Die Sünde der Engel
Kriminalroman
Janet Beerbaum würde alles für ihre Söhne tun. Den Zwillingen Maximilian und Mario zuliebe hat sie sogar vor Jahren auf ihre große Liebe verzichtet. Doch eines Tages erschüttert eine Katastrophe jäh das Leben aller...
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Produktinformationen zu „Die Sünde der Engel “
Janet Beerbaum würde alles für ihre Söhne tun. Den Zwillingen Maximilian und Mario zuliebe hat sie sogar vor Jahren auf ihre große Liebe verzichtet. Doch eines Tages erschüttert eine Katastrophe jäh das Leben aller Familienmitglieder. Und Janet erkennt zu ihrem Entsetzen, dass die Schatten der Vergangenheit sie noch immer verfolgen.
Klappentext zu „Die Sünde der Engel “
Welches furchtbare Geheimnis teilt Janet Beerbaum mit ihren über alles geliebten Söhnen?Janet Beerbaum würde alles für ihre Söhne tun. Die Zwillinge Maximilian und Mario, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, standen schon immer im Mittelpunkt ihres Lebens. Für sie hat Janet sogar einst auf ihre große Liebe verzichtet, um den Jungen die Familie und den Vater zu erhalten. Doch eine Tragödie erschütterte jäh das Leben aller Familienmitglieder ...
Maximilian, der die vergangenen sechs Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbracht hat, steht kurz vor der Entlassung. Aber sein Vater Philipp weigert sich, den jungen Mann wieder in die Familie aufzunehmen. Verzweifelt fährt Janet nach London und flüchtet sich in die Arme ihres einstigen Liebhabers. Doch dann erreicht sie ein besorgter Anruf aus Deutschland: Mario ist mit seiner Freundin in die Provence gereist, um dort einen Urlaub zu zweit zu verbringen. Und Janet bricht Hals über Kopf nach Frankreich auf ...
Millionen Fans sind von den fesselnden Krimis von Charlotte Link begeistert. Dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle erwarten Sie. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Lese-Probe zu „Die Sünde der Engel “
Die Sünde der Engel von Charlotte LinkDONNERSTAG, 25. MAI 1995
Das Ringlestone Inn war, wie der Wirt stolz erklärte, im Jahre 1533
erbaut worden und diente seit dem 17. Jahrhundert als Pub - und seither
hatte sich kaum etwas darin verändert. Die niedrige Decke wurde von
schweren, ruß-geschwärzten Eichenholzbalken getragen, bleigefaßte
Butzenglasscheiben setzten sich zu winzigen, in die dicken, weiß gekalkten
Mauern eingelassenen Fenstern zusammen. Ein gewaltiger gemauerter
Kamin empfing die Gäste gleich am Eingang mit einem prasselnden Feuer.
Um von einem Raum in den nächsten zu gelangen, mußte man den Kopf
einziehen und darauf achten, nicht über unvermutet auftauchende Stufen
oder Bodenleisten zu stolpern. Bänke, Stühle und Tische standen dicht
gedrängt, uralte Lampen schaukelten von der Decke. Niemand hätte sich
ernsthaft gewundert, wäre plötzlich Oliver Cromwell hereingestapft,
in Stulpenstiefeln und mit Federhut, im wehenden, schwarzen Mantel,
mit wachsamem Blick, mißtrauisch, ob sich Royalisten in einem Winkel
des Hauses versteckt hielten.
Auf dem Platz neben dem Haus sollten Pferde stehen, nicht Autos parken,
dachte Janet, sie würden weit besser hierher passen.
Schon die ganzen letzten Stunden war sie sich vorgekommen wie in
ein weit zurückliegendes Jahrhundert versetzt. Sie war von London
hergefahren, hatte die Straße Richtung Dover jedoch kurz vor Rochester
verlassen und war nach Süden abgebogen. Der Weg führte sie durch idyllische,
vom Fortschreiten der Zeit scheinbar vergessene Dörfer, vorbei an
stillen, verträumten Häusern aus elisabethanischer Zeit, die umgeben
waren von moosbewachsenen, bröckeligen Mauern, entlang zugewucherter
Gärten, deren Bäume über die holprige Straße hinweg Dächer aus Blättern
und Zweigen
... mehr
bildeten. Irgendwann zeigten ihr die Schilder an, daß
sie bald an der Küste landen würde, und gleichzeitig wurde ihr bewußt,
daß sie seit dem knapp bemessenen Imbiß im Flugzeug am Morgen nichts
mehr gegessen hatte. Sie beschloß, abseits von der Hauptstraße ein
wenig kreuz und quer herumzufahren und die Augen nach einem Gasthaus
offenzuhalten. Der Maiabend war hell; der Himmel war, nach einem Tag
voller Regen, plötzlich leergefegt von allen Wolken und sandte eine
Flut von Sonne über das feuchte, dampfende Land. Janet hatte Kent
immer gemocht, sich aber selten so verzaubert gefühlt wie an diesem
Abend. Ihre Sorgen hatten sich mit den Wolken aufgelöst. Für einige
Stunden war sie eine Frau ohne Vergangenheit oder Zukunft, ohne Verpflichtungen,
ohne Bindungen. Niemand wußte, wo sie war, niemand konnte etwas von
ihr erwarten oder verlangen.
Als sie vor dem Ringlestone Inn hielt und aus dem Wagen stieg, fröstelte
sie in der frischen Abendluft und hatte sich dennoch in ihrem Innern
lange nicht mehr so warm gefühlt.
»Sie möchten sicher nach Folkstone?« fragte der Wirt. Janet schüttelte
den Kopf. »Nein. Ich fahre wahrscheinlich heute noch nach London zurück.«
Sie strich sich mit beiden Händen über die nackten Arme und wies mit
einer Kopfbewegung auf den leeren Tisch vor dem Kamin. »Darf ich mich
da hinsetzen?«
»Selbstverständlich.« Eifrig rückte ihr der Wirt einen Stuhl zurecht.
Janet nahm Platz. Es herrschte eine brütende Hitze am Feuer, sie würde
es kaum länger als eine halbe Stunde dort aushalten, aber sie konnte
ihre Knochen aufwärmen, und vielleicht trockneten ihre noch immer
regenfeuchten Schuhe. Sie ließ den Blick umherschweifen und stellte
fest, daß sich wohl vorwiegend Leute aus den umliegenden Dörfern hier
aufhielten; ältere Männer, die Bier tranken, politisierten, über die
nächste Ernte fachsimpelten. Niemand beachtete Janet. Das wohlige
Gefühl der Entspanntheit verstärkte sich. Sie bestellte Huhn mit Reis
und ein Glas Ginger Ale und machte sich darüber her wie eine Verhungernde.
Sie ließ keinen Krümel auf dem Teller zurück, und als sie fertig war,
verzehrte sie zum Nachtisch noch ein Stück Kuchen. Seit Jahren litt
sie an Eßstörungen, mußte häufig erbrechen, aber sie spürte, daß sie
dies heute nicht zu fürchten brauchte. Sie würde alles bei sich behalten.
Als sie ihren Kaffee trank und dazu eine Zigarette rauchte, gesellte
sich der Wirt zu ihr. Er war erpicht auf eine Unterhaltung und leitete
sie originellerweise mit einer Bemerkung über das Wetter ein. »War
wohl besseres Wetter da, wo Sie herkommen?« fragte er. Janet runzelte
die Stirn.
»Weil Sie so sommerlich angezogen sind«, erklärte er.
Janet sah an sich hinunter. Kurzärmeliger Baumwollpullover, ein leichter
Rock, feuchtfleckige Wildlederschuhe. Sie lachte. »Ich bin heute früh
von Hamburg nach London geflogen. In Hamburg war es richtig warm.«
»Hamburg? Da war mein Vater mal nach dem Krieg!«
»Wirklich?« sagte Janet. Der Wirt sah sie strahlend an, als hätten
sie gerade einen gemeinsamen Urahn ausfindig gemacht. Sie fühlte sich
bemüßigt, erklärend hinzuzufügen: »Ich bin aber gebürtige Engländerin.«
»Wie lange leben Sie schon in Deutschland?«
»Seit fünfundzwanzig Jahren. Ich habe einen Deutschen geheiratet.«
Sie erschrak fast bei dieser Auskunft. Ein Vierteljahrhundert! Mit
achtzehn war sie fortgegangen. Zu jung, um zu wissen, was sie tat.»
Und jetzt statten Sie der Heimat einen Besuch ab«, stellte der Wirt
fest. »Es ist schön, nach Hause zu kommen, nicht? Sie stammen aus
dieser Gegend?«
»Nein. Ich bin in Cambridge geboren und aufgewachsen. Und heute wollte
ich eigentlich nach Edinburgh.«
»Oh ...« Der Wirt zeigte sich überrascht. Es schien ihm eigentümlich,
daß jemand nach Edinburgh wollte und statt dessen im Ringlestone Inn
zwischen Maidstone und Canterbury im Südosten Englands landete.
Janet warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In zehn Minuten startet
mein Flugzeug von Heathrow nach Edinburgh«, sagte sie zufrieden.
»Na, den Flieger erwischen Sie nicht mehr«, meinte der Wirt und lachte
etwas verlegen. Ihm ging allmählich auf, daß mit der Frau irgend etwas
nicht stimmte. Er hätte nicht sagen können, was ihm dieses Gefühl
gab, aber es war etwas an ihr... Sie schien entspannt, aber Angst
und Unruhe lagen spürbar auf der Lauer.
»Na ja«, meinte er unsicher, »es gehen jeden Tag Flüge nach Edinburgh,
nicht? Dann fliegen Sie eben morgen.«
»Ich glaube«, sagte Janet, »daß ich überhaupt nicht fliegen werde.«
Im Grunde hatte sie das schon am Vormittag beschlossen, als sie gegen
zehn Uhr in London aus dem Flugzeug stieg. Sie hatte die Flüge absichtlich
so gebucht, daß ihr elf Stunden Aufenthalt dazwischen blieben; dann
könne sie, hatte sie Phillip, ihrem Mann, erklärt, ein ausgedehntes
Sightseeing in London einlegen.
»Als ob du London nicht kennen würdest wie deine Westentasche!« hatte
Phillip bemerkt. »Was willst du denn noch anschauen?«
»Ich war lange nicht mehr da. Ich will einfach London atmen, riechen,
fühlen.«
In Wahrheit wollte sie in den elf Stunden irgendeinen Weg finden,
Edinburgh zu vermeiden.
Aus dem sightseeing wurde nichts, der Regen floß in Strömen und wurde
eher heftiger, als daß er nachließ. Janet flüchtete schließlich zu
Harrod's und ließ sich durch die Stockwerke treiben. Sie kaufte Tee,
Orangenmarmelade und Cookies für Phillip, eine Swatch-Uhr für Mario.
Sie bezahlte ein Pfund, um Zugang zu den luxuriösen Gold- und Marmortoiletten
im ersten Stock zu bekommen, und versuchte dort, sich ein wenig frisch
zu machen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte ihr, daß sie ziemlich
zerrupft aussah. Ihre regennassen Haare kräuselten sich zu eigenwilligen
Locken, ihr blasses Gesicht hatte jeden Anflug von Farbe verloren.
Mit Lippenstift und Rouge polierte sie es etwas auf, aber der verhärmte,
sorgenvolle Ausdruck blieb. Um ihrem Kreislauf etwas auf die Beine
zu helfen, trank sie in einem Stehimbiß im Keller zwei Gläser Sekt.
Danach fühlte sie sich so weit wiederhergestellt, daß sie in der Lage
war, zum Flughafen zurückzufahren, ein Auto zu mieten und sich, soweit
sie konnte, von der Hauptstadt zu entfernen. Der Linksverkehr bereitete
ihr zunächst einige Probleme, aber als sie sich auf der Autobahn befand,
wurde es besser, und später, auf den kleinen Landstraßen in Kent,
fühlte sie sich schon sehr sicher. Immer wieder murmelte sie vor sich
hin: »Ich muß nicht fliegen, wenn ich nicht will. Ich muß überhaupt
nichts tun, was ich nicht will!«
Aber sie wünschte, sie hätte die Souveränität besessen, einfach hinzugehen
und den Flug nach Edinburgh zu stornieren, anstatt sich selbst auszutricksen
und etwas zu tun, das sie daran hinderte, pünktlich wieder in Heathrow
zu sein. »Immer noch das kleine Mädchen, das keine Verantwortung für
sein Tun und Lassen übernehmen will«, murmelte sie unzufrieden vor
sich hin.
Immerhin, ihre Flucht vor der Verantwortung hatte ihr einen schönen
Tag beschert. Sie war in England herumgekurvt und hatte ein bezauberndes
Pub entdeckt. Dies erinnerte sie an die Zeit mit Andrew. Mit ihm war
sie oft ins Blaue losgefahren und dann irgendwo eingekehrt, am liebsten
in Orten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
sie bald an der Küste landen würde, und gleichzeitig wurde ihr bewußt,
daß sie seit dem knapp bemessenen Imbiß im Flugzeug am Morgen nichts
mehr gegessen hatte. Sie beschloß, abseits von der Hauptstraße ein
wenig kreuz und quer herumzufahren und die Augen nach einem Gasthaus
offenzuhalten. Der Maiabend war hell; der Himmel war, nach einem Tag
voller Regen, plötzlich leergefegt von allen Wolken und sandte eine
Flut von Sonne über das feuchte, dampfende Land. Janet hatte Kent
immer gemocht, sich aber selten so verzaubert gefühlt wie an diesem
Abend. Ihre Sorgen hatten sich mit den Wolken aufgelöst. Für einige
Stunden war sie eine Frau ohne Vergangenheit oder Zukunft, ohne Verpflichtungen,
ohne Bindungen. Niemand wußte, wo sie war, niemand konnte etwas von
ihr erwarten oder verlangen.
Als sie vor dem Ringlestone Inn hielt und aus dem Wagen stieg, fröstelte
sie in der frischen Abendluft und hatte sich dennoch in ihrem Innern
lange nicht mehr so warm gefühlt.
»Sie möchten sicher nach Folkstone?« fragte der Wirt. Janet schüttelte
den Kopf. »Nein. Ich fahre wahrscheinlich heute noch nach London zurück.«
Sie strich sich mit beiden Händen über die nackten Arme und wies mit
einer Kopfbewegung auf den leeren Tisch vor dem Kamin. »Darf ich mich
da hinsetzen?«
»Selbstverständlich.« Eifrig rückte ihr der Wirt einen Stuhl zurecht.
Janet nahm Platz. Es herrschte eine brütende Hitze am Feuer, sie würde
es kaum länger als eine halbe Stunde dort aushalten, aber sie konnte
ihre Knochen aufwärmen, und vielleicht trockneten ihre noch immer
regenfeuchten Schuhe. Sie ließ den Blick umherschweifen und stellte
fest, daß sich wohl vorwiegend Leute aus den umliegenden Dörfern hier
aufhielten; ältere Männer, die Bier tranken, politisierten, über die
nächste Ernte fachsimpelten. Niemand beachtete Janet. Das wohlige
Gefühl der Entspanntheit verstärkte sich. Sie bestellte Huhn mit Reis
und ein Glas Ginger Ale und machte sich darüber her wie eine Verhungernde.
Sie ließ keinen Krümel auf dem Teller zurück, und als sie fertig war,
verzehrte sie zum Nachtisch noch ein Stück Kuchen. Seit Jahren litt
sie an Eßstörungen, mußte häufig erbrechen, aber sie spürte, daß sie
dies heute nicht zu fürchten brauchte. Sie würde alles bei sich behalten.
Als sie ihren Kaffee trank und dazu eine Zigarette rauchte, gesellte
sich der Wirt zu ihr. Er war erpicht auf eine Unterhaltung und leitete
sie originellerweise mit einer Bemerkung über das Wetter ein. »War
wohl besseres Wetter da, wo Sie herkommen?« fragte er. Janet runzelte
die Stirn.
»Weil Sie so sommerlich angezogen sind«, erklärte er.
Janet sah an sich hinunter. Kurzärmeliger Baumwollpullover, ein leichter
Rock, feuchtfleckige Wildlederschuhe. Sie lachte. »Ich bin heute früh
von Hamburg nach London geflogen. In Hamburg war es richtig warm.«
»Hamburg? Da war mein Vater mal nach dem Krieg!«
»Wirklich?« sagte Janet. Der Wirt sah sie strahlend an, als hätten
sie gerade einen gemeinsamen Urahn ausfindig gemacht. Sie fühlte sich
bemüßigt, erklärend hinzuzufügen: »Ich bin aber gebürtige Engländerin.«
»Wie lange leben Sie schon in Deutschland?«
»Seit fünfundzwanzig Jahren. Ich habe einen Deutschen geheiratet.«
Sie erschrak fast bei dieser Auskunft. Ein Vierteljahrhundert! Mit
achtzehn war sie fortgegangen. Zu jung, um zu wissen, was sie tat.»
Und jetzt statten Sie der Heimat einen Besuch ab«, stellte der Wirt
fest. »Es ist schön, nach Hause zu kommen, nicht? Sie stammen aus
dieser Gegend?«
»Nein. Ich bin in Cambridge geboren und aufgewachsen. Und heute wollte
ich eigentlich nach Edinburgh.«
»Oh ...« Der Wirt zeigte sich überrascht. Es schien ihm eigentümlich,
daß jemand nach Edinburgh wollte und statt dessen im Ringlestone Inn
zwischen Maidstone und Canterbury im Südosten Englands landete.
Janet warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In zehn Minuten startet
mein Flugzeug von Heathrow nach Edinburgh«, sagte sie zufrieden.
»Na, den Flieger erwischen Sie nicht mehr«, meinte der Wirt und lachte
etwas verlegen. Ihm ging allmählich auf, daß mit der Frau irgend etwas
nicht stimmte. Er hätte nicht sagen können, was ihm dieses Gefühl
gab, aber es war etwas an ihr... Sie schien entspannt, aber Angst
und Unruhe lagen spürbar auf der Lauer.
»Na ja«, meinte er unsicher, »es gehen jeden Tag Flüge nach Edinburgh,
nicht? Dann fliegen Sie eben morgen.«
»Ich glaube«, sagte Janet, »daß ich überhaupt nicht fliegen werde.«
Im Grunde hatte sie das schon am Vormittag beschlossen, als sie gegen
zehn Uhr in London aus dem Flugzeug stieg. Sie hatte die Flüge absichtlich
so gebucht, daß ihr elf Stunden Aufenthalt dazwischen blieben; dann
könne sie, hatte sie Phillip, ihrem Mann, erklärt, ein ausgedehntes
Sightseeing in London einlegen.
»Als ob du London nicht kennen würdest wie deine Westentasche!« hatte
Phillip bemerkt. »Was willst du denn noch anschauen?«
»Ich war lange nicht mehr da. Ich will einfach London atmen, riechen,
fühlen.«
In Wahrheit wollte sie in den elf Stunden irgendeinen Weg finden,
Edinburgh zu vermeiden.
Aus dem sightseeing wurde nichts, der Regen floß in Strömen und wurde
eher heftiger, als daß er nachließ. Janet flüchtete schließlich zu
Harrod's und ließ sich durch die Stockwerke treiben. Sie kaufte Tee,
Orangenmarmelade und Cookies für Phillip, eine Swatch-Uhr für Mario.
Sie bezahlte ein Pfund, um Zugang zu den luxuriösen Gold- und Marmortoiletten
im ersten Stock zu bekommen, und versuchte dort, sich ein wenig frisch
zu machen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte ihr, daß sie ziemlich
zerrupft aussah. Ihre regennassen Haare kräuselten sich zu eigenwilligen
Locken, ihr blasses Gesicht hatte jeden Anflug von Farbe verloren.
Mit Lippenstift und Rouge polierte sie es etwas auf, aber der verhärmte,
sorgenvolle Ausdruck blieb. Um ihrem Kreislauf etwas auf die Beine
zu helfen, trank sie in einem Stehimbiß im Keller zwei Gläser Sekt.
Danach fühlte sie sich so weit wiederhergestellt, daß sie in der Lage
war, zum Flughafen zurückzufahren, ein Auto zu mieten und sich, soweit
sie konnte, von der Hauptstadt zu entfernen. Der Linksverkehr bereitete
ihr zunächst einige Probleme, aber als sie sich auf der Autobahn befand,
wurde es besser, und später, auf den kleinen Landstraßen in Kent,
fühlte sie sich schon sehr sicher. Immer wieder murmelte sie vor sich
hin: »Ich muß nicht fliegen, wenn ich nicht will. Ich muß überhaupt
nichts tun, was ich nicht will!«
Aber sie wünschte, sie hätte die Souveränität besessen, einfach hinzugehen
und den Flug nach Edinburgh zu stornieren, anstatt sich selbst auszutricksen
und etwas zu tun, das sie daran hinderte, pünktlich wieder in Heathrow
zu sein. »Immer noch das kleine Mädchen, das keine Verantwortung für
sein Tun und Lassen übernehmen will«, murmelte sie unzufrieden vor
sich hin.
Immerhin, ihre Flucht vor der Verantwortung hatte ihr einen schönen
Tag beschert. Sie war in England herumgekurvt und hatte ein bezauberndes
Pub entdeckt. Dies erinnerte sie an die Zeit mit Andrew. Mit ihm war
sie oft ins Blaue losgefahren und dann irgendwo eingekehrt, am liebsten
in Orten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
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Autoren-Porträt von Charlotte Link
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Ohne Schuld« und zuletzt »Einsame Nacht« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 33 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Autoren-Interview mit Charlotte Link
Interview mit Charlotte LinkSie haben einmal in einem Interview gesagt, dass Sie Ihre Themen nicht suchen, sondern dass die Themen Sie regelrecht anspringen. Wie war das bei Ihrem Buch "Die Sünde der Engel"?
Ich bemühe mich vor allem bei den von mir entwickelten Figuren um größtmögliche Authentizität; d.h. ich zwinge sie nicht in meine Geschichte, sondern ändere notfalls das Konzept, wenn seine Beibehaltung eine Person unstimmig erscheinen ließe. Die Glaubwürdigkeit meiner Protagonisten scheint vielen Lesern die Möglichkeit zur Identifikation zu geben, jedenfalls entnehme ich dies den Briefen, die mich erreichen. Man findet sich oder Anteile von sich in den Figuren. Möglicherweise liegt hier ein Grund für den Erfolg.
In Ihren Büchern bröckeln stets die schönen Fassaden. Was, glauben Sie, bewegt die Menschen, eine derartige Energie auf die Konstruktion Ihrer schönen Scheinwelt zu verwenden?
Und da habe ich auch immer wieder Beispiele in meinem privaten Umfeld - ohne dass sich natürlich unbedingt derart dramatische Entwicklungen ergeben wie in der TÄUSCHUNG. Gerade in Beziehungen ist häufig das Bemühen vorhanden, dem Bild zu entsprechen, das der Partner, aber auch Freunde, Bekannte, Kollegen aufgebaut haben. Hinter der so stimmig erscheinenden Fassade kann es jahrelang bröckeln und kriseln, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt.
In "Die Sünde der Engel" versucht die Mutter Janet, ihre Söhne vor den Schatten der Vergangenheit zu bewahren; aber kaum werden sie erwachsen und selbstständig, holen die alten Geschichten sie ein. Sind die Sünden der Vorfahren ein unentrinnbarer Fluch?
Das ist unterschiedlich. Manchmal entwickle ich ein Buch über eine Figur, die sozusagen den ersten Anstoß zur Geschichte gegeben hat, manchmal ist die Geschichte schon da und muss mit Personen gefüttert werden.
... mehr
In jedem Fall - wie bei Frage 1 schon erwähnt - übernehmen die Figuren irgendwann die Führung. Sie, bzw. die Notwendigkeit ihrer psychologischen Stimmigkeit, sind entscheidend für den Handlungsverlauf.
Die Kritik schreibt, Sie stehen "in bester englischer Erzähltradition". Was genau ist wohl damit gemeint?
Meistens finde ich die Orte, in denen meine Romane spielen, zufällig. Ich reise gerne, und wenn mich ein Platz sehr anspricht, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er irgendwann in einem Roman vorkommt. Ich achte auf geographische Stimmigkeit, d.h., ich erkunde die jeweilige Gegend sehr genau und lasse vor allem auch ihre Atmosphäre auf mich wirken - wohl wissend, dass ich diese nur nach sehr subjektiven Empfindungen wiedergeben kann. Ich erlaube es mir aber auch, Häuser, Straßen, Restaurants usw. eigenmächtig hinzuzufügen. Beispielsweise würde ich Figuren nicht in Häusern ansiedeln, die es, durch Straßennamen und Erscheinungsbild identifizierbar, wirklich gibt - dies könnte ja den Bewohnern durchaus Probleme bringen.
Ist Ihre Arbeitsweise immer gleich, egal, ob Sie einen Krimi oder einen Gesellschaftsroman schreiben?
Im Prinzip ist die Herangehensweise identisch: Da ist der erste Funke, der überspringt - von einem Menschen, einem Bild, einer Geschichte - und dann das Ausfeilen der Charaktere und der Handlung. Vielleicht ist der Spannungsroman, dem ja eine Kriminalhandlung zugrunde liegt, von Anfang an deutlicher konzipiert - was nicht bedeutet, dass er nicht mehrfach umgeschrieben wird -; das Schema, in dem sehr zielgerichtet ein Höhepunkt, der Showdown am Ende, angestrebt wird, muss ja eingehalten werden. Im Gesellschaftsroman kann ich der Geschichte mehr Entwicklungsspielraum geben, sie gelassener und großzügiger auf mich zukommen lassen.
Die Kritik schreibt, Sie stehen "in bester englischer Erzähltradition". Was genau ist wohl damit gemeint?
Meistens finde ich die Orte, in denen meine Romane spielen, zufällig. Ich reise gerne, und wenn mich ein Platz sehr anspricht, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er irgendwann in einem Roman vorkommt. Ich achte auf geographische Stimmigkeit, d.h., ich erkunde die jeweilige Gegend sehr genau und lasse vor allem auch ihre Atmosphäre auf mich wirken - wohl wissend, dass ich diese nur nach sehr subjektiven Empfindungen wiedergeben kann. Ich erlaube es mir aber auch, Häuser, Straßen, Restaurants usw. eigenmächtig hinzuzufügen. Beispielsweise würde ich Figuren nicht in Häusern ansiedeln, die es, durch Straßennamen und Erscheinungsbild identifizierbar, wirklich gibt - dies könnte ja den Bewohnern durchaus Probleme bringen.
Ist Ihre Arbeitsweise immer gleich, egal, ob Sie einen Krimi oder einen Gesellschaftsroman schreiben?
Im Prinzip ist die Herangehensweise identisch: Da ist der erste Funke, der überspringt - von einem Menschen, einem Bild, einer Geschichte - und dann das Ausfeilen der Charaktere und der Handlung. Vielleicht ist der Spannungsroman, dem ja eine Kriminalhandlung zugrunde liegt, von Anfang an deutlicher konzipiert - was nicht bedeutet, dass er nicht mehrfach umgeschrieben wird -; das Schema, in dem sehr zielgerichtet ein Höhepunkt, der Showdown am Ende, angestrebt wird, muss ja eingehalten werden. Im Gesellschaftsroman kann ich der Geschichte mehr Entwicklungsspielraum geben, sie gelassener und großzügiger auf mich zukommen lassen.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Link
- 2009, 2. Aufl., 335 Seiten, Maße: 11,5 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442372917
- ISBN-13: 9783442372911
- Erscheinungsdatum: 15.05.2009
Rezension zu „Die Sünde der Engel “
"Die Schriftstellerin Charlotte Link versteht es prachtvoll, Lebenslinien zu einem Spannungsnetz zu verknüpfen."
Pressezitat
"Die Schriftstellerin Charlotte Link versteht es prachtvoll, Lebenslinien zu einem Spannungsnetz zu verknüpfen." Gong
Kommentar zu "Die Sünde der Engel"