Drehtage
Stories
Tijuana, Yucatán, der Grand Canyon oder Wounded Knee: nur einige der Orte, die Sam Shepard in "Drehtage" Anlass geben, von seiner Vision des amerikanischen Westens zu erzählen. Kurze Erzählungen, Gedichte und Gespräche fügen sich zu einem Cinemascope-Mosaik...
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Produktinformationen zu „Drehtage “
Klappentext zu „Drehtage “
Tijuana, Yucatán, der Grand Canyon oder Wounded Knee: nur einige der Orte, die Sam Shepard in "Drehtage" Anlass geben, von seiner Vision des amerikanischen Westens zu erzählen. Kurze Erzählungen, Gedichte und Gespräche fügen sich zu einem Cinemascope-Mosaik aus Erinnerung, Mythos und Gesang. Shepards Geschichten sind wie Shortcuts, die eine von Cowboys, Traumfängern und ruhelosen Wanderern bevölkerte Welt wachrufen - der amerikanische Westen, wie er einst war, und wie er jetzt ist.
Lese-Probe zu „Drehtage “
Drehtage von Sam Shepard KÜCHE
In Küchen konnte ich immer am besten arbeiten. Warum, weiß ich nicht. Was auskochen, vielleicht. Jetzt habe ich draußen auf dem Land eine eigene Küche mit großem, rundem Tisch mittendrin. Nur bin ich umzingelt. Wer hat hier bloß das ganze Zeug reingeschafft. Wer hat dieses Wirrwarr an meine weißen Ziegelwände gepinnt, als ergäbe sich eine Geschichte, ein Sinn, eine eigene Welt aus herumfliegenden Schnipseln. Bleistiftskizze von Seattle Slew nach seiner Rennkarriere: fettgeweidet, das Auge träumerisch entrückt, als blickte er zurück auf die glorreichen Tage der Triple-Crown-Siege. Und da, zwischen Glas und schwarzen Bildrahmen geschoben, Schnappschüsse diverser Söhne in diversen Hemden bei diversen Unternehmungen: Angeln, Mulitrecks, Traktorfahrten oder extrem an diverse Mütter gelehnt. Postkarten von Lakota-Kriegern aus Frontiertagen, etwa Sitting Bulls Ziehsohn Gall, Zielscheibe der Kopfgeldjäger; halbtot liegengelassen, nahm er vollendete Rache am Little Bighorn. Henry Miller mit Stock und schwarzem Beret auf einem Steinmäuerchen, Gesten für die Kamera, ein Zitat zur Moral: Wenden wir uns lieber ganz und ungeniert der Gegenwart zu; uns erwartet ja doch alle dieselbe düstere Aussicht, dasselbe sinkende Schiff. Sklaven in Sepiabraun riffeln Bluegrass und pfeifen dazu »Dixie«. Zwischen Herdkacheln und Ziegeln klemmen weitere Fotos: Greifvögel und Pferde im gestreckten Galopp, wo wir früher die dürren Kojoten ins Ocotillo- und Mesquitegestrüpp zurückjagten. Dann Becketts traurig bebrilltes Habichtgesicht, Blick ohne jedes Selbstmitleid ins Nichts gerichtet, Hände verschränkt zwischen den Knien. Darunter in sauberer schwarzer Klaue: »Es gibt keine Revanchepartie zwischen einem Menschen und seinen Sternen.«
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Wer hat das alles ohne erkennbaren Sinn für Ordnung, Form oder Farbschema hier reingewirbelt? Ohne jede Rücksicht darauf, was damit wird. Einfach wahllos an Schränke und Türrahmen gepinnt, krumm und schief, Fänger für Bratfett und Fliegenschiss. Santuario de Chimayó etwa mit Weihnachtsschneeflitter, was hat die neben der Visitenkarte meines Hufschmieds mit Hammer und Amboss zu suchen? Oder weiter oben an der Wand die kleine Bucht in Lubec, Maine, letzte Ruhestatt der Gebeine weiterer rumschmuggelnder Vorfahren, dann wieder magische Steine aus Bernalillo, aus Wounded Knee der bemalte Stab, ein ausgeweideter Traumfänger, Antilopen, Präriehunde; graumelierte Windhunde fliegen von der Ladeklappe des Pritschenwagens; an der Schwarznusstür hängen verrostete Sporen. Was soll der ganze Scheiß? Ausgestellt für wen? Mich? Wozu? Oder etwa Besuch? Ich kriege keinen Besuch. Weißt du doch. Bin kein Gastgeber. War ich nie. Höchstens der Alte aus Sonora, der das Brennholz bringt, aber Gäste? Bestimmt nicht. Mich lassen alle tunlichst in Ruhe. Besonders jetzt mit dem gestromten Pitbull vorm Haus. Dem schreienden, Trinkeimer tretenden Burro hinten am Hang. Dem angriffslustigen Kampfhahn. Ich bin in diesem Bunker ganz für mich, umzingelt von rätselhaftem Zeug. Vielleicht ist es an der Zeit, Pause zu machen und wieder unter die triefnassen schwarzen Bäume rauszugehen; du weißt, der alte, hohle Plantanengreis wartet nur darauf, dass du einsteigst und in seine beinweißen, arthritischen Arme atmest.
HASKELL, ARKANSAS
(Highway 70)
Sonntag, Mittagsstunde. Wenig Verkehr. Ein Mann geht ein Stück. Er bemerkt im Straßengraben einen Kopf, geht vorüber, weil er seinen Augen nicht traut, weil nicht sein kann, was er gesehen hat. Er bleibt stehen. Sein Puls beschleunigt sich etwas. Der Atem geht stoßweise. Dann setzt Schlottern ein, und ihm ist wie immer ein Rätsel, warum sein Körper in Schreckensmomenten wie diesem übernimmt, warum der Körper nicht auf den Kopf hört. Er kehrt um. Bleibt wieder stehen und starrt in den Graben. Da liegt er. Unübersehbar. Direkt vor ihm. Ein abgetrennter Kopf in einem Weidenkorb. Er sucht einen Stock und stupst den Kopf, wie er es schon bei toten Hunden und Wild getan hat. Die Haut aufgedunsen und blau, die Augen geschlossen, zusammengekniffen, als wären sie im Moment der Abtrennung erstarrt. Der Kopf trägt Pancho- Villa-Schnurrbart, Schneidezähne stehen leicht vor, an der Oberlippe ein einziger Blutstropfen. Sonst nichts von Schweinerei. Keine lose baumelnden Arterien, keine Lache. Der sauber abgetrennte Kopf liegt platt auf dem Boden des Korbs, um den gekürzten Hals ein ordentlich gerafftes Stück Sackleinen. Schwarze Locken verfilzten Haars schlängeln sich um beide Ohren. Vom Körper ist nichts zu sehen. Darüber ist der Mann froh. Er hofft, dass er über den nicht stolpert wie jetzt über diesen Kopf. Das könnte zu viel für ihn werden.
Plötzlich spricht der Kopf den Mann in sanftem, singendem Tonfall an. Die Augen bleiben geschlossen, die Lippen bewegen sich nicht. Die Stimme steigt einfach irgendwie vom Scheitel auf. Es ist eine bescheidene, eher leise Stimme ohne für den Mann erkennbaren Akzent. Vielleicht von den Inseln. Der Kopf fragt, ob der Mann vielleicht so gut wäre, den Korb hochzunehmen und an einen besseren, angenehmeren Ort zu tragen. Einen ruhigen Ort nicht weit von hier, aus der prallen Sonne und dem Verkehrsbrausen. Der Kopf sagt dem Mann, er habe in dem jämmerlichen Graben keinen klaren Gedanken fassen können. Panik befällt den Mann, er rennt los. Er rennt so wild und verzweifelt, dass er schnell erschöpft ist, er fällt auf die Nase. So hat es ihn nicht mehr hingelegt, seit er als kleiner Junge vor seinem Vater davonlief, um sein Leben. Das Maul voll Dreck hört der Mann den Kopf in einem so verlassenen, klagenden Ton nach ihm rufen, wie er es noch nie vernommen hat. Er tut ihm im ganzen Herzen weh. Der Mann rappelt sich auf, spuckt Sand. Er macht kehrt, geht zu dem Kopf zurück. Er kann nicht anders. Sein Herz schlägt wie wild. Er sagt dem Kopf, dass er in nichts reingezogen werden will: reiner Zufall, ihre Begegnung, und er möchte einfach seinen Weg fortsetzen, als wäre das alles nicht geschehen. Der Kopf fleht den Mann an, und seine Stimme ist so voller Wehmut, dass der Mann wie angewurzelt dasteht. Der Kopf sagt, seit Tagen rufe er vorbeifahrenden Autos hinterher, aber es hört ihn keiner, es hält keiner an. Der Mann ist der Erste, der stehen bleibt. Da kommt sich der Mann irgendwie wichtig vor: die Vorstellung, er könnte ein Held sein. Das gefällt ihm, sein Herz beruhigt sich und schlägt wieder normal. Der Mann fragt den Kopf, zögerlich, wo er denn hin will, und der Kopf antwortet: »Ein See, nicht weit von hier. Es dauert nicht lang. Dann wirfst du mich einfach ins flache Wasser und ziehst weiter.« Der Mann überlegt einen Augenblick, dann erklärt er sich, unter einer Bedingung, bereit, den Kopf dorthin zu tragen, nämlich dass der Kopf ihn bitte nicht mehr anspricht, außer für Richtungsangaben, und vor allem darf er nie wieder diese traurigen Klagelaute von sich geben. Der Kopf willigt freudig ein und verstummt auf der Stelle.
Als der Mann sich vorbeugt, um den Korb mit dem Kopf zu heben, stellt er fest, dass der viel schwerer ist, als er gedacht hätte. Der Kopf wiegt mindestens zwanzig Kilo. Mordsschwer. Der Kopf lacht, verkneift es sich aber schnell wieder, er will den Mann nicht erzürnen, der Mann soll nicht denken, er lache ihn aus. Der Mann stemmt sich den Korb in die Hüfte und trägt ihn ein paar Meter auf diese Weise, so, wie eine Mutter ihr Kind tragen würde, dann setzt er ihn keuchend wieder ab. Da muss der Kopf doch lachen, und der Mann wird sauer, genau so, wie es der Kopf befürchtet hat. »Was ist daran so komisch? «, fährt ihn der Mann an, aber der Kopf antwortet nicht. Da stapft der Mann im Gefühl davon, dass man sich mit ihm einen Scherz erlaubt. Der Kopf ruft ihm wieder in einem so herzzerreißenden, klagenden Ton nach, wie es der Mann zuvor nie gehört hat. Der lässt ihn erstarren. »Du hast versprochen, das zu lassen!«, schreit der Mann.
»Tut mir leid«, sagt der Kopf, »aber anders dringe ich nicht zu dir durch.« Unwillig kehrt der Mann zu dem Kopf zurück und bliebt vor ihm stehen. Der Kopf schweigt jetzt wieder. Die Augen sind nach wie vor geschlossen und zusammengekniffen. Im Kopf scheint überhaupt kein Leben zu stecken. Aber der Mann weiß es besser. »Wie kam es eigentlich zur Trennung von deinem Körper?«, fragt der Mann unumwunden. Die Frage lässt ihm keine Ruhe.
»Ich wurde enthauptet«, sagt der Kopf.
»Wie?«, fragt der Mann.
»Mit einem blanken Silbersäbel«, sagt der Mann.
»Aber wer hielt diesen Säbel? Wer hat dich geköpft?«
»Ehe ich mich versah, war's schon geschehen«, sagt der Kopf.
»Du hast es nicht kommen sehen?«, sagt der Mann.
»Schon, aber es hat nichts genutzt.«
»Was?«, fragt der Mann.
»Bescheid zu wissen. Wissen hat nichts genutzt.«
»Das heißt, du hast keine Ahnung, wer's war?«, fragt der Mann.
»Ahnungen hab ich viele, aber das spielt keine Rolle mehr.«
»Sinnst du nicht auf Rache?«, fragt der Mann. Der Kopf muss lachen und kriegt sich gar nicht mehr ein. »Lach nicht!«, schreit der Mann. Der Kopf verstummt. »Ich hasse das«, sagt der Mann. »Mein Leben lang lachen mich alle aus.«
»Tut mir leid«, sagt der Kopf.
»Tragen kann ich dich jedenfalls nicht, so viel steht fest. Du bist viel zu schwer«, sagt der Mann, und da beginnt der Kopf zu weinen. Tränen laufen aus den zusammengekniffenen Augen.
»Lass das«, sagt der Mann. »Das ertrage ich nicht.«
»Du bist meine einzige Hoffnung«, sagt der Kopf, der um Fassung ringt.
»Und du bist viel schwerer, als ich dachte«, sagt der Mann noch mal.
»Du musst den Korb auf die Schulter hieven. Dann geht es leichter.«
»Das kann ich nicht«, sagt der Mann.
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«, fragt der Kopf.
»Ich kann es nicht.«
»Du musst«, sagt der Kopf.
»Was heißt hier müssen? Ich kenn dich nicht mal! Du kannst mich nicht einfach rumkommandieren. Ich tue dir einen Gefallen!«
»Du bist es dir selbst schuldig«, sagt der Kopf.
»Was?!«, ruft der Mann und kehrt dem Kopf nun ganz den Rücken. »Ich spaziere hier friedlich am Highway 70 entlang, wie ich es sonntags um diese Zeit immer tue, ich stolpere über einen Kopf in einem Korb, und da willst du mir weismachen, ich bin es mir selbst schuldig! Du kennst mich doch überhaupt nicht!«
»Umso mehr«, sagt der Kopf.
»Umso mehr was?!«, brüllt der Mann.
»Umso mehr solltest du es auf dich nehmen.«
»Ich kann dir nicht folgen«, sagt der Mann.
»Du verdankst mir dein Leben«, sagt der Kopf, und der Mann erstarrt.
»Bitte?«, sagt der Mann.
»Du hast mich schon verstanden«, sagt der Kopf. »Wenn du gehst und mich alleinlässt, wirst du es büßen.« Die Stimme des Kopfs ist jetzt etliche Oktaven tiefer gerutscht und hat einen Ernst angenommen, der dem Zentralnervensystem des Mannes den Rest gibt. Unter ihm bebt der Highway. Sein Atem geht schneller, sein Mund wird trocken.
»Was soll das nun wieder heißen?«, fragt der Mann, und seine Stimme schwankt dabei wie Weidegras im Wind.
»Kehr mir den Rücken, und du wirst schon sehen«, sagt der Kopf. Der Mann blickt den fast leeren Highway hinauf und hinab. Ihm ist, als würden seine Knie gleich nachgeben. In der Ferne hört er das Geläut der episkopalischen Kirche: »Vorwärts, Christi Streiter«. Er kennt die Melodie gut. In ebendieser Kirche war er mal Chorknabe. Ein giftgrüner Camaro saust vorbei. Kahlköpfige Teenager mit Schlangentattoos um den Mund brüllen ihm durchs Fenster Beleidigungen zu. Eine Flasche Coors Light schwirrt an seiner Wange vorbei. Der Mann kommt sich allmählich vor, als wäre er, nicht der Kopf, gottverlassen. Ihm ist, als müsste er das gleiche Klagen und Stöhnen von sich geben, das dem Kopf entstiegen ist, aber es kommt nichts. Gar nichts, nur das panische Schnaufen eines aufgescheuchten Tiers. Der Mann fragt sich, wie er so plötzlich von seinem früheren Leben abgeschnitten sein kann, seinem früheren Ich. Und dann steigt in ihm das noch tiefere Grauen auf, nie ein früheres Leben gehabt zu haben. Wer war er denn heute Mittag nach dem Kaffee gewesen, als er aus der Tür trat, um zu seinem Sonntagsgang aufzubrechen?
»Also gut!«, sagt der Mann barsch, als müsse er die schrecklichen Zweifel abschütteln. »Ich versuch's, ich versuche, dich zu tragen, zumindest ein Stück.« Und er wuchtet den Kopf im Korb hoch, erst auf die Hüfte, dann, laut ächzend und wankend wie ein olympischer Gewichtheber, auf die Schulter. Der Kopf ahmt den tosenden Jubel einer Menge nach. Es klingt täuschend echt. Der Mann hat wieder das Gefühl, dass der Kopf sich über ihn lustig macht, geht aber trotzdem, unter dem Gewicht eiernd, mit dem geschulterten Korb in die Richtung los, die der Kopf angegeben hat.
»Du machst das sehr gut«, versichert ihm der Kopf ernst. »Ich bin stolz auf dich.«
»Komm mir nicht auf die schmeichlerische Tour«, sagt der Mann. »Du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst«, sagt der Kopf.
»Wer bist du, verflucht?!«, will der Mann wissen.
»Spielt keine Rolle. Immer der Straße nach.« Der Mann wankt bedenklich. Die Sehnen in seinem Hals brennen von der Last. Er keucht. Er ist keine Schwerarbeit gewohnt. Er hat es sich bequem in einem weichen, passiven Dasein eingerichtet, wo nichts geschieht und nichts zählt, wo kein Tag sich von anderen Tagen abhebt, wo die Grenze zwischen Träumen und Wachen zerfließt, die Menschen in seinem Leben verschwunden sind und seine Hauptbeschäftigung im Dösen und in mexikanischen Seifenopern besteht, besetzt mit schwarzhaarigen, schluchzenden Schönheiten und den Phantasien, die sie heraufbeschwören. Unter einer Betonüberführung bricht er zusammen und lässt den Korb fallen. Der Kopf rollt heraus und bleibt mit dem klaffenden Halsstumpf zuoberst liegen. Der Mann starrt in das Loch, ringt nach Atem und hört die Stimme des Kopfs unaufgeregt sagen: »Wir müssen hier nach der Brücke nur nach rechts abbiegen und dem Bewässerungsgraben folgen. Es ist nicht mehr weit.«
»Ich kann nicht«, wehrt sich der Mann. »Mir reicht's! Ich lasse dich hier liegen.« Da zetert der Kopf und beginnt wieder zu weinen, und der Mann schlottert am ganzen Körper. Er fühlt sich wie vom Blitz getroffen.
»Bitte, lass das!«, sagt der Mann. »Ich flehe dich an! Ich ertrage es nicht. Ich habe es dir doch gesagt. Dein Weinen und Stöhnen ruft alles wach, was ich je vergessen wollte. Alles, was ich abgetötet habe, um weiterzukönnen.«
»Dann trage mich zu dem See«, sagt der Kopf.
»Ich glaube, dazu reicht meine Kraft einfach nicht«, sagt der Mann. »Nicht, dass ich nicht wollte, aber - ich kann nicht.«
»Dann dreh mich wenigstens um«, sagt der Kopf.
»Bitte?«
»Richte mich wenigstens auf.«
»Ich fass dich nicht an«, sagt der Mann.
»Du brauchst mich nur mit dem Knie zu stupsen.«
»Bitte?«
»Stups mich mit dem Knie. Dann kippe ich vornüber.« Der Mann nimmt seinen ganzen Mut zusammen und stupst den schwarzen Hals des Kopfs mit dem Knie; der Kopf rollt in eine aufrechte Lage zurück, genau, wie er es angekündigt hat. »Und jetzt lege mich bitte wieder in den Korb.«
»Ich rühr dich nicht an!«, wiederholt der Mann. »Du überredest mich dauernd zu Dingen, die ich nicht will.«
»Hast du Angst, du könntest dich auflösen, wenn du mich berührst?«
»Was soll denn das wieder heißen?«, fragt der Mann.
»Weil du eine Grenze überschreiten könntest? Wegtreten und nie wieder in deinen Körper zurückfinden?«
»Du bist doch der ohne Körper«, sagt der Mann.
»Genau«, sagt der Kopf. »Also, pack mich einfach am Schopf und setz mich bitte wieder in den Korb.«
»Nein!«, brüllt der Mann. »Ich denke nicht dran! Das wäre wie in ein Schlangennest fassen.« Wieder gibt der Kopf sein durchdringendes Klagen von sich, und ehe er es sich versieht, hat der Mann ihn am Schopf gepackt und in den Korb befördert.
»Na, war das so schlimm?«, sagt der Kopf. »Ich bin dir zutiefst dankbar.«
»Ich finde, du benimmst dich wie ein verzogenes Kind«, sagt der Mann entrüstet.
»Du findest in deiner ganzen Erfahrungswelt für mich keinen Vergleich«, sagt der Kopf.
»Und da bist du wohl auch noch stolz drauf«, sagt der Mann.
»Jetzt heb mich ein letztes Mal hoch«, sagt der Kopf, »und zwar diesmal bis ganz oben auf den Kopf, so trägst du mich dann.«
»Bist du verrückt?«, sagt der Mann. »Ich krieg dich unmöglich bis ganz auf den Kopf. Ich habe dich ja kaum bis zur Hüfte hieven können.«
»Doch, du kannst es«, sagt der Kopf. »Streng dich einfach gewaltig an. Streng dich an wie noch nie in deinem ganzen Leben. Als ginge es um Leben und Tod.«
»Ich hab nicht das Zeug dazu«, sagt der Mann. »Die Zeiten sind lange vorbei.«
»Na, komm schon, steh auf. Trau dich«, sagt der Kopf. »Sei ein Mann.«
»Beleidigst du mich mit Absicht?«, fragt der Mann.
»Ich biete dir die Möglichkeit zu sein.«
»Ich muss nichts beweisen«, sagt der Mann.
»Dann geh und lass mich allein«, sagt der Kopf unvermittelt.
»Das will ich ja schon die ganze Zeit«, sagt der Mann. »Von Anfang an.«
»Tu's doch«, sagt der Kopf. »Versuch's. Geh doch.«
»Du hast mir gedroht. Du hast gesagt, ich würde es büßen, wenn ich dir den Rücken kehre.«
»Es wird keine schlimmen Folgen geben«, sagt der Kopf. »Glaub mir. Geh einfach.«
Da fühlt sich der Mann so verlassen wie noch nie zuvor. Eine tiefe, tonnenschwere Einsamkeit drückt ihm auf die Brust. Es ist genau das Gefühl, das er seit frühester Kindheit zu meiden versucht. Das Gefühl, das er jeden Morgen abschüttelt, wenn er zur Zahnbürste stolpert, und jeden Abend, wenn er das Licht ausknipst. Ohne zu überlegen, packt er die Henkel des Weidenkorbs, schwingt sich den Kopf mit letzter Kraft auf die Schulter und von dort, ächzend, auf den Kopf. Er hat keine Ahnung, wie er das plötzlich geschafft hat, aber mit einem Mal findet er sich ziemlich gut, ein Gefühl, als wäre die Sonne durch die Wolken gebrochen.
»Wir werden aussehen, als taumelte ein Mann mit zwei Köpfen am Highway entlang«, sagt der Mann zum Kopf. »Einer über dem anderen.«
»Wir sind ein Mann mit zwei Köpfen«, ruft der Kopf vergnügt in seinem Krähennest.
»Nein«, sagt der Mann. »Wir sind zweierlei. Du gehörst nicht zu mir. Ich habe dich zufällig am Straßenrand gefunden. Vergiss das nicht.«
»Wenn du meinst«, sagt der Kopf. »Immer geradeaus. Ich sehe den See schon.«
»Wie sieht er aus?«, fragt der Mann.
»Flach. Grün. Sehr friedlich.«
»So, wie du es dir erhofft hast?«, meint der Mann.
»Das werden wir sehen, wenn wir da sind«, antwortet der Kopf.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Wer hat das alles ohne erkennbaren Sinn für Ordnung, Form oder Farbschema hier reingewirbelt? Ohne jede Rücksicht darauf, was damit wird. Einfach wahllos an Schränke und Türrahmen gepinnt, krumm und schief, Fänger für Bratfett und Fliegenschiss. Santuario de Chimayó etwa mit Weihnachtsschneeflitter, was hat die neben der Visitenkarte meines Hufschmieds mit Hammer und Amboss zu suchen? Oder weiter oben an der Wand die kleine Bucht in Lubec, Maine, letzte Ruhestatt der Gebeine weiterer rumschmuggelnder Vorfahren, dann wieder magische Steine aus Bernalillo, aus Wounded Knee der bemalte Stab, ein ausgeweideter Traumfänger, Antilopen, Präriehunde; graumelierte Windhunde fliegen von der Ladeklappe des Pritschenwagens; an der Schwarznusstür hängen verrostete Sporen. Was soll der ganze Scheiß? Ausgestellt für wen? Mich? Wozu? Oder etwa Besuch? Ich kriege keinen Besuch. Weißt du doch. Bin kein Gastgeber. War ich nie. Höchstens der Alte aus Sonora, der das Brennholz bringt, aber Gäste? Bestimmt nicht. Mich lassen alle tunlichst in Ruhe. Besonders jetzt mit dem gestromten Pitbull vorm Haus. Dem schreienden, Trinkeimer tretenden Burro hinten am Hang. Dem angriffslustigen Kampfhahn. Ich bin in diesem Bunker ganz für mich, umzingelt von rätselhaftem Zeug. Vielleicht ist es an der Zeit, Pause zu machen und wieder unter die triefnassen schwarzen Bäume rauszugehen; du weißt, der alte, hohle Plantanengreis wartet nur darauf, dass du einsteigst und in seine beinweißen, arthritischen Arme atmest.
HASKELL, ARKANSAS
(Highway 70)
Sonntag, Mittagsstunde. Wenig Verkehr. Ein Mann geht ein Stück. Er bemerkt im Straßengraben einen Kopf, geht vorüber, weil er seinen Augen nicht traut, weil nicht sein kann, was er gesehen hat. Er bleibt stehen. Sein Puls beschleunigt sich etwas. Der Atem geht stoßweise. Dann setzt Schlottern ein, und ihm ist wie immer ein Rätsel, warum sein Körper in Schreckensmomenten wie diesem übernimmt, warum der Körper nicht auf den Kopf hört. Er kehrt um. Bleibt wieder stehen und starrt in den Graben. Da liegt er. Unübersehbar. Direkt vor ihm. Ein abgetrennter Kopf in einem Weidenkorb. Er sucht einen Stock und stupst den Kopf, wie er es schon bei toten Hunden und Wild getan hat. Die Haut aufgedunsen und blau, die Augen geschlossen, zusammengekniffen, als wären sie im Moment der Abtrennung erstarrt. Der Kopf trägt Pancho- Villa-Schnurrbart, Schneidezähne stehen leicht vor, an der Oberlippe ein einziger Blutstropfen. Sonst nichts von Schweinerei. Keine lose baumelnden Arterien, keine Lache. Der sauber abgetrennte Kopf liegt platt auf dem Boden des Korbs, um den gekürzten Hals ein ordentlich gerafftes Stück Sackleinen. Schwarze Locken verfilzten Haars schlängeln sich um beide Ohren. Vom Körper ist nichts zu sehen. Darüber ist der Mann froh. Er hofft, dass er über den nicht stolpert wie jetzt über diesen Kopf. Das könnte zu viel für ihn werden.
Plötzlich spricht der Kopf den Mann in sanftem, singendem Tonfall an. Die Augen bleiben geschlossen, die Lippen bewegen sich nicht. Die Stimme steigt einfach irgendwie vom Scheitel auf. Es ist eine bescheidene, eher leise Stimme ohne für den Mann erkennbaren Akzent. Vielleicht von den Inseln. Der Kopf fragt, ob der Mann vielleicht so gut wäre, den Korb hochzunehmen und an einen besseren, angenehmeren Ort zu tragen. Einen ruhigen Ort nicht weit von hier, aus der prallen Sonne und dem Verkehrsbrausen. Der Kopf sagt dem Mann, er habe in dem jämmerlichen Graben keinen klaren Gedanken fassen können. Panik befällt den Mann, er rennt los. Er rennt so wild und verzweifelt, dass er schnell erschöpft ist, er fällt auf die Nase. So hat es ihn nicht mehr hingelegt, seit er als kleiner Junge vor seinem Vater davonlief, um sein Leben. Das Maul voll Dreck hört der Mann den Kopf in einem so verlassenen, klagenden Ton nach ihm rufen, wie er es noch nie vernommen hat. Er tut ihm im ganzen Herzen weh. Der Mann rappelt sich auf, spuckt Sand. Er macht kehrt, geht zu dem Kopf zurück. Er kann nicht anders. Sein Herz schlägt wie wild. Er sagt dem Kopf, dass er in nichts reingezogen werden will: reiner Zufall, ihre Begegnung, und er möchte einfach seinen Weg fortsetzen, als wäre das alles nicht geschehen. Der Kopf fleht den Mann an, und seine Stimme ist so voller Wehmut, dass der Mann wie angewurzelt dasteht. Der Kopf sagt, seit Tagen rufe er vorbeifahrenden Autos hinterher, aber es hört ihn keiner, es hält keiner an. Der Mann ist der Erste, der stehen bleibt. Da kommt sich der Mann irgendwie wichtig vor: die Vorstellung, er könnte ein Held sein. Das gefällt ihm, sein Herz beruhigt sich und schlägt wieder normal. Der Mann fragt den Kopf, zögerlich, wo er denn hin will, und der Kopf antwortet: »Ein See, nicht weit von hier. Es dauert nicht lang. Dann wirfst du mich einfach ins flache Wasser und ziehst weiter.« Der Mann überlegt einen Augenblick, dann erklärt er sich, unter einer Bedingung, bereit, den Kopf dorthin zu tragen, nämlich dass der Kopf ihn bitte nicht mehr anspricht, außer für Richtungsangaben, und vor allem darf er nie wieder diese traurigen Klagelaute von sich geben. Der Kopf willigt freudig ein und verstummt auf der Stelle.
Als der Mann sich vorbeugt, um den Korb mit dem Kopf zu heben, stellt er fest, dass der viel schwerer ist, als er gedacht hätte. Der Kopf wiegt mindestens zwanzig Kilo. Mordsschwer. Der Kopf lacht, verkneift es sich aber schnell wieder, er will den Mann nicht erzürnen, der Mann soll nicht denken, er lache ihn aus. Der Mann stemmt sich den Korb in die Hüfte und trägt ihn ein paar Meter auf diese Weise, so, wie eine Mutter ihr Kind tragen würde, dann setzt er ihn keuchend wieder ab. Da muss der Kopf doch lachen, und der Mann wird sauer, genau so, wie es der Kopf befürchtet hat. »Was ist daran so komisch? «, fährt ihn der Mann an, aber der Kopf antwortet nicht. Da stapft der Mann im Gefühl davon, dass man sich mit ihm einen Scherz erlaubt. Der Kopf ruft ihm wieder in einem so herzzerreißenden, klagenden Ton nach, wie es der Mann zuvor nie gehört hat. Der lässt ihn erstarren. »Du hast versprochen, das zu lassen!«, schreit der Mann.
»Tut mir leid«, sagt der Kopf, »aber anders dringe ich nicht zu dir durch.« Unwillig kehrt der Mann zu dem Kopf zurück und bliebt vor ihm stehen. Der Kopf schweigt jetzt wieder. Die Augen sind nach wie vor geschlossen und zusammengekniffen. Im Kopf scheint überhaupt kein Leben zu stecken. Aber der Mann weiß es besser. »Wie kam es eigentlich zur Trennung von deinem Körper?«, fragt der Mann unumwunden. Die Frage lässt ihm keine Ruhe.
»Ich wurde enthauptet«, sagt der Kopf.
»Wie?«, fragt der Mann.
»Mit einem blanken Silbersäbel«, sagt der Mann.
»Aber wer hielt diesen Säbel? Wer hat dich geköpft?«
»Ehe ich mich versah, war's schon geschehen«, sagt der Kopf.
»Du hast es nicht kommen sehen?«, sagt der Mann.
»Schon, aber es hat nichts genutzt.«
»Was?«, fragt der Mann.
»Bescheid zu wissen. Wissen hat nichts genutzt.«
»Das heißt, du hast keine Ahnung, wer's war?«, fragt der Mann.
»Ahnungen hab ich viele, aber das spielt keine Rolle mehr.«
»Sinnst du nicht auf Rache?«, fragt der Mann. Der Kopf muss lachen und kriegt sich gar nicht mehr ein. »Lach nicht!«, schreit der Mann. Der Kopf verstummt. »Ich hasse das«, sagt der Mann. »Mein Leben lang lachen mich alle aus.«
»Tut mir leid«, sagt der Kopf.
»Tragen kann ich dich jedenfalls nicht, so viel steht fest. Du bist viel zu schwer«, sagt der Mann, und da beginnt der Kopf zu weinen. Tränen laufen aus den zusammengekniffenen Augen.
»Lass das«, sagt der Mann. »Das ertrage ich nicht.«
»Du bist meine einzige Hoffnung«, sagt der Kopf, der um Fassung ringt.
»Und du bist viel schwerer, als ich dachte«, sagt der Mann noch mal.
»Du musst den Korb auf die Schulter hieven. Dann geht es leichter.«
»Das kann ich nicht«, sagt der Mann.
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«, fragt der Kopf.
»Ich kann es nicht.«
»Du musst«, sagt der Kopf.
»Was heißt hier müssen? Ich kenn dich nicht mal! Du kannst mich nicht einfach rumkommandieren. Ich tue dir einen Gefallen!«
»Du bist es dir selbst schuldig«, sagt der Kopf.
»Was?!«, ruft der Mann und kehrt dem Kopf nun ganz den Rücken. »Ich spaziere hier friedlich am Highway 70 entlang, wie ich es sonntags um diese Zeit immer tue, ich stolpere über einen Kopf in einem Korb, und da willst du mir weismachen, ich bin es mir selbst schuldig! Du kennst mich doch überhaupt nicht!«
»Umso mehr«, sagt der Kopf.
»Umso mehr was?!«, brüllt der Mann.
»Umso mehr solltest du es auf dich nehmen.«
»Ich kann dir nicht folgen«, sagt der Mann.
»Du verdankst mir dein Leben«, sagt der Kopf, und der Mann erstarrt.
»Bitte?«, sagt der Mann.
»Du hast mich schon verstanden«, sagt der Kopf. »Wenn du gehst und mich alleinlässt, wirst du es büßen.« Die Stimme des Kopfs ist jetzt etliche Oktaven tiefer gerutscht und hat einen Ernst angenommen, der dem Zentralnervensystem des Mannes den Rest gibt. Unter ihm bebt der Highway. Sein Atem geht schneller, sein Mund wird trocken.
»Was soll das nun wieder heißen?«, fragt der Mann, und seine Stimme schwankt dabei wie Weidegras im Wind.
»Kehr mir den Rücken, und du wirst schon sehen«, sagt der Kopf. Der Mann blickt den fast leeren Highway hinauf und hinab. Ihm ist, als würden seine Knie gleich nachgeben. In der Ferne hört er das Geläut der episkopalischen Kirche: »Vorwärts, Christi Streiter«. Er kennt die Melodie gut. In ebendieser Kirche war er mal Chorknabe. Ein giftgrüner Camaro saust vorbei. Kahlköpfige Teenager mit Schlangentattoos um den Mund brüllen ihm durchs Fenster Beleidigungen zu. Eine Flasche Coors Light schwirrt an seiner Wange vorbei. Der Mann kommt sich allmählich vor, als wäre er, nicht der Kopf, gottverlassen. Ihm ist, als müsste er das gleiche Klagen und Stöhnen von sich geben, das dem Kopf entstiegen ist, aber es kommt nichts. Gar nichts, nur das panische Schnaufen eines aufgescheuchten Tiers. Der Mann fragt sich, wie er so plötzlich von seinem früheren Leben abgeschnitten sein kann, seinem früheren Ich. Und dann steigt in ihm das noch tiefere Grauen auf, nie ein früheres Leben gehabt zu haben. Wer war er denn heute Mittag nach dem Kaffee gewesen, als er aus der Tür trat, um zu seinem Sonntagsgang aufzubrechen?
»Also gut!«, sagt der Mann barsch, als müsse er die schrecklichen Zweifel abschütteln. »Ich versuch's, ich versuche, dich zu tragen, zumindest ein Stück.« Und er wuchtet den Kopf im Korb hoch, erst auf die Hüfte, dann, laut ächzend und wankend wie ein olympischer Gewichtheber, auf die Schulter. Der Kopf ahmt den tosenden Jubel einer Menge nach. Es klingt täuschend echt. Der Mann hat wieder das Gefühl, dass der Kopf sich über ihn lustig macht, geht aber trotzdem, unter dem Gewicht eiernd, mit dem geschulterten Korb in die Richtung los, die der Kopf angegeben hat.
»Du machst das sehr gut«, versichert ihm der Kopf ernst. »Ich bin stolz auf dich.«
»Komm mir nicht auf die schmeichlerische Tour«, sagt der Mann. »Du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst«, sagt der Kopf.
»Wer bist du, verflucht?!«, will der Mann wissen.
»Spielt keine Rolle. Immer der Straße nach.« Der Mann wankt bedenklich. Die Sehnen in seinem Hals brennen von der Last. Er keucht. Er ist keine Schwerarbeit gewohnt. Er hat es sich bequem in einem weichen, passiven Dasein eingerichtet, wo nichts geschieht und nichts zählt, wo kein Tag sich von anderen Tagen abhebt, wo die Grenze zwischen Träumen und Wachen zerfließt, die Menschen in seinem Leben verschwunden sind und seine Hauptbeschäftigung im Dösen und in mexikanischen Seifenopern besteht, besetzt mit schwarzhaarigen, schluchzenden Schönheiten und den Phantasien, die sie heraufbeschwören. Unter einer Betonüberführung bricht er zusammen und lässt den Korb fallen. Der Kopf rollt heraus und bleibt mit dem klaffenden Halsstumpf zuoberst liegen. Der Mann starrt in das Loch, ringt nach Atem und hört die Stimme des Kopfs unaufgeregt sagen: »Wir müssen hier nach der Brücke nur nach rechts abbiegen und dem Bewässerungsgraben folgen. Es ist nicht mehr weit.«
»Ich kann nicht«, wehrt sich der Mann. »Mir reicht's! Ich lasse dich hier liegen.« Da zetert der Kopf und beginnt wieder zu weinen, und der Mann schlottert am ganzen Körper. Er fühlt sich wie vom Blitz getroffen.
»Bitte, lass das!«, sagt der Mann. »Ich flehe dich an! Ich ertrage es nicht. Ich habe es dir doch gesagt. Dein Weinen und Stöhnen ruft alles wach, was ich je vergessen wollte. Alles, was ich abgetötet habe, um weiterzukönnen.«
»Dann trage mich zu dem See«, sagt der Kopf.
»Ich glaube, dazu reicht meine Kraft einfach nicht«, sagt der Mann. »Nicht, dass ich nicht wollte, aber - ich kann nicht.«
»Dann dreh mich wenigstens um«, sagt der Kopf.
»Bitte?«
»Richte mich wenigstens auf.«
»Ich fass dich nicht an«, sagt der Mann.
»Du brauchst mich nur mit dem Knie zu stupsen.«
»Bitte?«
»Stups mich mit dem Knie. Dann kippe ich vornüber.« Der Mann nimmt seinen ganzen Mut zusammen und stupst den schwarzen Hals des Kopfs mit dem Knie; der Kopf rollt in eine aufrechte Lage zurück, genau, wie er es angekündigt hat. »Und jetzt lege mich bitte wieder in den Korb.«
»Ich rühr dich nicht an!«, wiederholt der Mann. »Du überredest mich dauernd zu Dingen, die ich nicht will.«
»Hast du Angst, du könntest dich auflösen, wenn du mich berührst?«
»Was soll denn das wieder heißen?«, fragt der Mann.
»Weil du eine Grenze überschreiten könntest? Wegtreten und nie wieder in deinen Körper zurückfinden?«
»Du bist doch der ohne Körper«, sagt der Mann.
»Genau«, sagt der Kopf. »Also, pack mich einfach am Schopf und setz mich bitte wieder in den Korb.«
»Nein!«, brüllt der Mann. »Ich denke nicht dran! Das wäre wie in ein Schlangennest fassen.« Wieder gibt der Kopf sein durchdringendes Klagen von sich, und ehe er es sich versieht, hat der Mann ihn am Schopf gepackt und in den Korb befördert.
»Na, war das so schlimm?«, sagt der Kopf. »Ich bin dir zutiefst dankbar.«
»Ich finde, du benimmst dich wie ein verzogenes Kind«, sagt der Mann entrüstet.
»Du findest in deiner ganzen Erfahrungswelt für mich keinen Vergleich«, sagt der Kopf.
»Und da bist du wohl auch noch stolz drauf«, sagt der Mann.
»Jetzt heb mich ein letztes Mal hoch«, sagt der Kopf, »und zwar diesmal bis ganz oben auf den Kopf, so trägst du mich dann.«
»Bist du verrückt?«, sagt der Mann. »Ich krieg dich unmöglich bis ganz auf den Kopf. Ich habe dich ja kaum bis zur Hüfte hieven können.«
»Doch, du kannst es«, sagt der Kopf. »Streng dich einfach gewaltig an. Streng dich an wie noch nie in deinem ganzen Leben. Als ginge es um Leben und Tod.«
»Ich hab nicht das Zeug dazu«, sagt der Mann. »Die Zeiten sind lange vorbei.«
»Na, komm schon, steh auf. Trau dich«, sagt der Kopf. »Sei ein Mann.«
»Beleidigst du mich mit Absicht?«, fragt der Mann.
»Ich biete dir die Möglichkeit zu sein.«
»Ich muss nichts beweisen«, sagt der Mann.
»Dann geh und lass mich allein«, sagt der Kopf unvermittelt.
»Das will ich ja schon die ganze Zeit«, sagt der Mann. »Von Anfang an.«
»Tu's doch«, sagt der Kopf. »Versuch's. Geh doch.«
»Du hast mir gedroht. Du hast gesagt, ich würde es büßen, wenn ich dir den Rücken kehre.«
»Es wird keine schlimmen Folgen geben«, sagt der Kopf. »Glaub mir. Geh einfach.«
Da fühlt sich der Mann so verlassen wie noch nie zuvor. Eine tiefe, tonnenschwere Einsamkeit drückt ihm auf die Brust. Es ist genau das Gefühl, das er seit frühester Kindheit zu meiden versucht. Das Gefühl, das er jeden Morgen abschüttelt, wenn er zur Zahnbürste stolpert, und jeden Abend, wenn er das Licht ausknipst. Ohne zu überlegen, packt er die Henkel des Weidenkorbs, schwingt sich den Kopf mit letzter Kraft auf die Schulter und von dort, ächzend, auf den Kopf. Er hat keine Ahnung, wie er das plötzlich geschafft hat, aber mit einem Mal findet er sich ziemlich gut, ein Gefühl, als wäre die Sonne durch die Wolken gebrochen.
»Wir werden aussehen, als taumelte ein Mann mit zwei Köpfen am Highway entlang«, sagt der Mann zum Kopf. »Einer über dem anderen.«
»Wir sind ein Mann mit zwei Köpfen«, ruft der Kopf vergnügt in seinem Krähennest.
»Nein«, sagt der Mann. »Wir sind zweierlei. Du gehörst nicht zu mir. Ich habe dich zufällig am Straßenrand gefunden. Vergiss das nicht.«
»Wenn du meinst«, sagt der Kopf. »Immer geradeaus. Ich sehe den See schon.«
»Wie sieht er aus?«, fragt der Mann.
»Flach. Grün. Sehr friedlich.«
»So, wie du es dir erhofft hast?«, meint der Mann.
»Das werden wir sehen, wenn wir da sind«, antwortet der Kopf.
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Autoren-Porträt von Sam Shepard
Sam Shepard, geboren 1943 und gestorben 2017, hat mehr als 45 Theaterstücke verfasst, für die er u.a. den Pulitzer-Preis erhielt. Er schrieb die Drehbücher zu Kultfilmen wie 'Zabriskie Point' und 'Paris, Texas', wofür er in Cannes mit dem Preis der großen Jury ausgezeichnet wurde. Als Schauspieler war Shepard u.a. in Filmen von Wim Wenders und Robert Altman zu sehen. Im S. Fischer Verlag erschienen 'Rolling Thunder', sein Reisetagebuch der legendären Comeback-Tournee Bob Dylans, sowie sein Erzählband 'Drehtage'. Strätling, UdaUda Strätling lebt in Hamburg und hat u. a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sam Shepard
- 2013, 1. Auflage, 320 Seiten, Maße: 13 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Uda Strätling
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 310074439X
- ISBN-13: 9783100744395
- Erscheinungsdatum: 22.10.2013
Rezension zu „Drehtage “
Harter Stoff, großartig erzählt. Stern 20131218
Pressezitat
Harter Stoff, großartig erzählt. Stern 20131218
Kommentar zu "Drehtage"
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