Die Pforten der Ewigkeit
Historischer Roman
1250. Kaiser Friedrich II. ist tot und nur der Katharer Roger de Bezers kennt sein Geheimnis. Währenddessen möchte die Zisterzienserin Elsbeth ein prächtiges Kloster bauen. Sie muss dabei auf die Hilfe dreier Fremder zählen. Doch was hat...
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Produktinformationen zu „Die Pforten der Ewigkeit “
1250. Kaiser Friedrich II. ist tot und nur der Katharer Roger de Bezers kennt sein Geheimnis. Währenddessen möchte die Zisterzienserin Elsbeth ein prächtiges Kloster bauen. Sie muss dabei auf die Hilfe dreier Fremder zählen. Doch was hat Roger und seine Freunde hierhergeführt?
Klappentext zu „Die Pforten der Ewigkeit “
1250: Mit dem Tod Kaiser Friedrichs II. beginnt die Zeit des großen Interregnums. Ein Nachfolger ist noch nicht gefunden, das Reich in Aufruhr. Im nahen Osten stirbt ein junger Mann in den Armen dreier Kreuzritter. Mit seinem letzten Atemzug berichtet er von einem Geheimnis, das der Kaiser ihm kurz vor seinem Tod anvertraute. In der Nähe von Bamberg gründen einige unerschrockene Zisterzienserinnen eine neue Zelle inmitten des Waldes. Sie haben den Schutz der Einsamkeit
dringend nötig, denn eine von ihnen hat Visionen und läuft Gefahr, als Ketzerin verbrannt zu werden. Kreuzritter und Ordensschwestern treffen in der Stadt Wizinsten aufeinander. Hand in Hand bauen sie ein neues Kloster, einen prächtigen
Bau, der die Gemeinschaft unter den Schutz des neuen Kaisers stellen und die Pforten der Ewigkeit öffnen soll - Richard Dübells großer Mittelalterroman um einen Klosterbau, eine mutige junge Nonne und die Liebe im Angesicht des Jüngsten
Gerichts.
Lese-Probe zu „Die Pforten der Ewigkeit “
Die Pforten der Ewigkeit von Richard Dübell1. CASTEL FIORENTINO, APULIEN
Manchmal - zu ganz seltenen Gelegenheiten - tauchte das vorwurfsvolle
Gesicht des Mannes, den er ermordet hatte, vor dem
inneren Auge Graf Rudolfs von Habisburch auf.
Oh, getötet hatte er viele Männer, und auch einen Anteil an
Frauen und Kindern. Wer Schlachten schlug und Städte eroberte,
konnte nicht immer einhalten, wenn ihm jemand vor die Klinge
lief, der eigentlich unschuldig war. Aber kaltblütig ermordet hatte
er bislang nur einen Menschen. Hugo von Teufen hatte versucht,
ihn ins Straucheln zu bringen auf dem Weg zur Macht. Hugo
hatte es bereut, aber da war es zu spät gewesen, weil seine Eingeweide
sich bereits auf dem Boden vor ihm gekräuselt hatten und
das Leben durch seine verkrampften Finger rann. Danach hatte
Graf Rudolf sich unter den Schutz des Hauses Hohenstaufen stellen
müssen. Natürlich hatte der Kaiser nicht erfahren, wer der
wirkliche Mörder Hugos gewesen war; Rudolf hatte die Schuld
auf Hugos Verwalter geschoben, einen entfernten Verwandten
des Hauses Habisburch, und so getan, als schütze er den Mann
aus Familienräson. Den Verwalter hatte danach niemand mehr zu
Gesicht bekommen, und der Kaiser war auf die vermeintlich noble
Geste Rudolfs hereingefallen.
Warum fiel ihm jetzt Hugo von Teufen wieder ein? Ach ja -
weil er liebend gern das eine oder andere Gesicht um diese essensbeladene
Tafel herum so gesehen hätte wie zuletzt Hugos
Fresse: vor Entsetzen verzerrt, während um ihn herum das Blut
eine stinkende Lache bildete. Er musterte die Männer verstohlen:
... mehr
Berardo de Castagna, die alte Schildkröte, auf deren Gesicht immer
noch Spuren der Erleichterungstränen zu sehen waren; Riccardo
de Montenero, die vertrocknete Bohnenstange; Manfredo,
der grinsende junge Trottel; direkt neben ihm noch so ein nassforscher
Jüngling, Hertwig von Staleberc, einer von denen, die
den Kram glaubten, den ihnen Sangesvögel wie jener Wolfram ins
Ohr trällerten, von wegen edlem Rittertum und der Suche nach
dem heiligen Gral ... und all die anderen verfluchten Idioten, die
sich freuten, weil der Kaiser dem Tod erneut ein Schnippchen geschlagen
zu haben schien. Er hasste sie alle.
Und er, Rudolf IV. Graf von Habisburch, Kyburc und Lewinsten,
Landgraf von Turgovia? Er musste sich mitfreuen, weil das Überleben
des Kaisers bedeutete, dass noch nicht alles verloren war,
dass er den Kaiser würde überreden können, ihm den Schutz seines
Geheimnisses anzuvertrauen. Des Geheimnisses, das über den
Fortbestand des Reichs entscheiden würde - und aus wessen Haus
der neue Kaiser stammte. Graf Rudolf hatte keine Schwierigkeiten
zuzugeben, dass Letzteres ihm am meisten am Herzen lag.
Rudolf war überzeugt, dass der nächste Kaiser ein Banner mit
einem flammendroten Löwen tragen müsse. Ebenso überzeugt
wie damals, als er gewusst hatte, dass Hugo von Teufen aus dem
Weg geräumt werden müsse.
»Es ist Gottes Wille«, flüsterte der Erzbischof von Palermo.
»Unser Herr und Freund Federico ist der vom Herrn Gesalbte,
der Jahrtausendkaiser. Auch der König von Frankreich hat sich
auf seine Seite gestellt, kaum dass er aus dem Heiligen Land zurück
war, und Rom die Schuld am Scheitern seines Kreuzzugs gegeben.
Der König von England hat dem Papst sogar Asyl verweigert.«
Rudolf starrte missmutig auf die Brotscheibe vor sich auf dem
Tisch. Einer der Dienstboten huschte herbei und legte ihm ein
weiteres safttriefendes Stück Braten vor. Rudolf hatte keinen Appetit,
aber er hatte Lust, seine Zähne in Fleisch zu schlagen und es
vom Knochen zu zerren und zu zerbeißen, um seinen Zorn abzureagieren.
»Der Papst weiß selbst, dass er am Ende ist«, erklärte Riccardo
de Montenero. »Sonst hätte Innozenz IV. nicht die Friedensverhandlungen
angeboten, zu denen wir unterwegs waren, bevor der
Kaiser von der Krankheit befallen worden ist ...«
»Von der Gottes Güte ihn jetzt hat genesen lassen«, warf Berardo
de Castagna ein.
»Dank sei dem Herrn«, sagte eine brüchige Stimme.
Alle sprangen auf. Der Kaiser stand am Eingang zum großen
Saal, seinen Kammerdiener an der Seite. Rudolf fühlte beinahe so
etwas wie Bestürzung. Federico lächelte, doch er sah schrecklich
aus, das Gesicht hager und zerknittert; die Darmkrämpfe hatten
Falten in seine Mundwinkel gekniffen, und das blonde Haar war
fast vollkommen ergraut. Er hatte sich in dickes Fell gehüllt wie
ein fröstelnder alter Mann. Die anderen hatten seinen Verfall die
letzten Wochen über miterlebt und waren weniger überrascht als
Rudolf.
Manfredo sprang auf und hob seinen Kelch: »Auf den wahren
Kaiser des Heiligen Römischen Reichs!« Die Augen des jungen
Mannes waren feucht. Rudolf kannte - und verachtete - Manfredos
Treue zu seinem Vater. Er war sicher, wären die anderen nicht
gewesen, hätte Manfredo sich auf den Kaiser gestürzt und laut
»Papa!« gerufen. Er rollte die Augen und hob seinen Kelch, um
nicht aufzufallen.
Der Kammerdiener winkte den Mundschenk heran und flüsterte
ihm etwas ins Ohr. Das Gesicht des Mundschenks wurde
lang. »Birnen ... mit ... Zucker?«, stotterte er.
»Wenn es möglich wäre ...«, erklärte Federico mit der
Freundlichkeit, die er seinen Dienstboten stets entgegenbrachte.
Unwillkürlich warf der Mundschenk dem Leibarzt des Kaisers
einen Blick zu, der mit am Tisch saß. Der Leibarzt strahlte.
»Wenn Seine Majestät es wünschen.«
Es war offensichtlich, dass der Mundschenk gerne gefragt
hätte, wo um alles in der Welt er im Dezember Birnen hernehmen
sollte und ob der Kaiser beim nächsten Mal nicht vielleicht vorher
Bescheid geben könnte, bevor er eine unbedeutende Burg in
einem unbedeutenden Abschnitt Apuliens heimsuchte und dann
nach Zucker verlangte. Doch der Mundschenk verbeugte sich
nur. »Majestät werden keinen Grund zur Beschwerde haben.«
»Wie sollte er auch?«, lächelte der Leibarzt. »Wo sein Appetit
doch bedeutet, dass er über den Berg ist.«
Graf Rudolf ließ sich auf seinen Platz zurücksinken und beobachtete,
wie der Kaiser sich in den hochlehnigen Stuhl am Kopfende
der Tafel setzte. Er senkte den Kopf, als Federico die Blicke
um den Tisch wandern ließ, denn er fürchtete, seine Augen würden
seine wahren Gefühle verraten. Die Brotscheibe war völlig
vom Bratensaft durchweicht, das Fett auf dem Fleisch begann zu
erkalten. Er schob das Brot vom Tisch auf den Boden. Mit den Füßen
scharrte er die triefende Masse beiseite, doch der aufgeregte
Anprall muffig riechender Körper gegen seine Beine und das Jappen
und Jaulen verrieten, dass die Hunde sich schon darum
balgten. Graf Rudolf verteilte ein paar Tritte, ohne hinzusehen.
Das raufende Hundeknäuel rollte ein paar Stationen weiter und
zwang Riccardo di Montenero, die Füße zu heben. Wenn Rudolf
nicht so schlechter Laune gewesen wäre, hätte er böse gegrinst. Er
biss in den Braten und schmeckte unter den Gewürzen und der
Soße, dass das Fleisch einen Stich hatte. Wütend schluckte er den
Bissen hinunter, den er im Mund hatte, und legte den Batzen zurück
auf den Tisch.
Merkten sie überhaupt nicht, dass sie alle eine erbärmlich
schlechte Komödie spielten? Der Kaiser wollte Birnen mit Zucker,
weil es ihm besser ging? Hatten sie denn noch nie einem
Menschen beim Sterben zugesehen? Der Mundschenk war davongeeilt,
um die Bediensteten der Burg in die Hintern zu treten
und ihnen alle Strafen der Hölle anzudrohen, damit sie ja ein paar
Birnen und die letzten Vorräte Zucker fanden, und wenn sie sie
einem Verhungernden in dem Dorf zu Füßen der Burg aus dem
Maul ziehen mussten. Der Leibarzt strahlte fröhlich, der alte Erzbischof
lächelte und bekreuzigte sich ein ums andere Mal, der
dumme Manfredo ließ kein Auge von seinem Vater. Und der Kaiser
selbst ...
... hatte immer noch die Macht, sie alle mit seiner eigenen
Überzeugung zu verzaubern, selbst wenn jeder, der genau hinsah,
hätte erkennen können, dass der Tod ihm nur die Hand von der
Schulter genommen hatte, damit er mit der Sense besser ausholen
konnte. Doch keiner sah genau hin - außer Rudolf.
Er fühlte den Blick Kaiser Federicos auf sich ruhen. Unwillkürlich
setzte er sich gerader hin und verachtete sich selbst dafür.
»Der Graf von Habisburch sieht so ärgerlich aus, als ob man
ihm sein eigenes Pferd zum Essen vorgesetzt hätte«, sagte eine
Stimme. Gelächter erhob sich. Rudolf suchte nach dem Sprecher.
Er fand ein grinsendes, soßenglänzendes, jugendlich-verwegenes
Gesicht.
»Herr Hertwig von Staleberc sieht so fröhlich aus, als ob ihm
mein Pferd schmecken würde«, erwiderte Rudolf. Er fasste den
jungen Ritter auf der anderen Seite der Tafel ins Auge, während
das Gelächter noch lauter wurde und Hertwig gutmütig nickte
und so tat, als gebe er sich geschlagen. Dann senkten sich die
Brauen des jungen Mannes, als Rudolfs Blick ihn traf. Rudolf gab
sich keine Mühe, sein Lächeln in etwas anderes zu verwandeln als
das, was es war: Zähnefletschen.
»Das war schlagfertig!«, rief jemand. »Die Herren sollten ein
jeu-parti wagen!«
Das fehlte noch: ein jeu-parti - ein Lied, das zwei Sänger gegeneinander
sangen; einer sang eine Zeile, und der andere musste
eine Antwortzeile darauf finden, die den ersten Gedanken weiterentwickelte
und sich am besten auch noch darauf reimte. Manche
Duellanten hatten schon ganze Abende mit ihren Stegreifballaden
gefüllt, während die Zuhörer Trost im Wein suchten. Und das mit
dem dummen Grünschnabel Hertwig von Staleberc? Das Bürschchen
machte auch noch ein Gesicht, als könnte es sich vorstellen,
darauf einzugehen, aber ein zweiter Blick in Graf Rudolfs Miene
belehrte Staleberc offensichtlich eines Besseren. Er lehnte sich zurück
und ignorierte die Aufforderung, indem er sich ein neues
Stück Fleisch auftun ließ.
Rudolf fühlte die Blicke des Kaisers erneut auf sich ruhen. Er
wandte Federico absichtlich den Rücken zu. Graf Rudolf hatte
den Schutz des Hauses Hohenstaufen unter anderem deshalb akzeptiert,
weil er es für schwach und abgehalftert hielt und überzeugt
war, dass sein eigenes Geschlecht zur Führung des Reichs
auserkoren war. Er hatte mit dem Kaiser sogar den Kirchenbann
geteilt. Er hatte ihn in den Niedergang begleitet, anstatt seinen eigenen
Namen zu Ruhm und Ehre zu führen. Wann kam endlich
die Stunde der Belohnung dafür?
Als er hörte, dass der Kaiser ein Gespräch mit Riccardo de
Montenero begann, musterte er ihn verstohlen. Da saß der Herr
des Reichs, dünn und ausgemergelt, seine einstige kühne Schönheit
vergangen in einem Leben aus Kampf und drei Wochen
krampfartigen Darmentleerens. Rudolf hatte gehört, dass der Kaiser
in seiner Kammer bereits sein Sterbegewand hatte bereitlegen
lassen - eine graue Zisterzienserkutte. Ha! Gab es denn keinen
Spiegel in der Schlafkammer des Kaisers, in dem er hätte sehen
können, wie durchsichtig er bereits war? Wenn Rudolf etwas an
Kaiser Federico geschätzt hatte, dann seinen Pragmatismus. Er
konnte nicht in den Spiegel gesehen haben, sonst hätte er sich
nicht hierhin gesetzt und alle glauben gemacht, das Leben würde
weitergehen.
Hoffentlich hat er die Zisterzienserkutte noch nicht wieder weglegen
lassen, dachte Rudolf gehässig. Er sah das graue Kleidungsstück
vor Augen und verzog den Mund. Zisterzienser. Von
all den Orden, die in Kutten und Tonsuren und entweder im
Schlamm der Schweineställe, die ihre Klöster waren, oder im
Saus und Braus ihrer Abteien die göttliche Vollendung suchten,
waren dem Kaiser ausgerechnet die Zisterzienser ans Herz gewachsen.
Weil sie die Einzigen gewesen waren, die in den grausamen
Feldzügen der Kirche gegen die südfranzösischen Ketzer,
denen heimlich das Herz des Kaisers in den letzten Jahren gehört
hatte, verhältnismäßig vernünftig und milde vorgegangen
waren? Rudolf wusste es nicht. Er wusste nur, dass der Krieg gegen
die Albigenser oder Katharer (die Reinen! Pah!) tatsächlich
mehr als grausam gewesen war; wusste es aus allererster Hand,
sozusagen - dies war ein Geheimnis, das er dem Kaiser nie verraten
hatte.
Und Rudolf wusste noch etwas. Er hasste keinen hier am Tisch
mit solcher Inbrunst wie Kaiser Federico, Friedrich II. von Hohenstaufen,
den Ketzer, den Antichrist, das Staunen der Welt -
auch wenn dieser den morgigen Abend nicht mehr erleben würde.
2. ZISTERZIENSERINNENABTEI
SANKT MARIA UND THEODOR, PAPINBERC
Schwester Elsbeth rannte den Gang entlang, der zum Hospiz
führte. In ihrem Ohr hallte das Gespräch, das sie soeben mit
Schwester Lucardis geführt hatte, der Äbtissin des Zisterzienserinnenkonvents
Sankt Maria und Theodor in Papinberc.
»Aber warum ich, ehrwürdige Mutter?«
»Weil Bischof Heinrich eine starke Abneigung gegen unsere
Schwester infirmaria hat, seit ihr Vater damals in seine Entführung
und Freilassung gegen ein horrendes Lösegeld verwickelt
war. Wenn er bei seiner jährlichen Besichtigung merkt, dass ich
ihr zwischenzeitlich die Leitung des Hospizes anvertraut habe,
können wir die Hoffnung begraben, dass er seine Geldzuwendungen
erhöht.«
»Warum hast du ihr dann diese Stellung gegeben?«
»Weil sie die Beste ist.«
»Und warum sollen meine Novizinnen und ich dann den Bischof
im Hospiz herumführen, ehrwürdige Mutter?«
»Weil du dafür die Beste bist.«
So weit war das Gespräch gut verlaufen. Elsbeth hatte sich sogar
beinahe geschmeichelt gefühlt. Sie war jung für eine Novizenmeisterin
- noch keine zwanzig Jahre alt. Aber das gesamte Kloster
Sankt Maria und Theodor war ein sehr junges Kloster.
Lucardis, die Äbtissin, war Mitte zwanzig. Die Regel der Zisterzienserinnen
lautete, dass eine Äbtissin mindestens dreißig Jahre
alt sein musste, aber das Papinbercer Zisterzienserinnenkloster
war nicht immer regelkonform aufgestellt. Nicht einmal Bischof
Heinrich von Bilvirncheim hatte Einspruch erhoben, als Lucardis
vor zwei Jahren von ihrer Vorgängerin vorgeschlagen worden war.
Die neue Äbtissin war bekannt dafür, einen Sinn für Zahlen zu
haben, besonders wenn diese mit Finanzen verbunden waren.
Der Bischof liebte es, wenn wenigstens in einem Bereich seiner
weit gespannten Verantwortlichkeiten halbwegs Gewinne erwirtschaftet
wurden.
Die Hierarchie von Sankt Maria und Theodor war flach - es
gab die sacrista, die die Schlüsselgewalt und die Aufsicht über die
liturgischen Gefäße innehatte, Um- und Neubauten beaufsichtigte
und für die Herstellung der Hostien verantwortlich war; die
cantrix als Chorleiterin und Bibliothekarin und direkte Vertreterin
der Äbtissin - der Einfachkeit der regulae benedicti folgend,
besaß das Zisterzienserinnenkloster weder Priorin noch Subpriorin
-; die infirmaria; die vestiaria, in deren Verantwortungsbereich
sämtliche Kleidung und die Tischtücher fielen; die celleraria für
alle Verpflegungsfragen und die portaria, die über den Zugang
von und zur heillosen Welt außerhalb der Klostermauern wachte.
Bis auf die Pförtnerin waren alle Frauen noch jung.
Schwester Elsbeth, die scholastica oder Novizenmeisterin, war
die Jüngste von ihnen. Die Postulantinnen und die Novizinnen,
die das Kloster nach der ersten Begegnung mit der Schwester
Pförtnerin vor Ehrfurcht und Angst erstarrt betraten, schlossen
sie meist schon beim ersten Gespräch ins Herz.
»Bis jetzt hast immer du die Gespräche mit dem Bischof in deiner
Zelle geführt«, hörte Elsbeth sich während der Unterredung
mit der Äbtissin sagen und erinnerte sich an die leichte Panik in
ihrer Stimme, während ihr der Atem beim Laufen langsam knapp
wurde. Sankt Maria und Theodor war ebenso eng wie verwinkelt
und in den Kaulberg hineingebaut. Das Kloster war als eine Art
späte Idee um das ursprüngliche Hospiz herum entstanden, und
wenn Elsbeth den Treppen und Fluren folgte, um an einen Ort zu
gelangen, der von der Idealvorstellung eines Klosters her ganz
woanders hätte liegen müssen, empfand sie meistens den dringenden
Wunsch, den Konvent vollkommen umzubauen. Dieses
Mal wünschte sie sich jedoch nur, so schnell wie möglich ins Hospiz
zu gelangen. Die Erinnerung an den Schreck der Äbtissin
überlagerte kurz das Echo des zuvor geführten Gesprächs: »Lauf,
Elsbeth, lauf!«
»Ich habe Bischof Heinrich vor ein paar Wochen gebeten, das
Hospiz mit vier Pfund jährlich zu unterstützen«, hatte Lucardis
erklärt. »Ich habe ihm erläutert, dass wir mit dieser Investition
einen kleinen Anbau errichten und einen Trakt für Adlige und
wohlhabende Bürger schaffen können. Dann würden diejenigen
von ihnen, die unsere Brüder in benedicto auf dem Michaelsberg
auf Wartelisten gesetzt haben, weil ihr Hospiz überfüllt ist, stattdessen
zu uns kommen. Das Hospiz von Sankt Maria und Theodor
würde den Ruf verlieren, ein Pflegeheim nur für die Armen zu
sein, und mehr Zuwendungen würden fließen, und ...«
»... aus vier Pfund Unterstützung im Jahr würden acht Pfund
Dividende.«
Lucardis hatte gelächelt. »Offenbar hat Vater auch dich neben
einem Geldwechslertisch gezeugt. Das wirft ein merkwürdiges
Licht auf die nächtlichen Angewohnheiten unserer Eltern.«
»Ich stehe nur lange genug unter deinem schlechten Einfluss,
Schwesterherz.«
Die Äbtissin und die Novizenmeisterin waren Schwestern
nicht nur im übertragenen Sinn als Klosterangehörige, sondern
auch im wirklichen Leben, als Lucardis noch Mechthild
von Swartzenberc geheißen hatte und Elsbeth Yrmengard von
Swartzenberc. Von Kindesbeinen an waren die beiden unzer-
trennlich gewesen. Es hatte niemals Geheimnisse zwischen ihnen
gegeben.
Das hieß, bis vor einiger Zeit hatte es niemals Geheimnisse
zwischen ihnen gegeben. Bis zu jenem Tag in Colnaburg.
»Hast du Schwester Hedwig in Sicherheit gebracht?«, hatte
Lucardis gefragt.
»Ja, natürlich.«
Und dann war eine junge Schwester in die Zelle der Äbtissin
geplatzt und hatte keuchend gemeldet, dass der Bischof samt Gefolge
eingetroffen sei.
»Wie - samt Gefolge? Was für ein Gefolge?«
»Seine Ehrwürden hat Propst Rinold, seinen Assistenten und
seinen Kämmerer mitgebracht.«
»Den Kämmerer? Albert Sneydenwint? Heiliger Benedikt!«
Elsbeth hatte die junge Klosterschwester argwöhnisch gefragt:
»Habe ich dich nicht gebeten, auf Schwester Hedwig achtzugeben?«
»Ja, Schwester Elsbeth. Aber dann hat die Schwester Pförtnerin
mich beauftragt, die Mutter Oberin zu informieren, und ich
habe Schwester Hedwig ins Hospiz geschickt, weil ich mir dachte,
dort passt bestimmt jemand auf sie auf.«
Elsbeth und Lucardis hatten sich bestürzt angesehen.
»Albert Sneydenwint im Hospiz?«, hatte Lucardis hervorgestoßen,
während Elsbeth gleichzeitig gekeucht hatte: »Schwester
Hedwig im Hospiz?«
Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem die Äbtissin gesagt
hatte: »Lauf, Elsbeth, lauf!« Und als sie losgerannt war, hatte ihr
Lucardis noch hinterhergerufen: »Sneydenwint darf unter keinen
Umständen in den Trakt für die Geisteskranken! Unter gar keinen
Umständen!«
3. ZISTERZIENSERINNENABTEI
SANKT MARIA UND THEODOR, PAPINBERC
Hedwig war Schwester Elsbeths besonderer Schützling. Die junge
Nonne fiel überall auf, wo sie sich auch befand. Sie war blass und
zart, aber von solcher Blässe, dass sie zwischen den anderen Gesichtern
herausleuchtete, und von solcher Zartheit, dass selbst
die dünne graue Kutte wie ein Gewicht auf ihren Schultern zu lasten
schien. Hedwig hatte ... nun: Zustände. Ein solcher Zustand
hielt mehrere Stunden bis zu zwei Tagen an und zeichnete sich
nach außen dadurch aus, dass das Mädchen regungslos an irgendeinem
Platz saß oder stand und ins Leere starrte. Wenn man Hedwig
beiseiteschob oder auf die Beine stellte, wandelte sie ein paar
Schritte weiter und blieb dann wieder stehen. Wenn man sie in
einer Fensternische abstellte, setzte sie sich auf die Mauerbank
und saß dort, bis man sie vertrieb oder bis ein Regenguss die
Steine so schlüpfrig machte, dass sie zu Boden rutschte. Sie aß
nicht; wenn man ihr etwas in den Mund schob, blieb es dort. Zu
Beginn ihrer Zeit im Kloster wäre sie beinahe erstickt, als Elsbeth
ihr einen Bissen Brot zwischen die Zähne gesteckt hatte. Danach
war Elsbeth dazu übergegangen, den Bissen vorher zu zerkauen
und dem Mädchen dann den Brei zu verabreichen. Das Ergebnis
blieb das gleiche - wenn man der widerstandslosen Hedwig nach
einer Weile den Mund öffnete, rann der Inhalt einfach heraus. Es
grenzte an ein Wunder, dass sie in diesen Phasen weder verhungerte
noch verdurstete.
Was ebenfalls ohne Hedwigs eigenes Zutun aus ihrem Mund
während dieser Phasen rann, waren Worte. Ströme von Worten.
Gott war das Licht. Gott war die Reinheit. Das Ziel aller menschlichen
Seelen war es, dereinst in diesem Licht aufzugehen und
die Welt der Schatten und der Dunkelheit auszulöschen. Gott
war gut.
Das Problem war, dass aus Hedwigs Worten - an die sie sich
nicht erinnerte, wenn sie wieder zu sich gekommen war - klar herauszuhören
war, dass ihr Gottesbegriff nicht mit dem zusammenpasste,
für den die Kirche stand. Jahwe, der Gott des Alten
und Neuen Testaments, war damit nicht gemeint. Er gehörte zu
der Welt der Schatten. Er war ein böser Geist. Die ganze Schöpfung
war böse. Am Anfang war nicht das Wort gewesen, sondern
das Licht, und es war gefangen worden in der Kreation aus Stein
und Erde und Wasser und Blut ... und Dunkelheit und Arglist.
Es war die Lehre, die die albigensischen Ketzer von Böhmen
über Deutschland bis nach Frankreich getragen hatten; die Lehre,
die die Romkirche veranlasst hatte, einen der blutigsten Kreuzzüge
zu unternehmen, den sie je geführt hatte. Die Ketzer waren
mit Feuer und Schwert bekämpft worden. Sie hatten sich gewehrt,
sie waren unterlegen gewesen, sie waren so gut wie ausgerottet.
Sie hatten zu Hunderten auf den Scheiterhaufen der Sieger
gebrannt. Elsbeth hatte Hedwigs Eltern niemals kennengelernt -
das Aufnahmegespräch hatte Äbtissin Lucardis geführt. Doch sie
mutmaßte, dass diese dem ketzerischen Gedankengut ebenfalls
nahestanden und ihre Tochter deshalb nach Sankt Maria und
Theodor gesandt hatten, damit sie dort geschützt war.
Hedwig hielt sich seit dem vergangenen Frühjahr in Sankt Maria
und Theodor auf. Als sie zum ersten Mal in einer ihrer Trancen
gesprochen hatte - vollkommen klar und zusammenhängend, auf
keinen Fall misszuverstehen -, hatte Elsbeth sich geschworen, ihr
diesen Schutz, wenn nötig, persönlich zu bieten. Der Schwur
hing mit Colnaburg zusammen. Es war Elsbeth absolut klar gewesen,
was geschehen würde, wenn Bischof Heinrich von Bilvirncheim
das junge Mädchen sprechen hörte. Der Mann war einer der
engsten Vertrauten von Kaiser Federico gewesen und hatte ihn
dann verraten, angeblich wegen zu großer Nähe zu ketzerischem
Gedankengut. Er würde sich nicht vor Hedwig stellen oder vor
das Kloster, das ihr Zuflucht gab. Im Gegenteil, er würde dafür
sorgen, dass sie alle ins Feuer gehen mussten.
Als Elsbeth schweratmend in das Hospiz platzte, standen ihre
Novizinnen und die Besucher in einer Gruppe am einen Ende des
Raumes und steckten die Köpfe zusammen. Zu ihrem Entsetzen
wurde ihr klar, dass die Mädchen in Abwesenheit ihrer Meisterin
versuchten, die Fragen des Bischofs zu beantworten. Schlitternd
kam sie zum Halten, atmete einmal tief durch, strich ihren Habit
glatt und schritt dann auf die Gruppe zu.
»Ah«, sagte ein Mann mit feistem, glänzendem und offensichtlich
frisch rasiertem Gesicht. Er trug eine reich bestickte
Kappe, die auf seinem Kopf balancierte wie ein aufgeplusterter
Vogel auf einem Standbild, und eine mit breiten gold-roten
Schrägstreifen gemusterte Tunika. Vermutlich hätte man ihn im
Dunkeln gesehen. Elsbeth kam er vage bekannt vor, aber sie war
viel zu aufgeregt, um darüber nachzudenken. Alle anderen, vor
allem der in Schwarz gekleidete Bischof und der ebenso nüchterne
Propst, wirkten neben ihm wie Vogelscheuchen. »Ah, eine
weitere heilige Schwester.«
Elsbeth verneigte sich. »Ich bin die sacrista von Sankt Maria
und Theodor.«
»Und die Schwester scholastica, wie ich gehört habe«,
schnarrte Bischof Heinrich und streckte die Hand mit dem Bischofsring
zum Kuss aus. Der Gedanke, dass die Frauen des Konvents
in der Kunst des Lesens und Schreibens unterwiesen wurden,
erfüllte ihn offensichtlich nicht mit Freude. »Eure Mutter
Oberin hat viel Vertrauen in Euch.«
»Ich danke Euch, ehrwürdiger Vater«, erwiderte Elsbeth und
verneigte sich auch vor Propst Rinold. Dieser nickte, als ob ihn
das alles nichts anginge. In gewisser Weise hatte er recht damit.
In anderen Frauenklöstern wurde der Propst, also der Mann, der
der Äbtissin in allen weltlichen Dingen ihres Konvents zur Seite
stand, vom Mutterkloster entsandt. Die besondere Stellung von
Sankt Maria und Theodor als dem Bistum Papinberc unterstellt
hatte dem Bischof die Aufgabe der Entsendung übertragen, und
er hatte einen der Männer erwählt, dem er Geld schuldete - vermutlich
in der Hoffnung, dass der Propst dabei genug Geld für
sich abzweigen konnte, um des Bischofs Schulden gnädig zu vergessen.
Dass Bischof Heinrich dies sogar nach seinem ersten Gespräch
mit Lucardis immer noch gehofft hatte, war erstaunlich.
Propst Rinold hatte nie erkennen lassen, ob die Geschicklichkeit
der Äbtissin, mit der diese ihn jedes Mal ausmanövrierte, wenn er
sich in die Geschäftsangelegenheiten des Klosters einmischte, ihn
verärgerte oder amüsierte. Jedenfalls hatte er den Bischof seine
Schulden nicht vergessen lassen.
Der vierte Mann in der Gruppe war so unscheinbar, dass Elsbeth
einmal mehr kämpfen musste, um sich an seinen Namen zu
erinnern. Mit ihm verhielt es sich so, dass man überrascht war,
wenn er sich nach einem Besuch verabschiedete, weil man gar
nicht wahrgenommen hatte, dass er da war. Wäre er alleine irgendwo
aufgetreten, hätte es sein können, dass man mitten im
Gespräch den Raum verließ, einfach weil man seine Anwesenheit
vergessen hatte. Für Elsbeth war es ein Rätsel, dass er noch nicht
in irgendeiner Gasse über den Haufen geritten worden oder unter
die Räder eines Karrens gekommen war. Reiter und Karrenlenker
hätten nachher, ohne zu lügen, behaupten können, ihn einfach
nicht gesehen zu haben. Endlich fiel ihr wieder ein, wie er hieß.
Sie nickte ihm zu: »Meister Hartmann.«
Der junge Mann nickte zurück und lächelte. Elsbeth wusste
nicht einmal, ob er ein Angehöriger des Klerus oder ein Laie war.
»Ah ...«, sagte der dicke Mann. »Ein außergewöhnlicher
Name - Scholastika. Ich hatte eine Tante, die hieß Clementia.«
»Scholastika bedeutet Schulmeisterin«, knurrte der Bischof.
»Die Schwester hier ...«
»Schwester Elsbeth«, sagte Elsbeth.
»... ist gleichzeitig für die Betreuung und für die Ausbildung
der Novizinnen zuständig.«
»Meine Schwiegermutter heißt Elsbeth«, eröffnete der dicke
Mann. »Oder eigentlich nicht. Eigentlich heißt sie Gertrud.
Klingt aber so ähnlich, oder? Haha!«
Für einen Augenblick trat die Art von Stille ein, die sich auch
über einen Thronsaal senkt, wenn dem König beim Niedersetzen
die Hosennaht zerreißt. Jedem war klar, dass Albert Sneydenwint
seinen Posten als Kämmerer des Bischofs nicht aufgrund besonderer
geistiger Fähigkeiten erhalten hatte. Wahrscheinlich
war er ein weiterer Gläubiger Heinrichs. Dann räusperte sich der
Bischof, wippte auf den Zehenballen und sagte: »Sacrista und
scholastica in einem, eh? Wollen wir mal sehen, wie gut Ihr in bei-
dem seid, Schwester. Wer weiß, was numquam reformata quia
numquam deformata bedeutet ...?«
Elsbeth, die sich zwar nicht vorstellen konnte, welche Gefahr
von dem dicken Kämmerer ausgehen konnte, wenn er in den
Raum für die Verrückten geriet - außer, dass man ihn dortbehielt
-, der aber dennoch die Warnung ihrer großen Schwester in
den Ohren klang, nickte erleichtert. Wenn der Bischof die Mädchen
hier zu ihrer Bildung zu befragen wünschte, war er vielleicht
gar nicht wirklich am Hospiz interessiert und würde es mit seinen
Trabanten bald wieder verlassen. Dann würde weder Albert Sneydenwint
in Gefahr geraten, den Trakt für die Verrückten zu betreten,
noch würde der Bischof der jungen Hedwig über den Weg
laufen. Und was das Wissen der Mädchen betraf, nun, da brauchte
sie sich keine Sorgen zu machen, es sei denn, der Bischof geriet an
die eine ihrer Schülerinnen, der sie bereits eingeschärft hatte, sich
im Hintergrund zu halten und ja nicht aufzufallen ...
»... ja, Ihr da hinten, junges Fräulein. Nein, hinter Euch steht
niemand mehr. Ich meine Euch. Nun? Eh?«
... was offensichtlich ein Fehler gewesen war. Elsbeth schloss
die Augen.
»Wie lautet Euer Name?«
»A... Adelheid, ehrwürdiger Vater.«
Albert Sneydenwints rundes, von der Rasur geschundenes Gesicht
leuchtete auf. Elsbeth fragte sich unwillkürlich, wer von seinen
Verwandten entfernt so ähnlich hieß wie Adelheid.
LÜBBE
Lübbe Hardcover in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Published by arrangement with Anke Vogel Literaturagentur, Markt Schwaben
Copyright © 2011 by Richard Dübell, Ergolding
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
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Lektorat: Dr.Stefanie Heinen
Textredaktion: Angela Kuepper, München
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, München
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Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Gesetzt aus der Berkeley Oldstyle
Druck und Einband: CPI books Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-7857-02422-4
13542
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Berardo de Castagna, die alte Schildkröte, auf deren Gesicht immer
noch Spuren der Erleichterungstränen zu sehen waren; Riccardo
de Montenero, die vertrocknete Bohnenstange; Manfredo,
der grinsende junge Trottel; direkt neben ihm noch so ein nassforscher
Jüngling, Hertwig von Staleberc, einer von denen, die
den Kram glaubten, den ihnen Sangesvögel wie jener Wolfram ins
Ohr trällerten, von wegen edlem Rittertum und der Suche nach
dem heiligen Gral ... und all die anderen verfluchten Idioten, die
sich freuten, weil der Kaiser dem Tod erneut ein Schnippchen geschlagen
zu haben schien. Er hasste sie alle.
Und er, Rudolf IV. Graf von Habisburch, Kyburc und Lewinsten,
Landgraf von Turgovia? Er musste sich mitfreuen, weil das Überleben
des Kaisers bedeutete, dass noch nicht alles verloren war,
dass er den Kaiser würde überreden können, ihm den Schutz seines
Geheimnisses anzuvertrauen. Des Geheimnisses, das über den
Fortbestand des Reichs entscheiden würde - und aus wessen Haus
der neue Kaiser stammte. Graf Rudolf hatte keine Schwierigkeiten
zuzugeben, dass Letzteres ihm am meisten am Herzen lag.
Rudolf war überzeugt, dass der nächste Kaiser ein Banner mit
einem flammendroten Löwen tragen müsse. Ebenso überzeugt
wie damals, als er gewusst hatte, dass Hugo von Teufen aus dem
Weg geräumt werden müsse.
»Es ist Gottes Wille«, flüsterte der Erzbischof von Palermo.
»Unser Herr und Freund Federico ist der vom Herrn Gesalbte,
der Jahrtausendkaiser. Auch der König von Frankreich hat sich
auf seine Seite gestellt, kaum dass er aus dem Heiligen Land zurück
war, und Rom die Schuld am Scheitern seines Kreuzzugs gegeben.
Der König von England hat dem Papst sogar Asyl verweigert.«
Rudolf starrte missmutig auf die Brotscheibe vor sich auf dem
Tisch. Einer der Dienstboten huschte herbei und legte ihm ein
weiteres safttriefendes Stück Braten vor. Rudolf hatte keinen Appetit,
aber er hatte Lust, seine Zähne in Fleisch zu schlagen und es
vom Knochen zu zerren und zu zerbeißen, um seinen Zorn abzureagieren.
»Der Papst weiß selbst, dass er am Ende ist«, erklärte Riccardo
de Montenero. »Sonst hätte Innozenz IV. nicht die Friedensverhandlungen
angeboten, zu denen wir unterwegs waren, bevor der
Kaiser von der Krankheit befallen worden ist ...«
»Von der Gottes Güte ihn jetzt hat genesen lassen«, warf Berardo
de Castagna ein.
»Dank sei dem Herrn«, sagte eine brüchige Stimme.
Alle sprangen auf. Der Kaiser stand am Eingang zum großen
Saal, seinen Kammerdiener an der Seite. Rudolf fühlte beinahe so
etwas wie Bestürzung. Federico lächelte, doch er sah schrecklich
aus, das Gesicht hager und zerknittert; die Darmkrämpfe hatten
Falten in seine Mundwinkel gekniffen, und das blonde Haar war
fast vollkommen ergraut. Er hatte sich in dickes Fell gehüllt wie
ein fröstelnder alter Mann. Die anderen hatten seinen Verfall die
letzten Wochen über miterlebt und waren weniger überrascht als
Rudolf.
Manfredo sprang auf und hob seinen Kelch: »Auf den wahren
Kaiser des Heiligen Römischen Reichs!« Die Augen des jungen
Mannes waren feucht. Rudolf kannte - und verachtete - Manfredos
Treue zu seinem Vater. Er war sicher, wären die anderen nicht
gewesen, hätte Manfredo sich auf den Kaiser gestürzt und laut
»Papa!« gerufen. Er rollte die Augen und hob seinen Kelch, um
nicht aufzufallen.
Der Kammerdiener winkte den Mundschenk heran und flüsterte
ihm etwas ins Ohr. Das Gesicht des Mundschenks wurde
lang. »Birnen ... mit ... Zucker?«, stotterte er.
»Wenn es möglich wäre ...«, erklärte Federico mit der
Freundlichkeit, die er seinen Dienstboten stets entgegenbrachte.
Unwillkürlich warf der Mundschenk dem Leibarzt des Kaisers
einen Blick zu, der mit am Tisch saß. Der Leibarzt strahlte.
»Wenn Seine Majestät es wünschen.«
Es war offensichtlich, dass der Mundschenk gerne gefragt
hätte, wo um alles in der Welt er im Dezember Birnen hernehmen
sollte und ob der Kaiser beim nächsten Mal nicht vielleicht vorher
Bescheid geben könnte, bevor er eine unbedeutende Burg in
einem unbedeutenden Abschnitt Apuliens heimsuchte und dann
nach Zucker verlangte. Doch der Mundschenk verbeugte sich
nur. »Majestät werden keinen Grund zur Beschwerde haben.«
»Wie sollte er auch?«, lächelte der Leibarzt. »Wo sein Appetit
doch bedeutet, dass er über den Berg ist.«
Graf Rudolf ließ sich auf seinen Platz zurücksinken und beobachtete,
wie der Kaiser sich in den hochlehnigen Stuhl am Kopfende
der Tafel setzte. Er senkte den Kopf, als Federico die Blicke
um den Tisch wandern ließ, denn er fürchtete, seine Augen würden
seine wahren Gefühle verraten. Die Brotscheibe war völlig
vom Bratensaft durchweicht, das Fett auf dem Fleisch begann zu
erkalten. Er schob das Brot vom Tisch auf den Boden. Mit den Füßen
scharrte er die triefende Masse beiseite, doch der aufgeregte
Anprall muffig riechender Körper gegen seine Beine und das Jappen
und Jaulen verrieten, dass die Hunde sich schon darum
balgten. Graf Rudolf verteilte ein paar Tritte, ohne hinzusehen.
Das raufende Hundeknäuel rollte ein paar Stationen weiter und
zwang Riccardo di Montenero, die Füße zu heben. Wenn Rudolf
nicht so schlechter Laune gewesen wäre, hätte er böse gegrinst. Er
biss in den Braten und schmeckte unter den Gewürzen und der
Soße, dass das Fleisch einen Stich hatte. Wütend schluckte er den
Bissen hinunter, den er im Mund hatte, und legte den Batzen zurück
auf den Tisch.
Merkten sie überhaupt nicht, dass sie alle eine erbärmlich
schlechte Komödie spielten? Der Kaiser wollte Birnen mit Zucker,
weil es ihm besser ging? Hatten sie denn noch nie einem
Menschen beim Sterben zugesehen? Der Mundschenk war davongeeilt,
um die Bediensteten der Burg in die Hintern zu treten
und ihnen alle Strafen der Hölle anzudrohen, damit sie ja ein paar
Birnen und die letzten Vorräte Zucker fanden, und wenn sie sie
einem Verhungernden in dem Dorf zu Füßen der Burg aus dem
Maul ziehen mussten. Der Leibarzt strahlte fröhlich, der alte Erzbischof
lächelte und bekreuzigte sich ein ums andere Mal, der
dumme Manfredo ließ kein Auge von seinem Vater. Und der Kaiser
selbst ...
... hatte immer noch die Macht, sie alle mit seiner eigenen
Überzeugung zu verzaubern, selbst wenn jeder, der genau hinsah,
hätte erkennen können, dass der Tod ihm nur die Hand von der
Schulter genommen hatte, damit er mit der Sense besser ausholen
konnte. Doch keiner sah genau hin - außer Rudolf.
Er fühlte den Blick Kaiser Federicos auf sich ruhen. Unwillkürlich
setzte er sich gerader hin und verachtete sich selbst dafür.
»Der Graf von Habisburch sieht so ärgerlich aus, als ob man
ihm sein eigenes Pferd zum Essen vorgesetzt hätte«, sagte eine
Stimme. Gelächter erhob sich. Rudolf suchte nach dem Sprecher.
Er fand ein grinsendes, soßenglänzendes, jugendlich-verwegenes
Gesicht.
»Herr Hertwig von Staleberc sieht so fröhlich aus, als ob ihm
mein Pferd schmecken würde«, erwiderte Rudolf. Er fasste den
jungen Ritter auf der anderen Seite der Tafel ins Auge, während
das Gelächter noch lauter wurde und Hertwig gutmütig nickte
und so tat, als gebe er sich geschlagen. Dann senkten sich die
Brauen des jungen Mannes, als Rudolfs Blick ihn traf. Rudolf gab
sich keine Mühe, sein Lächeln in etwas anderes zu verwandeln als
das, was es war: Zähnefletschen.
»Das war schlagfertig!«, rief jemand. »Die Herren sollten ein
jeu-parti wagen!«
Das fehlte noch: ein jeu-parti - ein Lied, das zwei Sänger gegeneinander
sangen; einer sang eine Zeile, und der andere musste
eine Antwortzeile darauf finden, die den ersten Gedanken weiterentwickelte
und sich am besten auch noch darauf reimte. Manche
Duellanten hatten schon ganze Abende mit ihren Stegreifballaden
gefüllt, während die Zuhörer Trost im Wein suchten. Und das mit
dem dummen Grünschnabel Hertwig von Staleberc? Das Bürschchen
machte auch noch ein Gesicht, als könnte es sich vorstellen,
darauf einzugehen, aber ein zweiter Blick in Graf Rudolfs Miene
belehrte Staleberc offensichtlich eines Besseren. Er lehnte sich zurück
und ignorierte die Aufforderung, indem er sich ein neues
Stück Fleisch auftun ließ.
Rudolf fühlte die Blicke des Kaisers erneut auf sich ruhen. Er
wandte Federico absichtlich den Rücken zu. Graf Rudolf hatte
den Schutz des Hauses Hohenstaufen unter anderem deshalb akzeptiert,
weil er es für schwach und abgehalftert hielt und überzeugt
war, dass sein eigenes Geschlecht zur Führung des Reichs
auserkoren war. Er hatte mit dem Kaiser sogar den Kirchenbann
geteilt. Er hatte ihn in den Niedergang begleitet, anstatt seinen eigenen
Namen zu Ruhm und Ehre zu führen. Wann kam endlich
die Stunde der Belohnung dafür?
Als er hörte, dass der Kaiser ein Gespräch mit Riccardo de
Montenero begann, musterte er ihn verstohlen. Da saß der Herr
des Reichs, dünn und ausgemergelt, seine einstige kühne Schönheit
vergangen in einem Leben aus Kampf und drei Wochen
krampfartigen Darmentleerens. Rudolf hatte gehört, dass der Kaiser
in seiner Kammer bereits sein Sterbegewand hatte bereitlegen
lassen - eine graue Zisterzienserkutte. Ha! Gab es denn keinen
Spiegel in der Schlafkammer des Kaisers, in dem er hätte sehen
können, wie durchsichtig er bereits war? Wenn Rudolf etwas an
Kaiser Federico geschätzt hatte, dann seinen Pragmatismus. Er
konnte nicht in den Spiegel gesehen haben, sonst hätte er sich
nicht hierhin gesetzt und alle glauben gemacht, das Leben würde
weitergehen.
Hoffentlich hat er die Zisterzienserkutte noch nicht wieder weglegen
lassen, dachte Rudolf gehässig. Er sah das graue Kleidungsstück
vor Augen und verzog den Mund. Zisterzienser. Von
all den Orden, die in Kutten und Tonsuren und entweder im
Schlamm der Schweineställe, die ihre Klöster waren, oder im
Saus und Braus ihrer Abteien die göttliche Vollendung suchten,
waren dem Kaiser ausgerechnet die Zisterzienser ans Herz gewachsen.
Weil sie die Einzigen gewesen waren, die in den grausamen
Feldzügen der Kirche gegen die südfranzösischen Ketzer,
denen heimlich das Herz des Kaisers in den letzten Jahren gehört
hatte, verhältnismäßig vernünftig und milde vorgegangen
waren? Rudolf wusste es nicht. Er wusste nur, dass der Krieg gegen
die Albigenser oder Katharer (die Reinen! Pah!) tatsächlich
mehr als grausam gewesen war; wusste es aus allererster Hand,
sozusagen - dies war ein Geheimnis, das er dem Kaiser nie verraten
hatte.
Und Rudolf wusste noch etwas. Er hasste keinen hier am Tisch
mit solcher Inbrunst wie Kaiser Federico, Friedrich II. von Hohenstaufen,
den Ketzer, den Antichrist, das Staunen der Welt -
auch wenn dieser den morgigen Abend nicht mehr erleben würde.
2. ZISTERZIENSERINNENABTEI
SANKT MARIA UND THEODOR, PAPINBERC
Schwester Elsbeth rannte den Gang entlang, der zum Hospiz
führte. In ihrem Ohr hallte das Gespräch, das sie soeben mit
Schwester Lucardis geführt hatte, der Äbtissin des Zisterzienserinnenkonvents
Sankt Maria und Theodor in Papinberc.
»Aber warum ich, ehrwürdige Mutter?«
»Weil Bischof Heinrich eine starke Abneigung gegen unsere
Schwester infirmaria hat, seit ihr Vater damals in seine Entführung
und Freilassung gegen ein horrendes Lösegeld verwickelt
war. Wenn er bei seiner jährlichen Besichtigung merkt, dass ich
ihr zwischenzeitlich die Leitung des Hospizes anvertraut habe,
können wir die Hoffnung begraben, dass er seine Geldzuwendungen
erhöht.«
»Warum hast du ihr dann diese Stellung gegeben?«
»Weil sie die Beste ist.«
»Und warum sollen meine Novizinnen und ich dann den Bischof
im Hospiz herumführen, ehrwürdige Mutter?«
»Weil du dafür die Beste bist.«
So weit war das Gespräch gut verlaufen. Elsbeth hatte sich sogar
beinahe geschmeichelt gefühlt. Sie war jung für eine Novizenmeisterin
- noch keine zwanzig Jahre alt. Aber das gesamte Kloster
Sankt Maria und Theodor war ein sehr junges Kloster.
Lucardis, die Äbtissin, war Mitte zwanzig. Die Regel der Zisterzienserinnen
lautete, dass eine Äbtissin mindestens dreißig Jahre
alt sein musste, aber das Papinbercer Zisterzienserinnenkloster
war nicht immer regelkonform aufgestellt. Nicht einmal Bischof
Heinrich von Bilvirncheim hatte Einspruch erhoben, als Lucardis
vor zwei Jahren von ihrer Vorgängerin vorgeschlagen worden war.
Die neue Äbtissin war bekannt dafür, einen Sinn für Zahlen zu
haben, besonders wenn diese mit Finanzen verbunden waren.
Der Bischof liebte es, wenn wenigstens in einem Bereich seiner
weit gespannten Verantwortlichkeiten halbwegs Gewinne erwirtschaftet
wurden.
Die Hierarchie von Sankt Maria und Theodor war flach - es
gab die sacrista, die die Schlüsselgewalt und die Aufsicht über die
liturgischen Gefäße innehatte, Um- und Neubauten beaufsichtigte
und für die Herstellung der Hostien verantwortlich war; die
cantrix als Chorleiterin und Bibliothekarin und direkte Vertreterin
der Äbtissin - der Einfachkeit der regulae benedicti folgend,
besaß das Zisterzienserinnenkloster weder Priorin noch Subpriorin
-; die infirmaria; die vestiaria, in deren Verantwortungsbereich
sämtliche Kleidung und die Tischtücher fielen; die celleraria für
alle Verpflegungsfragen und die portaria, die über den Zugang
von und zur heillosen Welt außerhalb der Klostermauern wachte.
Bis auf die Pförtnerin waren alle Frauen noch jung.
Schwester Elsbeth, die scholastica oder Novizenmeisterin, war
die Jüngste von ihnen. Die Postulantinnen und die Novizinnen,
die das Kloster nach der ersten Begegnung mit der Schwester
Pförtnerin vor Ehrfurcht und Angst erstarrt betraten, schlossen
sie meist schon beim ersten Gespräch ins Herz.
»Bis jetzt hast immer du die Gespräche mit dem Bischof in deiner
Zelle geführt«, hörte Elsbeth sich während der Unterredung
mit der Äbtissin sagen und erinnerte sich an die leichte Panik in
ihrer Stimme, während ihr der Atem beim Laufen langsam knapp
wurde. Sankt Maria und Theodor war ebenso eng wie verwinkelt
und in den Kaulberg hineingebaut. Das Kloster war als eine Art
späte Idee um das ursprüngliche Hospiz herum entstanden, und
wenn Elsbeth den Treppen und Fluren folgte, um an einen Ort zu
gelangen, der von der Idealvorstellung eines Klosters her ganz
woanders hätte liegen müssen, empfand sie meistens den dringenden
Wunsch, den Konvent vollkommen umzubauen. Dieses
Mal wünschte sie sich jedoch nur, so schnell wie möglich ins Hospiz
zu gelangen. Die Erinnerung an den Schreck der Äbtissin
überlagerte kurz das Echo des zuvor geführten Gesprächs: »Lauf,
Elsbeth, lauf!«
»Ich habe Bischof Heinrich vor ein paar Wochen gebeten, das
Hospiz mit vier Pfund jährlich zu unterstützen«, hatte Lucardis
erklärt. »Ich habe ihm erläutert, dass wir mit dieser Investition
einen kleinen Anbau errichten und einen Trakt für Adlige und
wohlhabende Bürger schaffen können. Dann würden diejenigen
von ihnen, die unsere Brüder in benedicto auf dem Michaelsberg
auf Wartelisten gesetzt haben, weil ihr Hospiz überfüllt ist, stattdessen
zu uns kommen. Das Hospiz von Sankt Maria und Theodor
würde den Ruf verlieren, ein Pflegeheim nur für die Armen zu
sein, und mehr Zuwendungen würden fließen, und ...«
»... aus vier Pfund Unterstützung im Jahr würden acht Pfund
Dividende.«
Lucardis hatte gelächelt. »Offenbar hat Vater auch dich neben
einem Geldwechslertisch gezeugt. Das wirft ein merkwürdiges
Licht auf die nächtlichen Angewohnheiten unserer Eltern.«
»Ich stehe nur lange genug unter deinem schlechten Einfluss,
Schwesterherz.«
Die Äbtissin und die Novizenmeisterin waren Schwestern
nicht nur im übertragenen Sinn als Klosterangehörige, sondern
auch im wirklichen Leben, als Lucardis noch Mechthild
von Swartzenberc geheißen hatte und Elsbeth Yrmengard von
Swartzenberc. Von Kindesbeinen an waren die beiden unzer-
trennlich gewesen. Es hatte niemals Geheimnisse zwischen ihnen
gegeben.
Das hieß, bis vor einiger Zeit hatte es niemals Geheimnisse
zwischen ihnen gegeben. Bis zu jenem Tag in Colnaburg.
»Hast du Schwester Hedwig in Sicherheit gebracht?«, hatte
Lucardis gefragt.
»Ja, natürlich.«
Und dann war eine junge Schwester in die Zelle der Äbtissin
geplatzt und hatte keuchend gemeldet, dass der Bischof samt Gefolge
eingetroffen sei.
»Wie - samt Gefolge? Was für ein Gefolge?«
»Seine Ehrwürden hat Propst Rinold, seinen Assistenten und
seinen Kämmerer mitgebracht.«
»Den Kämmerer? Albert Sneydenwint? Heiliger Benedikt!«
Elsbeth hatte die junge Klosterschwester argwöhnisch gefragt:
»Habe ich dich nicht gebeten, auf Schwester Hedwig achtzugeben?«
»Ja, Schwester Elsbeth. Aber dann hat die Schwester Pförtnerin
mich beauftragt, die Mutter Oberin zu informieren, und ich
habe Schwester Hedwig ins Hospiz geschickt, weil ich mir dachte,
dort passt bestimmt jemand auf sie auf.«
Elsbeth und Lucardis hatten sich bestürzt angesehen.
»Albert Sneydenwint im Hospiz?«, hatte Lucardis hervorgestoßen,
während Elsbeth gleichzeitig gekeucht hatte: »Schwester
Hedwig im Hospiz?«
Das war der Zeitpunkt gewesen, an dem die Äbtissin gesagt
hatte: »Lauf, Elsbeth, lauf!« Und als sie losgerannt war, hatte ihr
Lucardis noch hinterhergerufen: »Sneydenwint darf unter keinen
Umständen in den Trakt für die Geisteskranken! Unter gar keinen
Umständen!«
3. ZISTERZIENSERINNENABTEI
SANKT MARIA UND THEODOR, PAPINBERC
Hedwig war Schwester Elsbeths besonderer Schützling. Die junge
Nonne fiel überall auf, wo sie sich auch befand. Sie war blass und
zart, aber von solcher Blässe, dass sie zwischen den anderen Gesichtern
herausleuchtete, und von solcher Zartheit, dass selbst
die dünne graue Kutte wie ein Gewicht auf ihren Schultern zu lasten
schien. Hedwig hatte ... nun: Zustände. Ein solcher Zustand
hielt mehrere Stunden bis zu zwei Tagen an und zeichnete sich
nach außen dadurch aus, dass das Mädchen regungslos an irgendeinem
Platz saß oder stand und ins Leere starrte. Wenn man Hedwig
beiseiteschob oder auf die Beine stellte, wandelte sie ein paar
Schritte weiter und blieb dann wieder stehen. Wenn man sie in
einer Fensternische abstellte, setzte sie sich auf die Mauerbank
und saß dort, bis man sie vertrieb oder bis ein Regenguss die
Steine so schlüpfrig machte, dass sie zu Boden rutschte. Sie aß
nicht; wenn man ihr etwas in den Mund schob, blieb es dort. Zu
Beginn ihrer Zeit im Kloster wäre sie beinahe erstickt, als Elsbeth
ihr einen Bissen Brot zwischen die Zähne gesteckt hatte. Danach
war Elsbeth dazu übergegangen, den Bissen vorher zu zerkauen
und dem Mädchen dann den Brei zu verabreichen. Das Ergebnis
blieb das gleiche - wenn man der widerstandslosen Hedwig nach
einer Weile den Mund öffnete, rann der Inhalt einfach heraus. Es
grenzte an ein Wunder, dass sie in diesen Phasen weder verhungerte
noch verdurstete.
Was ebenfalls ohne Hedwigs eigenes Zutun aus ihrem Mund
während dieser Phasen rann, waren Worte. Ströme von Worten.
Gott war das Licht. Gott war die Reinheit. Das Ziel aller menschlichen
Seelen war es, dereinst in diesem Licht aufzugehen und
die Welt der Schatten und der Dunkelheit auszulöschen. Gott
war gut.
Das Problem war, dass aus Hedwigs Worten - an die sie sich
nicht erinnerte, wenn sie wieder zu sich gekommen war - klar herauszuhören
war, dass ihr Gottesbegriff nicht mit dem zusammenpasste,
für den die Kirche stand. Jahwe, der Gott des Alten
und Neuen Testaments, war damit nicht gemeint. Er gehörte zu
der Welt der Schatten. Er war ein böser Geist. Die ganze Schöpfung
war böse. Am Anfang war nicht das Wort gewesen, sondern
das Licht, und es war gefangen worden in der Kreation aus Stein
und Erde und Wasser und Blut ... und Dunkelheit und Arglist.
Es war die Lehre, die die albigensischen Ketzer von Böhmen
über Deutschland bis nach Frankreich getragen hatten; die Lehre,
die die Romkirche veranlasst hatte, einen der blutigsten Kreuzzüge
zu unternehmen, den sie je geführt hatte. Die Ketzer waren
mit Feuer und Schwert bekämpft worden. Sie hatten sich gewehrt,
sie waren unterlegen gewesen, sie waren so gut wie ausgerottet.
Sie hatten zu Hunderten auf den Scheiterhaufen der Sieger
gebrannt. Elsbeth hatte Hedwigs Eltern niemals kennengelernt -
das Aufnahmegespräch hatte Äbtissin Lucardis geführt. Doch sie
mutmaßte, dass diese dem ketzerischen Gedankengut ebenfalls
nahestanden und ihre Tochter deshalb nach Sankt Maria und
Theodor gesandt hatten, damit sie dort geschützt war.
Hedwig hielt sich seit dem vergangenen Frühjahr in Sankt Maria
und Theodor auf. Als sie zum ersten Mal in einer ihrer Trancen
gesprochen hatte - vollkommen klar und zusammenhängend, auf
keinen Fall misszuverstehen -, hatte Elsbeth sich geschworen, ihr
diesen Schutz, wenn nötig, persönlich zu bieten. Der Schwur
hing mit Colnaburg zusammen. Es war Elsbeth absolut klar gewesen,
was geschehen würde, wenn Bischof Heinrich von Bilvirncheim
das junge Mädchen sprechen hörte. Der Mann war einer der
engsten Vertrauten von Kaiser Federico gewesen und hatte ihn
dann verraten, angeblich wegen zu großer Nähe zu ketzerischem
Gedankengut. Er würde sich nicht vor Hedwig stellen oder vor
das Kloster, das ihr Zuflucht gab. Im Gegenteil, er würde dafür
sorgen, dass sie alle ins Feuer gehen mussten.
Als Elsbeth schweratmend in das Hospiz platzte, standen ihre
Novizinnen und die Besucher in einer Gruppe am einen Ende des
Raumes und steckten die Köpfe zusammen. Zu ihrem Entsetzen
wurde ihr klar, dass die Mädchen in Abwesenheit ihrer Meisterin
versuchten, die Fragen des Bischofs zu beantworten. Schlitternd
kam sie zum Halten, atmete einmal tief durch, strich ihren Habit
glatt und schritt dann auf die Gruppe zu.
»Ah«, sagte ein Mann mit feistem, glänzendem und offensichtlich
frisch rasiertem Gesicht. Er trug eine reich bestickte
Kappe, die auf seinem Kopf balancierte wie ein aufgeplusterter
Vogel auf einem Standbild, und eine mit breiten gold-roten
Schrägstreifen gemusterte Tunika. Vermutlich hätte man ihn im
Dunkeln gesehen. Elsbeth kam er vage bekannt vor, aber sie war
viel zu aufgeregt, um darüber nachzudenken. Alle anderen, vor
allem der in Schwarz gekleidete Bischof und der ebenso nüchterne
Propst, wirkten neben ihm wie Vogelscheuchen. »Ah, eine
weitere heilige Schwester.«
Elsbeth verneigte sich. »Ich bin die sacrista von Sankt Maria
und Theodor.«
»Und die Schwester scholastica, wie ich gehört habe«,
schnarrte Bischof Heinrich und streckte die Hand mit dem Bischofsring
zum Kuss aus. Der Gedanke, dass die Frauen des Konvents
in der Kunst des Lesens und Schreibens unterwiesen wurden,
erfüllte ihn offensichtlich nicht mit Freude. »Eure Mutter
Oberin hat viel Vertrauen in Euch.«
»Ich danke Euch, ehrwürdiger Vater«, erwiderte Elsbeth und
verneigte sich auch vor Propst Rinold. Dieser nickte, als ob ihn
das alles nichts anginge. In gewisser Weise hatte er recht damit.
In anderen Frauenklöstern wurde der Propst, also der Mann, der
der Äbtissin in allen weltlichen Dingen ihres Konvents zur Seite
stand, vom Mutterkloster entsandt. Die besondere Stellung von
Sankt Maria und Theodor als dem Bistum Papinberc unterstellt
hatte dem Bischof die Aufgabe der Entsendung übertragen, und
er hatte einen der Männer erwählt, dem er Geld schuldete - vermutlich
in der Hoffnung, dass der Propst dabei genug Geld für
sich abzweigen konnte, um des Bischofs Schulden gnädig zu vergessen.
Dass Bischof Heinrich dies sogar nach seinem ersten Gespräch
mit Lucardis immer noch gehofft hatte, war erstaunlich.
Propst Rinold hatte nie erkennen lassen, ob die Geschicklichkeit
der Äbtissin, mit der diese ihn jedes Mal ausmanövrierte, wenn er
sich in die Geschäftsangelegenheiten des Klosters einmischte, ihn
verärgerte oder amüsierte. Jedenfalls hatte er den Bischof seine
Schulden nicht vergessen lassen.
Der vierte Mann in der Gruppe war so unscheinbar, dass Elsbeth
einmal mehr kämpfen musste, um sich an seinen Namen zu
erinnern. Mit ihm verhielt es sich so, dass man überrascht war,
wenn er sich nach einem Besuch verabschiedete, weil man gar
nicht wahrgenommen hatte, dass er da war. Wäre er alleine irgendwo
aufgetreten, hätte es sein können, dass man mitten im
Gespräch den Raum verließ, einfach weil man seine Anwesenheit
vergessen hatte. Für Elsbeth war es ein Rätsel, dass er noch nicht
in irgendeiner Gasse über den Haufen geritten worden oder unter
die Räder eines Karrens gekommen war. Reiter und Karrenlenker
hätten nachher, ohne zu lügen, behaupten können, ihn einfach
nicht gesehen zu haben. Endlich fiel ihr wieder ein, wie er hieß.
Sie nickte ihm zu: »Meister Hartmann.«
Der junge Mann nickte zurück und lächelte. Elsbeth wusste
nicht einmal, ob er ein Angehöriger des Klerus oder ein Laie war.
»Ah ...«, sagte der dicke Mann. »Ein außergewöhnlicher
Name - Scholastika. Ich hatte eine Tante, die hieß Clementia.«
»Scholastika bedeutet Schulmeisterin«, knurrte der Bischof.
»Die Schwester hier ...«
»Schwester Elsbeth«, sagte Elsbeth.
»... ist gleichzeitig für die Betreuung und für die Ausbildung
der Novizinnen zuständig.«
»Meine Schwiegermutter heißt Elsbeth«, eröffnete der dicke
Mann. »Oder eigentlich nicht. Eigentlich heißt sie Gertrud.
Klingt aber so ähnlich, oder? Haha!«
Für einen Augenblick trat die Art von Stille ein, die sich auch
über einen Thronsaal senkt, wenn dem König beim Niedersetzen
die Hosennaht zerreißt. Jedem war klar, dass Albert Sneydenwint
seinen Posten als Kämmerer des Bischofs nicht aufgrund besonderer
geistiger Fähigkeiten erhalten hatte. Wahrscheinlich
war er ein weiterer Gläubiger Heinrichs. Dann räusperte sich der
Bischof, wippte auf den Zehenballen und sagte: »Sacrista und
scholastica in einem, eh? Wollen wir mal sehen, wie gut Ihr in bei-
dem seid, Schwester. Wer weiß, was numquam reformata quia
numquam deformata bedeutet ...?«
Elsbeth, die sich zwar nicht vorstellen konnte, welche Gefahr
von dem dicken Kämmerer ausgehen konnte, wenn er in den
Raum für die Verrückten geriet - außer, dass man ihn dortbehielt
-, der aber dennoch die Warnung ihrer großen Schwester in
den Ohren klang, nickte erleichtert. Wenn der Bischof die Mädchen
hier zu ihrer Bildung zu befragen wünschte, war er vielleicht
gar nicht wirklich am Hospiz interessiert und würde es mit seinen
Trabanten bald wieder verlassen. Dann würde weder Albert Sneydenwint
in Gefahr geraten, den Trakt für die Verrückten zu betreten,
noch würde der Bischof der jungen Hedwig über den Weg
laufen. Und was das Wissen der Mädchen betraf, nun, da brauchte
sie sich keine Sorgen zu machen, es sei denn, der Bischof geriet an
die eine ihrer Schülerinnen, der sie bereits eingeschärft hatte, sich
im Hintergrund zu halten und ja nicht aufzufallen ...
»... ja, Ihr da hinten, junges Fräulein. Nein, hinter Euch steht
niemand mehr. Ich meine Euch. Nun? Eh?«
... was offensichtlich ein Fehler gewesen war. Elsbeth schloss
die Augen.
»Wie lautet Euer Name?«
»A... Adelheid, ehrwürdiger Vater.«
Albert Sneydenwints rundes, von der Rasur geschundenes Gesicht
leuchtete auf. Elsbeth fragte sich unwillkürlich, wer von seinen
Verwandten entfernt so ähnlich hieß wie Adelheid.
LÜBBE
Lübbe Hardcover in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Published by arrangement with Anke Vogel Literaturagentur, Markt Schwaben
Copyright © 2011 by Richard Dübell, Ergolding
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Lektorat: Dr.Stefanie Heinen
Textredaktion: Angela Kuepper, München
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, München
Umschlagmotiv: © akg-images/Bruce Connolly
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Gesetzt aus der Berkeley Oldstyle
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Autoren-Porträt von Richard Dübell
Richard Dübell, geb. 1962, schreibt historische Erwachsenen- und Jugendromane und Drehbücher und ist Träger des Kulturpreises seiner Heimatstadt Landshut. Richard Dübells Romane sind in insgesamt 14 Sprachen weltweit übersetzt. Sein ironischer Schreibstil, die stets unerwarteten Wendungen in seinen Geschichten und seine prallen, lebensnahen Charaktere sind sein Markenzeichen, ebenso wie seine medialen Buchpräsentationen, die mit Video-, Musik- und Geräuscheinblendungen und Dübells komödiantischem Geschick zu literarischen Shows werden.Richard Dübell ist verheiratet, hat zwei Söhne und eine Katze und lebt in der Nähe seiner Heimatstadt Landshut.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Dübell
- 2011, 861 Seiten, Maße: 15,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724225
- ISBN-13: 9783785724224
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