Die Unruhezone
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
In "Die Unruhezone" erzählt Jonathan Franzen von den Peanuts als kindlicher Ersatzfamilie, seiner Angst vor Urinalen und Duschkabinen, von Vögeln, dem Leben und der Liebe. Zwischen komisch-trotziger Selbsterfahrung und Empathie oszillierend, zeichnet er das Porträt einer amerikanischen Mittelstandsfamilie und eines Menschen in seiner Zeit.
Die Unruhezone von Jonathan Franzen
LESEPROBE
Haus zu verkaufen
Am Abend hatte es in St. Louis einGewitter gegeben. Das Wasser stand in dampfenden schwarzen Lachen auf dem Asphaltvor dem Flughafen, und vom Rücksitz meines Taxis aus konnte ich Eichenäste vor tiefhängendenStadtwolken schwanken sehen. Die samstagnächtlichen Straßen waren von einemGefühl des Danach, des Zuspät gesättigt - der Regenfiel nicht, er war schon gefallen.
Das Haus meiner Mutter in Webster Groves war bis auf eine Lampe an einer Zeitschaltuhr imWohnzimmer dunkel. Ich schloss auf, ging geradewegs zur Hausbar und genehmigtemir den Hammerdrink, den ich mir schon vor dem ersten meiner beiden Flügeversprochen hatte. Wie ein Wikinger empfand ich ein Anrecht auf alle Vorräte,die ich plündern konnte. Mein vierzigster Geburtstag stand bevor, und meine älterenBrüder hatten mich mit der Aufgabe betraut, nach Missouri zu reisen und einenMakler auszuwählen, der das Haus verkaufen sollte. Solange ich in Webster Groves war und mich um den Nachlass kümmerte, gehörte dieHausbar mir. Mir! Dito die Klimaanlage, die ich auf frostig herunterdrehte.Dito der Gefrierschrank in der Küche, dem ich in der Hoffnung, ein paarFrühstückswürstchen darin zu finden, hausgemachten Rindfleischeintopf,irgendetwas Fettes und Würziges, das ich vor dem Zubettgehen würde aufwärmen undessen können, sofort auf den Grund gehen musste. Meine Mutter war immer daraufbedacht gewesen, Lebensmittel mit dem Einfrierdatum zu versehen. Unterzahlreichen Beuteln Preiselbeeren fand ich eingewickelte Schwarzbarsche, dieein Angler aus der Nachbarschaft drei Jahre zuvor gefangen hatte. Unter denBarschen lag eine neun Jahre alte Rinderbrust.
Ich ging durchs Haus und nahm injedem Zimmer die Familienfotos an mich. Auf diese Arbeit hatte ich mich fast genausogefreut wie auf den Drink. Meine Mutter hatte auf das Formelle ihresWohnzimmers und Esszimmers zu viel Wert gelegt, um sie mit Schnappschüssen vollzustellen, aber überall sonst war jedes Fensterbrettund jeder Tisch ein Strudel, in dem sich preisgünstig gerahmte Fotos angesammelthatten. Eine Einkaufstasche füllte ich mit der Beute von ihrer Fernsehtruhe.Eine weitere Tasche voll pflückte ich wie Spalierobst von einer Wand desFamilienzimmers. Auf vielen Bildern waren die Enkel zu sehen, aber auch ichwar vertreten - hier lasse ich an einem Strand in Florida einZahnspangenlächeln blitzen, hier mache ich bei der Abschlussfeier am Collegeein verkatertes Gesicht, hier ziehe ich an meinem unheilvollen Hochzeitstag dieSchultern hoch, hier stehe ich während eines Alaskaurlaubs, für den meineMutter, da ging es schon aufs Ende zu, einen beträchtlichen Anteil ihrerErsparnisse aufgewandt hatte, damit sie uns alle bei sich haben konnte, einenMeter von den anderen entfernt. Das Alaskafoto schmeichelte neun von uns sosehr, dass sie blaue Kugelschreiberpunkte auf die Augen der zehnten gemachthatte, einer Schwiegertochter, die bei der Aufnahme geblinzelt hatte und nun,mit ihren missratenen Tintenknopfaugen, leicht monströs oder wahnsinnig aussah.
Ich redete mir ein, dass ich, indemich das Haus entpersönlichte, bevor es der erste Makler besichtigen kam, eine wichtigeArbeit leistete. Doch wenn jemand mich gefragt hätte, wozu es ebenfalls nötigwar, dass ich noch an jenem ersten Abend die über hundert Fotos auf einem Tischim Souterrain stapelte und jedes Foto aus seinem Rahmen riss, schnitt, hebelteoder zog und dann alle Rahmen in Einkaufstaschen kippte und die Einkaufstaschenin Schränken verstaute und alle Fotos in einen Umschlag steckte, damit niemandsie sehen konnte - falls jemand auf meine Ähnlichkeit mit einem Erobererverwiesen hätte, der die Kirchen des Feindes niederbrennt und seine Ikonenzerstört -, hätte ich zugeben müssen, dass ich meinen Hausbesitz genoss.
Ich war der Einzige der Familie, derhier seine gesamte Kindheit verbracht hatte. Als Teenager hatte ich, wenn meineEltern ausgehen wollten, die Sekunden gezählt, bis ich für eine begrenzte Zeitdie volle Herrschaft über das Haus antreten konnte, und solange sie weg waren,bedauerte ich, dass sie wiederkommen würden. In den Jahrzehnten seither hatteich die sklerotische Zunahme der Familienfotos grollendmit angesehen und mich darüber aufgeregt, dass meine Mutter meinen Schubladen-und Schrankraum usurpierte, und auf ihre Bitte, meine alten Kartons mit denBüchern und Papieren wegzuschaffen, hatte ich wie eine Hauskatze, der sieGemeinschaftssinn beizubringen suchte, reagiert. Offenbar glaubte sie, esgehöre alles ihr.
Was natürlich stimmte. Es war dasHaus, in das sie zehn Monate lang, an fünf Tagen im Monat, während meine Brüderund ich unserem jeweiligen Küstenleben nachgingen, allein von der Chemotherapiezurückgekommen und ins Bett gekrochen war. Das Haus, von dem aus sie mich ein Jahrdanach, Anfang Juni, in New York angerufen und gesagt hatte, sie müsse nocheinmal ins Krankenhaus, zu einer weiteren Probeexzision,und dann in Tränen ausgebrochen war und sich dafür entschuldigt hatte, dass sieuns alle nur enttäusche und immer noch mehr schlechte Nachrichten für unshabe. Das Haus, in dem sie, eine Woche nachdem ihr Chirurg bitter den Kopfgeschüttelt und ihr den Unterleib wieder zugenäht hatte, die ihr vertrauteste Schwiegertochter über die Vorstellung einesLebens nach dem Tod befragt und meine Schwägerin eingeräumt hatte, allein schonder Logistik wegen erscheine ihr das ziemlich weit hergeholt, worauf meineMutter, ihr zustimmend, den Punkt «Sich übers Leben nach dem Tod klarwerden» sozusagen abgehakt hatte und mit ihrer Listeder noch zu erledigenden Dinge in ihrer üblichen pragmatischen Art fortgefahrenwar, sich anderen Aufgaben zuwendend, die durch ihr Sich-Klarwerdendringlicher denn je geworden waren, wie etwa «Beste Freundinnen nacheinandereinladen und für immer Abschied von ihnen nehmen». Es war das Haus, von dem ausmein Bruder Bob sie an einem Samstagvormittag im Juli zu ihrer Friseuringefahren hatte, die Vietnamesin war und niedrige Preise nahm und sie mit denWorten «Oh, Mrs. Fran, Mrs. Fran, Sie sehen ja furchtbar aus» begrüßte,und in das sie eine Stunde später zurückgekehrt war, um ihre Verschönerung zuvervollkommnen, weil sie lange gehortete Vielfliegermeilenfür zwei Businessclass-Tickets eingelöst hatte und Businessclass-Reisen ein Anlass waren, besonders gut auszusehen,was sich auch mit Sich-besonders-gut-Fühlen umschreibenließ; sie kam, für die Businessclass gekleidet, von ihremSchlafzimmer nach unten, verabschiedete sich von ihrer Schwester, die aus NewYork angereist war, um sicherzustellen, dass das Haus nicht leerstand, wenn meine Mutter von dort aufbrach - dass nochjemand da war -, fuhr dann mit meinem Bruder zum Flughafen und flog für denRest ihres Lebens an die Pazifikküste im Nordwesten. Ihr Haus war, da ein Haus,hinreichend langsamer in seinem Sterben, sodass es für meine Mutter, die alsHalt etwas Größeres brauchte als sich selbst, aber nicht an übernatürlicheWesen glaubte, eine Ruhezone war. Ihr Haus war der starke (aber nicht unendlichstarke) und unerschütterliche (aber nicht immerwährende) Gott, den sie geliebtund dem sie gedient hatte und der ihr eine Stütze gewesen war, und meine Tantehatte, indem sie zu dem Zeitpunkt kam, etwas sehr Kluges getan.
Jetzt aber musste das Hausschleunigst auf den Markt. Die erste Augustwoche hatte schon begonnen, und dasbeste Verkaufsargument, das die zahlreichen Mängel des Hauses aufwog (diewinzige Küche, den vernachlässigenswerten Garten, das zu kleine Bad imObergeschoss), war seine Lage im katholischen Schulbezirk, der der Kirche Mary,Queen of Peace zugeordnet war. Angesichts der Qualitätder öffentlichen Schulen von Webster Groves verstandich nicht, warum eine Familie eigens draufzahlen sollte, um in diesem Bezirk zuleben, nur um dann für den Unterricht durch Nonnen nochmaldraufzuzahlen, aber es gab so einiges am Katholischsein, das ich nichtverstand. Meiner Mutter zufolge warteten überall in St. Louis katholischeEltern ungeduldig auf Angebote in diesem Bezirk, und man wusste von Familien inWebster Groves, die ihre Zelte abbrachen und bloßein, zwei Straßen weiterzogen, um nur jahineinzugelangen. ( )
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: EikeSchönfeld
- Autor: Jonathan Franzen
- 2007, 1. Auflage., 253 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Schönfeld, Eike
- Übersetzer: Eike von Schönfeld
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498021168
- ISBN-13: 9783498021160
- Erscheinungsdatum: 16.03.2007
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Unruhezone".
Kommentar verfassen