Die Schatten und der Regen
David wird von seiner Schwester angerufen: Viktor sei wieder in der Gegend gesehen worden. David holt die Vergangenheit ein wie ein kalter, dunkler Schatten: Er und Viktor waren einst wie Brüder. Viktor hatte es nie leicht gehabt. Er ist ein Sonderling...
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David wird von seiner Schwester angerufen: Viktor sei wieder in der Gegend gesehen worden. David holt die Vergangenheit ein wie ein kalter, dunkler Schatten: Er und Viktor waren einst wie Brüder. Viktor hatte es nie leicht gehabt. Er ist ein Sonderling mit einem Mörder zum Vater und mit neun schon Vollwaise.
Der hochintelligente, aber sehr seltsame Junge wird in Davids Familie aufgenommen. Er ist ein Mathematikgenie, doch nach einem Unfall verstummt er. Trotzdem schafft er es als Erwachsener, eine Anstellung in einer Bank zu bekommen und in einer WG zu leben - mit anderen verschrobenen Zeitgenossen. Eine davon ist Sara. Als die junge, naive Frau ermordet wird, verschwindet Viktor spurlos für Jahre.
Nun ist er wieder aufgetaucht, und David muss zurück an den Ort seiner Kindheit und sich der Vergangenheit stellen. Ist sein Freund ein Mörder?
''Wenn im Norden an etwas kein Mangel herrscht, dann sind es Krimi-Autoren. Der Beste? Håkan Nesser - da sind sich gleich mehrere aus unserer Redaktion völlig einig.''
Brigitte
Ist Viktor Vinblad tatsächlich ein Mörder? Oder hat man ihn vor Jahren zu Unrecht verdächtigt, als seine Jugendliebe ermordet wurde und er kurz darauf spurlos verschwand? Ist er etwa selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Erst als Viktor nach 30 Jahren plötzlich wieder am Ort des Verbrechens auftaucht, entzerren sich Mythos und Wirklichkeit. Was ist damals wirklich passiert?
"Schlau konstruiert, bis zum Ende hin spannend." - Stern
"Nesser, das literarische Krimi-As, trumpft auf!" - Bild am Sonntag
"Derart eigenwillig und eigenständig erzählt kaum jemand Kriminalgeschichten." - WDR-Mittagsmagazin
DieSchatten und der Regen von HåkanNesser
LESEPROBE
DAVID
Ich verließ Uppsala und meine Familie gegen halb vier an einem Nachmittag imSeptember. Ich hätte es vielleicht nicht getan, wenn da nicht der Brief meinerSchwester gewesen wäre. Aber zwei billige Gründe wiegen mindestens doppelt soschwer wie einer.
Es war ein sonniger Tag nach einem der schönsten Sommer seit Menschengedenken;als ich mit meiner Reisetasche über den Markt ging, sah ich, dass die Leuteimmer noch in kurzen Hosen herumliefen.
Der 15. September. Ein Montag. Ich war gerade dreiundfünfzig Jahre altgeworden, auf dem Weg zum Bahnhof machte ich einen kurzen Abstecher in denSystembolaget und kaufte mir eine kleine Flasche Grants. Es gehört nicht zumeinen Gewohnheiten, Whisky zu trinken, aber es gab eine Stimme in mir, diesagte, dass ich eine Art Sicherheitsnetz bräuchte.
Ich habe schon immer auf meine innere Stimme gehört.
Draußen auf dem Bürgersteig stieß ich auf Henry Unger.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er. »Ich habe gehört, dass du unterrichtsfreieZeit bewilligt bekommen hast.«
»Schönes Wetter«, erwiderte ich. »Sicher an die fünfundzwanzig Grad, oder wasmeinst du?«
»Ich verstehe«, sagte Henry. »Du willst nicht darüber reden. Gehst du aufReisen?«
Er deutete auf meine Tasche. Ich nickte. Registrierte, dass er ein Pflaster amHals hatte, schräg unter dem rechten Ohr, und fragte mich, ob er vielleichtwieder mit irgendeinem Liebhaber Streit gehabt hatte. Henry war auf seine altenTage homosexuell geworden, hatte aber bis jetzt noch nicht die richtigeHarmonie und Sicherheit in seinem Liebesleben gefunden.
Aber vielleicht ist es auch gar nicht das, was er will, dachte ich, als ich ihnin den Bus steigen sah, der in die Vororte fuhr. Lieber ein wenig Blut undFeuer und die Erinnerung daran, dass man immer noch am Leben ist. Ich kannnicht leugnen, dass ich ihn in dieser Hinsicht verstehe.
Ansonsten trafen seine Vermutungen ins Schwarze. Sowohl, dass ichunterrichtsfreie Zeit bewilligt bekommen hatte, als auch, dass ich nichtdarüber sprechen wollte.
Das lag natürlich in der Natur der Sache. Die zehn so genannten Freistellungenwaren von unseren vorausschauenden Kommunalpolitikern vor einigen Jahreneingerichtet worden, doch ihre genaue Zielrichtung lag ein wenig im Dunkeln.Aus pädagogischen, aber auch praktischen Gründen. Die Formulierungen warenalles in allem vage gehalten - aller Wahrscheinlichkeit nach, um dengeschätzten Betroffenen die Möglichkeit zu geben, von Fall zu Fall zuentscheiden.
Sich zu bewerben, war auf jeden Fall allen freigestellt, die seit mindestenszehn Jahren als Lehrer in der Kommune arbeiteten, man behielt sein Gehalt undbrauchte nicht zu unterrichten oder auch nur an irgendeiner Form vonschulischer Arbeit teilzunehmen. Aber höchstens ein Jahr lang, so lautete dieAbmachung. Das Ganze konnte sowohl als eine Art Belohnung nach langen treuenDiensten gesehen werden- ein freies Jahr in der Mitte des Lebens - als auch alseine Möglichkeit, einem müden, ausgebrannten Pädagogen die Möglichkeit zugeben, wieder zu Kräften zu kommen. Nach Ansicht einiger Leute gab dieFreistellung Schulleitern auch die Möglichkeit- zumindest zeitweise -,hoffnungslose Lehrer loszuwerden. Solche, von denen es immer dreizehn in jedemDutzend gibt und die mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.
Aus welchem Grund genau ich meinen Antrag im März eingereicht hatte - und auswelchem Grund ich einer der Auserwählten unter Hunderten von Bewerbern wurde:das war nichts, worüber ich weiter nachzudenken gedachte. Nicht einmal abwägenwollte ich es, jedenfalls nicht an so einem Tag, aber auf jeden Fall kannte ichHenry Unger lange genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte.
Sicher hatte er auch sein Päckchen zu tragen. Pflaster am Hals und was es dasonst noch so gab. Das war kein Tag, um sich tiefer in diese Dinge zuvergraben.
Ich schaute auf die Uhr. Mein Zug sollte in zwanzig Minuten fahren. Ich packtemeine Tasche und ging weiter in Richtung Bahnhof.
Meine Ehefrau heißt Liv.
Sie ist vierzehn Jahre jünger als ich, wir leben seit acht Jahren zusammen undhaben insgesamt drei Kinder. Ich bin für zwei zuständig, einen Sohn und eineTochter, die ich während meiner ersten Ehe mit einer Frau namens Lois bekam.Alle drei sind aus meinem Leben verschwunden. Liv hat eine Tochter von vierzehnJahren, die jede zweite Woche bei uns wohnt.
Wohnte. Ich vergesse bereits, dass ich sie verlassen habe. Liv und Linnea. Ichschreibe das hier im Zug, vermutlich haben sie noch gar nicht gemerkt, dass ichfortgegangen bin. Linnea ist bei ihrem Vater, da es eine gerade Woche ist, undihre Mutter hat Abendschicht in der Bibliothek, wie an jedem Montag.
Nun ja, zur rechten Zeit wird es allen Beteiligten klar werden. Ich gehe aufdie Toilette, pinkele und trinke einen Schluck Whisky. Setze meinen Weg fortzum Speisewagen. Wie immer bin ich voller Unruhe, aber sie hat schärfereKonturen heute, was natürlich nicht besonders verwunderlich ist.
Obwohl natürlich auch die Umgebung irgendwie frischer und schärfer wird, wennman eine entscheidende Veränderung dieser Art beschlossen hat. Ich spüre es anden Menschen um mich herum. An den Gesprächen, denen ich mit halbem Ohrlausche, und an den Überschriften der Zeitungen. Ich merke, dass ich bereitbin, mich auf die Welt und ihre Aktionen einzulassen, plötzlich sind Dinge undSachen wieder wichtig, und der vorsichtige Blick, den mir die große, blondeFrau schenkt, die mir direkt gegenüber sitzt, könnte sicherlich eine Öffnunghin zu ganz neuen Spielplänen bedeuten, das ist deutlich zu spüren.
Aber mir ist klar, dass ich langsam vorgehen muss. Natürlich ist es MariasBrief, der die nächste Zeit, die nächsten Tage bestimmen wird. Ich weiß nicht,was mit ihr los ist. Ich war seit Vaters Beerdigung vor dreizehn Jahren nichtmehr zu Hause, und wenn das wirklich stimmt, was sie behauptet, so will ichmich nicht ablenken lassen. Von nichts, es wird Zeit und Kraft kosten, sie hatmir zugesagt, dass ich in meinem alten Zimmer unterm Dach wohnen kann, genauwie früher, und mit einem pervertierten Teil meines unterstimulierten Gehirnsfreue ich mich direkt darauf.
Ich trinke meinen Kaffee aus und kehre an meinen Platz zurück. Lese einigenicht besonders interessante Seiten in Klimkes Betrachtungen und falle bald inden Schlaf.
Ich träume von meiner Geliebten Sofia. Das habe ich seit Juni immer mal wiedergetan, seit sie mir erklärt hat, dass sie schwanger ist, und ich Schluss mitihr machte.
Ich träume davon, wie wir ab und zu miteinander schliefen, von ihremKlammergriff um meine Hüften und ihrem Muttermal unter dem linkenSchulterblatt. Es ist ungefähr so groß wie eine Handfläche und zeigtdetailliert eine Karte von Island. Natürlich ohne Orte, Straßen undWasserläufe, aber mit so deutlich gezeichneter Küstenlinie, inklusive Buchtenund Landzungen, dass einem klar wird, dass Gott tatsächlich mit Landkarte undMillimeterpapier dagesessen haben muss, als er Maß nahm für Sofia und ihreDetails. Ich habe es mit Paulsson-Forsbergs Schulatlas verglichen, ich weiß,wovon ich rede.
Sofia Ilmari Jonsson. Wirbegegneten uns vor drei Jahren in einer Kneipe in München, stellten fest, dasswir im gleichen Land und gleichen Ort lebten, und betranken uns nach und nach.Wir beschlossen ziemlich schnell, dass wir einander nur zur Freude und zumZeitvertreib dienen wollten, niemals zusammen leben und keine Kinder in dieWelt setzen wollten.
Folglich habe ich Sofias Existenz meiner Ehefrau gegenüber mit keinem Worterwähnt. Es hat keinen Anlass dazu gegeben, und als Sofia mich dann im Juni inOfvandahls Café treffen wollte, ahnte ich bereits Böses, wie ich sie da miteinem ganz neuen Ernst im Blick sitzen sah.
Ich bekomme ein Kind, sagte sie und löffelte den Schaum von ihrem Cappuccino,wie sie es immer tat.
Die meisten Frauen hören auf, Kaffee zu trinken, wenn es so um sie steht,erwiderte ich.
Ich nicht, erklärte Sofia. Ich bin nicht wie die anderen Frauen.
Wie weit bist du?, fragte ich.
In der achten Woche, antwortete sie.
Ich dachte eine Weile nach, dann erklärte ich, dass sie unsere Vereinbarunggebrochen habe und dass es mir in Anbetracht dessen nicht möglich sei, unsereBeziehung weiter fortzuführen.
Sie saß da, rührte einige Sekunden lang mit dem Löffel in ihrem Kaffee herum,dann schaute sie mich mit funkelnden Augen an und bat mich, zur Hölle zufahren.
Ich spürte, dass wir uns nichts weiter zu sagen hatten, betrachtete meinenunberührten Kaffee und verließ sie.
Genau von dieser Episode träume ich, sowohl jetzt im Zug als auch schon früherim Laufe des Sommers, hin und wieder, und im Traum stolpere ich jedes Mal inder Tür auf dem Weg hinaus. Ich trete schräg auf die Türschwelle, fallekopfüber die kurze Treppe hinunter, die es in Ofvandahls realer Welt nichtgibt, nur in der des Traumes, und lande auf dem Bürgersteig. Der ist nass undschmutzig und voll mit Hundescheiße und einer Art kurzer, fetter Würmer, dievielleicht Leichenmaden sind, wobei ich nie Leichenmaden gesehen habe und mirnicht sicher bin, ob man eigentlich einen Gegenstand träumen kann, auf den manim wachen Zustand noch nie gestoßen ist. Doch, das kann man natürlich. Abersind es nicht eigentlich Larven, Fliegenlarven?
In Wirklichkeit bin ich niemals gefallen. Ich trat problemlos hinaus in denRegen, spannte meinen Regenschirm auf und schaute nicht zurück.
© Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: Christel Hildebrandt
- Autor: Hakan Nesser
- 2007, 380 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hildebrandt, Christel
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442736471
- ISBN-13: 9783442736478
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