Die Zarentochter
Historischer Roman
Der Zarenhof in St. Petersburg ist die prunkvolle Kulisse von Petra Durst-Bennings bewegendem neuen Roman: Olga wird als zweite Tochter des russischen Zaren Nikolaus I. geboren. Das Ziel des Zaren ist es, seine Töchter politisch klug zu verheiraten....
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Produktinformationen zu „Die Zarentochter “
Der Zarenhof in St. Petersburg ist die prunkvolle Kulisse von Petra Durst-Bennings bewegendem neuen Roman: Olga wird als zweite Tochter des russischen Zaren Nikolaus I. geboren. Das Ziel des Zaren ist es, seine Töchter politisch klug zu verheiraten. Die junge Großfürstin Olga muss den Erwartungen ihres Vaters gerecht werden und eine gute Partie machen. Doch ihr Herz will etwas anderes als die hohe Diplomatie und führt sie an den Hof König Wilhelms I. von Württemberg. Olga findet ihre große Liebe, doch auf Gefühle nimmt das politische Kalkül der Königshäuser keine Rücksicht.
Lese-Probe zu „Die Zarentochter “
Die Zarentochter von Petra Durst-Benning8. Kapitel
Die Fahrt führte über schlecht verlegtes, vereistes Kopfsteinpflaster, dann über notdürftig ausgebessertes Holzpflaster, und erst als sie über eine festgefahrene Schneedecke fuhren, hörte das Rumpeln auf.
Trotz mehrmaligem Nachfragen bekam Olly nicht heraus, wohin es ging – Anna Okulows Miene war ebenso energisch wie unergründlich. Bestimmt hatte sich die Hofdame irgendetwas Gemeines ausgedacht, mit dem sie sich für Ollys gestriges Verhalten rächen wollte. Dass Anna selbst darauf gebrannt hatte, zu Madame Ruschkowa zu gehen, hatte Olly sehr wohl mitbekommen, umso mehr hatte sie ihren kleinen Triumph genossen.
Auch heute würde sie es Anna nicht leicht machen, beschloss sie. Ganz gleich, was sich ihre Betreuerin ausgedacht hatte, sie, Olly, würde einfach mit ihrem üblichen Gleichmut reagieren. Das regte Anna immer besonders auf.
Zufrieden mummelte sich Olly so tief in ihren Pelzfußsack und unter die vielen Pelzdecken, dass gerade noch ihre Nase und ihre Augen hervorschauten. Eine Schlittenfahrt war in jedem Fall besser, als Mathematik zu lernen. Wie neidisch die anderen geschaut hatten, als Anna sie aus dem Unterricht geholt hatte! Sehr still war es hier draußen vor der Stadt. Außer dem gedämpften Hufschlag der Pferde, dem sanften Gleiten der Schlittenkufen und den zwei Glöckchen, die über dem Rist der Pferde am Geschirr befestigt waren, war nichts zu hören. Die unzähligen nackten Birken, an denen sie vorbeikamen, ragten wie weiße Gespenster in den Winterhimmel. Im Gegensatz zu anderen Bäumen, deren Silhouette im Winter scharf umrissen wie ein Scherenschnitt wirkte, hoben sich die Birken in der feuchten und trüben Luft kaum von ihrem Hintergrund ab.
»Wir sind angekommen«, sagte Anna schließlich. »Das hier ist das Landgut meiner
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Familie.« Sie zeigte auf den U-förmigen Hof hinter sich, dann wies sie den Fahrer an, die Pferde in den Stall zu bringen und sie trocken zu reiben.
»Der Stallmeister heißt Iljuschin, und falls er dich fragt, von wem du kommst, nenne meinen Namen. Besorge den Tieren eine Portion Heu und dir selbst einen heißen Tee, vielleicht auch einen Wodka.
Wir sind in spätestens einer Stunde zurück.«
»Wohin gehen wir?« Obwohl Olly auf Annas Rat hin die wärmsten und dicksten Stiefel angezogen hatte, die sie besaß, hatte sie Mühe, mit Anna im kniehohen Schnee Schritt zu halten. Was wollte Anna hier mitten in der Wildnis?
Sie kamen an einem zugefrorenen Teich vorbei, an einem kleinen Wäldchen und an ein paar zerfallenen Hütten, um die ein Rudel wilder Hunde strich. Sie taten jedoch laut Anna nichts. Olly war dennoch froh, Grand Folie zu Hause gelassen zu haben – sehr vertrauenserweckend sahen die abgemagerten Viecher nicht aus, am Ende hätten sie sich noch auf ihr Hündchen gestürzt.
Der Gutshof und die Stallungen waren nur noch als graue Schatten in der diesigen Winterluft erkennbar, als Anna endlich stehen blieb.
»So, hier sind wir allein. Hier kann uns niemand hören«, sagte sie und schnaubte einmal tief in ihr Taschentuch. »Jetzt schrei!«
»Was?« Olly lachte irritiert.
»Schrei einfach, los!«, forderte Anna sie auf. »Und was soll ich schreien?«, fragte Olly so zaghaft, dass sie in der Winterstille kaum zu hören war. Unwillkürlich wich sie einen Schritt vor ihrer Betreuerin zurück – Annas Verhalten brachte sie aus dem Gleichgewicht. Gestern noch hatte sie gedacht, den Kampf gegen die Hofdame gewonnen zu haben…
»Das ist mir völlig gleichgültig!«, schrie Anna sie plötzlich an.
»Verflixt noch mal, du bist eine Großfürstin! Du bist die Tochter des Zaren! Du hast eine Stimme und nutzt sie nicht! Alles, was ich bisher von dir gehört habe, drehte sich um Dinge, die du nicht willst. Du willst keine schönen Kleider, du interessierst dich nicht für Zierrat, Tanzveranstaltungen sind dir ein Greuel. Sag mir doch endlich, was du willst!«
Einen Moment lang war Olly über Annas plötzliches »Du« konsternierter als über den Inhalt ihrer Worte.
»Wie können Sie es wagen, mich zu duzen? Und was fällt Ihnen überhaupt ein, mich hierherzubringen? Den Tod werde ich mir hier holen!«
Anna Okulow schnaubte. »Das soll die laute Stimme einer Großfürstin sein, die ihre Wünsche anmeldet? Für mich ist das nicht mehr als ein Piepsen!«
Annas Beharrlichkeit, die Kälte, die ungewohnte Landschaft, die wilden Hunde, die in immer engeren Kreisen um sie herumstrichen – plötzlich war alles zu viel für Olly.
»Sie wollen, dass ich Wünsche anmelde? Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe? Das wünsche ich mir! Ich habe Ihnen doch schon gestern gesagt, dass aus mir keine zweite Mary wird. Meine liebe Schwester ist so flatterhaft, denkt immer nur an sich! Ihr ganzes Leben dreht sich nur um Vergnügungen und darum, den tollsten aller Ehemänner zu bekommen. Aber sie ist Vaters Lieblingstochter, ihr Charme ist tausendmal mehr wert ist als all mein Fleiß und meine Demut zusammen!« Olly schlug die Hände vor den Mund.
»Das alles habe ich schon gestern verstanden, du warst ja mehr als deutlich«, sagte Anna trocken. »Aber ich weiß noch immer nicht, was du mit deinem Leben anfangen willst. Was wünschst du dir? Welche Träume hast du, welche Sehnsüchte…«
»Träume, Sehnsüchte!« Olly lachte harsch auf. »Als ob das jemanden interessiert.«
Anna machte eine weit ausholende Handbewegung. »Glaubst du, ich wäre mit dir hierhergefahren, wenn es mir nicht ernst wäre? Ich will wissen, was dich wirklich bewegt.«
»Damit Sie heute Abend meinem Vater über jedes Wort von mir Rapport erstatten können?«
»Kind, vertrau mir«, sagte Anna sanft.
Ollys Blick war stur auf die in der Ferne stehenden nackten Birken gerichtet. Sollte sie es auf einen Versuch ankommen lassen?
»So genau weiß ich das selbst nicht«, begann sie schließlich zögernd.
»Ich weiß nur, dass ich anders bin als Mutter und Mary. Ich will kein Tanzpüppchen sein. Mir sind die Geschichten in der Bibel lieber als die romantischen Schnulzen, die Mary verschlingt. Ich will nicht immer nur lächeln und fröhlich sein, ich will auch mal traurig sein dürfen. Oder wütend! Aber das ziemt sich für eine Dame ja nicht.« Sie spie das Wort Dame regelrecht aus.
»Es hat doch niemand etwas dagegen, dass du in der Bibel liest oder ab und an traurig bist. Aber das können doch nicht deine Pläne fürs Leben sein«, sagte Anna.
Ollys Seufzen blieb als weißes Wölkchen in der eisigen Luft stehen.
»Was soll ich großartige Pläne für mein Leben schmieden, das hat doch längst Vater für mich erledigt«, sagte sie. »Wir drei Mädchen sollen eine gute Partie machen, mehr wird von uns nicht erwartet! Dabei –«
Hustend brach sie ab. Die eisige Kälte war ihr in die Kehle gekrochen, doch jetzt, wo sie angefangen hatte zu sprechen, drängten weitere Worte heraus, wie Tiere, die zu lange eingesperrt gewesen waren.
»Dabei …« Sie räusperte sich und schluckte. »Dabei gäbe es so viel zu tun! Wenn ich nur an die Armenhäuser der Stadt denke. Wie Tiere hausen die Menschen dort, alles ist alt und verkommen, im Winter eiskalt, und stinken tut es, dass einen der Ekel überfällt. Und dann die vielen Kranken, um die sich dort niemand kümmert. Sie liegen so lange in einer Ecke, bis die Kraft sie endgültig verlässt. Es kann doch nicht sein, dass jemand nur deshalb stirbt, weil er zu arm ist, um sich einen Arzt leisten zu können!« So wie Mischa, schoss es ihr durch den Kopf. »Ich weiß auch, dass sich vom Bibellesen und Beten allein nichts ändert, deshalb will ich selbst etwas tun, helfen … Aber das würden meine Eltern nie zulassen, solch ein Um- gang ziemt sich schließlich nicht. Außerdem, ich kann ja nicht mal genug Russisch, um mich mit den Leuten unterhalten zu können. Das ist auch etwas, was mich ärgert – als Tochter des russischen Zaren beherrsche ich die Landessprache nicht!« Sie trat so wütend mit ihrer Stiefelspitze in den Schnee, dass dieser aufstob und an Annas Rock hängenblieb.
»Wenn du willst, kann ich Russisch mit dir üben.«
»Wirklich?« Olly merkte auf. Bisher hatte die Hofdame nur in der offiziellen Hofsprache – also in Französisch – mit ihr gesprochen. Im nächsten Moment winkte sie ab. »Es ist doch viel wichtiger, dass aus mir eine Dame wird, die man erfolgreich in die Gesellschaft einführen kann.« Ihre letzten Worte trieften wieder vor bitterer Ironie. Sie wartete auf Annas Einwand, doch die schaute sie nur schweigend an.
»Was schauen Sie denn so komisch? Sie wollten doch, dass ich laut werde«, fuhr Olly sie an. »Ziemen sich meine Träume nicht?«
Anna strich sich über die Stirnnarbe, die in der kristallklaren Luft blassrosa glänzte.
»Ehrlich gesagt, hast du mich ein wenig überwältigt. Im Stillen hatte ich damit gerechnet, dass sich deine Wünsche um etwas Musisches, Künstlerisches drehen. Viele junge Damen wollen schließlich eine berühmte Schauspielerin werden. Oder Primadonna eines bedeutenden Ballettensembles. Aber dass dir Armenhäuser im Kopf herumschwirren, habe ich wirklich nicht erwartet.«
Olly lächelte. »Dabei habe ich Ihnen noch nicht von den Blinden und Gehörlosen erzählt, für die ich auch gern etwas tun würde. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand halbblind durchs Leben tastet, nur weil er sich keine Brille leisten kann.« Als sie Annas verdutztes Gesicht sah, musste sie lachen. Das hatte die Hofdame nun davon! Obwohl ihre Glieder vor Kälte schmerzten und ihre Lunge bei jedem Atemzug zu platzen drohte, fühlte sich Olly so gut wie schon lange nicht mehr.
»Warum sind wir eigentlich hierhergefahren?«, fragte sie mit fröhlicherer Stimme. »Nach meinen Wünschen hättest du mich auch in der Stadt fragen können.« Seltsam, es fühlte sich gar nicht schlecht an, Anna zu duzen.
Anna lächelte. »Aber dort hättest du mir nicht geantwortet. Dieser Ort hier, er hat irgendetwas Magisches… Plötzlich habe ich mich daran erinnert, dass ich als Kind immer hergekommen bin, wenn ich Sorgen hatte und nicht weiter wusste. Hier konnte ich all das laut werden lassen, was ich nirgendwo anders sagen durfte. Danach war mir immer leichter ums Herz.«
Olly schüttelte den Kopf. »Wenn uns jemand gesehen hätte – zwei Furien, die sich anschreien. Wir würden auf der Stelle ins Irrenhaus gebracht werden. Du lieber Himmel, ich habe gar nicht gewusst, dass ich so laut werden kann.«
»Der Stallmeister heißt Iljuschin, und falls er dich fragt, von wem du kommst, nenne meinen Namen. Besorge den Tieren eine Portion Heu und dir selbst einen heißen Tee, vielleicht auch einen Wodka.
Wir sind in spätestens einer Stunde zurück.«
»Wohin gehen wir?« Obwohl Olly auf Annas Rat hin die wärmsten und dicksten Stiefel angezogen hatte, die sie besaß, hatte sie Mühe, mit Anna im kniehohen Schnee Schritt zu halten. Was wollte Anna hier mitten in der Wildnis?
Sie kamen an einem zugefrorenen Teich vorbei, an einem kleinen Wäldchen und an ein paar zerfallenen Hütten, um die ein Rudel wilder Hunde strich. Sie taten jedoch laut Anna nichts. Olly war dennoch froh, Grand Folie zu Hause gelassen zu haben – sehr vertrauenserweckend sahen die abgemagerten Viecher nicht aus, am Ende hätten sie sich noch auf ihr Hündchen gestürzt.
Der Gutshof und die Stallungen waren nur noch als graue Schatten in der diesigen Winterluft erkennbar, als Anna endlich stehen blieb.
»So, hier sind wir allein. Hier kann uns niemand hören«, sagte sie und schnaubte einmal tief in ihr Taschentuch. »Jetzt schrei!«
»Was?« Olly lachte irritiert.
»Schrei einfach, los!«, forderte Anna sie auf. »Und was soll ich schreien?«, fragte Olly so zaghaft, dass sie in der Winterstille kaum zu hören war. Unwillkürlich wich sie einen Schritt vor ihrer Betreuerin zurück – Annas Verhalten brachte sie aus dem Gleichgewicht. Gestern noch hatte sie gedacht, den Kampf gegen die Hofdame gewonnen zu haben…
»Das ist mir völlig gleichgültig!«, schrie Anna sie plötzlich an.
»Verflixt noch mal, du bist eine Großfürstin! Du bist die Tochter des Zaren! Du hast eine Stimme und nutzt sie nicht! Alles, was ich bisher von dir gehört habe, drehte sich um Dinge, die du nicht willst. Du willst keine schönen Kleider, du interessierst dich nicht für Zierrat, Tanzveranstaltungen sind dir ein Greuel. Sag mir doch endlich, was du willst!«
Einen Moment lang war Olly über Annas plötzliches »Du« konsternierter als über den Inhalt ihrer Worte.
»Wie können Sie es wagen, mich zu duzen? Und was fällt Ihnen überhaupt ein, mich hierherzubringen? Den Tod werde ich mir hier holen!«
Anna Okulow schnaubte. »Das soll die laute Stimme einer Großfürstin sein, die ihre Wünsche anmeldet? Für mich ist das nicht mehr als ein Piepsen!«
Annas Beharrlichkeit, die Kälte, die ungewohnte Landschaft, die wilden Hunde, die in immer engeren Kreisen um sie herumstrichen – plötzlich war alles zu viel für Olly.
»Sie wollen, dass ich Wünsche anmelde? Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe? Das wünsche ich mir! Ich habe Ihnen doch schon gestern gesagt, dass aus mir keine zweite Mary wird. Meine liebe Schwester ist so flatterhaft, denkt immer nur an sich! Ihr ganzes Leben dreht sich nur um Vergnügungen und darum, den tollsten aller Ehemänner zu bekommen. Aber sie ist Vaters Lieblingstochter, ihr Charme ist tausendmal mehr wert ist als all mein Fleiß und meine Demut zusammen!« Olly schlug die Hände vor den Mund.
»Das alles habe ich schon gestern verstanden, du warst ja mehr als deutlich«, sagte Anna trocken. »Aber ich weiß noch immer nicht, was du mit deinem Leben anfangen willst. Was wünschst du dir? Welche Träume hast du, welche Sehnsüchte…«
»Träume, Sehnsüchte!« Olly lachte harsch auf. »Als ob das jemanden interessiert.«
Anna machte eine weit ausholende Handbewegung. »Glaubst du, ich wäre mit dir hierhergefahren, wenn es mir nicht ernst wäre? Ich will wissen, was dich wirklich bewegt.«
»Damit Sie heute Abend meinem Vater über jedes Wort von mir Rapport erstatten können?«
»Kind, vertrau mir«, sagte Anna sanft.
Ollys Blick war stur auf die in der Ferne stehenden nackten Birken gerichtet. Sollte sie es auf einen Versuch ankommen lassen?
»So genau weiß ich das selbst nicht«, begann sie schließlich zögernd.
»Ich weiß nur, dass ich anders bin als Mutter und Mary. Ich will kein Tanzpüppchen sein. Mir sind die Geschichten in der Bibel lieber als die romantischen Schnulzen, die Mary verschlingt. Ich will nicht immer nur lächeln und fröhlich sein, ich will auch mal traurig sein dürfen. Oder wütend! Aber das ziemt sich für eine Dame ja nicht.« Sie spie das Wort Dame regelrecht aus.
»Es hat doch niemand etwas dagegen, dass du in der Bibel liest oder ab und an traurig bist. Aber das können doch nicht deine Pläne fürs Leben sein«, sagte Anna.
Ollys Seufzen blieb als weißes Wölkchen in der eisigen Luft stehen.
»Was soll ich großartige Pläne für mein Leben schmieden, das hat doch längst Vater für mich erledigt«, sagte sie. »Wir drei Mädchen sollen eine gute Partie machen, mehr wird von uns nicht erwartet! Dabei –«
Hustend brach sie ab. Die eisige Kälte war ihr in die Kehle gekrochen, doch jetzt, wo sie angefangen hatte zu sprechen, drängten weitere Worte heraus, wie Tiere, die zu lange eingesperrt gewesen waren.
»Dabei …« Sie räusperte sich und schluckte. »Dabei gäbe es so viel zu tun! Wenn ich nur an die Armenhäuser der Stadt denke. Wie Tiere hausen die Menschen dort, alles ist alt und verkommen, im Winter eiskalt, und stinken tut es, dass einen der Ekel überfällt. Und dann die vielen Kranken, um die sich dort niemand kümmert. Sie liegen so lange in einer Ecke, bis die Kraft sie endgültig verlässt. Es kann doch nicht sein, dass jemand nur deshalb stirbt, weil er zu arm ist, um sich einen Arzt leisten zu können!« So wie Mischa, schoss es ihr durch den Kopf. »Ich weiß auch, dass sich vom Bibellesen und Beten allein nichts ändert, deshalb will ich selbst etwas tun, helfen … Aber das würden meine Eltern nie zulassen, solch ein Um- gang ziemt sich schließlich nicht. Außerdem, ich kann ja nicht mal genug Russisch, um mich mit den Leuten unterhalten zu können. Das ist auch etwas, was mich ärgert – als Tochter des russischen Zaren beherrsche ich die Landessprache nicht!« Sie trat so wütend mit ihrer Stiefelspitze in den Schnee, dass dieser aufstob und an Annas Rock hängenblieb.
»Wenn du willst, kann ich Russisch mit dir üben.«
»Wirklich?« Olly merkte auf. Bisher hatte die Hofdame nur in der offiziellen Hofsprache – also in Französisch – mit ihr gesprochen. Im nächsten Moment winkte sie ab. »Es ist doch viel wichtiger, dass aus mir eine Dame wird, die man erfolgreich in die Gesellschaft einführen kann.« Ihre letzten Worte trieften wieder vor bitterer Ironie. Sie wartete auf Annas Einwand, doch die schaute sie nur schweigend an.
»Was schauen Sie denn so komisch? Sie wollten doch, dass ich laut werde«, fuhr Olly sie an. »Ziemen sich meine Träume nicht?«
Anna strich sich über die Stirnnarbe, die in der kristallklaren Luft blassrosa glänzte.
»Ehrlich gesagt, hast du mich ein wenig überwältigt. Im Stillen hatte ich damit gerechnet, dass sich deine Wünsche um etwas Musisches, Künstlerisches drehen. Viele junge Damen wollen schließlich eine berühmte Schauspielerin werden. Oder Primadonna eines bedeutenden Ballettensembles. Aber dass dir Armenhäuser im Kopf herumschwirren, habe ich wirklich nicht erwartet.«
Olly lächelte. »Dabei habe ich Ihnen noch nicht von den Blinden und Gehörlosen erzählt, für die ich auch gern etwas tun würde. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand halbblind durchs Leben tastet, nur weil er sich keine Brille leisten kann.« Als sie Annas verdutztes Gesicht sah, musste sie lachen. Das hatte die Hofdame nun davon! Obwohl ihre Glieder vor Kälte schmerzten und ihre Lunge bei jedem Atemzug zu platzen drohte, fühlte sich Olly so gut wie schon lange nicht mehr.
»Warum sind wir eigentlich hierhergefahren?«, fragte sie mit fröhlicherer Stimme. »Nach meinen Wünschen hättest du mich auch in der Stadt fragen können.« Seltsam, es fühlte sich gar nicht schlecht an, Anna zu duzen.
Anna lächelte. »Aber dort hättest du mir nicht geantwortet. Dieser Ort hier, er hat irgendetwas Magisches… Plötzlich habe ich mich daran erinnert, dass ich als Kind immer hergekommen bin, wenn ich Sorgen hatte und nicht weiter wusste. Hier konnte ich all das laut werden lassen, was ich nirgendwo anders sagen durfte. Danach war mir immer leichter ums Herz.«
Olly schüttelte den Kopf. »Wenn uns jemand gesehen hätte – zwei Furien, die sich anschreien. Wir würden auf der Stelle ins Irrenhaus gebracht werden. Du lieber Himmel, ich habe gar nicht gewusst, dass ich so laut werden kann.«
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Autoren-Porträt von Petra Durst-Benning
Petra Durst-Benning, 1965 in Baden-Württemberg geboren, lebt mit ihrem Mann südlich von Stuttgart. Mit ihren historischen Romanen zählt sie zur ersten Garde deutscher Bestsellerautorinnen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Durst-Benning
- 2009, 423 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: List
- ISBN-10: 3471350276
- ISBN-13: 9783471350270
Rezension zu „Die Zarentochter “
»Wer Durst-Bennings Bücher kennt, wird dieses Olga-Buch lieben.« Schwäbische Post, 25.09.09, Karin Müller »Der Autorin ist wieder eine liebenswerte Geschichte gelungen, die das russische Zarenreich im 19. Jahrhundert lebendig werden lässt.« Kirchenzeitung Köln, 27.11.09 »Einfach nur schwelgen in Kabalen und Liebe am Zarenhof. Eine tolle Geschichte in herrlicher Kulisse.« Bunte, 10.12.09 »Zum Träumen« Das Neue Blatt, 14.4.2010
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