Dr. Sex
Es ist...
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Es ist das Jahr 1939, und auf dem Campus der Universität Indiana ist eine Revolution ausgebrochen. Alfred Kinsey, Zoologe, beschäftigt sich mit dem sexuellen Verhalten von Männern und Frauen - rein empirisch natürlich. John Milk, Student und ehrgeiziger Provinzler, gerät in seinen Bann und in seinen engsten Forscherkreis. T. C. Boyle erzählt die Geschichte eines genialen, fanatischen Helden und porträtiert dabei die prüde und heuchlerische Gesellschaft des Amerikas der vierziger und fünfziger Jahre.
Auch in englischer Sprache erhältlich: The Inner Circle (Best.-Nr.: 4451324)
Dr. Sex vonT.C. Boyle
LESEPROBE
Sogroßspurig ich mich in der Kneipe auch gegeben hatte - ich muß doch zugeben,daß mir vor dem Interview mulmig war. Ich weiß, das klingt lächerlich, denn nurCorcoran und Prok selbst haben mehr als ich zu diesem Projekt beigetragen. Ichhabe immerhin ungefähr zweitausend Interviews selbständig geführt, aber wennich ehrlich bin, hatte ich damals Angst. Oder vielleicht sollte ich liebersagen: Ich war verschüchtert. Sie müssen sich vor Augen halten, daß über Sexund Sexualität einfach nicht gesprochen wurde - nirgendwo, ganz gleich, inwelchem Kreis -, und gewiß nicht im Hörsaal irgendeiner Universität. An anderenColleges und Universitäten im ganzen Land wurden, hauptsächlich als Reaktionauf die in den dreißiger Jahren verbreitete Angst vor Geschlechtskrankheiten,Ehevorbereitungskurse angeboten, doch diese Kurse waren nichtssagend und vollerEuphemismen, und ein Durchschnittsamerikaner, der so etwas wie eine Beratungwollte, eine freimütige Erörterung sexueller Vorlieben und Abartigkeiten, mußtefeststellen, daß dergleichen, abgesehen von den Banalitäten des örtlichenPfarrers oder Priesters, nicht zu haben war.
Und darum,wiederholte Dr. Kinsey in seiner letzten Vorlesung, sei er im Begriff, einbahnbrechendes Forschungsprojekt zu beginnen: Er wolle das sexuelle Verhaltenunserer Spezies beschreiben und quantifizieren, um zu enthüllen, wasjahrhundertelang unter dem Schleier von Tabus, Aberglauben und religiösenVerboten verborgen gewesen sei, und die Daten denen, die ihrer bedürften,zugänglich zu machen. Und er appellierte an uns - die lüsternen, fiebernden,schwitzhändigen Studenten im Auditorium-, ihm dabei zu helfen. Er hatte soebendie Vorlesungsreihe rekapituliert und seine Bemerkungen über individuelleAbweichungen sowie über Empfängnisverhütung zusammengefaßt (wobei er,gleichsam als Nachgedanken, hinzugefügt hatte, bei der Verwendung von Kondomenkönnten die natürlichen Sekrete der Cowper-Drüse des Mannes durch Speichelsubstituiert werden), und nun stand er vor uns, mit wachem Gesichtsausdruck,die Hände auf dem Rednerpult gefaltet.
»Ichappelliere an Sie alle«, sagte er nach einer kleinen Pause, »mich aufzusuchenund mir die Geschichte Ihres Sexuallebens zur Verfügung zu stellen, denn dieseGeschichten sind für unser Verständnis der menschlichen Sexualitätunentbehrlich.« Das Licht war trüb und gleichförmig, der Saal überheizt, und eshing ein leichter Geruch nach Staub und Bohnerwachs in der Luft. Draußen färbteder erste Schnee des Winters die Erde für kurze Zeit weiß, doch das nahmen wirsowenig wahr, als säßen wir in einem Bunker. Einige rutschten auf den Sitzenhin und her. Die junge Frau in der Reihe vor mir sah verstohlen auf ihre Uhr.
»Wir wissenmehr über das Sexualleben der Drosophila melanogaster - einerFruchtfliege - als über eine der gewöhnlichsten, alltäglichsten Aktivitätenunserer eigenen Spezies«, fuhr er mit fester Stimme fort und sah uns an. »Wirwissen mehr über die Verhaltensweisen eines Insekts als über das, was in denSchlafzimmern dieses Landes - und übrigens auch auf Wohnzimmersofas und denRücksitzen von Automobilen - vor sich geht, über die Vorgänge, denen jedereinzelne von uns es verdankt, daß er jetzt hier, in diesem Raum, sein kann. Istdas wissenschaftlich sinnvoll? Ist es auch nur ansatzweise rational odervertretbar?«
Laura saß neben mir und hielt den Schein unserer Verlobungaufrecht, obgleich sie sich im Verlauf des Semesters ziemlich heftig in einMitglied der Basketballmannschaft namens Jim Willard verknallt hatte, in dessenBegleitung sie bereits zweimal von Dean Hoenig ertappt worden war, die einfeines Gespür für die Temperaturentwicklung von Romanzen besaß. Beide Malehatte Laura sich herauswinden können - Jim war ein Freund der Familie,eigentlich sogar ein Cousin, zweiten Grades natürlich, und da Basketball einenso großen Teil seiner Zeit beanspruchte, hatte sie es auf sich genommen, ihmein bißchen zu helfen -, aber Dean Hoenig war argwöhnisch geworden. Sie warsichtlich empört, als wir gemeinsam durch die Tür traten, und machte eine, wieich fand, vollkommen unpassende Bemerkung über Hochzeitsglocken, über die ichmich noch ärgerte, als die Vorlesung schon längst begonnen hatte. Jedenfallssaß Laura neben mir, beugte sich über ihren Block und tat weiterhin, alsschriebe sie mit, während sie in Wirklichkeit bloß herumkritzelte: Sie maltelange, schlanke Frauengestalten in Kleidern, Pelzmänteln und mit spektakulärenFederhüten sowie mindestens ein pochendes, von einem verirrten Pfeildurchbohrtes Herz.
Was Dr.Kinsey von uns wollte, was er sich von seinem Appell an uns erhoffte, warunsere hundertprozentige Bereitschaft zur Mitarbeit. Wir sollten Termine mitihm vereinbaren und ihm unter vier Augen die Geschichte unseres Sexuallebensanvertrauen. Für die Wissenschaft. Alles werde verschlüsselt aufgezeichnet undstreng vertraulich behandelt - er habe einen Code entwickelt, dessen Schlüsselnur er allein kenne, so daß niemand außer ihm imstande sein werde, einerbestimmten Geschichte einen Namen zuzuordnen. »Und ich muß betonen, daß diesehundertprozentige Bereitschaft unerläßlich ist«, fügte er mit einer kantigenHandbewegung hinzu, »denn alles andere würde die Verläßlichkeit der gewonnenenStatistiken in Frage stellen. Wenn wir nur die Geschichten derer sammeln, dieuns aufsuchen, erhalten wir ein sehr ungenaues Bild der gesamten Gesellschaft,doch wenn wir verschiedene Gruppen zu hundert Prozent erfassen - alle Studentenin diesem Hörsaal beispielsweise, alle jungen Männer, die einer studentischenVerbindung angehören, sämtliche Mitglieder des Elks' Club, die weiblichenAngehörigen der Streitkräfte, die Insassen des Staatsgefängnisses in Putnam-,erstellen wir ein akkurates Bild, in dem alle Gesellschaftsschichtenberücksichtigt sind.« Er hielt inne und ließ den Blick über die Reihen derZuhörer wandern, von rechts nach links, von hinten nach vorn. Eine Stille legtesich über uns. Laura hob den Kopf.
(...)
© CarlHanser Verlag München Wien 2005
Übersetzung:Dirk van Gunsteren
Interview mit T.C. Boyle
Dr.Kinsey scheint von seiner wissenschaftlichen Forschung und seiner Sex-Mission"geradezu besessen gewesen zu sein. Wenn Sie Kinsey begegnet wären: Hätten Sieihm Ihre Geschichte zur Verfügung gestellt?
Ja, Kinsey war ein Besessener, ein Zwangscharakter - einerder Gründe dafür, dass er mich so fasziniert. Natürlich sind auchSchriftsteller Besessene, zwanghafte Persönlichkeiten. Wie Kinsey leben auchsie in ihrer eigenen Welt, sind fanatisch auf ihre Arbeit fixiert. Ob ich auchso bin? Ich glaube, da müssten Sie Frau [Anm.d. Red.: im Original deutsch] Boyle fragen, die in Bezug auf das Verhalten undden Lebensraum dieses speziellen Schriftstellers die führende Expertin ist.
Wenn ich Kinsey damals begegnet wäre, ist es gut möglich,dass ich ihm die Geschichte meines Sexuallebens anvertraut hätte - denn erhätte mir sicher erklärt, wie wichtig sein Projekt ist. Andererseits kann ichmir auch vorstellen, dass ich ihm meine Geschichte nicht erzählt hätte, dennich misstraue allen Führern" und Regimes.
Sexist natürlich ein zentrales Thema Ihres Buchs. Doch z.B. John Milks Konflikteentstehen eher aus seinen Gefühlen denn aus Trieben. Was meinen Sie: Wiewichtig ist Sex wirklich?
Sex ist extrem wichtig. Aus darwinistischer Sicht geht es imLeben um nichts anderes als um Reproduktion. Und natürlich zielt Sex aufReproduktion. Deshalb fühlt er sich auch so verdammt gut an (bei uns Menschenjedenfalls; ich kann nicht für andere Spezies sprechen, aber ich nehme an, dassselbst Seesterne und Fledermäuse ihn auf ihre Weise genießen).
Zu John Milk: Kinsey hat das berühmte Statement abgegeben,nach dem die Dichter 2.000 Jahre Zeit gehabt hätten, romantisch von der Liebezu sprechen, während er als Wissenschaftler sich um die Physiologie des Sexkümmern und dabei völlig von allen Emotionen absehen wolle. Ich fragte mich, obdas möglich ist. Im Falle von Milk stellt sich die Sache jedenfalls etwaskomplizierter dar.
Kinseywar ein wissenschaftlicher Wegbereiter der sexuellen Revolution. Doch inzwischenlaufen in Amerika wieder Kampagnen gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr. Wiekommt es dazu? Wie schätzen Sie die Situation ein?
Genau deshalb glaube ich, dass dieVeröffentlichung meines Buches - und der Start des Films Kinsey" von BillCondon - genau zum richtigen Zeitpunkt kommen. Ich habe den Eindruck, dass derGrad der Offenheit, mit dem man in unserer Gesellschaft über Sex spricht,bestimmten Zyklen unterliegt. Im Moment haben gerade wieder die reaktionärenKräfte das Sagen, die sich anmaßen, den Bürgern eines freien Landes ihrenBegriff von, wie sie das nennen, Moral" aufzuzwingen - ob diese ihn nun wollenoder nicht. Daher ist Kinsey hoch aktuell. Wie er glaube auch ich, dass keinVerhalten verboten [Anm.d. Red.: im Original deutsch] ist, solange sich die Dinge zwischen mündigenErwachsenen abspielen. Außerdem glaube ich, dass keine Institution, sei siereligiös oder staatlich, in unseren Schlafzimmern etwas zu suchen hat.
Felix,der Ich-Erzähler aus "Grün ist die Hoffnung", will mit Marihuana-Plantagendas große Geld machen. Doch das ist schwieriger als gedacht. Die Hoffnungbleibt, doch ist sie nun eher weiblicher Gestalt. Auch Mac und Iris aus"Dr. Sex" beeindrucken durch ihre Integrität. Sind Frauen diebesseren Menschen?
Oh Gott, was für eine bedeutungsschwangereFrage! Aber Ihre Beobachtungen zu einigen meiner weiblichen Charaktere gefallenmir. Ich gestehe, als heterosexueller Mann, dass ich mich dem weiblichenPrinzip" verbunden fühle. Soll ich es hier zugeben? - Ich liebe Frauen!Amerikanische Leser, Frauen wie Männer, waren von Iris beeindruckt und davon,wie sie sich Kinseys Regime verweigerte. Und natürlich geht es in meinem Buchauch um die emotionalen Gefahren, die darin liegen, dass man sich einemFührer" als Schüler unterordnet.
Sieleben mit Ihrer Frau und Ihren Kindern in Kalifornien, schreiben einerfolgreiches Buch nach dem anderen und unterrichten an der University ofSouthern California. Das hört sich nach einem erfüllten Leben an. Sind Sie einzufriedener Mensch? Was treibt Sie an, weiterzuschreiben?
Ja, von außen betrachtet sieht das alles ziemlich gutaus. Aber wie könnte ich aufhören, mich um die Kranken und Unglücklichen zusorgen, diejenigen, auf denen herumgetrampelt wird und die in irgendeiner Weisebeschädigt sind? Um die Zukunft unserer Art? Um die Schicksale der Individuen,die in einem Universum leben, das vom Zufall bestimmt und durch und durchgeheimnisvoll ist? Deshalb schreibe ich. Deshalb lebt die Kunst und atmet inuns allen.
DieFragen stellte Ulrike Künnecke, Literaturtest.
- Autor: T. C. Boyle
- 2005, 5. Auflage, 468 Seiten, Maße: 15,1 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Gunsteren, Dirk van
- Übersetzer: Dirk van Gunsteren
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446205667
- ISBN-13: 9783446205666
- Erscheinungsdatum: 21.02.2005
Walter van Rossum, Die Zeit, März 2005
"Wilder Poet und hinreißender Bestsellerautor."
Stephan Draf, Stern, Oktober 2005
"Eine beißende Satire auf den großen Meister."
Gala, 03.03.05
"Ein aufregend quälendes Porträt Kinseys."
Julia Encke, Süddeutsche Zeitung, 08.03.05
"Boyle, für uns einer der besten zeitgenössischen Erzähler."
Brigitte, 02.03.05
"Es ist das Spezialgebiet von Boyle, die groteske Mechanik zu erkunden, mit der utopische Paradiesentwürfe scheitern an der menschlichen Natur. Selten war Boyle so gut in Form wie in Dr. Sex. Der Witz und die Kraft des Romans ergeben sich fast von selbst aus den bizarren Glaubensbekenntnissen und bösen Irrtümern einer aufkeimenden Revolution."
Thomas Hüetlin, Der Spiegel, 14.02.05
"Geschichten, die so leicht daherkommen wie ein guter Song, dessen Rhythmus einem nicht mehr aus dem Kopf geht."
Nike Vlachos, Playboy, März 2005
"Eine differenzierte und ironische Charakterstudie."
Susanne Kunkel, Welt am Sonntag, 27.02.05
"Der seltsamste Bestseller-Autor der Welt."
Nike Vlachos, Playboy, März 2005
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