Die paar leuchtenden Jahre
Das große Mascha-Kaléko-Lesebuch:
Gedichte, Chansons, Lieder und Prosatexte. Herausgegeben und mit einer Biographie von Gisela Zoch-Westphal.
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Das große Mascha-Kaléko-Lesebuch:
Gedichte, Chansons, Lieder und Prosatexte. Herausgegeben und mit einer Biographie von Gisela Zoch-Westphal.
Das vorliegende Mascha-Kaléko-Lesebuch enthält die Verse, Nonsens-Gedichte und Prosastücke aus den Bänden 'Heute ist morgen schon gestern', 'Ich bin von anno dazumal', 'Das himmelgraue Poesie-Album', 'Papagei und Mamagei' und 'Der Gott der kleinen Webefehler' sowie die Biographie 'Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko' von Gisela Zoch-Westphal.
Ein paar leuchtende Jahre von Mascha Kaléko
LESEPROBE
HorstKrüger: Meine Tage mit Mascha Kaléko
Warum soll ich esverschweigen? Ich hatte von ihr kaum etwas gehört, kannte den Namen nurflüchtig - eine Zufallsbekanntschaft. Es war in Berlin, im Herbst 1974. Wirhatten gemeinsam eine Lesung zu bestreiten, und als ich sie dort zum erstenmal sah, spürte ich sofort ihren seltsamen Reiz. Siewar schon als Erscheinung - ja, was war sie? Ich meine, sie war genau wie einGedicht von Mascha Kaléko. Entwaffnende Wahrheit desAuthentischen: Ein Gedicht, ein lyrisches Ich stand vor mir, klein, schwarz,zierlich. Ironie und Spottlust waren da mit Melancholie sehr anmutig gemischt.Sie war schon gut in den Sechzigern; man sah es ihr aber nicht an. Von weitemhätte man sie gut für eine Frau Ende Dreißig halten können. Sie hatte nochimmer die Grazie, die Geschmeidigkeit und die nervöse Unruhe junger Wildkatzenan sich. Der fast lolitahafte Charme sehr jungerMädchen ist ihr bis zu ihrem Tod geblieben.
Dann ihreLesung. Sie saß neben mir. Sie veränderte sich dabei etwas. DasMädchenhaft-Kindliche ging Fetzt verloren. Sie wurde bewußter,ernster, strenger. Sie ließ sich viel Zeit zwischen den einzelnen Gedichten,machte größere Pausen, scheinbar suchend, scheinbar unschlüssig blätternd. Dochsolche Unschlüssigkeit schien mir kunstvoll gewollt. Sie wußtegenau, was sie jetzt tat und wollte: vortragen, das feine Gespinst ihrer Versezum Klingen bringen. Es war keine große Lyrik. Es war der frech-sensible,traurige und doch schnoddrige Ton Berlins kurz vor Hitler. Sie trug dieseGedichte in der leisen, hohen Stimmlage einer Dozentin vor, die etwas vermittelnwill: Schule des Lebens. Das ging bis zu der gemessenen Strenge der FrauLehrerin. Sie sagte Gedichte auf - von Mascha Kaléko.
Noch einmal: Warum sollich es verschweigen? Warum tue ich hier jetzt so, als sei da nichts weitergewesen? So, als hätte ich sie nur gesehen, gehört, aus kritisch-aufmerksamerDistanz beobachtet? Es war- aber mehr. Schwer zu sagen, was und wie und warum.Es gibt wohl so etwas wie die Forderung des Augenblicks: Tu es jetzt, jetztoder nie; nur jetzt ist die Gelegenheit gegeben. Die Griechen nannten das-Kairos. Hatte ich es geplant? Hatte sie es wirklich gewollt? Es ergab sichjedenfalls wie von selbst zwischen uns, daß wir nachdiesem Abend noch drei Tage zusammenblieben, mit nichts als der Stadt befaßt.
Natürlich,für zwei alte Berliner von einst ist die Stadt wie ein Roman, eine nicht endenwollende Kitsch- und Schmerz- und Glücksgeschichte, viel Stoff zuwechselseitigem Spotten. Berlin war für uns eine Badeanstalt in Vergangenheit.Sieh all die Reste hier: die Kirchen, die Plätze, die Namen von damals - daswar einmal unsere Jugend, das war einmal unsere Hauptstadt, das hier desReiches Mitte, der Sandkasten und Spielplatz unserer Kindheit. Hier hockten wirdoch, wuchsen auf, spielten, fuhren mit Bolleauf dem Kutscherbock, gingen zur Schule, wanderten im Grunewald,badeten im Wannsee. Täglich fuhr ich mit der S-Bahn von Eichkamp zur Friedrichstraße.Ich fuhr an den hohen, kahlen Mietskasernen vorbei, sah auf dem zugigenBahnsteig die Leute stehen, verweht, vereinzelt, hörte das. "Bittezurückbleiben!" des Bahnbeamten und wie der Zug anruckteund schnell fortzog, hell auf singend. Mascha verstand das alles. Es waren auchihre Erinnerungen, ihre Geräusche. Musik der Kindheit, könnte man sagen. Wirwaren ihren Reizen waffenlos ausgeliefert. Wir hörten nur immer und sahen. Manbrauchte sich kaum zu verständigen: tiefe Badelust in Vergangenheit.
Es wurdendrei ruhelose Tage, unvergeßlich. Vergangenheit undZukunftshoffnung schoben sich ineinander. Warb ich nicht mit der Stadt um sie?Wollte ich nicht eigentlich sagen: Komm wieder, kehr hierher zurück? Sieh esdir an - das ist doch der Ort deines Ursprungs. Was irrst du herum in Amerika?Was willst du jetzt allein in Jerusalem? Berlin ist für solche Heimatlosen undWeltwanderer wie geschaffen. Zum Schluß soll manimmer heimkehren, nicht wahr? Heimkehr - es gibt keine. Heimkehr für dich?Doch, es gibt sie, beharrte ich immer. Wo wir Kindheitund Jugend spüren, wo ein paar Menschen uns mögen, wo wir vertrauteGeräusche hören, die uns beruhigen, zum Beispiel des Nachts das Singen derS-Bahn: Da ist man nicht fremd. Da ist man zu Hause.
© dtv
- Autor: Mascha Kaléko
- 2008, 20. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,1 x 19,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423131497
- ISBN-13: 9783423131490
- Erscheinungsdatum: 21.11.2003
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