungen. Sie schnitten relativ gut ab, wenn es darum ging, das Bedürfnis nach einem Nickerchen, Sex oder Konsum zu verdrängen, aber nur mittelmäßig, wenn sie auf etwas zu essen oder auf Softdrinks verzichten sollten. Und beim Versuch, den Verlockungen von Fernsehen, Internet und anderen Formen der Arbeitsvermeidung etwas entgegenzusetzen, scheiterten sie in fast der Hälfte aller Fälle.
Diese Leistungsbilanz klingt zunächst nicht sonderlich ermutigend, und im historischen Vergleich ist die Ausfallquote vermutlich eher hoch. Wir können natürlich nicht genau sagen, wie viel Selbstdisziplin unsere Vorfahren vor Erfindung der Beeper und der Experimentalpsychologie mitbrachten, doch scheint die Annahme naheliegend, dass die Menschen einst deutlich weniger Versuchungen ausgesetzt waren. Im Mittelalter waren die meisten Menschen Bauern, sie arbeiteten auf dem Feld und nahmen dabei häufig große Mengen Alkohol zu sich. Sie standen nicht unter dem Druck, die Karriereleiter am Arbeitsplatz hochklettern zu müssen, und hatten deshalb auch kaum Anlass, besonders fleißig oder auch nur besonders nüchtern zu sein. In ihren Dörfern gab es kaum Versuchungen, von Alkohol, Sex oder Müßiggang einmal abgesehen. Wenn sie sich trotzdem einigermaßen tugendhaft verhielten, dann vor allem, weil sie unter den Nachbarn keinen Anstoß erregen wollten, und weniger um der Tugend selbst willen. Den Christen des Mittelalters winkte das Himmelreich, wenn sie die katholischen Rituale einhielten, und nicht weil sie heldenhafte Willenskraft bewiesen.
Doch als die Bauern im 19. Jahrhundert in die neuen Industriestädte übersiedelten, wurden sie nicht mehr durch Dorfpfarrer, gesellschaftliche Zwänge und universelle Glaubensvorstellungen diszipliniert. Die Reformation hatte die Religion zur Angelegenheit des Einzelnen gemacht, und die Aufklärung hatte den Glauben an Dogmen geschwächt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten die Menschen in einer Übergangsphase, in der die moralischen Gewissheiten und starren Institutionen des Mittelalters im Verschwinden begriffen waren. Damals stellten sich viele Menschen die Frage, ob die Moral ohne Religion Bestand haben könne. Viele zweifelten insgeheim an der Religion, doch nach außen hin hielten sie an ihr fest, glaubten sie doch, den Anstand wahren zu müssen.
Wir mokieren uns heute gern über die Heuchelei und Prüderie des 19. Jahrhunderts -so wird oft behauptet, im viktorianischen England habe man Tischbeine mit kleinen Röckchen versehen, damit der Tisch keine Knöchel zeige. Wenn man heute die steifen Predigten über Gott und die menschlichen Pflichten aus der Zeit liest, dann kann man ohne Weiteres verstehen, warum die respektlosen Bemerkungen Oscar Wildes so erfrischend wirkten: »Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung«, erklärte er etwa. Aber angesichts der zahlreichen neuen Versuchungen stellte es kein Zeichen einer Neurose dar, wenn viele Menschen nach neuen Quellen zu ihrer Stärkung suchten. Viele beklagten den Sittenverfall und die gesellschaftlichen Krankheiten der Städte und suchten nach einem Halt, der greifbarer war als die göttliche Gnade - eine innere Stärke, die sie auch als Atheisten beschützte.
Damals entdeckte man den Begriff des Willens oder der Willenskraft. Man meinte, dass eine Art Kraft im Spiel sein müsse, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Dampf habe, der die Industrielle Revolution antrieb. Viele Menschen versuchten, ihre Willenskraft mittels Selbsthilfebüchern zu trainieren. Einer der ersten Bestseller war Hilf dir selbst! des britischen Autors Samuel Smiles, der seine Leser unter dem Motto »Genie ist Geduld« daran erinnerte, dass Erfolg mit »Selbstzucht« und »unermüdlicher Beharrlichkeit« zu tun habe. Sein amerikanischer Zeitgenosse Frank Channing Haddock schrieb ein Buch mit dem schlichten Titel Die Macht des Willens; er gab dem ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich und beschrieb den Willen als »Energie, die sich qualitativ mehren und qualitativ stärken« lasse. Allerdings hatte er keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, und wissenschaftliche Beweise für seine These konnte er schon gar nicht vorlegen. Derselbe Gedanke kam jedoch auch einem Menschen mit größerer wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit: Sigmund Freud meinte, das Ego basiere auf geistiger Aktivität, die wiederum mit einem Energieaustausch zusammenhänge.
Doch Freuds Nachfolger vergaßen sein Energiemodell. Erst vor kurzem begannen Wissenschaftler, allen voran Roy Baumeister, systematisch nach dieser Energiequelle zu fahnden. Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch suchten Psychologen und Lehrende lieber nach Gründen, warum der Wille nicht existierte.
Die willenlose Gesellschaft
Wenn Sie durch wissenschaftliche Fachzeitschriften oder die aktuelle Selbsthilfeliteratur blättern, stellen Sie schnell fest, dass die Vorstellung der »Charakterbildung «, wie sie im 19. Jahrhundert gepflegt wurde, seit geraumer Zeit außer Mode ist. Wenn die Begeisterung für den Willen zu Beginn des 20. Jahrhunderts abflaute, dann hatte das natürlich mit den moralischen Exzessen des 19. Jahrhunderts zu tun, aber auch mit wirtschaftlichen Umwälzungen und den beiden Weltkriegen. Das Blutvergießen des Ersten Weltkrieges schien nur möglich gewesen zu sein, weil zu viele Moralisten pflichtschuldig in den Tod gegangen waren. In den Vereinigten Staaten und Westeuropa predigten Intellektuelle daher eine entspanntere Sicht des Lebens. Anders in Deutschland, wo die Nationalsozialisten eine »Psychologie des Willens« vertraten; bildgewordener Ausdruck dieser Philosophie war Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens über den Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg im Jahr 1934. Die nationalsozialistische Vorstellung des Gehorsams der Massen gegenüber einem Soziopathen hatte zwar nichts mit dem Gedanken des Willens aus dem 19. Jahrhundert zu tun, aber dieser Unterschied wurde verwischt. Wenn die Nationalsozialisten den Triumph des Willens verkörperten, dann wollte man besser nichts mit dem Willen zu tun haben.
Niemand weinte dem Willen eine Träne nach, und in den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde er durch immer neue Kräfte weiter geschwächt. Der technologische Fortschritt verbilligte die Güter und trug zum neuen Wohlstand der Arbeitnehmer bei, der private Konsum wurde zum Motor der Wirtschaft, und die neue Werbebranche drängte die Menschen zum Kauf. Soziologen sprachen von einer neuen Generation fremdbestimmter Menschen, die sich eher von den Ansichten ihrer Nachbarn lenken ließen als von eigenen moralischen Überzeugungen. Die Selbsthilfebücher des 19. Jahrhunderts galten als verstaubt und egozentrisch. Die neuen Bestseller waren fröhliche Bücher wie Dale Carnegies Wie man Freunde gewinnt oder Norman Vincent Peales Die Kraft positiven Denkens. Carnegie verwendet ganze acht Seiten darauf, um seinen Lesern zu erklären, wie sie zu lächeln haben. Mit dem richtigen Lächeln gewinne man andere Menschen, und das sei der Schlüssel zu Erfolg, versicherte er. Peale und andere Autoren fanden sogar einen noch einfacheren Weg.
»Der entscheidende Faktor der Psychologie ist der erfüllbare Wunsch«, schrieb Peale. »Wer davon ausgeht, dass er erfolgreich sein wird, der ist bereits erfolgreich.« In seinem Millionenseller Denke nach und werde reich forderte Napoleon Hill seine Leser auf, sich zu überlegen, wie viel Geld sie besitzen wollen, diese Summe auf ein Stück Papier zu schreiben - und dann daran zu glauben, dass sie sich schon in ihrem Besitz befände. Die Bücher dieser Gurus verkauften sich bis zum Ende des
20. Jahrhunderts, und die Wohlfühl-Psychologie ließ sich in einem einfachen Slogan zusammenfassen: »Du musst nur daran glauben.« Unter dem Einfluss dieser neuen Philosophie veränderte sich der Charakter der Menschen, wie der Psychoanalytiker Allen Wheelis beobachtete. Ende der fünfziger Jahre verriet dieser ein Geheimnis seiner Branche: Die Freudsche Psychoanalyse funktionierte nicht mehr. In seinem bahnbrechenden Werk Wer wir sind und was uns bleibt beschrieb Wheelis, wie sich der Charakter der Menschen seit Freuds Zeiten verändert hatte. Die Angehörigen der Mittelschicht, die noch im Kaiserreich groß geworden waren und das Gros von Freuds Patienten ausmachten, brachten einen eisernen Willen mit, weshalb es dem Therapeuten schwerfiel, ihre psychischen Abwehrmechanismen und ihr moralisches Empfinden zu überwinden. Freuds Therapien legten daher das Schwergewicht darauf, diese Mechanismen zu brechen und den Patienten die Ursachen für ihre Neurosen und ihr psychisches Leid zu zeigen; sobald die Patienten diese Erkenntnis besaßen, konnten Veränderungen relativ einfach erfolgen. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich die Abwehrmechanismen jedoch verändert. Wheelis und seine Kollegen stellten fest, dass ihre Patienten sehr viel schneller zu Einsichten gelangten als zu Freuds Zeiten, dass die Therapie jedoch an diesem Punkt oft stockte und scheiterte. Die Patienten hatten nicht mehr den robusten Charakter früherer Generationen und damit nicht die Kraft, ihre Erkenntnisse umzusetzen und ihr Leben zu verändern. In der Freudschen Terminologie beschrieb Wheelis den Niedergang des Über-Ichs in der westlichen Gesellschaft, aber im Grunde meinte er nichts anderes als das Verschwinden des Willens - und das noch vor der Generation der 68er mit ihrem Mantra »Was sich gut anfühlt, ist gut«.
Die populäre Kultur der siebziger Jahre feierte die Selbstverhätschlung. Immer mehr Sozialwissenschaftler brachten immer neue Argumente vor, um zu zeigen, dass es so etwas wie einen Willen nicht geben konnte. Nach dieser Theorie hatte individuelles Fehlverhalten seine Ursachen in der Umwelt: Schuld waren Armut, Unterdrückung und andere Einflüsse, und damit die Wirtschaft und die Politik. Die Suche nach den gesellschaftlichen Ursachen ist oft für alle Beteiligten angenehmer, auch für die Akademiker, die im Zeitalter der politischen Korrektheit Angst davor haben, »die Schuld bei den Opfern zu suchen«, wenn sie andeuten, jemand könne an seinen Problemen auch selbst Schuld haben. Gesellschaftliche Probleme scheinen leichter lösbar als charakterliche Schwächen, zumindest aus Sicht der Sozialwissenschaftler, die immer neue Maßnahmen und Programme zu deren Beseitigung entwickeln.
Die Vorstellung, dass wir uns bewusst beherrschen und kontrollieren können, fand unter Psychologen wenig Freunde. Die Freudianer behaupteten, unser Verhalten sei das Resultat von Kräften und Prozessen, die sich in unserem Unbewussten abspielten. Der Behaviorist B. F. Skinner hatte für das Bewusstsein und mentale Prozesse insgesamt wenig übrig, für ihn dienten sie bestenfalls zur Verstärkung von erlernten Verhaltensweisen. In Jenseits von Freiheit und Würde behauptete er, um den Menschen zu verstehen, müsse man die altmodischen Begriffe im Titel seines Buches vergessen. Zwar sind Skinners Theorien inzwischen weitgehend widerlegt, doch ihr Grundgedanke lebt weiter, wenn Psychologen behaupten, das Bewusstsein sei dem Unterbewussten ungeordnet. Der Wille war für sie so unwichtig, dass er in den modernen Persönlichkeitsmodellen nicht einmal vorkommt. Neurowissenschaftler behaupten sogar, sie hätten bewiesen, dass es ihn nicht gebe. Auch Philosophen weigern sich, den Begriff zu verwenden; wenn sie die klassische philosophische Frage der Willensfreiheit erörtern, bevorzugen sie den Begriff »Handlungsmöglichkeiten« und sprechen verächtlich vom »sogenannten Willen«. Neuerdings fordern Wissenschaftler sogar, man müsse den Rechtsstaat reformieren, um altmodische Vorstellungen wie den freien Willen und die Verantwortung abzuschaffen.
Als Roy Baumeister in den siebziger Jahren an der Princeton University seine Laufbahn als Sozialwissenschaftler begann, teilte er diese verbreitete Skepsis gegenüber der Willenskraft. Seine Kollegen beschäftigten sich nicht mit der Selbstdisziplin, sondern mit dem Selbstwertgefühl. In seinen Experimenten konnte Baumeister zeigen, dass Menschen mit mehr Selbstvertrauen und einem größeren Selbstwertgefühl glücklicher und erfolgreicher waren als andere. Viele gelangten damals zu dem Schluss, man könne Menschen zum Erfolg verhelfen, indem man ihr Selbstwertgefühl stärke. Dieser Ansicht schienen nicht nur die Psychologen zu sein, sondern auch die gesamte Bevölkerung, wie Bestseller wie Ich bin o.k. - du bist o.k. von Thomas A. Harris oder Grenzenlose Energie von Anthony Robbins zeigen. Doch die Ergebnisse waren enttäuschend, im Labor genauso wie in der wirklichen Welt. In internationalen Vergleichstests haben amerikanische Schüler zwar schier grenzenloses Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten, aber in den Prüfungen selbst schneiden sie regelmäßig deutlich schlechter ab als Schüler aus Korea, Japan und anderen Nationen, die weit weniger Selbstvertrauen mitbringen.
In den achtziger Jahren begannen jedoch einige Wissenschaftler, sich für das Thema der Selbstregulation zu interessieren. An der Spitze dieser Wiederentdekkung der Disziplin standen keine Theoretiker, denn diese hielten den Willen noch immer für ein Märchen aus dem 19. Jahrhundert. Es waren vielmehr Psychologen, die im Labor oder in der wirklichen Welt Experimente durchführten und immer wieder auf etwas stießen, das man nicht anders nennen konnte als »Willenskraft«.
Das Comeback des Willens
In der Psychologie sind geniale Theorien billig zu haben. Viele Menschen meinen, die Wissenschaft mache Fortschritte, wenn jemand ein brillantes neues Gedankengebäude errichtet, aber so funktioniert sie leider nicht. Eine Theorie aufzustellen ist nicht weiter schwer. Jeder hat seine Lieblingstheorie, um zu erklären, warum wir was wie tun, und viele Psychologen müssen sich bei der Präsentation einer neuen Theorie Sätze anhören wie: »Das hat doch schon meine Oma gewusst.« Aber wirkliche Fortschritte werden nur dann erzielt, wenn jemand eine Möglichkeit findet, eine Theorie in der Praxis zu überprüfen. Das tat zum Beispiel Walter Mischel. Er und seine Kollegen beschäftigten sich gar nicht mit Fragen der Selbstregulation, und es sollte Jahre dauern, ehe sie die Ergebnisse ihrer Untersuchungen überhaupt in einen Zusammenhang mit der Selbstdisziplin und der Willenskraft brachten.
Mischel ging der Frage nach, wie Kinder lernen, die Befriedigung eines Bedürfnisses aufzuschieben, und entwickelte kreative Experimente, um den Prozess bei vierjährigen Kindern zu beobachten. Er brachte sie einzeln in einen Raum, zeigte ihnen ein Marshmallow und bot ihnen einen Handel an: Er werde den Raum verlassen, und die Kinder konnten das Marshmallow jederzeit essen. Aber wenn sie warteten, bis er zurückkam, versprach er ihnen zur Belohnung ein zweites Marshmallow. Einige Kinder steckten das Marshmallow in den Mund, kaum dass er den Raum verlassen hatte, andere widerstanden der Versuchung eine kurze Zeit, wieder andere warteten eine geschlagene Viertelstunde auf ihre Belohnung. Die Kinder, denen dies gelang, lenkten sich meist durch etwas anderes ab. Die Experimente wurden in den sechziger Jahren durchgeführt und erregten damals ein gewisses Interesse in der Fachwelt.
Durch Zufall machte Mischel viele Jahre später jedoch eine faszinierende Entdeckung. Seine Töchter besuchten dieselbe Schule, an der er die Marshmallow- Experimente durchgeführte hatte. Mischel hatte die Versuche längst abgeschlossen und sich anderen Themen zugewandt, doch über seine Töchter hörte er immer wieder von ihren Mitschülern. Dabei stellte er fest, dass die Kinder, die nicht auf das zweite Marshmallow hatten warten können, sowohl in der Schule als auch außerhalb mehr Probleme zu haben schienen. Um zu überprüfen, ob sich dahinter ein Muster verbarg, spürte Mischel rund hundert der ursprünglichen Testteilnehmer auf. Und in der Tat bekamen diejenigen Jugendlichen, die im Alter von vier Jahren mehr Willenskraft gezeigt hatten, in der Schule bessere Noten. Wer als Kind eine ganze Viertelstunde auf seine Belohnung gewartet hatte, erzielte beim Test für den Hochschulzugang durchschnittlich um fast 10 Prozent bessere Ergebnisse als andere, die der Versuchung bereits nach einer halben Minute erlegen waren. Die Kinder mit größerer Willenskraft waren beliebter bei ihren Klassenkameraden und Lehrern. Sie verdienten mehr Geld. Sie wiesen einen besseren Body-Mass-Index auf und waren seltener übergewichtig. Sie hatten weniger Drogenprobleme.
Dies war umso erstaunlicher, als Ergebnisse aus Experimenten in der frühen Kindheit nur selten Aufschluss über die persönlichen Eigenschaften im späteren Leben geben. Genau diese Erkenntnis war es auch gewesen, die der Freudschen Psychoanalyse den Todesstoß versetzt hatte, denn diese hatte frühkindliche Erlebnisse als Grundlage der erwachsenen Psyche gesehen. Als Martin Seligman in den neunziger Jahren die Forschungsliteratur auswertete, fand er keinen Hinweis darauf, dass Erlebnisse aus der Kindheit Auswirkungen auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter haben, von schweren Traumata und Unterernährung einmal abgesehen. Besaß jemand ein sonniges Gemüt oder war er ein Griesgram, so ließ sich das eher auf angeborene Eigenschaften zurückführen. Es kann durchaus sein, dass die Willenskraft, sich einem Marshmallow zu widersetzen, eine genetische Komponente hat, aber sie schien auch erlernbar. Es war einer der seltenen Fälle, in denen sich ein Vorteil aus der Kindheit ein Leben lang auszahlt.
Das ist umso bemerkenswerter, wenn man sich die Vorteile der Selbstdisziplin insgesamt ansieht. Genau das tat Roy Baumeister in seinem Fachbuch Losing Control, das er 1994 mit seiner Frau Dianne Tice von der Case Western University und seinem Kollegen Todd Heatherton von der Harvard University veröffentlichte. »Mangelhafte Selbstregulation ist die gravierendste gesellschaftliche Krankheit unserer Zeit«, schrieben sie und verwiesen auf hohe Scheidungsraten, häusliche Gewalt, Verbrechen und eine Vielzahl weiterer Probleme. Das Buch regte weitere Experimente und Untersuchungen an, unter anderem die Entwicklung einer Skala zur Messung der Selbstdisziplin in Persönlichkeitstests. Als Psychologen die Noten von Studenten mit rund drei Dutzend Persönlichkeitseigenschaften verglichen, stellten sie fest, dass Selbsdisziplin die einzige Eigenschaft war, die in direktem Zusammenhang mit den Noten stand. Selbst der Intelligenzquotient und das Ergebnis des Hochschulzugangstests gaben weniger Aufschluss über die späteren Leistungen an der Universität. Intelligenz stellte zwar offensichtlich einen Vorteil dar, doch die Untersuchung zeigte, dass die Selbstdisziplin wichtiger war, da sie den Studenten half, regelmäßig an ihren Vorlesungen teilzunehmen, ihre Hausaufgaben rechtzeitig zu beginnen sowie mehr Zeit auf ihr Studium und weniger auf ihre Freizeitgestaltung zu verwenden.
Am Arbeitsplatz werden Führungskräfte mit größerer Selbstdisziplin von ihren Mitarbeitern und Kollegen besser bewertet. Menschen mit guter Selbstdisziplin scheint es besser möglich, stabile und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen. Sie zeigen mehr Empathie und sind eher in der Lage, Dinge aus der Sicht der anderen zu sehen. Sie sind emotional gefestigter und neigen weniger zu Angst, Depression, Paranoia, Psychosen, zwanghaften Verhaltensweisen, Essstörungen, Alkoholproblemen und anderen psychischen Leiden. Sie reagieren weniger häufig mit Ärger, und wenn, dann werden sie seltener aggressiv, weder verbal noch physisch. Menschen mit mangelnder Selbstdisziplin schlagen dagegen ihre Partner eher und begehen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine ganze Reihe anderer Delikte. Das Muster war eindeutig, wie June Tangney nachwies, die in Zusammenarbeit mit Baumeister ein Maß für Selbstdisziplin in Persönlichkeitstests entwickelte. Bei der Untersuchung von Häftlingen stellte sie beispielsweise fest, dass diejenigen Straftäter mit mangelnder Selbstdisziplin nach ihrer Haftentlassung mit größerer Wahrscheinlichkeit erneut straffällig wurden.
Der beste Beweis stammt jedoch aus dem Jahr 2010. In einer beispiellosen, langfristig angelegten Untersuchung verfolgte ein internationales Forscherteam eintausend neuseeländische Kinder von der Geburt bis zum 32. Lebensjahr. Um die Selbstdisziplin verlässlich zu messen, griffen die Wissenschaftler zu verschiedenen Methoden (Beobachtungen der Wissenschaftler selbst, Berichte von Eltern und Lehrern sowie Selbstbeschreibungen der Kinder). Dann verglichen sie die Ergebnisse mit einer Vielfalt von Verhaltensweisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wer als Kind über ein höheres Maß an Selbstdisziplin verfügte, war im Erwachsenenalter gesünder, hatte mit geringerer Wahrscheinlichkeit Übergewicht oder Geschlechtskrankheiten und sogar gesündere Zähne (zur Selbstdisziplin gehören offenbar auch regelmäßiges Zähneputzen und die Verwendung von Zahnseide). Die Selbstdisziplin hatte zwar keine Auswirkungen auf Depression im Erwachsenenalter, doch führte ihr Mangel häufiger zu Alkohol- und Drogenproblemen. Je unbeherrschter die Teilnehmer im Kindesalter waren, umso weniger verdienten sie als Erwachsene, umso weniger Geld hatten sie auf dem Konto oder für die Altersvorsorge zurückgelegt und umso geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den eigenen vier Wänden lebten. Kinder mit mangelnder Selbstdisziplin waren als Erwachsene häufiger geschieden oder Alleinerziehende, vermutlich weil sie nicht die Disziplin aufbrachten, eine langfristige Beziehung einzugehen. Wer dagegen schon als Kind eine angemessene Selbstdisziplin aufgewiesen hatte, lebte später mit größerer Wahrscheinlichkeit in einer stabilen Ehe und erzog seine Kinder in einem gemeinsamen Haushalt. Und schließlich landeten Teilnehmer, die sich schon als Kinder nicht beherrschen konnten, später eher im Gefängnis: Von den Teilnehmern, die als Kind die geringste Selbstdisziplin mitgebracht hatten, waren 40 Prozent im Alter von 32 Jahren mindestens einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, im Vergleich zu 12 Prozent der Testpersonen, die als Kinder ein hohes Maß an Selbstdisziplin an den Tag gelegt hatten.
Diese Unterschiede hingen zwar zum Teil auch mit der Intelligenz, der ethnischen Herkunft und der sozialen Schicht zusammen, doch die Willenskraft stellte mit Abstand den einflussreichsten Faktor dar. In einer Nachfolgeuntersuchung erhoben dieselben Wissenschaftler Daten zu den Geschwistern in derselben Familie und verglichen sie mit den Daten von Kindern aus ähnlichen Familien. Wieder ging es denjenigen, die als Kinder unbeherrschter gewesen waren, im Erwachsenenalter durchgängig schlechter: Sie hatten mehr gesundheitliche Probleme und weniger Geld in der Tasche und saßen mit größerer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis. Die Resultate hätten nicht eindeutiger ausfallen können: Selbstdisziplin ist eine entscheidende Stärke und ein Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben.
Evolution und Etikette
Während Psychologen die Vorteile der Selbstdisziplin erkannten, versuchten Anthropologen und Neurowissenschaftler zu verstehen, wie sie sich entwickelt hatte. Das menschliche Gehirn zeichnet sich durch seine großen und komplexen Frontallappen aus, denen wir eine Fähigkeit verdanken, die lange als entscheidender evolutionärer Vorteil der Menschen galt: die Intelligenz, mit der wir Probleme in unserer Umwelt lösen. Ein Tier mit einem größeren Gehirn müsse doch eher in der Lage sein, zu überleben und sich zu vermehren, als ein Tier mit einem kleineren Gehirn, so die Logik. Aber ein großes Gehirn benötigt auch eine Menge Energie. Das Gehirn eines erwachsenen Menschen macht zwar nur 2 Prozent des Körpergewichts aus, aber es verbraucht 20 Prozent der Energie. Die zusätzliche graue Masse ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn das Tier mit ihrer Hilfe die zusätzlichen Kalorien heranschafft, die zu ihrem Unterhalt erforderlich sind. Daher konnten Wissenschaftler lange Zeit nicht nachvollziehen, wie sich das Gehirn bezahlt macht. Wie kam es also, dass die Menschen immer größere Gehirne mit immer stärkeren Frontallappen entwickelten?
Einige Wissenschaftler suchten die Erklärungen bei Bananen und anderen nährstoffreichen Früchten. Tiere, die sich von Gras ernähren, müssen nicht lange darüber nachdenken, wo ihre nächste Mahlzeit herkommt. Aber ein Baum, der letzte Woche noch voller reifer Bananen hing, ist heute leergefressen oder hat nur noch verfaultes Obst zu bieten. Wer sich von Bananen ernährt, braucht demnach ein größeres Gehirn, um sich daran zu erinnern, wo die reifen Früchte sind, und dieses Gehirn würde von den zusätzlichen Kalorien der Bananen angetrieben.
Insofern schien die Theorie vom »bananensuchenden Gehirn« schlüssig - aber nur auf dem Papier. Als der Anthropologe Robin Dunbar sie überprüfte, fand er keinerlei Zusammenhang zwischen dem Speiseplan und der Hirngröße von verschiedenen Tieren. Dunbar kam schließlich zu dem Schluss, dass das große Gehirn des Menschen nicht für den Umgang mit der physischen Umgebung entstand, sondern für den Umgang mit etwas, das für das Überleben weitaus wichtiger ist: das Sozialleben. Tiere mit größeren Gehirnen leben in größeren und komplexeren Sozialverbänden. Diese These bot eine neue Möglichkeit, den Homo sapiens zu verstehen. Von allen Primaten besitzen die Menschen die größten Frontallappen, weil sie in den größten Sozialverbänden leben. Genau aus diesem Grund benötigen sie offenbar auch besonders viel Selbstdisziplin. Wir sehen den Willen gern als eine Kraft zur persönlichen Weiterentwicklung - mit seiner Hilfe halten wir uns an eine Diät, machen uns rechtzeitig an die Arbeit, gehen jeden Morgen joggen, hören mit dem Rauchen auf, und so weiter. Das war allerdings nicht unbedingt der Grund, weshalb unsere Vorfahren ihn entwickelten. Primaten sind soziale Lebewesen und müssen sich beherrschen, um mit den Artgenossen in ihrer Gruppe auszukommen. Sie sind aufeinander angewiesen, um nicht zu verhungern. Wenn die Beute geteilt wird, bekommen oft die größten und stärksten Männchen die besten Stücke, und die übrigen kommen je nach ihrem Status an die Reihe. Um keine Prügel zu beziehen, müssen sie ihren Wunsch unterdrücken, sich sofort über die Beute herzumachen. Wenn Schimpansen und andere Affen die Hirne von Eichhörnchen hätten, würden sie keine Mahlzeit ohne Schlägerei überstehen und beim Streit ums Futter mehr Kalorien verbrauchen, als sie zu sich nehmen.
Obwohl auch andere Primaten die mentalen Kapazitäten für einfache Tischmanieren mitbringen, ist ihre Selbstdisziplin im Vergleich zur menschlichen minimal. Experten schätzen, dass die intelligentes
ten nichtmenschlichen Primaten ungefähr zwanzig Minuten weit in die Zukunft blicken können. In diesem Zeitraum kann sich das Alphamännchen den Bauch vollschlagen, aber für Pläne über die Mahlzeit hinaus reicht das nicht aus. (Einige Tiere, zum Beispiel Eichhörnchen, legen sich für schlechte Zeiten Nahrungsvorräte an, doch handelt es sich hierbei um programmierte Instinkte, nicht um geplante Vorratshaltung.) In einem Experiment erhielten die Affen nur einmal am Tag, nämlich zur Mittagszeit, ihr Futter, aber sie lernten nie, sich einen Teil davon für später aufzuheben. Sie konnten sich zwar während der Fütterung so viel Futter mitnehmen, wie sie wollten, aber sie fraßen einfach, bis sie satt waren. Den Rest ignorierten sie oder bewarfen sich gegenseitig damit. Am nächsten Morgen wachten sie hungrig auf, weil es ihnen nie eingefallen wäre, sich einen Teil ihres Mittagessens für das Abendessen oder das Frühstück aufzuheben.
Wenn wir Menschen es besser wissen, dann dank unseres großen Gehirns, das unsere Vorfahren vor zwei Millionen Jahren entwickelten. Unsere Selbstdisziplin wirkt weitgehend unbewusst. Beim Geschäftsessen müssen Sie sich nicht bewusst zügeln, ihrem Chef die Pommes vom Teller zu klauen. Ihr unbewusstes Gehirn hilft Ihnen, soziale Konflikte zu vermeiden; es funktioniert auf so subtile und vielfältige Weise, dass einige Psychologen zu dem Schluss kamen, es habe in Wirklichkeit die Zügel in der Hand. Doch dieses Faible für unbewusste Prozesse rührt von einem grundlegenden Denkfehler, den Wissenschaftler machen, wenn sie unser Verhalten in immer feinere Scheibchen schneiden und im Gehirn Reaktionen entdecken, die zu schnell erfolgen, als dass sie vom Bewusstsein gesteuert sein könnten. Wenn Sie sich eine beliebige Bewegung im Maßstab von Millisekunden ansehen, dann ist die unmittelbare Ursache immer die Aktivität einer Nervenzelle, die das Gehirn mit dem Muskel verbindet. Dieser Prozess hat nichts Bewusstes. Niemand bemerkt, wenn eine Gehirnzelle ein Signal aussendet. Doch der Wille wird erkennbar, wenn man die Einheiten über die Zeit hinweg in Verbindung setzt. Der Wille bedeutet, die gegenwärtige Situation als Teil eines übergreifenden Musters zu verstehen. Von einer Zigarette nimmt Ihre Lunge noch keinen Schaden. Wenn Sie sich einmal Heroin spritzen, werden Sie noch nicht süchtig. Von einem Stück Kuchen bekommen Sie kein Übergewicht, und wenn Sie eine Aufgabe versäumen, werden Sie nicht entlassen. Aber um gesund und in Lohn und Brot zu bleiben, müssen Sie (fast) jede Situation vor dem Hintergrund der generellen Notwendigkeit sehen, Versuchungen zu widerstehen. Und an diesem Punkt kommt die bewusste Selbstdisziplin ins Spiel - und macht den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg in fast jedem Lebensbereich aus.
Warum Sie den Willen aufbringen sollten, dieses Buch zu lesen
Der erste Schritt der Selbstdisziplin besteht darin, sich ein Ziel zu setzen. Daher wollen wir Ihnen unser Ziel für dieses Buch verraten. Auf den folgenden Seiten werden wir Ihnen die neuesten Erkenntnisse der modernen Psychologie vorstellen und mit einer Prise der praktischen Weisheit unserer Urgroßeltern würzen. Wir wollen Ihnen zeigen, wie die Willenskraft - oder der Mangel derselben - unser Leben beeinflusst. Wir erklären Ihnen, warum Topmanager einem ehemaligen Karatelehrer 20 000 Dollar am Tag bezahlen, um von ihm zu lernen, wie man Todo- Listen aufstellt, und warum Unternehmer in Silicon Valley digitale Werkzeuge entwickeln, um damit Werte des 19. Jahrhunderts zu vermitteln. Wir sehen uns an, wie ein britisches Kindermädchen heulende Drillinge bändigte und wie Künstler wie Amanda Palmer, Drew Carey, Eric Clapton und Oprah Winfrey die Willenskraft in ihrem Leben zur Anwendung brachten. Wie sehen uns an, wie David Blaine 44 Tage lang fastete und wie der Entdecker Henry Morton Stanley jahrelang in der afrikanischen Wildnis überlebte. Und wir zeigen Ihnen, was die Wiederentdekkung der Selbstdisziplin in der Wissenschaft für Ihr Leben bedeuten kann.
Als Psychologen die Vorteile der Selbstdisziplin erkannten, standen sie vor einem neuen Rätsel: Was genau ist der menschliche Wille? Was benötigt ein Mensch, um einem Marshmallow zu widerstehen? Als sich Roy Baumeister diese Fragen stellte, war seine Vorstellung noch der konventionellen Sicht des Menschen als informationsverarbeitende Maschine verhaftet. Für ihn und seine Kollegen stellte das Gehirn letztlich nichts anderes als eine Art Computer dar. Diese Modelle übersehen jedoch meist Vorstellungen wie Kraft oder Energie, die schon seit so langer Zeit aus der Mode gekommen sind, dass sich heute niemand mehr mit ihnen auseinandersetzt. Baumeister rechnete nicht damit, dass sich sein Menschenbild soradikal verändern würde. Aber als er und seine Kollegen mit ihren Experimenten begannen, schienen die alten Ideen plötzlich gar nicht mehr so veraltet.
Nachdem Baumeister und andere Psychologen Hunderte Versuche durchgeführt hatten, schälte sich ein neues Bild des Willens und des Menschen ganz allgemein heraus. Wir wollen Ihnen diese neuen Erkenntnisse zum menschlichen Verhalten vorstellen und Ihnen zeigen, wie Sie diese verwenden können, um sich zu verändern und ein besseres Leben zu führen. Anders als andere Techniken, die in der modernen Selbsthilfeliteratur angepriesen werden, lässt sich die Selbstdisziplin nicht einfach auf magische Art und Weise erwerben, aber sie muss auch nicht so lustfeindlich daherkommen wie im 19. Jahrhundert. Letztlich erleichtert Ihnen die Selbstdisziplin das Leben, indem sie Ihnen viel Stress abnimmt und Ihnen erlaubt, sich Ihre Willenskraft für die wichtigen Aufgaben aufzuheben. Wir sind uns sicher, dass die Erkenntnisse in diesem Buch Ihr Leben nicht nur produktiver und befriedigender machen, sondern auch einfacher und glücklicher. Und wir versprechen Ihnen, dass Sie sich keine Moralpredigten über entblößte Knöchel anhören müssen.
Copyright © 2011. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Einleitung
Menschen, die ein erfolgreiches Leben führen - egal ob das für Sie eine glückliche Familie bedeutet, eine befriedigende Arbeit, Gesundheit, finanzielle Sicherheit oder die Freiheit, Ihre Träume zu verwirklichen -, bringen in der Regel bestimmte persönliche Eigenschaften mit. Auf der Suche nach dem Geheimnis der Lebenszufriedenheit haben Psychologen zwei besonders wichtige Eigenschaften identifiziert: Intelligenz und Selbstdisziplin. Wie sich die Intelligenz dauerhaft steigern lässt, haben sie noch nicht herausgefunden. Aber sie haben entdeckt (oder wiederentdeckt), wie wir uns selbst besser in den Griff bekommen können.
Und genau darum geht es in diesem Buch. Mit der neuen Forschung zur Willenskraft und zur Selbstdisziplin kann die Psychologie unserer Ansicht nach einen echten Beitrag dazu leisten, das Leben der Menschen zu verbessern. Willenskraft ermöglicht es uns, uns selbst und unsere Gesellschaft im Kleinen wie im Großen zu verändern. Wie Charles Darwin in Die Abstammung des Menschen schrieb: »Die höchste mögliche Stufe in der moralischen Kultur, zu der wir gelangen können, ist die, wenn wir erkennen, dass wir unsere Gedanken kontrollieren sollen.« Diese viktorianische Vorstellung von Willenskraft kam irgendwann außer Mode, und viele Psychologen und Philosophen des 20. Jahrhunderts zweifelten, ob sie überhaupt je existiert habe. Auch Roy Baumeister, einer der beiden Autoren dieses Buches, begann als Skeptiker. Doch dann beobachtete er im Labor, wie der Wille den Menschen die Kraft gibt, weiterzumachen; wie sie die Beherrschung verlieren, wenn ihr Wille geschwächt wird, und dass diese mentale Energie von der Glukose im Blut befeuert wird. Er beobachtete, dass der Wille wie ein Muskel ermüdet, wenn er überstrapaziert wird, aber sich auch durch Training langfristig stärken lässt. Nachdem Baumeister mit seinen Experimenten die Existenz des Willens nachweisen konnte, begannen die Sozialwissenschaften mit seiner intensiven Erforschung. Psychologen in aller Welt bestätigten, dass eine Stärkung unseres Willens der sicherste Weg zu einem besseren Leben ist.
Viele unserer persönlichen und gesellschaftlichen Probleme hängen mit mangelnder Selbstdisziplin zusammen: zwanghafter Konsum, Verschuldung, Gewalt, schlechte schulische Leistungen, mangelnde Produktivität am Arbeitsplatz, Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungesunde Ernährung, mangelnde sportliche Betätigung, chronische Angst, Jähzorn, und so weiter und so fort. Mangelnde Selbstdisziplin ist die Ursache der verschiedensten persönlichen Traumata, angefangen von der Entlassung über den Verlust von Freunden bis zur Scheidung oder sogar zu Gefängnisstrafen. Tennisspieler verlieren das Finale, weil sie ihre Gefühle nicht im Griff haben. Politiker zerstören mit einem Seitensprung ihre Laufbahn. Die Finanzwirtschaft wird durch eine Epidemie von riskanten Krediten und Investitionen ruiniert. Viele Menschen leben im Alter in Armut, weil sie nicht genug Geld auf die Seite gelegt haben.
Wenn wir nach unseren persönlichen Stärken gefragt werden, dann nennen wir oft Ehrlichkeit, Güte, Humor, Kreativität, Mut und andere Tugenden - selbst Bescheidenheit. Aber Selbstdisziplin zählt nicht dazu. Bei einer Befragung von mehr als zwei Millionen Menschen in aller Welt landete die Selbstdisziplin auf der letzten Stelle. Von den zwei Dutzend auf dem Fragebogen aufgelisteten »Charakterstärken « wurde sie am seltensten genannt. Dafür stand bei den Schwächen die mangelnde Selbstdisziplin ganz oben.
In einer Zeit, in der es mehr Versuchungen gibt als je zuvor, fühlen sich viele Menschen überfordert. Ihr Körper erscheint zwar pünktlich am Arbeitsplatz, doch Ihr Kopf kann durch einen einzigen Mausklick oder das Klingeln des Telefons ganz woanders sein. Mit einem Klick auf den Eingangsordner Ihres E-Mail-Programms oder auf Facebook, mit einem Ausflug auf eine Klatschseite oder zu einem Video- spiel lässt sich jede Aufgabe aufschieben. Ein typischer Computernutzer besucht pro Tag mehr als drei Dutzend Websites. Mit einer zehnminütigen Einkaufstour auf einer Internet-Shopping-Seite können Sie Ihr komplettes Jahresbudget durcheinanderbringen. Die Versuchungen sind schier grenzenlos. Wir meinen oft, der Wille sei eine außergewöhnliche Kraft, die wir nur in Notfällen mobilisieren. Dass diese Annahme falsch ist, konnte Roy Baumeister bei einer Untersuchung von mehr als zweihundert Männern und Frauen feststellen. Die Testpersonen wurden mit einem Beeper ausgestattet, der siebenmal am Tag zu zufälligen Zeitpunkten klingelte; dann sollten die Teilnehmer notieren, ob sie in diesem Moment einen Wunsch oder ein Bedürfnis verspürten oder kurz zuvor eines verspürt hatten. Bei dieser Untersuchung wurden über den ganzen Tag verteilt Zehntausende Momentaufnahmen gesammelt.
Dabei stellte sich heraus, dass Bedürfnisse und Wünsche die Regel waren, nicht die Ausnahme. In der Hälfte der Fälle verspürten die Testpersonen in dem Moment, in dem der Beeper losging, ein bestimmtes Bedürfnis, und ein weiteres Viertel gab an, in den vergangenen Minuten ein Bedürfnis verspürt zu haben. In den meisten Fällen hatten sie diesen Bedürfnisse nicht nachgegeben. Die Untersuchung ergab, dass wir pro Tag zwischen drei und vier Stunden damit zubringen, Versuchungen zu widerstehen - wenn man die Zeit abzieht, während der wir schlafen, ist das mindestens ein Fünftel des Tages. Anders ausgedrückt: Wenn Sie zu einem beliebigen Zeitpunkt fünf willkürlich gewählte Personen ansprechen, dann widersteht gerade mindestens einer davon mit Hilfe seiner Willenskraft einem Bedürfnis oder einem Wunsch. Aber wir setzen unseren Willen deutlich häufiger ein, denn wir nutzen ihn auch bei Entscheidungen und in einer Reihe anderer Situationen.
In der Beeper-Untersuchung wurde das Bedürfnis, etwas zu essen, am häufigsten genannt. Gleich darauf folgten das Bedürfnis, zu schlafen, und der Wunsch, die Arbeit liegen zu lassen, um ein Rätsel zu lösen oder ein Spiel zu spielen. Sexuelle Bedürfnisse gehörten ebenfalls zu den am häufigsten unterdrückten, knapp vor dem Bedürfnis nach anderen zwischenmenschlichen Interaktionen wie dem Aufruf von E-Mails, dem Besuch sozialer Netzwerke, Internetsurfen, Musikhören oder Fernsehen. Die Testpersonen verwendeten verschiedene Strategien, um diesen Versuchungen zu widerstehen. Die meisten suchten nach einer Ablenkung oder begannen eine neue Aufgabe, einige versuchten jedoch, das Bedürfnis einfach zu unterdrücken oder es auszuhalten. Alles in allem erlagen sie etwa einem Sechstel der Versuchungen. Sie schnitten relativ gut ab, wenn es darum ging, das Bedürfnis nach einem Nickerchen, Sex oder Konsum zu verdrängen, aber nur mittelmäßig, wenn sie auf etwas zu essen oder auf Softdrinks verzichten sollten. Und beim Versuch, den Verlockungen von Fernsehen, Internet und anderen Formen der Arbeitsvermeidung etwas entgegenzusetzen, scheiterten sie in fast der Hälfte aller Fälle.
Diese Leistungsbilanz klingt zunächst nicht sonderlich ermutigend, und im historischen Vergleich ist die Ausfallquote vermutlich eher hoch. Wir können natürlich nicht genau sagen, wie viel Selbstdisziplin unsere Vorfahren vor Erfindung der Beeper und der Experimentalpsychologie mitbrachten, doch scheint die Annahme naheliegend, dass die Menschen einst deutlich weniger Versuchungen ausgesetzt waren. Im Mittelalter waren die meisten Menschen Bauern, sie arbeiteten auf dem Feld und nahmen dabei häufig große Mengen Alkohol zu sich. Sie standen nicht unter dem Druck, die Karriereleiter am Arbeitsplatz hochklettern zu müssen, und hatten deshalb auch kaum Anlass, besonders fleißig oder auch nur besonders nüchtern zu sein. In ihren Dörfern gab es kaum Versuchungen, von Alkohol, Sex oder Müßiggang einmal abgesehen. Wenn sie sich trotzdem einigermaßen tugendhaft verhielten, dann vor allem, weil sie unter den Nachbarn keinen Anstoß erregen wollten, und weniger um der Tugend selbst willen. Den Christen des Mittelalters winkte das Himmelreich, wenn sie die katholischen Rituale einhielten, und nicht weil sie heldenhafte Willenskraft bewiesen.
Doch als die Bauern im 19. Jahrhundert in die neuen Industriestädte übersiedelten, wurden sie nicht mehr durch Dorfpfarrer, gesellschaftliche Zwänge und universelle Glaubensvorstellungen diszipliniert. Die Reformation hatte die Religion zur Angelegenheit des Einzelnen gemacht, und die Aufklärung hatte den Glauben an Dogmen geschwächt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten die Menschen in einer Übergangsphase, in der die moralischen Gewissheiten und starren Institutionen des Mittelalters im Verschwinden begriffen waren. Damals stellten sich viele Menschen die Frage, ob die Moral ohne Religion Bestand haben könne. Viele zweifelten insgeheim an der Religion, doch nach außen hin hielten sie an ihr fest, glaubten sie doch, den Anstand wahren zu müssen.
Wir mokieren uns heute gern über die Heuchelei und Prüderie des 19. Jahrhunderts -so wird oft behauptet, im viktorianischen England habe man Tischbeine mit kleinen Röckchen versehen, damit der Tisch keine Knöchel zeige. Wenn man heute die steifen Predigten über Gott und die menschlichen Pflichten aus der Zeit liest, dann kann man ohne Weiteres verstehen, warum die respektlosen Bemerkungen Oscar Wildes so erfrischend wirkten: »Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung«, erklärte er etwa. Aber angesichts der zahlreichen neuen Versuchungen stellte es kein Zeichen einer Neurose dar, wenn viele Menschen nach neuen Quellen zu ihrer Stärkung suchten. Viele beklagten den Sittenverfall und die gesellschaftlichen Krankheiten der Städte und suchten nach einem Halt, der greifbarer war als die göttliche Gnade - eine innere Stärke, die sie auch als Atheisten beschützte.
Damals entdeckte man den Begriff des Willens oder der Willenskraft. Man meinte, dass eine Art Kraft im Spiel sein müsse, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Dampf habe, der die Industrielle Revolution antrieb. Viele Menschen versuchten, ihre Willenskraft mittels Selbsthilfebüchern zu trainieren. Einer der ersten Bestseller war Hilf dir selbst! des britischen Autors Samuel Smiles, der seine Leser unter dem Motto »Genie ist Geduld« daran erinnerte, dass Erfolg mit »Selbstzucht« und »unermüdlicher Beharrlichkeit« zu tun habe. Sein amerikanischer Zeitgenosse Frank Channing Haddock schrieb ein Buch mit dem schlichten Titel Die Macht des Willens; er gab dem ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich und beschrieb den Willen als »Energie, die sich qualitativ mehren und qualitativ stärken« lasse. Allerdings hatte er keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, und wissenschaftliche Beweise für seine These konnte er schon gar nicht vorlegen. Derselbe Gedanke kam jedoch auch einem Menschen mit größerer wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit: Sigmund Freud meinte, das Ego basiere auf geistiger Aktivität, die wiederum mit einem Energieaustausch zusammenhänge.
Doch Freuds Nachfolger vergaßen sein Energiemodell. Erst vor kurzem begannen Wissenschaftler, allen voran Roy Baumeister, systematisch nach dieser Energiequelle zu fahnden. Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch suchten Psychologen und Lehrende lieber nach Gründen, warum der Wille nicht existierte.
Die willenlose Gesellschaft
Wenn Sie durch wissenschaftliche Fachzeitschriften oder die aktuelle Selbsthilfeliteratur blättern, stellen Sie schnell fest, dass die Vorstellung der »Charakterbildung «, wie sie im 19. Jahrhundert gepflegt wurde, seit geraumer Zeit außer Mode ist. Wenn die Begeisterung für den Willen zu Beginn des 20. Jahrhunderts abflaute, dann hatte das natürlich mit den moralischen Exzessen des 19. Jahrhunderts zu tun, aber auch mit wirtschaftlichen Umwälzungen und den beiden Weltkriegen. Das Blutvergießen des Ersten Weltkrieges schien nur möglich gewesen zu sein, weil zu viele Moralisten pflichtschuldig in den Tod gegangen waren. In den Vereinigten Staaten und Westeuropa predigten Intellektuelle daher eine entspanntere Sicht des Lebens. Anders in Deutschland, wo die Nationalsozialisten eine »Psychologie des Willens« vertraten; bildgewordener Ausdruck dieser Philosophie war Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens über den Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg im Jahr 1934. Die nationalsozialistische Vorstellung des Gehorsams der Massen gegenüber einem Soziopathen hatte zwar nichts mit dem Gedanken des Willens aus dem 19. Jahrhundert zu tun, aber dieser Unterschied wurde verwischt. Wenn die Nationalsozialisten den Triumph des Willens verkörperten, dann wollte man besser nichts mit dem Willen zu tun haben.
Niemand weinte dem Willen eine Träne nach, und in den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde er durch immer neue Kräfte weiter geschwächt. Der technologische Fortschritt verbilligte die Güter und trug zum neuen Wohlstand der Arbeitnehmer bei, der private Konsum wurde zum Motor der Wirtschaft, und die neue Werbebranche drängte die Menschen zum Kauf. Soziologen sprachen von einer neuen Generation fremdbestimmter Menschen, die sich eher von den Ansichten ihrer Nachbarn lenken ließen als von eigenen moralischen Überzeugungen. Die Selbsthilfebücher des 19. Jahrhunderts galten als verstaubt und egozentrisch. Die neuen Bestseller waren fröhliche Bücher wie Dale Carnegies Wie man Freunde gewinnt oder Norman Vincent Peales Die Kraft positiven Denkens. Carnegie verwendet ganze acht Seiten darauf, um seinen Lesern zu erklären, wie sie zu lächeln haben. Mit dem richtigen Lächeln gewinne man andere Menschen, und das sei der Schlüssel zu Erfolg, versicherte er. Peale und andere Autoren fanden sogar einen noch einfacheren Weg.
»Der entscheidende Faktor der Psychologie ist der erfüllbare Wunsch«, schrieb Peale. »Wer davon ausgeht, dass er erfolgreich sein wird, der ist bereits erfolgreich.« In seinem Millionenseller Denke nach und werde reich forderte Napoleon Hill seine Leser auf, sich zu überlegen, wie viel Geld sie besitzen wollen, diese Summe auf ein Stück Papier zu schreiben - und dann daran zu glauben, dass sie sich schon in ihrem Besitz befände. Die Bücher dieser Gurus verkauften sich bis zum Ende des
20. Jahrhunderts, und die Wohlfühl-Psychologie ließ sich in einem einfachen Slogan zusammenfassen: »Du musst nur daran glauben.« Unter dem Einfluss dieser neuen Philosophie veränderte sich der Charakter der Menschen, wie der Psychoanalytiker Allen Wheelis beobachtete. Ende der fünfziger Jahre verriet dieser ein Geheimnis seiner Branche: Die Freudsche Psychoanalyse funktionierte nicht mehr. In seinem bahnbrechenden Werk Wer wir sind und was uns bleibt beschrieb Wheelis, wie sich der Charakter der Menschen seit Freuds Zeiten verändert hatte. Die Angehörigen der Mittelschicht, die noch im Kaiserreich groß geworden waren und das Gros von Freuds Patienten ausmachten, brachten einen eisernen Willen mit, weshalb es dem Therapeuten schwerfiel, ihre psychischen Abwehrmechanismen und ihr moralisches Empfinden zu überwinden. Freuds Therapien legten daher das Schwergewicht darauf, diese Mechanismen zu brechen und den Patienten die Ursachen für ihre Neurosen und ihr psychisches Leid zu zeigen; sobald die Patienten diese Erkenntnis besaßen, konnten Veränderungen relativ einfach erfolgen. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich die Abwehrmechanismen jedoch verändert. Wheelis und seine Kollegen stellten fest, dass ihre Patienten sehr viel schneller zu Einsichten gelangten als zu Freuds Zeiten, dass die Therapie jedoch an diesem Punkt oft stockte und scheiterte. Die Patienten hatten nicht mehr den robusten Charakter früherer Generationen und damit nicht die Kraft, ihre Erkenntnisse umzusetzen und ihr Leben zu verändern. In der Freudschen Terminologie beschrieb Wheelis den Niedergang des Über-Ichs in der westlichen Gesellschaft, aber im Grunde meinte er nichts anderes als das Verschwinden des Willens - und das noch vor der Generation der 68er mit ihrem Mantra »Was sich gut anfühlt, ist gut«.
Die populäre Kultur der siebziger Jahre feierte die Selbstverhätschlung. Immer mehr Sozialwissenschaftler brachten immer neue Argumente vor, um zu zeigen, dass es so etwas wie einen Willen nicht geben konnte. Nach dieser Theorie hatte individuelles Fehlverhalten seine Ursachen in der Umwelt: Schuld waren Armut, Unterdrückung und andere Einflüsse, und damit die Wirtschaft und die Politik. Die Suche nach den gesellschaftlichen Ursachen ist oft für alle Beteiligten angenehmer, auch für die Akademiker, die im Zeitalter der politischen Korrektheit Angst davor haben, »die Schuld bei den Opfern zu suchen«, wenn sie andeuten, jemand könne an seinen Problemen auch selbst Schuld haben. Gesellschaftliche Probleme scheinen leichter lösbar als charakterliche Schwächen, zumindest aus Sicht der Sozialwissenschaftler, die immer neue Maßnahmen und Programme zu deren Beseitigung entwickeln.
Die Vorstellung, dass wir uns bewusst beherrschen und kontrollieren können, fand unter Psychologen wenig Freunde. Die Freudianer behaupteten, unser Verhalten sei das Resultat von Kräften und Prozessen, die sich in unserem Unbewussten abspielten. Der Behaviorist B. F. Skinner hatte für das Bewusstsein und mentale Prozesse insgesamt wenig übrig, für ihn dienten sie bestenfalls zur Verstärkung von erlernten Verhaltensweisen. In Jenseits von Freiheit und Würde behauptete er, um den Menschen zu verstehen, müsse man die altmodischen Begriffe im Titel seines Buches vergessen. Zwar sind Skinners Theorien inzwischen weitgehend widerlegt, doch ihr Grundgedanke lebt weiter, wenn Psychologen behaupten, das Bewusstsein sei dem Unterbewussten ungeordnet. Der Wille war für sie so unwichtig, dass er in den modernen Persönlichkeitsmodellen nicht einmal vorkommt. Neurowissenschaftler behaupten sogar, sie hätten bewiesen, dass es ihn nicht gebe. Auch Philosophen weigern sich, den Begriff zu verwenden; wenn sie die klassische philosophische Frage der Willensfreiheit erörtern, bevorzugen sie den Begriff »Handlungsmöglichkeiten« und sprechen verächtlich vom »sogenannten Willen«. Neuerdings fordern Wissenschaftler sogar, man müsse den Rechtsstaat reformieren, um altmodische Vorstellungen wie den freien Willen und die Verantwortung abzuschaffen.
Als Roy Baumeister in den siebziger Jahren an der Princeton University seine Laufbahn als Sozialwissenschaftler begann, teilte er diese verbreitete Skepsis gegenüber der Willenskraft. Seine Kollegen beschäftigten sich nicht mit der Selbstdisziplin, sondern mit dem Selbstwertgefühl. In seinen Experimenten konnte Baumeister zeigen, dass Menschen mit mehr Selbstvertrauen und einem größeren Selbstwertgefühl glücklicher und erfolgreicher waren als andere. Viele gelangten damals zu dem Schluss, man könne Menschen zum Erfolg verhelfen, indem man ihr Selbstwertgefühl stärke. Dieser Ansicht schienen nicht nur die Psychologen zu sein, sondern auch die gesamte Bevölkerung, wie Bestseller wie Ich bin o.k. - du bist o.k. von Thomas A. Harris oder Grenzenlose Energie von Anthony Robbins zeigen. Doch die Ergebnisse waren enttäuschend, im Labor genauso wie in der wirklichen Welt. In internationalen Vergleichstests haben amerikanische Schüler zwar schier grenzenloses Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten, aber in den Prüfungen selbst schneiden sie regelmäßig deutlich schlechter ab als Schüler aus Korea, Japan und anderen Nationen, die weit weniger Selbstvertrauen mitbringen.
In den achtziger Jahren begannen jedoch einige Wissenschaftler, sich für das Thema der Selbstregulation zu interessieren. An der Spitze dieser Wiederentdekkung der Disziplin standen keine Theoretiker, denn diese hielten den Willen noch immer für ein Märchen aus dem 19. Jahrhundert. Es waren vielmehr Psychologen, die im Labor oder in der wirklichen Welt Experimente durchführten und immer wieder auf etwas stießen, das man nicht anders nennen konnte als »Willenskraft«.
Das Comeback des Willens
In der Psychologie sind geniale Theorien billig zu haben. Viele Menschen meinen, die Wissenschaft mache Fortschritte, wenn jemand ein brillantes neues Gedankengebäude errichtet, aber so funktioniert sie leider nicht. Eine Theorie aufzustellen ist nicht weiter schwer. Jeder hat seine Lieblingstheorie, um zu erklären, warum wir was wie tun, und viele Psychologen müssen sich bei der Präsentation einer neuen Theorie Sätze anhören wie: »Das hat doch schon meine Oma gewusst.« Aber wirkliche Fortschritte werden nur dann erzielt, wenn jemand eine Möglichkeit findet, eine Theorie in der Praxis zu überprüfen. Das tat zum Beispiel Walter Mischel. Er und seine Kollegen beschäftigten sich gar nicht mit Fragen der Selbstregulation, und es sollte Jahre dauern, ehe sie die Ergebnisse ihrer Untersuchungen überhaupt in einen Zusammenhang mit der Selbstdisziplin und der Willenskraft brachten.
Mischel ging der Frage nach, wie Kinder lernen, die Befriedigung eines Bedürfnisses aufzuschieben, und entwickelte kreative Experimente, um den Prozess bei vierjährigen Kindern zu beobachten. Er brachte sie einzeln in einen Raum, zeigte ihnen ein Marshmallow und bot ihnen einen Handel an: Er werde den Raum verlassen, und die Kinder konnten das Marshmallow jederzeit essen. Aber wenn sie warteten, bis er zurückkam, versprach er ihnen zur Belohnung ein zweites Marshmallow. Einige Kinder steckten das Marshmallow in den Mund, kaum dass er den Raum verlassen hatte, andere widerstanden der Versuchung eine kurze Zeit, wieder andere warteten eine geschlagene Viertelstunde auf ihre Belohnung. Die Kinder, denen dies gelang, lenkten sich meist durch etwas anderes ab. Die Experimente wurden in den sechziger Jahren durchgeführt und erregten damals ein gewisses Interesse in der Fachwelt.
Durch Zufall machte Mischel viele Jahre später jedoch eine faszinierende Entdeckung. Seine Töchter besuchten dieselbe Schule, an der er die Marshmallow- Experimente durchgeführte hatte. Mischel hatte die Versuche längst abgeschlossen und sich anderen Themen zugewandt, doch über seine Töchter hörte er immer wieder von ihren Mitschülern. Dabei stellte er fest, dass die Kinder, die nicht auf das zweite Marshmallow hatten warten können, sowohl in der Schule als auch außerhalb mehr Probleme zu haben schienen. Um zu überprüfen, ob sich dahinter ein Muster verbarg, spürte Mischel rund hundert der ursprünglichen Testteilnehmer auf. Und in der Tat bekamen diejenigen Jugendlichen, die im Alter von vier Jahren mehr Willenskraft gezeigt hatten, in der Schule bessere Noten. Wer als Kind eine ganze Viertelstunde auf seine Belohnung gewartet hatte, erzielte beim Test für den Hochschulzugang durchschnittlich um fast 10 Prozent bessere Ergebnisse als andere, die der Versuchung bereits nach einer halben Minute erlegen waren. Die Kinder mit größerer Willenskraft waren beliebter bei ihren Klassenkameraden und Lehrern. Sie verdienten mehr Geld. Sie wiesen einen besseren Body-Mass-Index auf und waren seltener übergewichtig. Sie hatten weniger Drogenprobleme.
Dies war umso erstaunlicher, als Ergebnisse aus Experimenten in der frühen Kindheit nur selten Aufschluss über die persönlichen Eigenschaften im späteren Leben geben. Genau diese Erkenntnis war es auch gewesen, die der Freudschen Psychoanalyse den Todesstoß versetzt hatte, denn diese hatte frühkindliche Erlebnisse als Grundlage der erwachsenen Psyche gesehen. Als Martin Seligman in den neunziger Jahren die Forschungsliteratur auswertete, fand er keinen Hinweis darauf, dass Erlebnisse aus der Kindheit Auswirkungen auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter haben, von schweren Traumata und Unterernährung einmal abgesehen. Besaß jemand ein sonniges Gemüt oder war er ein Griesgram, so ließ sich das eher auf angeborene Eigenschaften zurückführen. Es kann durchaus sein, dass die Willenskraft, sich einem Marshmallow zu widersetzen, eine genetische Komponente hat, aber sie schien auch erlernbar. Es war einer der seltenen Fälle, in denen sich ein Vorteil aus der Kindheit ein Leben lang auszahlt.
Das ist umso bemerkenswerter, wenn man sich die Vorteile der Selbstdisziplin insgesamt ansieht. Genau das tat Roy Baumeister in seinem Fachbuch Losing Control, das er 1994 mit seiner Frau Dianne Tice von der Case Western University und seinem Kollegen Todd Heatherton von der Harvard University veröffentlichte. »Mangelhafte Selbstregulation ist die gravierendste gesellschaftliche Krankheit unserer Zeit«, schrieben sie und verwiesen auf hohe Scheidungsraten, häusliche Gewalt, Verbrechen und eine Vielzahl weiterer Probleme. Das Buch regte weitere Experimente und Untersuchungen an, unter anderem die Entwicklung einer Skala zur Messung der Selbstdisziplin in Persönlichkeitstests. Als Psychologen die Noten von Studenten mit rund drei Dutzend Persönlichkeitseigenschaften verglichen, stellten sie fest, dass Selbsdisziplin die einzige Eigenschaft war, die in direktem Zusammenhang mit den Noten stand. Selbst der Intelligenzquotient und das Ergebnis des Hochschulzugangstests gaben weniger Aufschluss über die späteren Leistungen an der Universität. Intelligenz stellte zwar offensichtlich einen Vorteil dar, doch die Untersuchung zeigte, dass die Selbstdisziplin wichtiger war, da sie den Studenten half, regelmäßig an ihren Vorlesungen teilzunehmen, ihre Hausaufgaben rechtzeitig zu beginnen sowie mehr Zeit auf ihr Studium und weniger auf ihre Freizeitgestaltung zu verwenden.
Am Arbeitsplatz werden Führungskräfte mit größerer Selbstdisziplin von ihren Mitarbeitern und Kollegen besser bewertet. Menschen mit guter Selbstdisziplin scheint es besser möglich, stabile und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen. Sie zeigen mehr Empathie und sind eher in der Lage, Dinge aus der Sicht der anderen zu sehen. Sie sind emotional gefestigter und neigen weniger zu Angst, Depression, Paranoia, Psychosen, zwanghaften Verhaltensweisen, Essstörungen, Alkoholproblemen und anderen psychischen Leiden. Sie reagieren weniger häufig mit Ärger, und wenn, dann werden sie seltener aggressiv, weder verbal noch physisch. Menschen mit mangelnder Selbstdisziplin schlagen dagegen ihre Partner eher und begehen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine ganze Reihe anderer Delikte. Das Muster war eindeutig, wie June Tangney nachwies, die in Zusammenarbeit mit Baumeister ein Maß für Selbstdisziplin in Persönlichkeitstests entwickelte. Bei der Untersuchung von Häftlingen stellte sie beispielsweise fest, dass diejenigen Straftäter mit mangelnder Selbstdisziplin nach ihrer Haftentlassung mit größerer Wahrscheinlichkeit erneut straffällig wurden.
Der beste Beweis stammt jedoch aus dem Jahr 2010. In einer beispiellosen, langfristig angelegten Untersuchung verfolgte ein internationales Forscherteam eintausend neuseeländische Kinder von der Geburt bis zum 32. Lebensjahr. Um die Selbstdisziplin verlässlich zu messen, griffen die Wissenschaftler zu verschiedenen Methoden (Beobachtungen der Wissenschaftler selbst, Berichte von Eltern und Lehrern sowie Selbstbeschreibungen der Kinder). Dann verglichen sie die Ergebnisse mit einer Vielfalt von Verhaltensweisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wer als Kind über ein höheres Maß an Selbstdisziplin verfügte, war im Erwachsenenalter gesünder, hatte mit geringerer Wahrscheinlichkeit Übergewicht oder Geschlechtskrankheiten und sogar gesündere Zähne (zur Selbstdisziplin gehören offenbar auch regelmäßiges Zähneputzen und die Verwendung von Zahnseide). Die Selbstdisziplin hatte zwar keine Auswirkungen auf Depression im Erwachsenenalter, doch führte ihr Mangel häufiger zu Alkohol- und Drogenproblemen. Je unbeherrschter die Teilnehmer im Kindesalter waren, umso weniger verdienten sie als Erwachsene, umso weniger Geld hatten sie auf dem Konto oder für die Altersvorsorge zurückgelegt und umso geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den eigenen vier Wänden lebten. Kinder mit mangelnder Selbstdisziplin waren als Erwachsene häufiger geschieden oder Alleinerziehende, vermutlich weil sie nicht die Disziplin aufbrachten, eine langfristige Beziehung einzugehen. Wer dagegen schon als Kind eine angemessene Selbstdisziplin aufgewiesen hatte, lebte später mit größerer Wahrscheinlichkeit in einer stabilen Ehe und erzog seine Kinder in einem gemeinsamen Haushalt. Und schließlich landeten Teilnehmer, die sich schon als Kinder nicht beherrschen konnten, später eher im Gefängnis: Von den Teilnehmern, die als Kind die geringste Selbstdisziplin mitgebracht hatten, waren 40 Prozent im Alter von 32 Jahren mindestens einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, im Vergleich zu 12 Prozent der Testpersonen, die als Kinder ein hohes Maß an Selbstdisziplin an den Tag gelegt hatten.
Diese Unterschiede hingen zwar zum Teil auch mit der Intelligenz, der ethnischen Herkunft und der sozialen Schicht zusammen, doch die Willenskraft stellte mit Abstand den einflussreichsten Faktor dar. In einer Nachfolgeuntersuchung erhoben dieselben Wissenschaftler Daten zu den Geschwistern in derselben Familie und verglichen sie mit den Daten von Kindern aus ähnlichen Familien. Wieder ging es denjenigen, die als Kinder unbeherrschter gewesen waren, im Erwachsenenalter durchgängig schlechter: Sie hatten mehr gesundheitliche Probleme und weniger Geld in der Tasche und saßen mit größerer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis. Die Resultate hätten nicht eindeutiger ausfallen können: Selbstdisziplin ist eine entscheidende Stärke und ein Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben.
Evolution und Etikette
Während Psychologen die Vorteile der Selbstdisziplin erkannten, versuchten Anthropologen und Neurowissenschaftler zu verstehen, wie sie sich entwickelt hatte. Das menschliche Gehirn zeichnet sich durch seine großen und komplexen Frontallappen aus, denen wir eine Fähigkeit verdanken, die lange als entscheidender evolutionärer Vorteil der Menschen galt: die Intelligenz, mit der wir Probleme in unserer Umwelt lösen. Ein Tier mit einem größeren Gehirn müsse doch eher in der Lage sein, zu überleben und sich zu vermehren, als ein Tier mit einem kleineren Gehirn, so die Logik. Aber ein großes Gehirn benötigt auch eine Menge Energie. Das Gehirn eines erwachsenen Menschen macht zwar nur 2 Prozent des Körpergewichts aus, aber es verbraucht 20 Prozent der Energie. Die zusätzliche graue Masse ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn das Tier mit ihrer Hilfe die zusätzlichen Kalorien heranschafft, die zu ihrem Unterhalt erforderlich sind. Daher konnten Wissenschaftler lange Zeit nicht nachvollziehen, wie sich das Gehirn bezahlt macht. Wie kam es also, dass die Menschen immer größere Gehirne mit immer stärkeren Frontallappen entwickelten?
Einige Wissenschaftler suchten die Erklärungen bei Bananen und anderen nährstoffreichen Früchten. Tiere, die sich von Gras ernähren, müssen nicht lange darüber nachdenken, wo ihre nächste Mahlzeit herkommt. Aber ein Baum, der letzte Woche noch voller reifer Bananen hing, ist heute leergefressen oder hat nur noch verfaultes Obst zu bieten. Wer sich von Bananen ernährt, braucht demnach ein größeres Gehirn, um sich daran zu erinnern, wo die reifen Früchte sind, und dieses Gehirn würde von den zusätzlichen Kalorien der Bananen angetrieben.
Insofern schien die Theorie vom »bananensuchenden Gehirn« schlüssig - aber nur auf dem Papier. Als der Anthropologe Robin Dunbar sie überprüfte, fand er keinerlei Zusammenhang zwischen dem Speiseplan und der Hirngröße von verschiedenen Tieren. Dunbar kam schließlich zu dem Schluss, dass das große Gehirn des Menschen nicht für den Umgang mit der physischen Umgebung entstand, sondern für den Umgang mit etwas, das für das Überleben weitaus wichtiger ist: das Sozialleben. Tiere mit größeren Gehirnen leben in größeren und komplexeren Sozialverbänden. Diese These bot eine neue Möglichkeit, den Homo sapiens zu verstehen. Von allen Primaten besitzen die Menschen die größten Frontallappen, weil sie in den größten Sozialverbänden leben. Genau aus diesem Grund benötigen sie offenbar auch besonders viel Selbstdisziplin. Wir sehen den Willen gern als eine Kraft zur persönlichen Weiterentwicklung - mit seiner Hilfe halten wir uns an eine Diät, machen uns rechtzeitig an die Arbeit, gehen jeden Morgen joggen, hören mit dem Rauchen auf, und so weiter. Das war allerdings nicht unbedingt der Grund, weshalb unsere Vorfahren ihn entwickelten. Primaten sind soziale Lebewesen und müssen sich beherrschen, um mit den Artgenossen in ihrer Gruppe auszukommen. Sie sind aufeinander angewiesen, um nicht zu verhungern. Wenn die Beute geteilt wird, bekommen oft die größten und stärksten Männchen die besten Stücke, und die übrigen kommen je nach ihrem Status an die Reihe. Um keine Prügel zu beziehen, müssen sie ihren Wunsch unterdrücken, sich sofort über die Beute herzumachen. Wenn Schimpansen und andere Affen die Hirne von Eichhörnchen hätten, würden sie keine Mahlzeit ohne Schlägerei überstehen und beim Streit ums Futter mehr Kalorien verbrauchen, als sie zu sich nehmen.
Obwohl auch andere Primaten die mentalen Kapazitäten für einfache Tischmanieren mitbringen, ist ihre Selbstdisziplin im Vergleich zur menschlichen minimal. Experten schätzen, dass die intelligentes
ten nichtmenschlichen Primaten ungefähr zwanzig Minuten weit in die Zukunft blicken können. In diesem Zeitraum kann sich das Alphamännchen den Bauch vollschlagen, aber für Pläne über die Mahlzeit hinaus reicht das nicht aus. (Einige Tiere, zum Beispiel Eichhörnchen, legen sich für schlechte Zeiten Nahrungsvorräte an, doch handelt es sich hierbei um programmierte Instinkte, nicht um geplante Vorratshaltung.) In einem Experiment erhielten die Affen nur einmal am Tag, nämlich zur Mittagszeit, ihr Futter, aber sie lernten nie, sich einen Teil davon für später aufzuheben. Sie konnten sich zwar während der Fütterung so viel Futter mitnehmen, wie sie wollten, aber sie fraßen einfach, bis sie satt waren. Den Rest ignorierten sie oder bewarfen sich gegenseitig damit. Am nächsten Morgen wachten sie hungrig auf, weil es ihnen nie eingefallen wäre, sich einen Teil ihres Mittagessens für das Abendessen oder das Frühstück aufzuheben.
Wenn wir Menschen es besser wissen, dann dank unseres großen Gehirns, das unsere Vorfahren vor zwei Millionen Jahren entwickelten. Unsere Selbstdisziplin wirkt weitgehend unbewusst. Beim Geschäftsessen müssen Sie sich nicht bewusst zügeln, ihrem Chef die Pommes vom Teller zu klauen. Ihr unbewusstes Gehirn hilft Ihnen, soziale Konflikte zu vermeiden; es funktioniert auf so subtile und vielfältige Weise, dass einige Psychologen zu dem Schluss kamen, es habe in Wirklichkeit die Zügel in der Hand. Doch dieses Faible für unbewusste Prozesse rührt von einem grundlegenden Denkfehler, den Wissenschaftler machen, wenn sie unser Verhalten in immer feinere Scheibchen schneiden und im Gehirn Reaktionen entdecken, die zu schnell erfolgen, als dass sie vom Bewusstsein gesteuert sein könnten. Wenn Sie sich eine beliebige Bewegung im Maßstab von Millisekunden ansehen, dann ist die unmittelbare Ursache immer die Aktivität einer Nervenzelle, die das Gehirn mit dem Muskel verbindet. Dieser Prozess hat nichts Bewusstes. Niemand bemerkt, wenn eine Gehirnzelle ein Signal aussendet. Doch der Wille wird erkennbar, wenn man die Einheiten über die Zeit hinweg in Verbindung setzt. Der Wille bedeutet, die gegenwärtige Situation als Teil eines übergreifenden Musters zu verstehen. Von einer Zigarette nimmt Ihre Lunge noch keinen Schaden. Wenn Sie sich einmal Heroin spritzen, werden Sie noch nicht süchtig. Von einem Stück Kuchen bekommen Sie kein Übergewicht, und wenn Sie eine Aufgabe versäumen, werden Sie nicht entlassen. Aber um gesund und in Lohn und Brot zu bleiben, müssen Sie (fast) jede Situation vor dem Hintergrund der generellen Notwendigkeit sehen, Versuchungen zu widerstehen. Und an diesem Punkt kommt die bewusste Selbstdisziplin ins Spiel - und macht den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg in fast jedem Lebensbereich aus.
Warum Sie den Willen aufbringen sollten, dieses Buch zu lesen
Der erste Schritt der Selbstdisziplin besteht darin, sich ein Ziel zu setzen. Daher wollen wir Ihnen unser Ziel für dieses Buch verraten. Auf den folgenden Seiten werden wir Ihnen die neuesten Erkenntnisse der modernen Psychologie vorstellen und mit einer Prise der praktischen Weisheit unserer Urgroßeltern würzen. Wir wollen Ihnen zeigen, wie die Willenskraft - oder der Mangel derselben - unser Leben beeinflusst. Wir erklären Ihnen, warum Topmanager einem ehemaligen Karatelehrer 20 000 Dollar am Tag bezahlen, um von ihm zu lernen, wie man Todo- Listen aufstellt, und warum Unternehmer in Silicon Valley digitale Werkzeuge entwickeln, um damit Werte des 19. Jahrhunderts zu vermitteln. Wir sehen uns an, wie ein britisches Kindermädchen heulende Drillinge bändigte und wie Künstler wie Amanda Palmer, Drew Carey, Eric Clapton und Oprah Winfrey die Willenskraft in ihrem Leben zur Anwendung brachten. Wie sehen uns an, wie David Blaine 44 Tage lang fastete und wie der Entdecker Henry Morton Stanley jahrelang in der afrikanischen Wildnis überlebte. Und wir zeigen Ihnen, was die Wiederentdekkung der Selbstdisziplin in der Wissenschaft für Ihr Leben bedeuten kann.
Als Psychologen die Vorteile der Selbstdisziplin erkannten, standen sie vor einem neuen Rätsel: Was genau ist der menschliche Wille? Was benötigt ein Mensch, um einem Marshmallow zu widerstehen? Als sich Roy Baumeister diese Fragen stellte, war seine Vorstellung noch der konventionellen Sicht des Menschen als informationsverarbeitende Maschine verhaftet. Für ihn und seine Kollegen stellte das Gehirn letztlich nichts anderes als eine Art Computer dar. Diese Modelle übersehen jedoch meist Vorstellungen wie Kraft oder Energie, die schon seit so langer Zeit aus der Mode gekommen sind, dass sich heute niemand mehr mit ihnen auseinandersetzt. Baumeister rechnete nicht damit, dass sich sein Menschenbild soradikal verändern würde. Aber als er und seine Kollegen mit ihren Experimenten begannen, schienen die alten Ideen plötzlich gar nicht mehr so veraltet.
Nachdem Baumeister und andere Psychologen Hunderte Versuche durchgeführt hatten, schälte sich ein neues Bild des Willens und des Menschen ganz allgemein heraus. Wir wollen Ihnen diese neuen Erkenntnisse zum menschlichen Verhalten vorstellen und Ihnen zeigen, wie Sie diese verwenden können, um sich zu verändern und ein besseres Leben zu führen. Anders als andere Techniken, die in der modernen Selbsthilfeliteratur angepriesen werden, lässt sich die Selbstdisziplin nicht einfach auf magische Art und Weise erwerben, aber sie muss auch nicht so lustfeindlich daherkommen wie im 19. Jahrhundert. Letztlich erleichtert Ihnen die Selbstdisziplin das Leben, indem sie Ihnen viel Stress abnimmt und Ihnen erlaubt, sich Ihre Willenskraft für die wichtigen Aufgaben aufzuheben. Wir sind uns sicher, dass die Erkenntnisse in diesem Buch Ihr Leben nicht nur produktiver und befriedigender machen, sondern auch einfacher und glücklicher. Und wir versprechen Ihnen, dass Sie sich keine Moralpredigten über entblößte Knöchel anhören müssen.
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Autoren-Porträt von Roy F. Baumeister, John Tierney
Roy Baumeister ist Francis Eppes Eminent Professor of Psychology an der Florida State University. Er ist einer der international bekanntesten Psychologen und Autor zahlreicher Bücher.Jürgen Neubauer, Jahrgang 1967, war Buchhändler in London, Dozent in Pennsylvania und Sachbuchlektor in Frankfurt, ehe er 2004 nach Mexiko auswanderte. Nach einigen Jahren in der Hauptstadt und in einem Bergdorf lebt er heute in der Universitätsstadt Xalapa und übersetzt für deutsche Buchverlage.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Roy F. Baumeister , John Tierney
- 2012, 326 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Neubauer, Jürgen
- Übersetzer: Jürgen Neubauer
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593393603
- ISBN-13: 9783593393605
Rezension zu „Die Macht der Disziplin “
07.01.2012, FocusIch will es!"Ein viel beachtetes Buch ... Der Sozialpsychologe Roy Baumeister vergleicht unsere Selbstkontrollfähigkeiten mit einem Muskel und erklärt, wie wir unsere mentale Stärke trainieren können."
Kommentar zu "Die Macht der Disziplin"
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