Ein plötzlicher Todesfall
Roman | Ein großer Roman über eine kleine Stadt von einer der besten Erzählerinnen der Welt
Als Barry Fairbrother - Familienvater, Gemeinderat, Mann in den besten Jahren - plötzlich stirbt, sind die Einwohner des friedlichen Städtchens Pagford geschockt. Doch der Schein trügt. Denn hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg und nun brechen alle Dämme.
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Produktinformationen zu „Ein plötzlicher Todesfall “
Als Barry Fairbrother - Familienvater, Gemeinderat, Mann in den besten Jahren - plötzlich stirbt, sind die Einwohner des friedlichen Städtchens Pagford geschockt. Doch der Schein trügt. Denn hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg und nun brechen alle Dämme.
Klappentext zu „Ein plötzlicher Todesfall “
Als Barry Fairbrother plötzlich stirbt, sind die Einwohner von Pagford geschockt. Denn auf den ersten Blick ist die englische Kleinstadt mit ihrem hübschen Marktplatz und der alten Kirche ein verträumtes und friedliches Idyll, dem Aufregung fremd ist. Doch der Schein trügt. Hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg. Und dass Barrys Sitz im Gemeinderat nun frei wird, schafft den Nährboden für den größten Krieg, den die Stadt je erlebt hat. Wer wird als Sieger aus der Wahl hervorgehen - einer Wahl, die voller Leidenschaft, Doppelzüngigkeit und unerwarteter Offenbarungen steckt?Lese-Probe zu „Ein plötzlicher Todesfall “
Ein plötzlicher Todesfall von Joanne K. RowlingTEIL EINS
6.11 Von einer plötzlichen Vakanz spricht man:
(a) wenn ein Ratsmitglied nicht rechtzeitig die Annahme des Amtes bekannt gibt,
(b) wenn seine Kündigung eingeht oder
(c) am Tage seines Todes.
Charles Arnold-Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
... mehr
Sonntag
Barry Fairbrother wäre lieber zu Hause geblieben. Er hatte schon das ganze Wochenende Kopfschmerzen und wollte auf keinen Fall den Redaktionsschluss der Lokalzeitung verpassen.
Doch seine Frau war während des Mittagessens etwas wortkarg gewesen, woraus Barry schloss, dass er mit seiner Karte zum Hochzeitstag das Vergehen nicht wettmachen konnte, sich den ganzen Morgen im Arbeitszimmer verkrochen zu haben. Und dabei auch noch über Krystal zu schreiben, die Mary nicht leiden konnte, was sie jedoch abstritt.
»Ich möchte dich heute Abend zum Essen ausführen, Mary«, hatte er gelogen, um das Eis zu brechen. »Neunzehn Jahre, Kinder! Neunzehn Jahre, und eure Mutter hat nie besser ausgesehen. «
Mary war besänftigt und hatte gelächelt, woraufhin Barry im Golfclub angerufen hatte, weil der in der Nähe lag und man immer einen Tisch bekam. Er versuchte seiner Frau mit Kleinigkeiten eine Freude zu machen, denn nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren war ihm bewusst, wie oft er sie in großen Dingen enttäuscht hatte. Wenn auch nie mit Absicht. Sie hatten nun mal sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was im Leben den meisten Raum einnehmen sollte.
Ihre vier Kinder waren über das Alter hinaus, in dem sie Babysitter brauchten. Sie saßen vor dem Fernseher, als Barry sich das letzte Mal von ihnen verabschiedete, und nur Declan, der Jüngste, drehte sich zu ihm um und hob kurz die Hand.
Barrys Kopfschmerzen pochten weiter hinter seinem Ohr, als er den Wagen aus der Einfahrt zurücksetzte und durch den hübschen kleinen Ort Pagford fuhr, in dem sie seit ihrer Hochzeit wohnten. Sie fuhren die steil abfallende Church Row entlang, an der die teuersten Häuser in all ihrer viktorianischen Pracht und Herrlichkeit standen, um die Ecke bei der neugotischen Kirche, in der Barry seine Zwillingstöchter einst in einer Aufführung von Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat bewundert hatte, und über den Marktplatz. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die dunkle Ruine der Abtei hoch auf dem Hügel, die das Ortsbild beherrschte und mit dem violetten Himmel verschmolz.
Während er den Wagen durch die vertrauten Straßen lenkte, war Barry in Gedanken nur mit den Fehlern beschäftigt, die ihm sicherlich in der Eile unterlaufen waren. Er hatte den Artikel für die Yarvil and District Gazette schnell fertiggestellt und gemailt. So eloquent und einnehmend er im persönlichen Gespräch auch sein mochte, hatte er doch Schwierigkeiten, private Anliegen zu Papier zu bringen.
Der Golfclub lag nur vier Minuten vom Marktplatz entfernt, gleich hinter den letzten alten Cottages am Ortsende. Barry parkte den Minivan vor dem Clubrestaurant, dem Birdie, und wartete kurz neben dem Wagen, da Mary sich noch die Lippen nachzog. Die kühle Abendluft tat ihm gut. Während er den in der Dämmerung verschwimmenden Golfplatz betrachtete, überlegte Barry, warum er seine Mitgliedschaft aufrechterhielt. Er war ein schlechter Golfspieler, sein Schwung war ungleichmäßig und sein Handicap hoch. So viel anderes nahm seine Zeit in Anspruch. Sein Kopf schmerzte stärker denn je.
Mary knipste die Innenbeleuchtung aus und schloss die Beifahrertür. Barry drückte auf die Autoverriegelung am Schlüssel in seiner Hand. Die hohen Absätze seiner Frau klackten auf dem Asphalt, die Zentralverriegelung piepte, und Barry fragte sich, ob seine Übelkeit nachlassen würde, wenn er etwas gegessen hatte.
Dann schlug ein nie gekannter Schmerz wie eine Abrissbirne in seinen Kopf ein. Er nahm kaum das Brennen an den Knien wahr, als sie auf den Asphalt schlugen. Feuer und Blut überfluteten seinen Schädel, der Schmerz war unerträglich, doch er musste ihn ertragen, weil die Bewusstlosigkeit nicht sofort einsetzte.
Mary schrie - und schrie immer weiter. Aus der Bar kamen Männer gelaufen. Einer rannte wieder hinein, um nachzuschauen, ob einer der pensionierten Ärzte unter den Clubgästen anwesend war. Ein verheiratetes Paar, Bekannte von Barry und Mary, hörte den Tumult vom Restaurant aus, ließ die Vorspeisen stehen und eilte herbei. Der Ehemann rief von seinem Handy den Notruf an.
Der Krankenwagen musste aus der Nachbarstadt Yarvil kommen, und es dauerte fünfundzwanzig Minuten, bis er eintraf. Als endlich das Blaulicht über dem Parkplatz pulsierte, lag Barry reglos in einer Pfütze aus Erbrochenem und reagierte nicht mehr. Mary hockte neben ihm, ihre Strumpfhose an den Knien zerrissen, umklammerte schluchzend seine Hand und flüsterte seinen Namen.
Montag
I
»Mach dich auf was gefasst«, sagte Miles Mollison. Er stand in der Küche eines der stattlichen Häuser an der Church Row.
Mit dem Anruf hatte er bis halb sieben gewartet. Die Nacht war schlimm gewesen, mit langem Wachsein, unterbrochen von kurzen, unruhigen Schlafphasen. Um vier Uhr hatte er bemerkt, dass seine Frau auch nicht schlief, und sie hatten sich eine Weile leise in der Dunkelheit unterhalten. Als sie über das Erlebte sprachen und dabei versuchten, vage Angst- und Schockgefühle zu zerstreuen, hatte Miles bei dem Gedanken, seinem Vater die Nachricht zu überbringen, eine leichte Erregung verspürt, die in kleinen Wellen durch seinen Körper lief. Er hatte bis sieben Uhr warten wollen, aber die Furcht, jemand könnte ihm zuvorkommen, hatte ihn früher ans Telefon getrieben.
»Was ist denn passiert?« Howards dröhnende Stimme klang leicht blechern. Miles hatte ihn auf laut gestellt, damit Samantha mithören konnte. In ihrem hellrosa Morgenmantel wirkte Samanthas Haut mahagonibraun, und sie hatte das frühe Aufwachen genutzt und noch mehr Selbstbräuner aufgetragen. In der Küche vermischte sich der Geruch nach Instantkaffee mit dem des künstlichen Kokosöls.
»Fairbrother ist tot. Gestern Abend vorm Golfclub zusammengebrochen. Sam und ich waren zum Essen im Birdie.«
»Fairbrother ist tot?«, brüllte Howard.
Die Betonung deutete darauf hin, dass er irgendeine Veränderung von Barry Fairbrothers Zustand erwartet hatte, aber mit dessen Tod hatte selbst er nicht gerechnet.
»Ist auf dem Parkplatz zusammengebrochen«, wiederholte Miles.
»Großer Gott«, sagte Howard. »Der war doch erst Anfang vierzig, oder? Großer Gott.«
Howard schnaufte wie ein Pferd. Morgens war er immer kurzatmig. »Und was war es? Das Herz?«
»Irgendwas im Gehirn, vermutet man. Wir sind mit Mary ins Krankenhaus gefahren und ...«
Aber Howard war abgelenkt. Miles und Samantha hörten ihn in den Raum rufen: »Barry Fairbrother! Tot! Miles ist dran!«
Miles und Samantha tranken ihren Kaffee und warteten darauf, dass Howard ihnen wieder seine Aufmerksamkeit schenkte. Samanthas Morgenmantel stand offen und gab den Blick frei auf ihre großen Brüste, hochgeschoben durch die auf dem Küchentisch ruhenden Unterarme. Dadurch wirkten sie voller und glatter als im natürlichen Zustand. Die ledrige Haut ihres Ausschnitts legte sich in kleine Falten, die nicht mehr verschwanden. In ihrer Jugend war sie oft im Sonnenstudio gewesen.
»Was?«, fragte Howard, wieder in der Leitung. »Was hast du über das Krankenhaus gesagt?«
»Sam und ich sind im Krankenwagen mitgefahren.« Miles betonte jedes Wort. »Zusammen mit Mary und der Leiche.«
Samantha bemerkte, dass Miles' zweite Version das hervorhob, was man als den dramatischen Aspekt der Geschichte bezeichnen konnte. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Ihre Belohnung dafür, all das Schreckliche durchgemacht zu haben, war das Recht, anderen davon zu erzählen. Sie glaubte nicht, dass sie es je vergessen würde: die heulende Mary, Barrys immer noch halb offene Augen über der maulkorbartigen Sauerstoffmaske, wie Miles und sie versucht hatten, die Miene des Sanitäters zu deuten, die Enge des rüttelnden Krankenwagens, die dunklen Fenster, die panische Angst.
»Großer Gott«, sagte Howard zum dritten Mal, ohne auf Shirleys leise Fragen aus dem Hintergrund zu achten, alle Aufmerksamkeit auf Miles gerichtet. »Einfach tot umgefallen auf dem Parkplatz?«
»Jep«, sagte Miles. »Mir war gleich klar, dass da nichts mehr zu machen war.«
Das war seine erste Lüge, und er wandte dabei den Blick von seiner Frau ab. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er seinen schützenden Arm um Marys zitternde Schultern legte: Das wird schon wieder ... das wird schon wieder ...
Aber schließlich, dachte Samantha, um Miles Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, woher sollte man wissen, was eigentlich los war, wenn sie jemandem eine Sauerstoffmaske überzogen und ihm Spritzen setzten? Es hatte ausgesehen, als würden sie Barry retten, und niemand hätte sagen können, ob es half, bis die junge Ärztin im Krankenhaus auf Mary zugekommen war. Noch immer hatte Samantha Marys nacktes, versteinertes Gesicht vor Augen und den Ausdruck der bebrillten Frau im weißen Kittel: gefasst, jedoch ein bisschen erschöpft ... So etwas kannte man aus Fernsehserien, aber wenn es dann tatsächlich passierte ...
»Überhaupt nicht«, sagte Miles gerade. »Gavin hat Donnerstag noch mit ihm Squash gespielt.«
»Und da ging es ihm gut?«
»Ja, durchaus. Hat Gavin vernichtend geschlagen.«
»Großer Gott. Da kann man mal sehen, was? Da kann man mal sehen. Bleib dran, Mum will dich noch sprechen.«
Ein Knacken und Klappern, dann kam Shirleys leise Stimme aus dem Hörer. »Was für ein furchtbarer Schlag, Miles«, sagte sie. »Geht es dir gut?«
Samantha nahm einen zu großen Schluck Kaffee, der ihr prompt aus den Mundwinkeln rann und vom Kinn tropfte. Sie wischte Gesicht und Brust mit dem Ärmel ab. Miles hatte die Tonlage eingeschaltet, die er oft einsetzte, wenn er mit seiner Mutter sprach: tiefer als sonst, eine »Lass mich mal machen, mich kann nichts erschüttern«-Stimme, ausdrucksstark und sachlich. Manchmal, vor allem im betrunkenen Zustand, ahmte Samantha Unterhaltungen zwischen Miles und Shirley nach. »Keine Bange, Mummy. Miles hier. Dein kleiner Soldat.« »Liebling, du bist wunderbar: so groß und tapfer und klug.« In letzter Zeit hatte Samantha das hin und wieder in Gegenwart anderer getan, worauf Miles sauer und gereizt reagiert hatte, obwohl er darüber hinweglachte. Letztes Mal hatte es deswegen auf dem Heimweg im Auto Streit gegeben.
»Seid ihr mit Mary den ganzen Weg bis ins Krankenhaus gefahren? «, kam Shirleys Stimme aus dem Lautsprecher.
Nein, dachte Samantha. Unterwegs wurde uns langweilig, und wir haben sie gebeten, uns aussteigen zu lassen.
»Das Mindeste, was wir tun konnten. Ich wünschte, wir hätten mehr machen können.«
Samantha stand auf und ging zum Toaster.
»Mary war bestimmt sehr dankbar«, sagte Shirley. Samantha knallte die Brotdose zu und rammte vier Toastscheiben in die Schlitze. Miles' Stimme nahm einen natürlicheren Ton an.
»Na ja, nachdem die Ärztin es ihr gesagt hatte - bestätigt hatte, dass er tot war -, verlangte Mary nach Colin und Tessa Wall. Sam hat sie angerufen, wir haben gewartet, bis sie kamen, und sind dann gegangen.«
»Mary hat wirklich Glück gehabt, dass ihr da wart«, sagte Shirley. »Dad will dich noch mal sprechen, Miles. Ich geb dich weiter. Bis später dann.«
»Bis später dann«, formte Samantha mit den Lippen, an den Wasserkessel gewandt, und wackelte mit dem Kopf. Ihre verzerrte Spiegelung wirkte verquollen nach der schlaflosen Nacht, ihre kastanienbraunen Augen waren gerötet. In ihrer Hast mitzubekommen, wie Howard die Nachricht aufnahm, hatte sich Samantha versehentlich Bräunungscreme in die unteren Augenlider geschmiert.
»Komm doch heute Abend mit Sam zu uns«, dröhnte Howard. »Nein, warte mal, Mum hat mich gerade daran erinnert, dass wir ja Bridge mit den Bulgens spielen. Dann kommt morgen. Zum Abendessen. Gegen sieben.«
»Mal sehen.« Miles blickte zu Samantha hinüber. »Ich muss Sam erst fragen, was sie vorhat.«
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie hingehen wollte oder nicht. Beide hatten das Gefühl, an einem Tiefpunkt angelangt zu sein, als Miles auflegte.
»Sie können es nicht fassen«, sagte er, als hätte Sam nicht alles mitgehört.
Schweigend aßen sie den Toast und tranken eine frisch aufgegossene Tasse Kaffee. Beim Kauen verschwand etwas von Samanthas Gereiztheit. Ihr fiel ein, wie sie mitten in der Nacht mit einem Ruck im dunklen Schlafzimmer aufgewacht und erleichtert gewesen war, Miles an ihrer Seite zu spüren, groß und korpulent, nach Vetiveröl und altem Schweiß riechend. Dann hatte sie sich vorgestellt, Kunden in ihrem Geschäft zu erzählen, dass ein Mann vor ihren Augen tot zusammengebrochen war, und von der Fahrt zum Krankenhaus zu berichten. Sie hatte sich Möglichkeiten überlegt, die verschiedenen Aspekte der Fahrt zu beschreiben, und dann als krönenden Abschluss die Szene mit der Ärztin. Das jugendliche Alter dieser beherrschten Frau hatte das Ganze noch schlimmer gemacht. Solche Nachrichten zu überbringen sollte man doch Älteren überlassen. Und dann hatte sich ihre Laune noch etwas mehr gehoben, als ihr einfiel, dass sie am nächsten Tag einen Termin mit dem Vertreter von Champêtre hatte. Am Telefon hatte er regelrecht mit ihr geflirtet.
»Ich sollte mich wohl allmählich auf die Socken machen.« Miles trank den Kaffee aus, den Blick auf das Fenster und den heller werdenden Himmel gerichtet. Er seufzte tief und tätschelte die Schulter seiner Frau, als er auf dem Weg zum Geschirrspüler mit dem leeren Teller und der Tasse an ihr vorbeikam.
»Lieber Gott, damit eröffnen sich völlig neue Perspektiven, oder?« Er schüttelte seinen kurz geschorenen, ergrauenden Kopf und verließ die Küche.
Samantha fand Miles manchmal lächerlich und, in zunehmendem Maße, langweilig. Doch hin und wieder genoss sie seine Aufgeblasenheit so, wie sie zu formellen Anlässen gerne einen Hut trug. Schließlich war es an diesem Morgen passend, sich feierlich und ein bisschen würdig zu geben. Sie aß ihren Toast auf, räumte die Frühstückssachen weg und polierte im Geiste die Geschichte auf, die sie ihrer Verkäuferin erzählen würde.
II
»Barry Fairbrother ist tot«, keuchte Ruth Price.
Sie war den Gartenweg regelrecht hinaufgerannt, um noch ein paar Minuten mit ihrem Mann zu verbringen, bevor er zur Arbeit musste. Sie hielt sich nicht damit auf, den Mantel auszuziehen, sondern stürmte, noch in Schal und Handschuhen, in die Küche, in der Simon und ihre beiden halbwüchsigen Söhne beim Frühstück saßen.
Ihr Mann erstarrte, ein Stück Toast auf halbem Weg zum Mund, das er dann mit theatralischer Langsamkeit auf den Teller zurücklegte. Die beiden Jungen in ihren Schuluniformen schauten nur mäßig interessiert von einem Elternteil zum anderen.
»Ein Aneurysma, vermuten die Ärzte«, sagte Ruth, immer noch etwas atemlos, während sie ihre Handschuhe Finger für Finger hochzupfte, den Schal abnahm und den Mantel aufknöpfte. Der dünnen dunkelhaarigen Frau mit den traurigen Augen stand die blaue Schwesterntracht ausgesprochen gut. »Er ist beim Golfclub zusammengebrochen. Sam und Miles Mollison haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Und dann kamen Colin und Tessa Wall ...«
Sie eilte hinaus in den Flur, hängte ihre Sachen auf und war rechtzeitig zurück, um Simons gebrüllte Frage zu beantworten: »Was ist ein Nanurisma?«
»A-neu-rys-ma. Eine geplatzte Ader im Kopf.«
Sie huschte zum Wasserkessel, schaltete ihn ein, wischte rund um den Toaster Krümel von der Arbeitsplatte und redete dabei ununterbrochen weiter.
»Er wird starke intrazerebrale Blutungen gehabt haben. Seine arme, arme Frau ... Die ist völlig am Boden zerstört.«
Nun doch etwas ergriffen, schaute Ruth aus dem Küchenfenster zur Abtei auf der anderen Seite des Tals, die sich wie ein schwarzes Skelett vor dem graurosa Himmel abhob. Dieser Ausblick machte das Besondere von Hilltop House aus. Pagford, bei Nacht nicht mehr als eine Ansammlung blinkender Lichter in einer tief liegenden Senke, war in frostiges Sonnenlicht getaucht.
Ruth bemerkte davon nichts, war in Gedanken immer noch im Krankenhaus, sah Mary aus dem Zimmer kommen, in dem Barry lag. Die lebenserhaltenden Geräte waren abgeschaltet. Allen, von denen Ruth Price glaubte, dass sie ihr seelenverwandt waren, brachte sie bereitwillig das ehrlichste Mitgefühl entgegen. »Nein, nein, nein«, hatte Mary gestöhnt, und dieses instinktive Leugnen hatte in Ruth widergehallt, da es ihr einen Blick auf sich selbst in solchen Situationen gewährt hatte.
Kaum fähig, diesen Gedanken zu ertragen, wandte sie sich Simon zu. Sein hellbraunes Haar war noch dicht, sein Körper fast noch so drahtig wie mit Mitte zwanzig, und die Fältchen in den Augenwinkeln eher anziehend, aber Ruths Rückkehr zur Krankenpflege nach der langen Pause hatte sie erneut mit den unendlichen Möglichkeiten konfrontiert, wie der menschliche Körper versagen konnte. In jüngeren Jahren hatte sie mehr Abstand gehabt, jetzt erkannte sie, wie glücklich sie sich alle schätzen konnten, am Leben zu sein.
»Konnten sie denn gar nichts für ihn tun?«, fragte Simon. »Konnten sie's nicht zustopfen?«
Er klang gereizt, als hätte die Medizin es einmal mehr versäumt, das Einfache und Offensichtliche zu tun.
Andrew war von wilder Freude erfüllt. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sein Vater sich angewöhnt hatte, den medizinischen Ausdrücken seiner Mutter plumpe, ignorante Vorschläge entgegenzustellen. Intrazerebrale Blutungen. Zustopfen. Seine Mutter bekam nicht mit, worauf sein Vater aus war. Wie immer. Andrew aß seine Weetabix, und in ihm brannte der Hass.
»Als sie ihn uns brachten, war es zu spät, noch irgendetwas zu unternehmen.« Ruth ließ einen Teebeutel in die Kanne fallen. »Er starb im Krankenwagen, kurz bevor sie eintrafen.«
»Ach du meine Fresse«, sagte Simon. »Wie alt war er, vierzig?«
Aber Ruth war abgelenkt.
»Dein Haar ist hinten total verfilzt, Paul. Hast du es nicht gebürstet? «
Sie zog eine Bürste aus ihrer Handtasche und drückte sie ihrem jüngeren Sohn in die Hand.
»Gab's denn keine Vorwarnung?«, fragte Simon, während Paul die Bürste durch seinen dichten Haarschopf zerrte.
»Anscheinend hatte er seit ein paar Tagen starke Kopfschmerzen. «
»Ach.« Simon kaute seinen Toast. »Und die hat er nicht beachtet? «
»Nein. Er wird sich nichts dabei gedacht haben.«
Simon schluckte. »Da sieht man's mal wieder, was?«, sagte er gewichtig. »Man muss auf sich aufpassen.«
Wie weise, dachte Andrew mit wütender Verachtung, wie tiefschürfend. Also war Barry Fairbrother selber schuld, dass sein Hirn geplatzt war. Du selbstgefälliger Wichser, sagte Andrew zu seinem Vater, laut, in seinem Kopf.
Simon zeigte mit dem Messer auf seinen Ältesten und sagte: »Ach, und übrigens. Der da wird sich einen Job suchen, unsere Pickelfresse hier.«
Verblüfft drehte sich Ruth zu ihrem Mann und ihrem Sohn um. Auf Andrews rot werdenden Wangen trat die Akne überdeutlich hervor, während er auf die bräunliche Pampe in seiner Schüssel starrte.
»Ja, ja«, fuhr Simon fort. »Der faule kleine Scheißer wird anfangen, Geld zu verdienen. Wenn er rauchen will, kann er das von seinem eigenen Lohn bezahlen. Kein Taschengeld mehr.«
»Andrew!«, jaulte Ruth auf. »Du hast doch nicht etwa ...«
»O doch, hat er. Ich hab ihn im Holzschuppen erwischt«, sagte Simon triefend vor Gehässigkeit.
»Andrew!«
»Kein Geld mehr von uns. Wenn du Kippen willst, kauf sie dir selber.«
»Aber wir waren uns doch einig«, wimmerte Ruth. »Wir waren uns einig, wo er doch die Abschlussprüfung vor sich hat ...«
»So wie er die Probeprüfung versaut hat, können wir von Glück sagen, wenn er überhaupt einen Abschluss schafft. Kann ja schon mal bei McDonald's anfangen, ein bisschen Erfahrung sammeln.« Simon stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und genoss den Anblick von Andrews hängendem Kopf, dem pickligen Rand seines Gesichtes. »Weil, 'ne Wiederholung zahlen wir dir nicht, Bürschchen. Entweder jetzt oder nie.«
»Oh, Simon«, sagte Ruth vorwurfsvoll.
»Was?«
Simon kam mit zwei stampfenden Schritten auf seine Frau zu. Ruth wich an die Spüle zurück. Paul fiel die rosa Haarbürste aus der Hand.
»Ich denk nicht dran, für die Drecksraucherei von dem kleinen Wichser zu zahlen! Was für eine verdammte Frechheit, in meinem Schuppen zu rauchen!«
Bei dem Wort »meinem« schlug sich Simon mit der Faust auf die Brust. Das dumpfe Geräusch ließ Ruth zusammenzucken.
»Ich hab längst Lohn nach Hause gebracht, als ich so alt war wie der picklige kleine Scheißer hier. Wenn er Kippen will, kann er die selbst bezahlen, klar? Klar?«
Seine Nase war nur noch wenige Zentimeter von Ruths Gesicht entfernt.
»Ja, Simon«, sagte sie ganz leise.
Andrews Magen verkrampfte sich. Erst vor zehn Tagen hatte er sich etwas geschworen, war der Moment bereits gekommen? Aber sein Vater trat einen Schritt zurück und marschierte aus der Küche. Ruth, Andrew und Paul blieben ganz still, als hätten sie gelobt, sich in seiner Abwesenheit nicht zu bewegen.
»Hast du vollgetankt?«, brüllte Simon, wie immer, wenn Ruth Nachtschicht gehabt hatte.
»Ja«, rief Ruth munter zurück, um Heiterkeit, Normalität bemüht.
Die Haustür klapperte und knallte.
Ruth machte sich an der Teekanne zu schaffen, wartete darauf, dass sich die aufgeladene Atmosphäre wieder entspannte. Erst als Andrew hinausgehen wollte, um sich die Zähne zu putzen, sagte sie etwas.
»Er macht sich Sorgen um dich, Andrew. Um deine Gesundheit. «
Von wegen, der blöde Arsch.
Im Kopf zahlte Andrew seinem Vater jede Obszönität mit gleicher Münze heim. Im Kopf konnte er Simon in fairem Kampf besiegen.
Zu seiner Mutter sagte er nur laut: »Ja. Okay.«
III
Evertree Crescent war eine halbrunde Bungalowanlage aus den 1930er Jahren und lag zwei Minuten von Pagfords Marktplatz entfernt. In Nummer sechsunddreißig saß Shirley Mollison an ihre Kissen gelehnt und trank den Tee, den ihr Mann ihr gebracht hatte. Alles, was sie in den verspiegelten Türen des Einbauschranks erkennen konnte, hatte etwas Verschwommenes. Das lag zum einen daran, dass sie keine Brille trug, zum anderen an den Vorhängen mit dem Rosenmuster, die den Raum in ein sanftes Licht tauchten. In dieser schmeichelhaften Beleuchtung wirkte ihr rosiges Gesicht mit den Grübchen unter den kurzen silbergrauen Haaren puttenhaft.
Das Schlafzimmer war gerade groß genug für Shirleys Einzel- und Howards Doppelbett, zusammengeschoben, ohne zueinander zu passen. Howards Matratze, die noch deutliche Spuren seines schweren Körpers aufwies, war leer. Shirley lauschte dem sanften Rauschen der Dusche, betrachtete ihr rosiges Spiegelbild und kostete die Nachricht aus, die nach wie vor die Luft belebte wie perlender Champagner.
Barry Fairbrother war tot. Ausgelöscht. Umgehauen. Kein Ereignis von nationaler Bedeutung, kein Krieg, kein Börsenkrach, kein Terroranschlag hätte in Shirley diese Ehrfurcht, dieses leidenschaftliche Interesse und die fieberhaften Spekulationen auslösen können, die sie momentan verzehrten.
Sie hatte Barry Fairbrother gehasst. Shirley und ihr Mann, für gewöhnlich bei all ihren Freundschaften und Feindschaften einer Meinung, waren sich in diesem Fall nie ganz einig geworden. Howard hatte gelegentlich zugegeben, den bärtigen kleinen Mann amüsant zu finden, der sich ihm über die abgestoßenen Tische im Gemeindesaal von Pagford hinweg so unbarmherzig entgegenstellte, doch Shirley machte keinen Unterschied zwischen Politischem und Privatem. Barry hatte gegen das Anliegen opponiert, das Howard mehr als alles andere am Herzen lag, und damit hatte Barry Fairbrother sich Shirley zur erbitterten Feindin gemacht.
Loyalität gegenüber ihrem Mann war der Hauptgrund für Shirleys tiefe Abneigung, wenn auch nicht der einzige. Ihre Menschenkenntnis war nur auf eines ausgerichtet, wie bei einem Hund, der darauf dressiert war, Drogen zu erschnüffeln. Ständig glaubte sie Herablassung zu wittern, und deren üblen Geruch hatte sie schon vor langem in den Ansichten von Barry Fairbrother und seinen Kumpanen im Gemeinderat wahrgenommen. Die Fairbrothers dieser Welt bildeten sich ein, ihr Universitätsstudium mache sie zu besseren Menschen als sie und Howard, und ihre Ansichten seien gewichtiger. Tja, ihre Arroganz hatte an diesem Tag einen Dämpfer bekommen. Fairbrothers plötzlicher Tod bestärkte Shirley in ihrer festen Überzeugung, dass Barry, was auch immer er und seine Anhänger geglaubt haben mochten, in jeder Hinsicht minderwertiger war als ihr Mann, der es immerhin, zusätzlich zu all seinen anderen Vorzügen, schon vor sieben Jahren geschafft hatte, einen Herzinfarkt zu überleben.
(Keine Sekunde lang hatte Shirley geglaubt, dass ihr Howard sterben würde, selbst als er im Operationssaal lag. Howards Anwesenheit auf Erden war für Shirley eine Selbstverständlichkeit, wie Sonnenlicht und Atemluft. Das hatte sie auch hinterher gesagt, als Freunde und Nachbarn darüber sprachen, auf welch wunderbare Weise er davongekommen war, und wie glücklich sie sich alle schätzen konnten, im nahen Yarvil eine kardiologische Station zu haben, und wie schrecklich besorgt Shirley gewesen sein musste.
»Ich wusste immer, dass er durchkommen wird«, hatte Shirley gesagt, völlig ruhig und gelassen. »Daran habe ich nie gezweifelt. «
Und hier war er, munter wie eh und je; und dort war Fairbrother, im Leichenschauhaus. Tja, da konnte man mal wieder sehen.)
Das Hochgefühl des heutigen Morgens erinnerte Shirley an den Tag nach der Geburt ihres Sohnes Miles. Auch da hatte sie ans Kissen gelehnt im Bett gesessen, genau wie jetzt, mit der Sonne, die durch das Fenster der Entbindungsstation schien, einer Tasse Tee in den Händen, die ihr jemand zubereitet hatte, während sie darauf wartete, dass man ihr den wunderschönen neuen Sohn zum Stillen brachte. Geburt und Tod: Beides verlieh dem Leben und ihrer eigenen Bedeutung einen höheren Wert. Die Nachricht von Barry Fairbrothers Ableben lag in ihrem Schoß wie ein neugeborenes Baby, und all ihre Bekannten würden sich diebisch darüber freuen. Sie würde die Quelle sein, denn sie war die Erste, oder doch fast die Erste, die diese Nachricht erhalten hatte.
Nichts von dieser in Shirley schäumenden Begeisterung hatte sich gezeigt, solange Howard im Zimmer gewesen war. Sie hatten nur die zu plötzlichen Todesfällen passenden Bemerkungen ausgetauscht, bevor er unter die Dusche gegangen war. Natürlich hatte Shirley gewusst, während diese Floskeln zwischen ihnen hin und her geglitten waren wie die Kugeln auf einem Abakus, dass Howard genau wie sie hocherfreut sein musste. Doch diese Gefühle laut zu äußern, wenn die Nachricht über den Todesfall noch ganz frisch in der Luft hing, wäre nicht besser gewesen als splitternackt zu tanzen und Obszönitäten zu kreischen, und Howard und Shirley trugen stets einen unsichtbaren Mantel des Anstands.
Shirley kam noch ein Gedanke. Sie stellte Tasse und Untertasse auf den Nachttisch, schlüpfte aus dem Bett, zog ihren Chenille- Morgenmantel über, setzte die Brille auf, tappte über den Flur und klopfte an die Badezimmertür.
»Howard?«
Ein fragender Grunzlaut ertönte durch das Prasseln des Wassers.
»Meinst du, ich sollte was auf die Website stellen? Über Fairbrother? «
»Gute Idee«, rief er nach kurzem Nachdenken durch die Tür. »Hervorragende Idee.«
Also eilte sie weiter ins Arbeitszimmer. Es war das kleinste Zimmer des Bungalows, längst verlassen von ihrer Tochter Patricia, die nach London gezogen war und nur selten erwähnt wurde.
Shirley war ungeheuer stolz auf ihre Internetkenntnisse. Vor zehn Jahren hatte sie in Yarvil Abendkurse besucht, bei denen sie zu den ältesten und langsamsten Teilnehmerinnen gehörte. Trotzdem hatte sie durchgehalten, fest entschlossen, Administrator der neuen Website des Gemeinderats von Pagford zu werden. Sie loggte sich ein und rief die Homepage des Gemeinderats auf.
Die kurze Mitteilung ging ihr leicht von der Hand.
Gemeinderat Barry Fairbrother Mit großem Bedauern teilen wir das Ableben von Gemeinderat Barry Fairbrother mit. Unsere Gedanken sind in diesen schweren Zeiten bei seiner Familie.
Aufmerksam las sie noch einmal durch, was sie geschrieben hatte, drückte auf Enter und sah wenig später die Mitteilung auf der Nachrichtenseite auftauchen.
Die Königin hatte die Fahne über dem Buckingham Palace auf Halbmast gesetzt, als Prinzessin Diana gestorben war. Ihre Majestät nahm einen ganz besonderen Platz in Shirleys Innenleben ein. Während sie über die Mitteilung auf der Website nachdachte, war sie zufrieden und glücklich, das Richtige getan zu haben. Man lernte eben von den Besten.
Sie schloss die Nachrichtenseite des Gemeinderats, klickte auf ihre bevorzugte medizinische Website und gab sorgfältig die Wörter »Gehirn« und »Tod« in die Suchmaske ein.
Die Treffer waren endlos. Shirley scrollte durch die Möglichkeiten, ließ ihren Blick auf und ab wandern und überlegte, welchem dieser tödlichen Leiden, manche davon die reinsten Zungenbrecher, sie ihr momentanes Glück verdankte. Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte, und stellte ihren Freundinnen hin und wieder Diagnosen.
Aber an diesem Morgen konnte sie sich nicht auf lange Wörter oder Symptome konzentrieren, ihre Gedanken schweiften zu der weiteren Verbreitung der Nachricht ab, und sie stellte im Geist bereits eine Liste von Telefonnummern zusammen. Sie überlegte, ob Aubrey und Julia Bescheid wussten und was sie dazu sagen würden. Und ob Howard es ihr überlassen würde, Maureen zu informieren, oder ob ihm dieses Vergnügen vorbehalten sein würde.
Das alles war ungeheuer aufregend.
IV
Andrew Price schloss die Eingangstür des kleinen weißen Hauses und folgte seinem jüngeren Bruder den steilen Gartenpfad hinab. Der Boden knirschte unter seinen Schritten, und das Metalltor in der Hecke war eiskalt. Keiner der Jungen hatte auch nur einen Moment für den vertrauten Ausblick übrig, der sich ihnen bot: das Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss, überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort. Wenn die Familie einmal Gäste hatte, was selten vorkam, fand Andrew es zum Kotzen, wie sein Vater damit prahlte, als hätte er das Ganze entworfen und erbaut. Vor kurzem hatte Andrew beschlossen, den Anblick von Asphalt, zerbrochenen Fenstern und Graffiti vorzuziehen. Er träumte von London und einem tollen Leben dort.
Die Brüder marschierten bis zum Ende des Weges und blieben an der Ecke zur breiteren Straße stehen. Andrew griff in die Hecke, fummelte ein bisschen herum und zog schließlich ein halbvolles Päckchen Benson & Hedges und eine leicht feuchte Schachtel Streichhölzer heraus. Nach mehreren Fehlversuchen, bei denen die Zündköpfe an der Reibfläche abbröckelten, gelang es ihm, die Zigarette anzuzünden. Zwei oder drei tiefe Züge, dann durchdrang das grummelnde Dröhnen des Schulbusses die Stille. Vorsichtig drückte Andrew das glühende Ende der Zigarette mit den Fingern aus und verstaute den Rest wieder in der Packung.
Der Bus war immer schon zu zwei Dritteln voll, wenn er die Abzweigung nach Hilltop House erreichte, da er bereits die weiter entfernten Farmen und Häuser abgeklappert hatte. Die Brüder suchten sich wie üblich getrennte Plätze, jeder einen Doppelsitz, und schauten aus dem Fenster, während der Bus rumpelnd hinunter nach Pagford fuhr.
Am Fuß des Hügels stand ein Haus in einem keilförmigen Garten. Die vier Kinder der Fairbrothers warteten für gewöhnlich vor dem Eingangstor, aber heute war niemand zu sehen. Alle Vorhänge waren zugezogen. Andrew fragte sich, ob es üblich war, im Dunkeln zu sitzen, wenn jemand starb.
Vor ein paar Wochen hatte Andrew bei der Disco in der Schulaula Niamh Fairbrother angebaggert, eine von Barrys Zwillingstöchtern. Danach hatte sie die widerliche Angewohnheit entwickelt, ihm nachzuspionieren. Andrews Eltern waren kaum mit den Fairbrothers bekannt. Simon und Ruth hatten so gut wie keine Freunde, schienen aber zumindest für Barry etwas übrigzuhaben, der die Kleinstfiliale der einzigen noch in Pagford verbliebenen Bank geleitet hatte. In der kleinen Stadt war der Name Barry Fairbrother jedoch immer präsent, er tauchte in allen möglichen Verbindungen auf, ob als Gemeinderat, bei Theateraufführungen in der Stadthalle oder dem von der Kirche veranstalteten Volkslauf. Das waren Dinge, an denen Andrew kein Interesse hatte und von denen sich seine Eltern fernhielten.
Als der Bus links abbog und die Church Row hinunterzockelte, vorbei an den geräumigen, terrassenförmig angelegten viktorianischen Häusern, gab sich Andrew einem kurzen Tagtraum hin, in dem sein Vater tot umfiel, niedergeknallt von einem unsichtbaren Heckenschützen. Andrew sah sich, wie er seiner schluchzen den Mutter den Rücken tätschelte und gleichzeitig den Beerdigungsunternehmer anrief. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel und bestellte den billigsten Sarg.
Die drei Jawandas, Jaswant, Sukhvinder und Rajpal, stiegen am unteren Ende der Church Row ein. Andrew hatte darauf geachtet, einen Sitz mit einem freien Platz vor sich einzunehmen, und wollte Sukhvinder mit Willenskraft dazu bringen, sich vor ihn zu setzen, nicht um ihretwillen (Andrews bester Freund Fats bezeichnete sie als »Titt'n Tusse«), sondern weil SIE sich oft neben Sukhvinder setzte. Und ob nun sein telepathischer Ansporn an diesem Morgen besonders wirksam war oder nicht, Sukhvinder entschied sich tatsächlich für den Sitz vor ihm. Triumphierend starrte Andrew, ohne etwas wahrzunehmen, auf die verschmierten Fenster und umklammerte seine Schultasche fester, um die Erektion zu verbergen, die durch die heftige Vibration des Busses entstanden war.
Mit jedem neuen Ruckeln und Holpern stieg die Erwartung, während sich das schwerfällige Fahrzeug durch die schmalen Straßen schob, um die enge Kurve zum Marktplatz und auf die Ecke IHRER Straße zu.
Noch nie hatte sich Andrew so sehr für ein Mädchen interessiert. Sie war erst seit kurzem hier. Eine seltsame Zeit, die Schule zu wechseln, im Frühjahrstrimester des Abschlussjahres zur Sekundarstufe. Ihr Name war Gaia, und das passte, weil er diesen Namen nie zuvor gehört hatte und sie etwas vollkommen Neues war. Sie war eines Morgens in den Bus gestiegen wie der Beweis, zu welch unglaublichen Höhen sich die Natur aufschwingen konnte, und hatte zwei Reihen vor ihm Platz genommen, während er wie gebannt auf die Perfektion ihrer Schultern und ihres Hinterkopfes starrte.
Ihr Haar war kupferbraun und fiel in langen Wellen bis knapp unter ihre Schulterblätter. Ihre Nase war vollkommen gerade, schmal und so kurz, dass sie die herausfordernd üppigen, bleichen Lippen betonte. Ihre weit auseinander stehenden Augen hatten dichte Wimpern und waren von einem grüngefleckten Haselnussbraun, wie ein spät gepflückter Apfel. Andrew hatte sie noch nie geschminkt gesehen, und keine einzige Unreinheit verunstaltete ihre Haut. Ihr Gesicht war ein Gesamtkunstwerk absoluter Symmetrie und ungewöhnlicher Proportionen, und er hätte es stundenlang anschauen können, auf der Suche nach dem Ursprung dieser Faszination.
Erst letzte Woche war er heimgekehrt nach einer Doppelstunde Biologie, in der er sie dank einer gottgewollten Anordnung der Tische fast die ganze Zeit über hatte betrachten können. In der Sicherheit seines Zimmers hatte er hinterher notiert (nachdem er zunächst heftig masturbiert und anschließend eine halbe Stunde lang die Wand angestarrt hatte) »Schönheit ist Geometrie«. Sofort hatte er das Papier wieder zerrissen, und jedes Mal, wenn er dar an dachte, kam er sich blöde vor, aber trotzdem, da war etwas dran. Ihre hinreißende Schönheit war das Ergebnis geringfügiger Veränderungen eines Musters, was zu atemberaubender Harmonie führte.
Gleich würde sie da sein, und wenn sie sich, wie so oft, neben die mürrische Sukhvinder setzte, wäre sie nahe genug, um das Nikotin an ihm riechen zu können. Er würde sehen, wie der Bussitz unter ihrem Körper ein wenig nachgab, wenn sie sich darauffallen ließ, und wie sich diese kupferfarbene Haarpracht über die Haltestange am Sitz ergoss.
Der Busfahrer bremste, Andrew wandte das Gesicht von der Tür ab und gab sich den Anschein, tief in Gedanken versunken zu sein. Er würde sich umschauen, wenn sie eingestiegen war, als hätte er gerade erst bemerkt, dass der Bus angehalten hatte. Er würde Blickkontakt aufnehmen, ihr womöglich zunicken. Er wartete darauf, das Öffnen der Türen zu hören, aber das leise Pochen des Motors wurde nicht von dem vertrauten Zischen und Rumpeln unterbrochen.
Andrew schaute sich um und sah nichts als die schäbige kurze Hope Street, zu beiden Seiten von kleinen Reihenhäusern gesäumt. Der Busfahrer beugte sich vor, um sich zu vergewissern, dass Gaia nicht kam. Andrew wollte ihn bitten zu warten, weil sie erst in der Woche zuvor aus einem der kleinen Häuser gestürmt und auf den Bus zugerannt war (da war es vertretbar gewesen, hinzuschauen, denn das hatten alle getan), und der Anblick der rennenden Gaia hatte seine Gedanken stundenlang in Beschlag genommen. Aber der Fahrer drehte das große Steuer herum, und der Bus fuhr weiter. Andrew wandte sein Gesicht wieder dem schmutzigen Fenster zu, mit Schmerzen im Herzen und Feuer in den Lenden.
V
In den kleinen Reihenhäusern der Hope Street hatten früher Arbeiter gewohnt. Im Badezimmer von Nummer zehn rasierte sich Gavin Hughes langsam und mit unnötiger Vorsicht. Er war so blond und sein Bart wuchs so spärlich, dass eine Rasur nur zweimal wöchentlich nötig war. Das klamme, leicht schmuddelige Badezimmer war der einzige Rückzugsort, und wenn er hier bis um acht herumtrödelte, hätte er einen plausiblen Grund dafür, sofort zur Arbeit aufbrechen zu müssen. Ihm graute davor, mit Kay zu reden.
Am Abend zuvor war er einer Diskussion nur dadurch aus dem Weg gegangen, dass er so ausgiebig und einfallsreich mit ihr geschlafen hatte, wie seit den Anfängen ihrer Beziehung nicht mehr. Kay war voll nervtötender Begeisterung darauf eingegangen, hatte von einer Stellung in die nächste gewechselt, ihre stämmigen Beine für ihn angehoben, sich verbogen wie eine slawische Akrobatin, der sie mit ihrer olivfarbenen Haut und dem kurzen schwarzen Haar ein wenig ähnelte. Zu spät hatte er erkannt, dass sie diesen ungewöhnlichen Akt der Zuwendung als ein stillschweigendes Geständnis all der Liebesschwüre angesehen hatte, die er keinesfalls vorzubringen gedachte. Sie hatte ihn gierig geküsst. Zu Beginn ihrer Affäre hatte er ihre feuchten, zudringlichen Küsse erotisch gefunden, doch jetzt stießen sie ihn eher ab. Er hatte lange gebraucht, um zum Höhepunkt zu kommen, da sein Grausen über das, was er da in Gang gesetzt hatte, ständig drohte, seine Erektion zusammenfallen zu lassen. Selbst das hatte gegen ihn gearbeitet: Kay schien sein ungewöhnliches Durchhaltevermögen für einen Beweis seiner Virilität zu halten.
Als es endlich vorbei war, hatte sie sich in der Dunkelheit an ihn geschmiegt und ihm über das Haar gestrichen. Niedergeschlagen hatte er ins Nichts gestarrt, da ihm bewusst war, dass sich seine vage Hoffnung auf mehr Distanz unfreiwillig ins Gegenteil verkehrt hatte. Nachdem sie eingeschlafen war, hatte er dagelegen, den einen Arm unter ihr festgeklemmt, das feuchte Laken unangenehm klebrig an seinem Oberschenkel, auf einer klumpigen Matratze mit alten Sprungfedern, und hatte sich gewünscht, er hätte den Mut, ein Schweinehund zu sein, sich davonzuschleichen und nie wiederzukommen.
Kays Badezimmer roch nach Schimmel und feuchten Schwämmen. Haare klebten am Rand der kleinen Wanne. Farbe blätterte von den Wänden.
»Müsste mal gestrichen werden«, hatte Kay gesagt.
Gavin hatte sich gehütet, ihr freiwillig Hilfe anzubieten. Die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte, waren sein Talisman und sein Schutz; in Gedanken fädelte er sie auf und ließ sie durch die Finger gleiten wie die Perlen eines Rosenkranzes. Nie hatte er das Wort »Liebe« in den Mund genommen, nie von Ehe gesprochen. Er hatte sie nie gebeten, nach Pagford zu ziehen. Und doch war sie hier, und irgendwie gelang es ihr, ihm das Gefühl zu vermitteln, es sei seine Schuld.
Sein Gesicht starrte ihn aus dem fleckigen Spiegel an. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und sein schütteres blondes Haar war dünn und trocken. Die nackte Birne unter der Decke beleuchtete das spitze Gesicht mit forensischer Grausamkeit.
Vierunddreißig, dachte er, und ich sehe aus wie mindestens vierzig.
Er hob den Rasierer und machte sich vorsichtig über die zwei dicken blonden Haare her, die rechts und links von seinem hervortretenden Adamsapfel sprossen.
Fäuste donnerten gegen die Badezimmertür. Gavins Hand rutschte ab, Blut tropfte von seinem dünnen Hals auf sein sauberes weißes Hemd.
»Dein Freund«, erklang ein wütender weiblicher Schrei, »ist immer noch im Bad, und ich komme zu spät!«
»Ich bin fertig!«, rief er.
Der Schnitt brannte, aber egal. Hier war seine Ausrede, auf dem Silbertablett serviert: Schau her, was deine Tochter angerichtet hat. Ich muss nach Hause und mir vor der Arbeit noch ein frisches Hemd anziehen. Beinahe leichten Herzens griff er nach Jackett und Krawatte, die er über einen Haken an der Tür gehängt hatte, und schloss auf.
Gaia drängte sich an ihm vorbei, knallte die Tür hinter sich zu und rammte den Riegel davor. Auf dem schmalen Treppenabsatz vor dem Bad roch es scharf und unangenehm nach verbranntem Gummi. Gavin dachte daran, wie das Kopfteil des Bettes in der Nacht gegen die Wand gekracht war, wie das billige Kiefernholz geknarrt hatte, an Kays Stöhnen und ihre Schreie. Manchmal vergaß man einfach, dass auch ihre Tochter im Haus war.
Rasch lief er die nackten Holzstufen hinunter. Kay hatte ihm erzählt, sie habe vor, sie abzuschleifen und zu lackieren, aber er bezweifelte, dass sie es jemals tun würde, denn schon ihre Wohnung in London war schäbig und in keinem guten Zustand gewesen. Außerdem war er überzeugt, dass sie erwartete, demnächst bei ihm einzuziehen, aber das würde er nicht zulassen. Das war seine letzte Bastion, und wenn er unter Zwang geriet, würde er sie bis aufs Blut verteidigen.
»Was hast du denn gemacht?«, kreischte Kay, als sie das Blut auf seinem Hemd sah. Sie trug den billigen knallroten Kimono, den er nicht leiden konnte, der ihr aber so gut stand.
»Gaia hat gegen die Tür gedonnert, und ich bin zusammengeschreckt. Ich muss nach Hause und mich umziehen.«
»Aber ich hab dir doch Frühstück gemacht!«, sagte sie rasch.
Jetzt merkte er, dass der Geruch nach verbranntem Gummi in Wirklichkeit von Rühreiern stammte. Sie sahen bleich und verkocht aus.
»Keine Zeit, Kay. Ich muss das Hemd wechseln, ich habe eine frühe -«
Sie häufte bereits die erstarrte Masse auf drei Teller.
»Fünf Minuten, du kannst doch wohl noch fünf Minuten -«
Das Handy in seiner Jackentasche summte laut, und er zog es heraus. Gleichzeitig überlegte er, ob er den Nerv haben würde zu behaupten, es handle sich um einen dringenden Fall.
»Du lieber Gott«, rief er mit ungeheucheltem Entsetzen.
»Was ist denn?«
»Barry. Barry Fairbrother! Er ist - Scheiße, er ist - er ist tot! Das ist von Miles. Verdammte Scheiße. Gottverdammte Scheiße!«
Sie legte den Löffel weg.
»Wer ist Barry Fairbrother?«
»Mein Partner beim Squash. Er war erst vierundvierzig! Gott im Himmel!«
Er las die SMS noch einmal. Kay beobachtete ihn verwirrt. Sie wusste, dass Miles ein Kollege von Gavin in der Anwaltskanzlei war, doch sie war ihm nie vorgestellt worden. Und Barry Fairbrother war für sie nur ein Name.
Ein Gewitter kam die Treppe hinunter: Gaia stampfte beim Rennen auf.
»Eier«, bemerkte sie an der Küchentür. »Als ob du mir die jeden Morgen machst. Nein danke. Und wegen dem«, mit einem giftigen Blick auf Gavins Hinterkopf, »hab ich wahrscheinlich den Kack-Bus verpasst.«
»Tja, wenn du nicht so lange für deine Haare gebraucht hättest «, brüllte Kay ihrer Tochter nach, die durch den Flur stürmte, mit der Schultasche gegen die Wände schlug und die Haustür hinter sich zuknallte.
»Ich muss gehen, Kay«, sagte Gavin.
»Aber ich hab alles fertig, du könntest doch noch -«
»Ich muss das Hemd wechseln. Und Mist, ich hab Barrys Testament aufgesetzt, ich muss es mir noch mal anschauen. Nein, tut mir leid, ich muss gehen. Ich fasse es nicht«, fügte er hinzu, während er Miles' SMS erneut durchlas. »Ich kann es nicht fassen. Wir haben doch noch am Donnerstag Squash gespielt. Ich kann's nicht - o Gott.«
Ein Mann war gestorben, und dagegen konnte sie nichts einwenden, ohne ungerecht zu erscheinen. Gavin küsste sie flüchtig auf die starren Lippen und entfernte sich dann durch den dunklen, schmalen Flur.
»Sehn wir uns ...?«
»Ich melde mich später.« Er tat, als hätte er sie nicht gehört.
Gavin eilte über die Straße zu seinem Auto, atmete die kalte Luft in tiefen Zügen ein und hielt den Gedanken an Barrys Tod fest wie ein Fläschchen mit explosiver Flüssigkeit, das er nicht zu schütteln wagte. Während er den Zündschlüssel umdrehte, stellte er sich Barrys Zwillingstöchter vor, wie sie auf ihrem Doppelstockbett weinend das Gesicht in die Kissen drückten. Er hatte sie dort liegen sehen, eine über der anderen, jede mit ihrem Nintendo DS, als er bei der letzten Einladung zum Abendessen an ihrer Zimmertür vorbeigekommen war.
Die Fairbrothers waren für ihn stets das ideale Paar gewesen. Nun würde er nie wieder bei ihnen essen. Oft hatte er Barry gesagt, was für ein Glückspilz er sei. Am Ende wohl doch nicht.
Auf dem Bürgersteig kam jemand auf ihn zu. Voller Panik, es könnte Gaia sein, die ihn anschrie oder verlangte, dass er sie mitnahm, setzte er zu heftig zurück und prallte gegen das Auto hinter seinem: Kays alter Corsa. Als die Person auf Höhe des Seitenfensters war, stellte er fest, dass es sich um eine ausgemergelte, humpelnde alte Frau in Pantoffeln handelte. Schwitzend schlug Gavin das Lenkrad ein und manövrierte sich aus der Parklücke. Beim Gasgeben blickte er in den Rückspiegel und sah, wie Gaia die Tür zu Kays Haus wieder aufschloss.
Das Atmen fiel ihm schwer. In seiner Brust steckte ein fester Knoten. Erst jetzt ging ihm auf, dass Barry Fairbrother sein bester Freund gewesen war.
VI
Der Schulbus hatte Fields erreicht, die ausgedehnte Siedlung am Stadtrand von Yarvil. Schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satellitenschüsseln und überwucherte Grasflächen, all das fesselte Andrews Aufmerksamkeit genauso wenig wie die mit glitzerndem Frost überzogenen Ruinen der Abtei von Pagford. Früher hatte ihn Fields fasziniert und eingeschüchtert, doch inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.
Die Bürgersteige waren voller Kinder und Jugendlicher auf dem Weg zur Schule, viele im T-Shirt, trotz der Kälte. Andrew entdeckte Krystal Weedon, Zielscheibe für Gespött und schlechte Witze. Mitten in einer Gruppe von Jungen und Mädchen hüpfte sie herum und lachte brüllend. An jedem Ohr baumelten zahllose Ohrringe, und ihr Stringtanga war über dem Rand ihrer tief sitzenden Trainingshose deutlich zu sehen. Andrew kannte sie seit der Grundschule, und sie kam in vielen seiner grellsten Erinnerungen aus dieser Zeit vor. Sie hatten sich über ihren Namen lustig gemacht, aber statt zu heulen, wie es die meisten anderen Mädchen getan hätten, hatte die fünfjährige Krystal mitgemacht, gegackert und gekreischt: »Weed-on! Krystal weed-on! Krystal ka-cken!« Und sie hatte vor der ganzen Klasse die Hose runtergezogen und sich hingehockt, als wollte sie es wirklich machen. Noch immer erinnerte er sich lebhaft an ihre nackte rosa Möse, es war, als wäre der Weihnachtsmann in ihrer Mitte aufgetaucht. Und er wusste auch noch, wie Miss Oates Krystal mit hochrotem Gesicht aus dem Raum geführt hatte.
Mit zwölf Jahren, nach dem Übertritt in die Gesamtschule, war Krystal das am weitesten entwickelte Mädchen ihres Jahrgangs und hatte hinten im Klassenzimmer herumgelungert, wo alle, wenn sie fertig waren, ihre Mathearbeitsblätter hinbringen und gegen das nachfolgende Blatt austauschen sollten. Wie es angefangen hatte, wusste Andrew nicht (er war mal wieder als einer der Letzten mit der Matheaufgabe fertig geworden), aber als er zu den Plastikkästen mit den Arbeitsblättern kam, ordentlich aufgereiht auf den Regalen an der Rückwand, befummelten Rob Calder und Mark Richards gerade einer nach dem anderen Krystals Brüste. Die meisten anderen Jungen schauten wie gebannt zu, die Köpfe vor dem Lehrer hinter den Mathebüchern verborgen, während die Mädchen, größtenteils knallrot im Gesicht, so taten, als würden sie nichts sehen. Andrew verstand, dass die Hälfte der Jungen bereits an der Reihe gewesen war und alle von ihm erwarteten, auch mitzumachen. Einerseits hatte er gewollt, andererseits nicht. Er hatte sich nicht vor den Brüsten gefürchtet, sondern vor Krystals dreistem, herausforderndem Blick. Er hatte Angst gehabt, es falsch zu machen. Als der nichtsahnende und unfähige Mr Simmonds schließlich aufgeschaut und gesagt hatte: »Du stehst jetzt schon ewig da hinten, Krystal, hol dir ein Arbeitsblatt und setz dich wieder«, war Andrew regelrecht erleichtert gewesen.
Obwohl sie längst in verschiedenen Unterrichtsgruppen waren, mussten sie ihre Anwesenheit morgens immer noch in derselben Klasse registrieren lassen, daher wusste Andrew, dass Krystal manchmal anwesend war, oft nicht, und dass sie fast ständig in Schwierigkeiten steckte. Furcht kannte sie nicht, so wenig wie die Jungs, die mit selbstgestochenen Tattoos zur Schule kamen, mit aufgeplatzten Lippen, Zigaretten und Geschichten über Zusammenstöße mit der Polizei, über Drogen und schnellen Sex.
Die Gesamtschule Winterdown lag direkt am Stadtrand von Yarvil, ein hässliches dreistöckiges Gebäude, an dessen Außenwänden sich Fenster mit türkis gestrichener Holzverkleidung abwechselten. Nachdem sich die Bustüren quietschend geöffnet hatten, schloss sich Andrew der wogenden Menge in schwarzen Blazern und Pullovern an, die über den Parkplatz auf die beiden Eingangstüren der Schule zuströmte. Als er sich gerade durch den Engpass der Doppeltür quetschen wollte, bemerkte er einen ankommenden Nissan Micra und trat zur Seite, um auf seinen besten Freund zu warten.
Dickie, Dicker, Dickster, Flubberwurm, Fleischklops, Walla, Fatboy, Fats: Stuart Wall war der Junge mit den meisten Spitznamen in der Schule. Sein federnder Gang, seine Magerkeit, sein schmales, blasses Gesicht, die Segelohren und der stets gequälte Ausdruck waren eigentlich markant genug, aber was ihn wirklich von allen anderen abhob, waren sein bissiger Humor, seine Gleichgültigkeit und Gelassenheit. Irgendwie war es ihm gelungen, sich von den höchst unglücklichen Verbindungen zu distanzieren. Eine weniger robuste Person wäre daran zerbrochen: die Peinlichkeit, der Sohn eines verspotteten und unbeliebten stellvertretenden Schulleiters zu sein und eine trutschige, übergewichtige Beratungslehrerin zur Mutter zu haben. Er war vor allem und ohne Frage er selbst. Fats, Schulberühmtheit und Wahrzeichen. Und sogar die Kinder aus Fields lachten über seine Witze und machten sich eher selten über seine Eltern lustig - so kühl und grausam gab er ihre Spötteleien zurück.
Fats' Selbstbeherrschung bekam selbst an diesem Morgen keinen Riss, als er sich, in voller Sicht der vorbeiströmenden Horden, nicht nur neben seiner Mutter aus dem Nissan zwängen musste, sondern auch noch neben seinem Vater, der für gewöhnlich getrennt von ihnen zur Schule fuhr. Als Fats federnd auf ihn zukam, musste Andrew wieder an Krystal Weedon und ihren über der Trainingshose blitzenden Stringtanga denken.
»Was geht, Arf?«, fragte Fats.
»Fats.«
Sie schoben sich gemeinsam in die Menge, die Schultaschen über die Schulter gehängt, trafen damit die kleineren Kinder ins Gesicht und schufen sich so ein wenig Platz.
»Pingel hat geheult«, sagte Fats, als sie die überfüllte Treppe hochstiegen.
»Häh?«
»Barry Fairbrother ist gestern Nacht tot umgefallen.«
»Ach so. Ja, hab ich gehört«, sagte Andrew.
Fats bedachte Andrew mit dem zweifelnden Blick, den er aufsetzte, wenn andere sich übernahmen und vorgaben, mehr zu wissen, mehr zu sein, als sie waren.
»Meine Mum war im Krankenhaus, als sie ihn reinbrachten«, sagte Andrew gereizt. »Sie arbeitet da, schon vergessen?«
»Ach ja«, sagte Fats, und die Skepsis war weg. »Er und Pingel waren ja so was wie ›echte Kumpels‹. Und er wird's hier groß verkünden. Nicht gut, Arf.«
Sie trennten sich oben an der Treppe, um sich in ihren jeweiligen Klassenzimmern anzumelden. Der größte Teil von Andrews Klasse war bereits dort, saß auf den Tischen, ließ die Beine baumeln, lehnte seitlich an den Schränken. Schultaschen lagen unter den Stühlen. Es war lauter und entspannter als an einem normalen Montagmorgen, denn die anstehende Schulversammlung versprach einen Gang durchs Freie zur Turnhalle. Ihre Klassenlehrerin saß an ihrem Pult und hakte die hereinkommenden Schüler ab. Sie machte sich nie die Mühe, die Namen einzeln aufzurufen. Nur einer der vielen kleinen Versuche, mit denen sie sich bei ihnen beliebt machen wollte, und die Klasse verachtete sie dafür.
Krystal kam rein, als es zur Versammlung klingelte. Von der Tür her schrie sie: »Ich bin da, Miss!«, und machte auf dem Absatz kehrt. Alle folgten ihr, immer noch schwatzend. Andrew und Fats trafen sich oben an der Treppe wieder und wurden mit dem allgemeinen Strom aus den hinteren Türen und über den asphaltierten Hof geschwemmt.
Die Turnhalle roch nach Schweiß und Turnschuhen. Das Getöse von zwölfhundert unermüdlich plappernden Jugendlichen hallte von den nackten weißen Wänden wider. Ein harter und total verfleckter Belag in Industriegrau bedeckte den Boden, auf dem in unterschiedlichen Farben Felder für Badminton und Tennis, Hockey und Fußball markiert waren. Der Belag schürfte einem die Beine eklig auf, wenn man fiel, war aber angenehmer zum Sitzen als blankes Holz, wenn man eine ganze Schulversammlung darauf durchhalten musste. Andrew und Fats hatten die Ehre erlangt, auf Plastikstühlen zu sitzen, die für die Mittelstufe aufgestellt waren.
Vorn in der Halle stand ein altes hölzernes Rednerpult, und daneben saß Mrs Shawcross, die Schulleiterin. Fats' Vater Colin Wall, genannt »Pingel«, setzte sich neben sie. Er war sehr groß, hatte eine hohe Stirn, eine Halbglatze und einen leicht nachzuahmenden Gang, hielt er doch die Arme steif an die Seiten gedrückt und wippte mehr auf und ab, als zur Fortbewegung nötig war. Alle nannten ihn Pingel wegen seiner berüchtigten Manie, die Sortierfächer an der Wand vor seinem Büro in Ordnung zu halten. In einige von ihnen kamen die Anwesenheitslisten, nach dem sie abgehakt waren, andere waren bestimmten Fachbereichen zugeordnet. »Achte darauf, das ins richtige Sortierfach zu legen, Alisa!« »Lass das nicht so raushängen, sonst fällt es aus dem Sortierfach, Kevin!« »Tritt nicht darauf, Mädchen! Heb das auf und gib es her, das gehört in ein Sortierfach!«
Die anderen Lehrer nannten sie Ablagefächer. Man nahm allgemein an, dass sie das taten, um sich von Pingel abzusetzen.
»Aufrücken, aufrücken«, sagte Mr Meacher, der Werkkundelehrer zu Andrew und Fats, die zwischen sich und Kevin Cooper einen Stuhl frei gelassen hatten.
Pingel nahm seinen Platz hinter dem Rednerpult ein. Die Schüler gaben nicht so schnell Ruhe, wie sie es für die Schulleiterin getan hätten. Genau in dem Augenblick, in dem auch die letzte Stimme verstummt war, öffnete sich die Doppeltür in der rechten Wand, und Gaia kam herein.
Sie blickte sich in der Halle um (Andrew gestattete sich, sie zu beobachten, da die halbe Halle hinschaute. Sie kam zu spät, war ein unbekanntes Gesicht und wunderschön, außerdem redete ja nur Pingel) und ging rasch, aber nicht unangemessen schnell (denn sie besaß Fats' Gabe der unerschütterlichen Ruhe) hinten um die Schüler herum. Andrew konnte den Kopf nicht so weit drehen, um sie im Auge zu behalten, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, dass er beim Aufrücken mit Fats einen Platz neben sich frei gelassen hatte.
Er hörte leichte, schnelle Schritte näher kommen, und dann war sie da, hatte sich direkt neben ihn gesetzt. Sie stieß an seinen Stuhl, bewegte ihn mit ihrem Körper. Ein zarter Hauch von Parfüm stieg ihm in die Nase. Seine ganze linke Körperseite brannte in dem Bewusstsein ihrer unmittelbaren Nähe, und er war heilfroh, dass auf der Wange, die er ihr zuwandte, nicht so viele Pickel waren wie auf der anderen. Er war ihr noch nie so nahe gewesen und überlegte, ob er es wagen sollte, sie anzuschauen, sich bemerkbar zu machen, kam aber sofort zu dem Entschluss, dass er zu lange gezögert hatte und es zu spät war, um locker zu wirken.
Er kratzte sich an der linken Schläfe, deckte auf diese Weise sein Gesicht ab und verdrehte die Augen, um auf ihre locker im Schoß verschränkten Hände zu schauen. Die Nägel waren kurz, sauber und unlackiert. Am kleinen Finger steckte ein schlichter Silberring.
Fats drückte Andrew diskret den Ellbogen in die Seite.
»Zum Schluss«, sagte Pingel, und Andrew ging auf, dass er Pingel die Wörter schon zwei Mal hatte sagen hören. In der Turnhalle herrschte inzwischen völlige Stille, alles Gezappel hatte aufgehört und die Luft war aufgeladen mit Neugier, Spannung und Unbehagen.
»Zum Schluss«, wiederholte Pingel, und seine Stimme geriet zitternd außer Kontrolle, »habe ich eine sehr ..., eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Mr Barry Fairbrother, der während der letzten zwei Jahre unsere äußerst erfalg ..., erfolg ..., erfolgreichen Ruderinnen trainiert hat, ist ...«
Er schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»... gestern Abend ...«
Pingel Wall weinte vor allen, und sein kahler Kopf sackte auf die Brust.
Durch die Zuschauer lief gleichzeitig ein Aufstöhnen und Kichern, und viele Gesichter wandten sich Fats zu, der sich völlig gleichgültig gab, etwas irritiert vielleicht, ansonsten aber ungerührt.
»... gestorben ...«, schluchzte Pingel, und die Schulleiterin stand sichtlich verärgert auf.
»... gestern Abend ... gestorben.«
Irgendwo in der Mitte der hinteren Stuhlreihen kreischte jemand auf.
»Wer hat da gelacht?«, brüllte Pingel, und die Luft knisterte vor entzückter Anspannung. »WIE KANNST DU ES WAGEN! Welches Mädchen hat da gelacht, wer war das?«
Mr Meacher war bereits aufgesprungen und deutete wütend auf jemanden in der Reihe hinter Andrew und Fats. Andrews Stuhl wurde wieder angestoßen, weil Gaia sich umgedreht hatte, genau wie alle anderen auch. Andrews gesamter Körper schien extrem empfindsam geworden zu sein, denn er spürte, wie Gaia sich zu ihm hinüberlehnte. Wenn er sich plötzlich in die andere Richtung drehte, würde er ihr in die Augen schauen.
»Wer hat da gelacht?«, wiederholte Pingel und stellte sich auf die Zehenspitzen, als könnte er die Schuldige absurderweise vom Rednerpult aus erkennen. Mr Meacher machte Mundbewegungen und deutete hektisch auf die Person, die er als Schuldige erkannt hatte.
»Wer ist es, Mr Meacher?«, rief Pingel.
Mr Meacher hatte Schwierigkeiten, die Schuldige zu bewegen, ihren Platz zu verlassen, aber als Pingel sich anschickte, zu ihnen zu kommen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen, schoss Krystal Weedon hoch, knallrot im Gesicht, und drängte sich schubsend durch die Reihe.
»Sie kommen nach der Schulversammlung sofort in mein Büro!«, schrie Pingel. »Absolut skandalös! Vollkommen respektlos! Gehen Sie mir aus den Augen!«
Aber Krystal blieb am Ende der Reihe stehen, zeigte Pingel den Stinkefinger und schrie: »HAB DOCH NIX GEMACHT, DU PIMMEL!«
Gewaltiges Stimmengewirr und Gelächter brausten auf. Die Lehrer bemühten sich vergebens, den Lärm in den Griff zu bekommen, und ein oder zwei verließen ihre Plätze, um ihre eigenen Schüler mit Drohungen einzuschüchtern.
Die Doppeltüren schwangen hinter Krystal und Mr Meacher zu.
»Ruhe jetzt!«, brüllte die Schulleiterin, und eine nervöse Unruhe voller Zappelei und Geflüster breitete sich in der Halle aus. Fats blickte starr geradeaus, und diesmal wirkte sein Gleichmut gezwungen, seine Haut hatte eine dunklere Färbung angenommen.
Andrew spürte, wie Gaia auf ihren Stuhl zurücksank. Er nahm allen Mut zusammen, schaute nach links und grinste. Sie lächelte prompt zurück.
VII
Obwohl Pagfords Feinkostgeschäft seine Türen erst um neun Uhr dreißig öffnete, war Howard Mollison früher da. Er war ein außerordentlich fettleibiger Mann von vierundsechzig. Da sein gewaltiger Hängebauch bis auf die Oberschenkel reichte, mussten die meisten Leute sofort an seinen Penis denken, wenn sie ihn das erste Mal sahen. Sie überlegten, wann er ihn wohl zuletzt gesehen hatte, wie er ihn wusch und wie es ihm gelang, all das damit auszuführen, wozu ein Penis gedacht war. Howards Statur setzte diese Gedanken unwillkürlich in Gang. Doch er konnte mit seinen Kunden jovial und humorvoll plaudern, so dass er neben all dem Unbehagen auch Vertrauen verbreitete. Beim ersten Besuch des Ladens kauften die Kunden immer viel mehr, als sie beabsichtigt hatten. Während er arbeitete, schwatzte er ununterbrochen, schob mit seinen Wurstfingern den Schinkenschneider vor und zurück, ließ seidenfeine Schinkenscheiben auf das darunter gehaltene Zellophan gleiten, stets ein Zwinkern in seinen runden blauen Augen und ein Lachen, das sein Vielfachkinn erzittern ließ.
Howard hatte eine Art Uniform erfunden, die er bei der Arbeit trug: weißes Hemd, Kordhose, dunkelgrüne Segeltuchschürze und eine Sherlock-Holmes-Mütze, an der eine Reihe Angelköder fürs Fliegenfischen befestigt war. Mochte diese Mütze zuerst auch ein Witz gewesen sein, setzte er sie inzwischen jeden Morgen mit heiligem Ernst in der Personaltoilette auf seine dichten grauen Locken.
Das Geschäft morgens zu öffnen war Howards ganze Freude. Er ging gerne im Laden umher, wenn nur das leise Summen der Kühlaggregate zu hören war, und genoss es, alles zum Leben zu erwecken - das Licht einzuschalten, die Abdeckungen zu entfernen, um die Schätze im Kühlregal sichtbar zu machen: die bleichen graugrünen Artischocken, die onyxschwarzen Oliven, die getrockneten Tomaten glichen in ihrem Gewürzöl rubinroten Seepferdchen.
An diesem Morgen mischte sich jedoch Ungeduld in seine Freude. Seine Geschäftspartnerin Maureen war spät dran, und genauso wie Miles vor ein paar Stunden befürchtete nun Howard, dass ihm jemand mit der sensationellen Nachricht zuvorkommen könnte.
Er blieb neben dem Durchbruch in der Wand zu dem früheren Schuhgeschäft stehen, in dem bald Pagfords neuestes Café eröffnet werden würde, und überprüfte die schwere Plastikplane, die den Staub von den Waren fernhalten sollte. Sie hatten vor, das Café Ostern zu eröffnen, um mehr Touristen ins West Country zu locken, für die Howard das Schaufenster jährlich mit Cider, Käse und Strohpüppchen aus der Region füllte.
Hinter ihm läutete die Glocke, und er drehte sich um. Sein zusammengeflicktes und durch einen Bypass verstärktes Herz raste vor Aufregung.
Maureen war eine schlanke, leicht nach vorn gebeugte Frau von zweiundsechzig Jahren, die Witwe von Howards ehemaligem Partner. Ihre krumme Haltung ließ sie älter erscheinen, obwohl sie nach Kräften bemüht war, sich an ihre Jugendlichkeit zu klammern. Sie färbte sich die Haare pechschwarz, kleidete sich in grelle Farben und schwankte auf unverantwortlich hohen Stilettos umher, die sie im Laden gegen Gesundheitssandalen tauschte.
»Morgen, Mo«, sagte Howard. Er hatte sich fest vorgenommen, nichts zu überstürzen, aber bald würden die Kunden kommen, und er hatte eine Menge zu sagen. »Hast du schon gehört?«
Sie sah ihn fragend an.
»Barry Fairbrother ist tot.«
Ihr blieb der Mund offen stehen.
»Nein! Wie das denn?«
Howard tippte sich an die Schläfe. »Irgendwas ist kaputt gegangen. Da drin. Miles war dabei, hat alles mit angesehen. Auf dem Parkplatz vom Golfclub.«
»Nein!«, wiederholte sie.
»Mausetot«, sagte Howard, als gäbe es Abstufungen von Totsein und als sei die Art, wie Barry Fairbrother abgetreten war, besonders schäbig.
Maureens grell geschminkte Lippen hingen herab, während sie sich bekreuzigte. Ihr Katholizismus verlieh solchen Augenblicken immer etwas Pittoreskes.
»Miles war dabei?«, krächzte sie. Howard hörte ihrer tiefen Exraucherstimme das gierige Verlangen an, jede kleinste Einzelheit zu erfahren.
»Willst du nicht erst mal den Kessel aufsetzen, Mo?«
Wenigstens konnte er ihre Qual noch um ein paar Minuten verlängern. In ihrer Hast, zu ihm zurückzukehren, schwappte ihr brühheißer Tee über die Hand. Sie setzten sich hinter dem Ladentisch auf die hölzernen Barhocker, die Howard dort für ruhige Zeiten hingestellt hatte, und Maureen kühlte ihre verbrühte Hand mit Eis, das sie sich aus dem Kühlschrank geholt hatte. Gemeinsam hechelten sie die konventionellen Aspekte der Tragödie durch: die Witwe (»Sie wird nicht mehr weiterwissen, hat doch nur für Barry gelebt«), die Kinder (»Vier Teenager, was für eine Bürde ohne Vater«), das relativ junge Alter des Toten (»Er war nicht viel älter als Miles, nicht wahr?«), und dann kamen sie endlich zu der wahren Bedeutung dieses Ablebens, neben der alles andere unwichtiges Herumgerede war.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Maureen begierig.
»Hm, ja nun. Das ist die Frage, nicht wahr? Wir haben da eine plötzliche Vakanz, und das könnte alles auf den Kopf stellen.«
»Eine was?«, fragte Maureen voller Sorge, ihr könnte etwas Wichtiges entgangen sein.
»Eine plötzliche Vakanz«, wiederholte Howard. »So nennt man das, wenn durch einen Todesfall ein Sitz im Gemeinderat frei wird. Der korrekte Ausdruck«, fügte er belehrend hinzu.
Howard war Vorsitzender des Gemeinderats und »First Citizen« von Pagford. Zu diesem Amt gehörte eine vergoldete und emaillierte Amtskette, die in dem kleinen Tresor ruhte, den Shirley und er in ihrem Einbaukleiderschrank hatten installieren lassen. Wenn Pagford doch nur das Stadtrecht bekommen würde, dann dürfte er sich endlich Bürgermeister nennen, was er faktisch ohnehin war. Shirley hatte das auf der Website des Gemeinderats deutlich hervorgehoben. Und unter einem Foto vom strahlenden Howard mit seiner Amtskette war zu lesen, er nehme Einladungen zu öffentlichen Veranstaltungen und Geschäftsempfängen in der Region gerne entgegen. Erst vor ein paar Wochen hatte er in der Grundschule die Urkunden für die Radfahrprüfung ausgehändigt.
Howard trank einen Schluck Tee und sagte mit einem Lächeln, um seinen Worten die Spitze zu nehmen: »Fairbrother war ein Scheißkerl, Mo, wirklich. Er konnte ein echter Scheißkerl sein.«
»Oh, ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß.«
»Ich hätte es mit ihm ausfechten müssen, wenn er noch am Leben wäre. Frag Shirley. Er konnte ein hinterhältiger Scheißkerl sein.«
»Oh, ich weiß.«
»Na gut, wir werden sehen. Wir werden sehen. Damit dürfte die Sache erledigt sein. Nicht dass ich auf diese Weise gewinnen wollte, beileibe nicht«, fügte er mit einem tiefen Seufzen hinzu. »Aber wenn es um das Wohl von Pagford geht, um die Gemeinde ... ist das nicht verkehrt.«
Howard sah auf die Uhr. »Ist fast halb, Mo.«
Sie öffneten nie zu spät, schlossen nie zu früh. Das Geschäft wurde mit den Ritualen und der Regelmäßigkeit eines Tempels geführt.
Maureen stakste hinüber, um die Tür zu öffnen und die Jalousien hochzuziehen. Ruckweise öffnete sich dabei die Aussicht auf den Marktplatz: malerisch und gut gepflegt, was größtenteils den gemeinsamen Anstrengungen jener Eigentümer zu verdanken war, deren Grundstücke auf den Platz hinausgingen. Überall waren Blumenkästen, Hängeampeln und Pflanzkübel angebracht, jedes Jahr in aufeinander abgestimmten Farben bepflanzt. Das Black Canon (eines der ältesten Pubs in England) lag Mollison & Lowe am Platz gegenüber.
Howard holte rechteckige lange Platten mit frischen Pâtés aus dem Hinterzimmer und reihte sie, dekoriert mit glänzenden Zitronenecken und Beeren, fein säuberlich unter der Glasplatte des Ladentisches auf. Leicht schnaufend von der Anstrengung, ordnete Howard die letzten Pâtés an und blieb eine Weile stehen, den Blick auf das Kriegerdenkmal in der Mitte des Platzes gerichtet.
Pagford war an diesem Morgen schön wie immer, und Howard erlebte einen Moment der Klarheit, sowohl für sein eigenes Leben als auch für das des Ortes, dessen pulsierendes Herz er war, so sah er es zumindest. Er war begierig, das alles in sich aufzunehmen: die glänzenden schwarzen Bänke, die roten und violetten Blumen, die von der Sonne vergoldete Spitze des Steinkreuzes. Und Barry Fairbrother war tot. In dieser plötzlichen Neuordnung dessen, was Howard als Schlachtfeld begriff, das Schlachtfeld, auf dem er und Barry sich so lange feindlich gegenübergestanden hatten, meinte Howard einen Akt der Vorsehung zu erkennen.
»Howard«, sagte Maureen scharf. »Howard.«
Eine Frau kam über den Platz, eine schlanke, schwarzhaarige, braunhäutige Frau in einem Trenchcoat, die mürrisch auf ihre Schuhspitzen schaute.
»Glaubst du, sie ...? Weiß sie es schon?«, flüsterte Maureen.
»Keine Ahnung«, sagte Howard.
Maureen, die noch keine Zeit gefunden hatte, ihre Gesundheitssandalen anzuziehen, knickte bei dem Versuch, schnell vom Schaufenster zurückzuweichen, fast mit dem Fuß um und verschwand eilig hinter dem Ladentisch. Howard nahm bedächtig, ja fast majestätisch den Platz hinter der Kasse ein, wie ein Kanonier, der in Stellung geht.
Die Glocke klingelte, und Dr. Parminder Jawanda drückte, immer noch missmutig, die Tür zum Feinkostladen auf. Sie nahm weder von Howard noch von Maureen Notiz, sondern ging direkt zum Regal mit den Ölen. Maureens Blick folgte ihr mit der unverwandten Aufmerksamkeit eines Habichts, der eine Feldmaus im Visier hat.
»Guten Morgen«, sagte Howard, als Parminder mit einer Flasche in der Hand an den Ladentisch trat.
»Morgen.«
Dr. Jawanda sah ihm selten in die Augen, weder bei den Gemeinderatssitzungen noch bei Begegnungen außerhalb des Gemeindesaals. Howard amüsierte sich immer über ihre Unfähigkeit, ihre Abneigung zu verbergen. Das brachte ihn dazu, ausgesprochen galant und höflich aufzutreten.
»Heute keine Sprechstunde?«
»Nein.« Parminder kramte in ihrer Handtasche.
Maureen konnte sich nicht mehr bremsen.
»Schrecklich«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Das mit Barry Fairbrother.«
»Hm.« Parminder kramte weiter in ihrer Handtasche. »Wie bitte?«
»Das mit Barry Fairbrother«, wiederholte Maureen.
»Was ist denn mit ihm?«
Parminders Birminghamer Dialekt klang selbst nach sechzehn Jahren Pagford noch stark durch. Wegen der senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen sah sie immer angestrengt aus, manchmal war sie schlecht gelaunt, manchmal nur konzentriert.
»Er ist gestorben«, sagte Maureen und beobachtete sie aufmerksam. »Gestern Abend. Howard hat es mir gerade erzählt.«
Parminder blieb ganz still, die Hand in ihrer Tasche. Dann glitt ihr Blick seitwärts zu Howard.
»Ist auf dem Parkplatz des Golfclubs zusammengebrochen und gestorben«, sagte Howard. »Miles war da, hat alles mit angesehen. «
Einige Sekunden vergingen.
»Soll das ein Witz sein?«, wollte Parminder wissen, ihre Stimme hart und schrill.
»Natürlich ist das kein Witz«, sagte Maureen und kostete ihre eigene Empörung voll aus. »Wer würde denn über so etwas Witze machen?«
Mit einem Knall stellte Parminder das Öl auf die Glasplatte des Ladentisches und marschierte aus dem Geschäft.
»Also wirklich!«, rief Maureen mit entzückter Missbilligung. »›Soll das ein Witz sein?‹ Reizend!«
»Das war der Schock«, sagte Howard weise und sah Parminder nach, die mit flatterndem Trenchcoat über den Platz lief. »Die da wird sich genauso grämen wie die Witwe. Allerdings könnte es interessant werden«, fügte er hinzu und kratzte sich selbstvergessen am Bauch, wo es ihn oft juckte, »zu sehen, was sie ...«
Er ließ den Satz unvollendet, aber das spielte keine Rolle, Maureen wusste genau, was er meinte. Während sie die Gemeinderätin Jawanda um die Ecke verschwinden sahen, dachten beide an die plötzliche Vakanz, und zwar nicht als einen freien Platz, sondern als eine Wundertüte voller Möglichkeiten.
VIII
Das alte Pfarrhaus war das letzte und stattlichste der viktorianischen Häuser in der Church Row. Es stand ganz am Ende, in einem großen Eckgarten, gegenüber von St. Michael and All Saints.
Parminder war die letzten paar Meter gerannt. Schließlich machte sie sich an dem schwergängigen Schloss zu schaffen und stieß die Tür auf. Sie wollte es nicht glauben, bevor sie es auch von jemand anderem gehört hatte, von irgendjemandem, doch in der Küche läutete bereits unheilkündend das Telefon.
»Ja?«
»Ich bin's, Vikram.«
Parminders Mann war Herzchirurg. Er arbeitete im Kreiskrankenhaus South West in Yarvil und rief seine Frau für gewöhnlich nie von der Arbeit aus an. Parminder umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Finger schmerzten.
»Ich habe es nur durch Zufall erfahren. Klingt nach einem Aneurysma. Ich habe Huw Jeffries gebeten, die Obduktion ganz oben auf die Liste zu setzen. Besser für Mary, wenn sie möglichst bald weiß, was es war. Sie dürften ihn sich schon vorgenommen haben.« »Okay«, flüsterte Parminder.
»Tessa Wall war dabei«, sagte er. »Ruf Tessa an.«
»Ja«, sagte Parminder. »Mach ich.«
Aber als sie aufgelegt hatte, sank sie auf einen der Küchenstühle und starrte aus dem Fenster in den Garten, ohne etwas wahrzunehmen, die Finger an den Mund gedrückt.
Alles war zerstört. Die Tatsache, dass alles noch da war - die Wände, die Stühle und die aufgehängten Kinderzeichnungen - bedeutete nichts. Jedes einzelne Atom war auseinandergesprengt worden und hatte sich im selben Moment wieder zusammengefügt. Der Eindruck von Beständigkeit und Stabilität war lächerlich. Bei der kleinsten Berührung würde sich alles auflösen, da es plötzlich fragil und mürbe geworden war.
Sie hatte keine Kontrolle über ihre Gedanken. Auch die waren wie zerstört, und zufällige, bruchstückhafte Erinnerungen tauchten auf und wirbelten wieder davon: der Tanz mit Barry auf der Neujahrsfeier bei den Walls und das alberne Gespräch, das sie auf dem Rückweg von der letzten Gemeinderatssitzung geführt hatten.
»Du hast ein kuhgesichtiges Haus.«
»Kuhgesichtig? Was heißt das denn?«
»Es ist vorne schmaler als hinten. Das bringt Glück. Aber es steht an einer Straßenmündung. Das bringt Unglück.«
»Also gleicht sich das aus«, hatte Barry gesagt.
Das Blutgefäß in seinem Kopf musste zu dem Zeitpunkt schon gefährlich angeschwollen gewesen sein, und sie hatten es beide nicht gewusst.
Wie betäubt ging Parminder von der Küche in das düstere Wohnzimmer, in dem es wegen der hoch aufragenden Föhre im Vorgarten nie richtig hell wurde, egal bei welchem Wetter. Parminder konnte den Baum nicht leiden, doch er blieb stehen, da Vikram und sie wussten, welches Theater die Nachbarn machen würden, wenn sie ihn fällten.
Sie kam nicht zur Ruhe. Ging durch den Flur, dann zurück in die Küche, wo sie zum Telefon griff und Tessa Wall anrief, die nicht abnahm. War vermutlich bei der Arbeit. Zitternd kehrte Parminder zum Küchenstuhl zurück.
Ihr Kummer war derart groß und ungezügelt, dass er sie ängstigte wie eine wilde Bestie, die unerwartet aus der Erde hervor gebrochen war. Barry, der kleine, bärtige Barry, ihr Freund, ihr Verbündeter.
Ihr Vater war genauso gestorben. Sie war fünfzehn gewesen, war aus der Stadt zurückgekommen und hatte ihn auf dem Rasen liegend gefunden, den Rasenmäher neben sich und die Sonne heiß auf seinem Hinterkopf. Parminder verabscheute plötzliche Todesfälle. Langes Siechtum, vor dem sich so viele Menschen fürchteten, war für sie eine tröstliche Aussicht. Zeit, alles vorzubereiten und zu organisieren, Zeit, um sich zu verabschieden ...
Noch immer drückte sie die Hände fest auf den Mund. Sie starrte auf das ernste, liebe Gesicht von Guru Nanak, das ans Korkbrett geheftet war.
(Vikram mochte das Foto nicht.
»Was soll das hier?«
»Mir gefällt es«, hatte sie trotzig geantwortet.)
Barry war tot.
Sie unterdrückte das starke Verlangen, in Tränen auszubrechen, mit einer Heftigkeit, die ihre Mutter immer missbilligt hatte, vor allem nach dem Tod des Vaters, als sich ihre anderen Töchter und die Tanten und Kusinen alle laut klagend auf die Brust geschlagen hatten. »Und das auch noch, wo du doch seine Lieblingstochter warst!« Aber Parminder hatte ihre ungeweinten Tränen tief in sich verschlossen, wo sie anscheinend eine chemische Umwandlung durchmachten, um dann später als Lavaströme der Wut in die Außenwelt zurückzukehren, die sich regelmäßig über ihre Kinder und die Arzthelferinnen ergossen.
Noch immer sah sie Howard und Maureen hinter dem Ladentisch stehen, der eine gewaltig, die andere dürr, und in ihrer Vorstellung blickten sie von weit oben auf sie herab, während sie ihr erzählten, dass ihr Freund tot war.
Mit einem Schwall von Wut und Hass, den sie beinahe freudig begrüßte, dachte Parminder: Sie sind froh. Sie glauben, sie gewinnen jetzt.
Wieder sprang sie auf, ging hinüber ins Wohnzimmer und nahm vom obersten Regal eine Ausgabe von Sainchis herunter, ihr brandneues heiliges Buch. Sie schlug es irgendwo auf und las ohne Überraschung, aber mit dem Gefühl, in ihr eigenes erschüttertes Gesicht im Spiegel zu schauen:
O Seele, die Welt ist ein tiefer, dunkler Schlund. Von allen Seiten wirft der Tod sein Netz aus.
IX
Die Beratungsstelle der Gesamtschule Winterdown war in einem Raum untergebracht, den man durch die Schulbibliothek erreichte. Er hatte kein Fenster, und nur eine einzelne Neonröhre hing an der Decke.
Tessa Wall, Leiterin der Beratungsstelle und Frau des stellvertretenden Schulleiters, betrat den Raum um halb elf, völlig übernächtigt und mit einem Becher starkem Pulverkaffee in der Hand, den sie aus dem Lehrerzimmer mitgebracht hatte. Sie war eine kleine, stämmige Frau mit einem unscheinbaren Gesicht, die ihr ergrauendes Haar selber schnitt, dabei geriet der stumpfe Pony oft ein wenig schief. Ihre Kleidung wirkte selbstgenäht, und sie mochte Schmuck aus bunten Perlen und Holz. Der Rock des Tages schien aus Jute zu sein, und dazu trug sie eine unförmige Wolljacke in Erbsgrün. Tessa betrachtete sich nur selten in bodentiefen Spiegeln und boykottierte Läden, in denen das unvermeidlich war.
Da der Beratungsraum einer Gefängniszelle glich, hatte sie versucht, ihn freundlicher zu gestalten, und einen Wandteppich aus Nepal mitgebracht, den sie noch aus ihrer Studentenzeit besaß: ein regenbogenfarbenes Tuch mit einer knallgelben Sonne und einem Mond, von dem stilisierte, wellenförmige Strahlen ausgingen. Die anderen Wände hatte sie mit Plakaten beklebt, die entweder hilfreiche Tipps zum Aufbau des Selbstwertgefühls gaben oder Telefonnummern von anonymen Hotlines nannten, die bei körperlichen und seelischen Problemen weiterhalfen.
Die Schulleiterin hatte beim letzten Mal, als sie im Beratungsraum vorbeischaute, eine etwas sarkastische Bemerkung dazu gemacht. »Und wenn uns nichts mehr einfällt, rufen die Gören beim Sorgentelefon für Kinder an, wie?«, hatte sie gesagt und auf das Plakat gezeigt, das am meisten ins Auge sprang.
Leise stöhnend sank Tessa auf den Stuhl, nahm die Armbanduhr ab, weil sie drückte, und legte sie neben einem Stapel Kopien ab. Sie bezweifelte, dass sie heute mit den vorgegebenen Richtlinien für Beratungsgespräche Erfolg haben würde, sie hatte sogar Zweifel, dass Krystal Weedon überhaupt auftauchen würde. Krystal verschwand regelmäßig aus der Schule, wenn sie sich aufregte oder langweilte. Manchmal wurde sie abgefangen, bevor sie das Tor erreichte, und am Schlafittchen wieder hineingeschleift, fluchend und kreischend. Gelegentlich entwischte sie jedoch und schwänzte tagelang.
Es wurde zwanzig vor elf, die Schulglocke läutete, und Tessa wartete.
Um zehn Uhr einundfünfzig stürmte Krystal herein und knallte die Tür hinter sich zu. Sie sackte vor Tessa auf dem Stuhl zusammen, verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und ließ ihre billigen Ohrringe hin und her schwingen.
»Sie können Ihrem Mann sagen«, brachte sie mit zitternder Stimme hervor, »dass ich nicht gelacht hab, verdammte Scheiße!«
»Bitte nicht fluchen, Krystal«, bat Tessa.
»Ich hab nicht gelacht, klar?«, brüllte Krystal.
Einige Schüler waren mit Mappen unter dem Arm in die Bibliothek gekommen. Sie spähten durch die Glasscheibe in der Tür, und einer grinste, als er Krystals Hinterkopf erblickte. Tessa stand auf, ließ das Rollo vor der Scheibe herab und kehrte zu ihrem Platz unter der Sonne und dem Mond zurück.
»Also gut, Krystal. Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?«
»Ihr Mann hat was wegen Mr Fairbrother gesagt, okay, und ich konnte nicht hören, was er gesagt hat, okay, also hat Nikki mir's gesagt, und ich konnt's verdammt -«
»Krystal!«
»Konnt's nicht glauben, okay, und hab losgebrüllt, aber ich hab nicht gelacht! Ich hab verdammt -«
»Krystal.«
»Ich hab nicht gelacht, klar?«, schrie Krystal, die Arme jetzt fest um sich gelegt, die Beine verschlungen.
»Ist ja gut, Krystal.«
Tessa war an die Wut der Kinder gewöhnt, die sie am häufigsten in der Beratung sah. Viele von ihnen besaßen keinerlei Arbeitsmoral; sie logen, benahmen sich schlecht und schummelten regelmäßig, und doch war ihre Wut, wenn man sie zu Unrecht für etwas beschuldigte, grenzenlos und unverfälscht. Tessa glaubte, in diesem Ausbruch echten Zorn zu erkennen, im Gegensatz zu dem künstlichen, den Krystal sonst gern an den Tag legte. Außerdem war Tessa der Aufschrei, den sie in der Versammlung gehört hatte, gleich wie ein Ausdruck des Entsetzens und der Bestürzung vorgekommen, nicht der Erheiterung. Tessa hatte ein mulmiges Gefühl dabei gehabt, als Colin es öffentlich als Lachen bezeichnet hatte.
»Ich war bei Pingel -«
»Krystal.«
»Ich hab Ihrem scheiß Mann -«
»Krystal, zum letzten Mal, bitte keine Schimpfwörter in meiner Gegenwart.«
»Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht gelacht hab, ich hab's ihm gesagt! Und trotzdem hat er mir scheiß Nachsitzen aufgebrummt. «
Tränen der Wut schimmerten in den stark geschminkten Augen des Mädchens. Hitze war ihr ins Gesicht gestiegen, sie funkelte Tessa an, bereit aufzuspringen, zu fluchen, Tessa den Stinkefinger zu zeigen. Das in fast zwei Jahren mühselig zwischen ihnen aufgebaute hauchdünne Vertrauen stand kurz vor der Zerreißprobe.
»Ich glaube dir, Krystal. Ich glaube, dass du nicht gelacht hast, aber bitte fluche nicht in meiner Gegenwart.«
Plötzlich rieben dicke kleine Finger in verschmierten Augen. Tessa zog Papiertücher aus ihrer Schublade und reichte sie Krystal rüber, die sie ohne Dank nahm, an die Augen drückte und sich damit die Nase putzte. Krystals Hände waren das Anrührendste an ihr: die Fingernägel kurz und breit, nachlässig lackiert, all ihre Handbewegungen naiv und direkt wie die eines kleinen Kindes.
Tessa wartete, bis sich Krystals schnaubende Atemzüge beruhigt hatten. Dann sagte sie: »Ich weiß, wie traurig du bist, weil Mr Fairbrother gestorben ist.«
»Ja, bin ich«, sagte Krystal mit beträchtlicher Aggression. »Na und?«
Tessa hatte plötzlich das Gefühl, dass Barry diesem Gespräch zuhörte. Sie konnte sein wehmütiges Lächeln sehen, konnte ganz deutlich hören, wie er »Ist sie nicht ein Herzchen?« sagte. Tessa schloss die brennenden Augen und brachte kein Wort hervor. Sie hörte Krystal herumzappeln, zählte im Stillen bis zehn und schlug die Augen wieder auf. Krystal starrte sie an, die Arme immer noch verschränkt, mit rotem Kopf und trotzigem Blick.
»Ich bin auch sehr traurig über Mr Fairbrothers Tod«, sagte Tessa. »Er war nämlich ein Freund von uns. Das ist der Grund, warum Mr Wall ein bisschen ...«
»Ich hab ihm gesagt, ich hab nicht ...«
»Lass mich bitte ausreden, Krystal. Mr Wall war heute sehr bestürzt und hat deswegen vermutlich missverstanden, was du getan hast. Ich werde mit ihm reden.«
»Der ändert seine verkack ...«
»Krystal!«
»Nee, tut er nicht.«
Krystal trommelte mit dem Fuß gegen das Bein von Tessas Schreibtisch. Tessa zog den Ellbogen weg, um die Vibration nicht zu spüren, und sagte: »Ich werde mit Mr Wall reden.«
Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene und wartete geduldig darauf, dass Krystal etwas erwiderte. Krystal behielt ihr aufsässiges Schweigen bei, trat gegen das Tischbein und schluckte immer wieder.
»Was war denn mit Mr Fairbrother?«, fragte sie schließlich.
»Man vermutet, in seinem Kopf ist ein Gefäß geplatzt«, sagte Tessa.
»Wieso?«
»Er wurde mit einer Schwäche geboren, von der er nichts ahnte«, erwiderte Tessa.
Tessa wusste, dass Krystal plötzliche Todesfälle vertrauter waren als ihr. Menschen aus dem Umfeld von Krystals Mutter starben mit solcher Regelmäßigkeit vorzeitig, dass man hätte meinen können, sie wären in einen Geheimkrieg verwickelt, von dem der Rest der Welt nichts ahnte. Krystal hatte Tessa erzählt, dass sie mit sechs Jahren die Leiche eines toten jungen Mannes im Badezimmer ihrer Mutter gefunden hatte. Das war der Grund gewesen, sie einmal mehr in die Fürsorge ihrer Großmutter Cath zu geben. Nana Cath spielte eine große Rolle in vielen Geschichten über Krystals Kindheit: eine seltsame Mischung aus Retterin und Landplage.
»Jetzt ist unsre Mannschaft am Arsch«, sagte Krystal.
»Nein, ist sie nicht«, sagte Tessa. »Und bitte nicht diese Sprache, Krystal.«
»Ist sie wohl.«
Tessa wollte ihr widersprechen, doch der Impuls wurde von ihrer Erschöpfung erdrückt. Krystal hatte ohnehin recht, sagte ein rationaler Teil in Tessa. Der Ruderachter war am Ende. Niemand außer Barry hätte Krystal Weedon dazu gebracht, in einer Gruppe mitzumachen und dabeizubleiben. Sie würde aussteigen, das wusste Tessa. Vermutlich wusste Krystal es auch. Eine Weile saßen sie schweigend da, und Tessa war zu müde, Worte zu finden, mit denen sie die Atmosphäre zwischen ihnen noch hätte ändern können. Sie fröstelte, fühlte sich ungeschützt, wund bis auf die Knochen. Sie war seit über vierundzwanzig Stunden wach.
(Samantha Mollison hatte sie abends um zehn aus dem Krankenhaus angerufen, gerade als Tessa nach einem langen Bad aus der Wanne gestiegen war, um sich die Nachrichten auf BBC anzusehen. Sie hatte sich wieder angezogen, während Colin unartikulierte Laute von sich gab und gegen die Möbel stieß. Sie hatten nach oben gerufen, um ihrem Sohn Bescheid zu geben, dass sie gingen, und waren dann zum Auto gerannt. Colin war viel zu schnell nach Yarvil gefahren, als könne er Barry wieder zum Leben erwecken, wenn er die Fahrt in Rekordzeit schaffte; der Realität ein Schnippchen schlagen und sie nach eigenen Wünschen formen.)
»Wenn Sie nicht mit mir reden, geh ich«, sagte Krystal.
»Sei nicht so grob, Krystal, bitte«, sagte Tessa. »Ich bin heute wirklich müde. Mr Wall und ich waren gestern Nacht im Krankenhaus bei Mr Fairbrothers Frau. Die beiden sind gute Freunde von uns.«
(Mary war völlig zusammengebrochen, als Tessa eingetroffen war. Sie hatte ihr Gesicht mit einem Aufschluchzen an Tessas Hals verborgen. Und während Tessas eigene Tränen auf Marys schmalen Rücken tropften, hatte sie gedacht, dass das Geräusch, das Mary von sich gab, Totenklage genannt wurde. Der Körper, um den Tessa sie so oft beneidet hatte, schlank und klein, hatte in ihren Armen gebebt, kaum fähig, die Trauer zu ertragen, die ihm zugemutet wurde.
Tessa wusste nicht mehr, wann Miles und Samantha gegangen waren. Sie kannte die beiden nicht besonders gut. Vermutlich waren sie sogar froh gewesen, gehen zu können.)
»Die Frau von ihm hab ich mal gesehn«, sagte Krystal. »Blond, war bei unsern Wettkämpfen.«
»Ja«, sagte Tessa.
Krystal kaute auf ihren Fingerspitzen.
»Er wollte, dass ich mit der Zeitung rede«, sagte sie plötzlich.
»Wie bitte?«, fragte Tessa verwirrt.
»Mr Fairbrother. Er wollt mich interviewen lassen. Allein.«
Die Lokalzeitung hatte einmal berichtet, dass der Ruderachter der Winterdown beim Endlauf der regionalen Wettkämpfe als Erster durchs Ziel gekommen war. Krystal, die nicht gut lesen konnte, hatte eine Ausgabe der Zeitung mitgebracht, um sie Tessa zu zeigen, und Tessa hatte ihr den Artikel laut vorgelesen und dazu bewundernde Bemerkungen gemacht. Das war das beste Beratungsgespräch von allen gewesen.
»Wollten sie dich wegen des Ruderns interviewen?«, fragte Tessa. »Wegen der Mannschaft?«
»Nö«, sagte Krystal. »Wegen was anderm.« Dann: »Wann ist Beerdigung?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Tessa.
Krystal kaute an den Nägeln, und Tessa brachte nicht die Kraft auf, das Schweigen zu durchbrechen, das sich um sie verfestigte.
X
Die Bekanntgabe von Barrys Tod auf der Website des Gemeinderats löste kaum ein Kräuseln auf der Oberfläche aus, sie blieb ein winziger Kieselstein in einem gewaltigen Ozean. Trotzdem wurde an diesem Montagmorgen mehr telefoniert in Pagford, und kleine Menschentrauben bildeten sich auf den schmalen Bürgersteigen, um sich in entsetztem Ton zu vergewissern, ob das stimmte, was sie gehört hatten.
Während sich die Nachricht verbreitete, fand eine seltsame Veränderung statt. Barrys Unterschrift in den Akten aus seinem Büro und unter den E-Mails im Posteingang seines umfangreichen Bekanntenkreises bekam eine Bedeutung zugeschrieben wie sonst nur die Brotkrümelspur eines verirrten Jungen im Wald. Dieses rasche Gekritzel, diese Pixel, eingegeben von Fingern, die inzwischen auf ewig zum Stillstand gekommen waren, nahmen die makabre Form wertloser Hülsen an. Gavin fühlte sich bereits ein wenig abgestoßen vom Anblick der Kurzmitteilungen seines Freundes auf dem Handy, und eines der Mädchen aus dem Ruderachter, beim Rückweg von der Schulversammlung immer noch in Tränen aufgelöst, wurde fast hysterisch, als sie in ihrer Schultasche ein von Barry unterschriebenes Formular fand.
Die dreiundzwanzigjährige Reporterin von der Yarvil and District Gazette hatte keine Ahnung, dass Barrys einst so reges Gehirn jetzt nur noch eine Handvoll schwammigen Gewebes in einer Nierenschale im Kreiskrankenhaus South West war. Sie las sich durch, was er ihr eine Stunde vor seinem Tod gemailt hatte, und rief dann seine Handynummer an, doch niemand meldete sich. Barrys Handy, das er auf Marys Wunsch hin abgestellt hatte, bevor sie zum Golfclub aufgebrochen waren, lag stumm neben der Mikrowelle in der Küche, zusammen mit seinen anderen persönlichen Dingen, die das Krankenhaus ihr ausgehändigt hatte. Niemand hatte die Sachen angefasst. Diese vertrauten Gegenstände - sein Schlüsselbund, sein Handy, sein abgeschabter alter Geldbeutel - wirkten wie Teile des Toten, sie hätten seine Finger sein können, seine Lungenflügel.
Die Nachricht von Barrys Tod verbreitete sich immer weiter, ging wie ein Strahlenkranz von jenen aus, die im Krankenhaus gewesen waren. Weiter und weiter, bis sie Yarvil und jene erreichte, die Barry nur vom Sehen, vom Hörensagen oder dem Namen nach gekannt hatten. Allmählich verloren die Fakten Form und Fokus, wurden in manchen Fällen verzerrt. Manchmal ging Barry fast hinter der Art seines Sterbens verloren und wurde zu nicht mehr als einer Eruption aus Kotze und Pisse, eine zuckende Katastrophe, und es schien unpassend, geradezu grotesk komisch, dass ein Mann so schlampig vor dem schmucken kleinen Golfclub sterben konnte.
Und so kam es, dass Simon Price, der in seinem Haus oben auf dem Hügel mit Blick über ganz Pagford als einer der Ersten von Barrys Tod erfahren hatte, in der Druckerei Harcourt-Walsh, in der er seit seinem Schulabgang arbeitete, eine ganz eigene Version der Geschichte hörte. Er hörte sie von einem jungen, Kaugummi kauenden Gabelstaplerfahrer, den Simon missmutig an seiner Bürotür vorfand, als er am späten Nachmittag von der Toilette kam.
Der Junge war eigentlich nicht gekommen, um über Barry zu reden.
»Das Ding, das Sie haben wollten«, hatte er genuschelt, als er Simon ins Büro gefolgt war und Simon die Tür geschlossen hatte.
»Ich kann's Ihnen Mittwoch liefern, wenn Sie's immer noch wollen. «
»Ach?«, sagte Simon und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Ich dachte, es sei schon da?«
»Ist es auch, kann's aber erst Mittwoch abholen.«
»Wie viel wolltest du noch mal?«
»Achtzig, auf die Kralle.«
Der Junge kaute heftig, Simon hörte das Schmatzen. Kaugummi kauen gehörte zu Simons liebsten Hassobjekten.
»Ist aber ein Echter, oder?«, wollte Simon wissen. »Nicht irgendein billiger Scheißdreck.«
»Kommt direkt vom Lager«, sagte der Junge, seine Füße und Schultern waren ständig in Bewegung. »Original, noch in der Verpackung. «
»Na gut«, sagte Simon. »Bring ihn am Mittwoch mit.«
»Was, hierher?« Der Junge verdrehte die Augen. »Nee, nicht in die Arbeit, Mann. Wo wohnen Sie?«
»Pagford«, sagte Simon.
»Wo da?«
Simons Abneigung, seine Adresse zu nennen, grenzte an Aberglauben. Er hatte nicht nur etwas gegen Besuch - Eindringlinge in seine Privatsphäre und mögliche Plünderer seines Eigentums -, sondern betrachtete Hilltop House als unversehrt, makellos, es gehörte zu einer völlig anderen Welt als Yarvil und die laute, dröhnende Druckerei.
»Ich hol ihn nach der Arbeit ab«, sagte Simon, ohne auf die Frage einzugehen. »Wo hast du ihn abgestellt?«
Dem Jungen gefiel das nicht. Simon funkelte ihn an.
»Also, ich brauch das Geld vorab«, hielt der Gabelstaplerfahrer ihn hin.
»Du kriegst das Geld, wenn ich die Ware habe.«
»So läuft das nicht, Mann.«
Simon hatte das Gefühl, Kopfschmerzen zu bekommen. Er wurde die schreckliche Vorstellung nicht los, ausgelöst von seiner gedankenlosen Frau, dass im Kopf eines Mannes eine winzige Bombe ticken konnte, seit Ewigkeiten unentdeckt. Das ständige Geratter und Rumpeln der Druckmaschinen war bestimmt nicht gut für ihn, das unablässige Hämmern könnte seine Gefäßwände seit Jahren angegriffen haben.
»Na gut«, murrte er und rutschte auf dem Stuhl zur Seite, um an den Geldbeutel in der Gesäßtasche zu kommen. Mit ausgestreckter Hand trat der Junge an den Schreibtisch.
»Wohnen Sie in der Nähe vom Golfplatz in Pagford?«, fragte er, als Simon ihm die Zehner in die Hand zählte. »Ein Kumpel von mir ist da gestern Abend vorbeigekommen und hat gesehen, wie ein Kerl tot umfiel. Hat einfach auf den Parkplatz gekotzt, ist umgekippt und war tot.«
»Ja, hab davon gehört«, sagte Simon und rieb den letzten Zehner zwischen den Fingern, bevor er ihn weiterreichte, um sich zu vergewissern, dass nicht zwei Scheine zusammenklebten.
»War korrupt, ein korrupter Gemeinderat. Der Kerl, der gestorben ist. Hat sich schmieren lassen. Grays hat ihn bezahlt, damit sie ihn als Bauunternehmer behalten.«
»Ach ja?«, sagte Simon scheinbar gelangweilt, war jedoch höchst interessiert. Barry Fairbrother, wer hätte das gedacht?
»Ich meld mich dann wieder.« Der Junge schob die achtzig Pfund in die Gesäßtasche. »Und wir holen ihn am Mittwoch.«
Die Bürotür schloss sich. Über der faszinierenden Enthüllung von Barry Fairbrothers Verderbtheit vergaß Simon seine Kopfschmerzen, die kaum mehr waren als ein Piksen. Barry Fairbrother, so rührig und umgänglich, so beliebt und freundlich - dabei ließ er sich die ganze Zeit von Grays schmieren.
Simon war von der Information nicht so erschüttert, wie es jeder andere gewesen wäre, der Barry gekannt hatte, und in seinen Augen setzte es Barry auch nicht herab. Im Gegenteil, er verspürte zunehmend Respekt für den Toten. Jeder, der auch nur ein bisschen Verstand hatte, arbeitete ständig und insgeheim daran, sich so viel wie möglich unter den Nagel zu reißen, das wusste Simon. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte er die Tabellenkalkulation auf seinem Bildschirm an, nun wieder taub für den Krach der Druckmaschinen hinter seinem staubigen Fenster.
Wenn man eine Familie hatte, blieb einem nichts anderes übrig, als Vollzeit zu arbeiten, aber Simon hatte immer gewusst, dass es andere, bessere Möglichkeiten gab, dass ein Leben in Saus und Braus über seinem Kopf schwebte wie eine prall gefüllte Piñata, die er aufschlagen könnte, wenn er nur einen entsprechend großen Stock hätte und das Wissen, wann er zuschlagen musste. Simon hing dem kindlichen Glauben an, dass der Rest der Welt nur als Bühne für das eigene Drama existierte, dass das Schicksal über ihm wachte, ihm Hinweise und Zeichen bescherte, und er hatte das untrügliche Gefühl, ihm sei ein Zeichen, ein göttlicher Wink zuteilgeworden.
Übernatürliche Fingerzeige waren für eine ganze Reihe abenteuerlicher Entscheidungen in Simons Vergangenheit verantwortlich. Jahre zuvor, als er noch Lehrling in der Druckerei war, eine Hypothek abzahlen musste, die er sich kaum leisten konnte, und seine Frau schwanger war, hatte er beim Grand National hundert Pfund auf ein hoch favorisiertes Rennpferd namens Ruthie's Baby gesetzt, das dann beim vorletzten Hindernis gestürzt war. Kurz nach dem Kauf von Hilltop House hatte Simon zwölfhundert Pfund, die Ruth für Vorhänge und Teppiche hatte ausgeben wollen, in ein kurzfristiges Projekt gesteckt, geleitet von einem großspurigen alten Bekannten aus Yarvil. Simons Kapital war mit dem Firmenchef verschwunden, doch obwohl Simon gewütet und geflucht und seinen jüngeren Sohn die halbe Treppe hinuntergestoßen hatte, hatte er sich nicht an die Polizei gewandt. Er hatte von gewissen Unregelmäßigkeiten bei der Firmenführung gewusst, bevor er sein Geld investierte, und er sah unangenehme Fragen auf sich zukommen.
Diesen Verlusten standen jedoch auch Glücksfälle gegenüber, Kniffe, die zogen, Ahnungen, die sich auszahlten, und Simon maß ihnen große Bedeutung bei, wenn er Bilanz zog. Sie waren der Grund, warum er seinen Sternen vertraute, die ihn in dem Glauben bestärkten, das Universum müsse noch mehr für ihn auf Lager haben als den Schwachsinn, für ein bescheidenes Gehalt zu arbeiten, bis er in Rente ging oder starb. Gaunereien und Abkürzungen, Vorteilsnahme und Begünstigung, alle machten es und sogar, wie es schien, der kleine Barry Fairbrother.
Hier, in seinem winzigen Büro, schaute Simon Price begehrlich auf einen leeren Platz in den Reihen der Eingeweihten und erkannte eine Goldgrube, die niemand bisher erschlossen hatte.
Übersetzung: Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Der Abdruck der Liedtexte erfolgt mit freundlicher Genehmigung: »Umbrella«: Written by Terius Nash, Christopher »Tricky« Stewart, Shawn Carter and Thaddis Harrell © 2007 by 2082 Music Publishing (ASCAP)/Songs of Peer, Ltd. (ASCAP)/March Ninth Music Publishing (ASCAP)/Carter Boys Music (ASCAP)/EMI Music Publishing Ltd (PRS)/Sony/ATV Music Publishing (PRS). All rights on behalf of WB Music Corp. and 2082 Music Publishing Administered by Warner/Chappell North America Ltd. All Rights on behalf of March Ninth Music Publishing Controlled and Administered by Songs of Peer, Ltd. (ASCAP). All Rights on behalf of Carter Boys Music Controlled and Administered by EMI Music Publishing Ltd. All rights on behalf of Thaddis Harrell Controlled and Administered by Sony/ATV Music Publishing.
»Green, Green Grass of Home«: © 1965 Sony/ATV Music Publishing LLC. All rights administered by Sony/ATV Music Publishing LLC, 8 Music Square West, Nashville, TN 37203. All rights reserved. Used by permission.
Eine Übersetzung der Liedtexte findet sich im Anhang
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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2012 und Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Originalcopyright © J. K. Rowling 2012 Originalverlag: Little Brown Ltd, London 2012 Originaltitel: The Casual Vacancy Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer nach einem Entwurf von Mario J. Pulice Illustration und gemalte Schrift von Joel Holland Umschlag © 2012 Hachette Book Group, Inc. Autorenfoto: Wall to Wall Media Ltd. Fotograph: Andrew Montgomery Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-551-58888-3 Printed in Germany
Sonntag
Barry Fairbrother wäre lieber zu Hause geblieben. Er hatte schon das ganze Wochenende Kopfschmerzen und wollte auf keinen Fall den Redaktionsschluss der Lokalzeitung verpassen.
Doch seine Frau war während des Mittagessens etwas wortkarg gewesen, woraus Barry schloss, dass er mit seiner Karte zum Hochzeitstag das Vergehen nicht wettmachen konnte, sich den ganzen Morgen im Arbeitszimmer verkrochen zu haben. Und dabei auch noch über Krystal zu schreiben, die Mary nicht leiden konnte, was sie jedoch abstritt.
»Ich möchte dich heute Abend zum Essen ausführen, Mary«, hatte er gelogen, um das Eis zu brechen. »Neunzehn Jahre, Kinder! Neunzehn Jahre, und eure Mutter hat nie besser ausgesehen. «
Mary war besänftigt und hatte gelächelt, woraufhin Barry im Golfclub angerufen hatte, weil der in der Nähe lag und man immer einen Tisch bekam. Er versuchte seiner Frau mit Kleinigkeiten eine Freude zu machen, denn nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren war ihm bewusst, wie oft er sie in großen Dingen enttäuscht hatte. Wenn auch nie mit Absicht. Sie hatten nun mal sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was im Leben den meisten Raum einnehmen sollte.
Ihre vier Kinder waren über das Alter hinaus, in dem sie Babysitter brauchten. Sie saßen vor dem Fernseher, als Barry sich das letzte Mal von ihnen verabschiedete, und nur Declan, der Jüngste, drehte sich zu ihm um und hob kurz die Hand.
Barrys Kopfschmerzen pochten weiter hinter seinem Ohr, als er den Wagen aus der Einfahrt zurücksetzte und durch den hübschen kleinen Ort Pagford fuhr, in dem sie seit ihrer Hochzeit wohnten. Sie fuhren die steil abfallende Church Row entlang, an der die teuersten Häuser in all ihrer viktorianischen Pracht und Herrlichkeit standen, um die Ecke bei der neugotischen Kirche, in der Barry seine Zwillingstöchter einst in einer Aufführung von Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat bewundert hatte, und über den Marktplatz. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die dunkle Ruine der Abtei hoch auf dem Hügel, die das Ortsbild beherrschte und mit dem violetten Himmel verschmolz.
Während er den Wagen durch die vertrauten Straßen lenkte, war Barry in Gedanken nur mit den Fehlern beschäftigt, die ihm sicherlich in der Eile unterlaufen waren. Er hatte den Artikel für die Yarvil and District Gazette schnell fertiggestellt und gemailt. So eloquent und einnehmend er im persönlichen Gespräch auch sein mochte, hatte er doch Schwierigkeiten, private Anliegen zu Papier zu bringen.
Der Golfclub lag nur vier Minuten vom Marktplatz entfernt, gleich hinter den letzten alten Cottages am Ortsende. Barry parkte den Minivan vor dem Clubrestaurant, dem Birdie, und wartete kurz neben dem Wagen, da Mary sich noch die Lippen nachzog. Die kühle Abendluft tat ihm gut. Während er den in der Dämmerung verschwimmenden Golfplatz betrachtete, überlegte Barry, warum er seine Mitgliedschaft aufrechterhielt. Er war ein schlechter Golfspieler, sein Schwung war ungleichmäßig und sein Handicap hoch. So viel anderes nahm seine Zeit in Anspruch. Sein Kopf schmerzte stärker denn je.
Mary knipste die Innenbeleuchtung aus und schloss die Beifahrertür. Barry drückte auf die Autoverriegelung am Schlüssel in seiner Hand. Die hohen Absätze seiner Frau klackten auf dem Asphalt, die Zentralverriegelung piepte, und Barry fragte sich, ob seine Übelkeit nachlassen würde, wenn er etwas gegessen hatte.
Dann schlug ein nie gekannter Schmerz wie eine Abrissbirne in seinen Kopf ein. Er nahm kaum das Brennen an den Knien wahr, als sie auf den Asphalt schlugen. Feuer und Blut überfluteten seinen Schädel, der Schmerz war unerträglich, doch er musste ihn ertragen, weil die Bewusstlosigkeit nicht sofort einsetzte.
Mary schrie - und schrie immer weiter. Aus der Bar kamen Männer gelaufen. Einer rannte wieder hinein, um nachzuschauen, ob einer der pensionierten Ärzte unter den Clubgästen anwesend war. Ein verheiratetes Paar, Bekannte von Barry und Mary, hörte den Tumult vom Restaurant aus, ließ die Vorspeisen stehen und eilte herbei. Der Ehemann rief von seinem Handy den Notruf an.
Der Krankenwagen musste aus der Nachbarstadt Yarvil kommen, und es dauerte fünfundzwanzig Minuten, bis er eintraf. Als endlich das Blaulicht über dem Parkplatz pulsierte, lag Barry reglos in einer Pfütze aus Erbrochenem und reagierte nicht mehr. Mary hockte neben ihm, ihre Strumpfhose an den Knien zerrissen, umklammerte schluchzend seine Hand und flüsterte seinen Namen.
Montag
I
»Mach dich auf was gefasst«, sagte Miles Mollison. Er stand in der Küche eines der stattlichen Häuser an der Church Row.
Mit dem Anruf hatte er bis halb sieben gewartet. Die Nacht war schlimm gewesen, mit langem Wachsein, unterbrochen von kurzen, unruhigen Schlafphasen. Um vier Uhr hatte er bemerkt, dass seine Frau auch nicht schlief, und sie hatten sich eine Weile leise in der Dunkelheit unterhalten. Als sie über das Erlebte sprachen und dabei versuchten, vage Angst- und Schockgefühle zu zerstreuen, hatte Miles bei dem Gedanken, seinem Vater die Nachricht zu überbringen, eine leichte Erregung verspürt, die in kleinen Wellen durch seinen Körper lief. Er hatte bis sieben Uhr warten wollen, aber die Furcht, jemand könnte ihm zuvorkommen, hatte ihn früher ans Telefon getrieben.
»Was ist denn passiert?« Howards dröhnende Stimme klang leicht blechern. Miles hatte ihn auf laut gestellt, damit Samantha mithören konnte. In ihrem hellrosa Morgenmantel wirkte Samanthas Haut mahagonibraun, und sie hatte das frühe Aufwachen genutzt und noch mehr Selbstbräuner aufgetragen. In der Küche vermischte sich der Geruch nach Instantkaffee mit dem des künstlichen Kokosöls.
»Fairbrother ist tot. Gestern Abend vorm Golfclub zusammengebrochen. Sam und ich waren zum Essen im Birdie.«
»Fairbrother ist tot?«, brüllte Howard.
Die Betonung deutete darauf hin, dass er irgendeine Veränderung von Barry Fairbrothers Zustand erwartet hatte, aber mit dessen Tod hatte selbst er nicht gerechnet.
»Ist auf dem Parkplatz zusammengebrochen«, wiederholte Miles.
»Großer Gott«, sagte Howard. »Der war doch erst Anfang vierzig, oder? Großer Gott.«
Howard schnaufte wie ein Pferd. Morgens war er immer kurzatmig. »Und was war es? Das Herz?«
»Irgendwas im Gehirn, vermutet man. Wir sind mit Mary ins Krankenhaus gefahren und ...«
Aber Howard war abgelenkt. Miles und Samantha hörten ihn in den Raum rufen: »Barry Fairbrother! Tot! Miles ist dran!«
Miles und Samantha tranken ihren Kaffee und warteten darauf, dass Howard ihnen wieder seine Aufmerksamkeit schenkte. Samanthas Morgenmantel stand offen und gab den Blick frei auf ihre großen Brüste, hochgeschoben durch die auf dem Küchentisch ruhenden Unterarme. Dadurch wirkten sie voller und glatter als im natürlichen Zustand. Die ledrige Haut ihres Ausschnitts legte sich in kleine Falten, die nicht mehr verschwanden. In ihrer Jugend war sie oft im Sonnenstudio gewesen.
»Was?«, fragte Howard, wieder in der Leitung. »Was hast du über das Krankenhaus gesagt?«
»Sam und ich sind im Krankenwagen mitgefahren.« Miles betonte jedes Wort. »Zusammen mit Mary und der Leiche.«
Samantha bemerkte, dass Miles' zweite Version das hervorhob, was man als den dramatischen Aspekt der Geschichte bezeichnen konnte. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Ihre Belohnung dafür, all das Schreckliche durchgemacht zu haben, war das Recht, anderen davon zu erzählen. Sie glaubte nicht, dass sie es je vergessen würde: die heulende Mary, Barrys immer noch halb offene Augen über der maulkorbartigen Sauerstoffmaske, wie Miles und sie versucht hatten, die Miene des Sanitäters zu deuten, die Enge des rüttelnden Krankenwagens, die dunklen Fenster, die panische Angst.
»Großer Gott«, sagte Howard zum dritten Mal, ohne auf Shirleys leise Fragen aus dem Hintergrund zu achten, alle Aufmerksamkeit auf Miles gerichtet. »Einfach tot umgefallen auf dem Parkplatz?«
»Jep«, sagte Miles. »Mir war gleich klar, dass da nichts mehr zu machen war.«
Das war seine erste Lüge, und er wandte dabei den Blick von seiner Frau ab. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er seinen schützenden Arm um Marys zitternde Schultern legte: Das wird schon wieder ... das wird schon wieder ...
Aber schließlich, dachte Samantha, um Miles Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, woher sollte man wissen, was eigentlich los war, wenn sie jemandem eine Sauerstoffmaske überzogen und ihm Spritzen setzten? Es hatte ausgesehen, als würden sie Barry retten, und niemand hätte sagen können, ob es half, bis die junge Ärztin im Krankenhaus auf Mary zugekommen war. Noch immer hatte Samantha Marys nacktes, versteinertes Gesicht vor Augen und den Ausdruck der bebrillten Frau im weißen Kittel: gefasst, jedoch ein bisschen erschöpft ... So etwas kannte man aus Fernsehserien, aber wenn es dann tatsächlich passierte ...
»Überhaupt nicht«, sagte Miles gerade. »Gavin hat Donnerstag noch mit ihm Squash gespielt.«
»Und da ging es ihm gut?«
»Ja, durchaus. Hat Gavin vernichtend geschlagen.«
»Großer Gott. Da kann man mal sehen, was? Da kann man mal sehen. Bleib dran, Mum will dich noch sprechen.«
Ein Knacken und Klappern, dann kam Shirleys leise Stimme aus dem Hörer. »Was für ein furchtbarer Schlag, Miles«, sagte sie. »Geht es dir gut?«
Samantha nahm einen zu großen Schluck Kaffee, der ihr prompt aus den Mundwinkeln rann und vom Kinn tropfte. Sie wischte Gesicht und Brust mit dem Ärmel ab. Miles hatte die Tonlage eingeschaltet, die er oft einsetzte, wenn er mit seiner Mutter sprach: tiefer als sonst, eine »Lass mich mal machen, mich kann nichts erschüttern«-Stimme, ausdrucksstark und sachlich. Manchmal, vor allem im betrunkenen Zustand, ahmte Samantha Unterhaltungen zwischen Miles und Shirley nach. »Keine Bange, Mummy. Miles hier. Dein kleiner Soldat.« »Liebling, du bist wunderbar: so groß und tapfer und klug.« In letzter Zeit hatte Samantha das hin und wieder in Gegenwart anderer getan, worauf Miles sauer und gereizt reagiert hatte, obwohl er darüber hinweglachte. Letztes Mal hatte es deswegen auf dem Heimweg im Auto Streit gegeben.
»Seid ihr mit Mary den ganzen Weg bis ins Krankenhaus gefahren? «, kam Shirleys Stimme aus dem Lautsprecher.
Nein, dachte Samantha. Unterwegs wurde uns langweilig, und wir haben sie gebeten, uns aussteigen zu lassen.
»Das Mindeste, was wir tun konnten. Ich wünschte, wir hätten mehr machen können.«
Samantha stand auf und ging zum Toaster.
»Mary war bestimmt sehr dankbar«, sagte Shirley. Samantha knallte die Brotdose zu und rammte vier Toastscheiben in die Schlitze. Miles' Stimme nahm einen natürlicheren Ton an.
»Na ja, nachdem die Ärztin es ihr gesagt hatte - bestätigt hatte, dass er tot war -, verlangte Mary nach Colin und Tessa Wall. Sam hat sie angerufen, wir haben gewartet, bis sie kamen, und sind dann gegangen.«
»Mary hat wirklich Glück gehabt, dass ihr da wart«, sagte Shirley. »Dad will dich noch mal sprechen, Miles. Ich geb dich weiter. Bis später dann.«
»Bis später dann«, formte Samantha mit den Lippen, an den Wasserkessel gewandt, und wackelte mit dem Kopf. Ihre verzerrte Spiegelung wirkte verquollen nach der schlaflosen Nacht, ihre kastanienbraunen Augen waren gerötet. In ihrer Hast mitzubekommen, wie Howard die Nachricht aufnahm, hatte sich Samantha versehentlich Bräunungscreme in die unteren Augenlider geschmiert.
»Komm doch heute Abend mit Sam zu uns«, dröhnte Howard. »Nein, warte mal, Mum hat mich gerade daran erinnert, dass wir ja Bridge mit den Bulgens spielen. Dann kommt morgen. Zum Abendessen. Gegen sieben.«
»Mal sehen.« Miles blickte zu Samantha hinüber. »Ich muss Sam erst fragen, was sie vorhat.«
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie hingehen wollte oder nicht. Beide hatten das Gefühl, an einem Tiefpunkt angelangt zu sein, als Miles auflegte.
»Sie können es nicht fassen«, sagte er, als hätte Sam nicht alles mitgehört.
Schweigend aßen sie den Toast und tranken eine frisch aufgegossene Tasse Kaffee. Beim Kauen verschwand etwas von Samanthas Gereiztheit. Ihr fiel ein, wie sie mitten in der Nacht mit einem Ruck im dunklen Schlafzimmer aufgewacht und erleichtert gewesen war, Miles an ihrer Seite zu spüren, groß und korpulent, nach Vetiveröl und altem Schweiß riechend. Dann hatte sie sich vorgestellt, Kunden in ihrem Geschäft zu erzählen, dass ein Mann vor ihren Augen tot zusammengebrochen war, und von der Fahrt zum Krankenhaus zu berichten. Sie hatte sich Möglichkeiten überlegt, die verschiedenen Aspekte der Fahrt zu beschreiben, und dann als krönenden Abschluss die Szene mit der Ärztin. Das jugendliche Alter dieser beherrschten Frau hatte das Ganze noch schlimmer gemacht. Solche Nachrichten zu überbringen sollte man doch Älteren überlassen. Und dann hatte sich ihre Laune noch etwas mehr gehoben, als ihr einfiel, dass sie am nächsten Tag einen Termin mit dem Vertreter von Champêtre hatte. Am Telefon hatte er regelrecht mit ihr geflirtet.
»Ich sollte mich wohl allmählich auf die Socken machen.« Miles trank den Kaffee aus, den Blick auf das Fenster und den heller werdenden Himmel gerichtet. Er seufzte tief und tätschelte die Schulter seiner Frau, als er auf dem Weg zum Geschirrspüler mit dem leeren Teller und der Tasse an ihr vorbeikam.
»Lieber Gott, damit eröffnen sich völlig neue Perspektiven, oder?« Er schüttelte seinen kurz geschorenen, ergrauenden Kopf und verließ die Küche.
Samantha fand Miles manchmal lächerlich und, in zunehmendem Maße, langweilig. Doch hin und wieder genoss sie seine Aufgeblasenheit so, wie sie zu formellen Anlässen gerne einen Hut trug. Schließlich war es an diesem Morgen passend, sich feierlich und ein bisschen würdig zu geben. Sie aß ihren Toast auf, räumte die Frühstückssachen weg und polierte im Geiste die Geschichte auf, die sie ihrer Verkäuferin erzählen würde.
II
»Barry Fairbrother ist tot«, keuchte Ruth Price.
Sie war den Gartenweg regelrecht hinaufgerannt, um noch ein paar Minuten mit ihrem Mann zu verbringen, bevor er zur Arbeit musste. Sie hielt sich nicht damit auf, den Mantel auszuziehen, sondern stürmte, noch in Schal und Handschuhen, in die Küche, in der Simon und ihre beiden halbwüchsigen Söhne beim Frühstück saßen.
Ihr Mann erstarrte, ein Stück Toast auf halbem Weg zum Mund, das er dann mit theatralischer Langsamkeit auf den Teller zurücklegte. Die beiden Jungen in ihren Schuluniformen schauten nur mäßig interessiert von einem Elternteil zum anderen.
»Ein Aneurysma, vermuten die Ärzte«, sagte Ruth, immer noch etwas atemlos, während sie ihre Handschuhe Finger für Finger hochzupfte, den Schal abnahm und den Mantel aufknöpfte. Der dünnen dunkelhaarigen Frau mit den traurigen Augen stand die blaue Schwesterntracht ausgesprochen gut. »Er ist beim Golfclub zusammengebrochen. Sam und Miles Mollison haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Und dann kamen Colin und Tessa Wall ...«
Sie eilte hinaus in den Flur, hängte ihre Sachen auf und war rechtzeitig zurück, um Simons gebrüllte Frage zu beantworten: »Was ist ein Nanurisma?«
»A-neu-rys-ma. Eine geplatzte Ader im Kopf.«
Sie huschte zum Wasserkessel, schaltete ihn ein, wischte rund um den Toaster Krümel von der Arbeitsplatte und redete dabei ununterbrochen weiter.
»Er wird starke intrazerebrale Blutungen gehabt haben. Seine arme, arme Frau ... Die ist völlig am Boden zerstört.«
Nun doch etwas ergriffen, schaute Ruth aus dem Küchenfenster zur Abtei auf der anderen Seite des Tals, die sich wie ein schwarzes Skelett vor dem graurosa Himmel abhob. Dieser Ausblick machte das Besondere von Hilltop House aus. Pagford, bei Nacht nicht mehr als eine Ansammlung blinkender Lichter in einer tief liegenden Senke, war in frostiges Sonnenlicht getaucht.
Ruth bemerkte davon nichts, war in Gedanken immer noch im Krankenhaus, sah Mary aus dem Zimmer kommen, in dem Barry lag. Die lebenserhaltenden Geräte waren abgeschaltet. Allen, von denen Ruth Price glaubte, dass sie ihr seelenverwandt waren, brachte sie bereitwillig das ehrlichste Mitgefühl entgegen. »Nein, nein, nein«, hatte Mary gestöhnt, und dieses instinktive Leugnen hatte in Ruth widergehallt, da es ihr einen Blick auf sich selbst in solchen Situationen gewährt hatte.
Kaum fähig, diesen Gedanken zu ertragen, wandte sie sich Simon zu. Sein hellbraunes Haar war noch dicht, sein Körper fast noch so drahtig wie mit Mitte zwanzig, und die Fältchen in den Augenwinkeln eher anziehend, aber Ruths Rückkehr zur Krankenpflege nach der langen Pause hatte sie erneut mit den unendlichen Möglichkeiten konfrontiert, wie der menschliche Körper versagen konnte. In jüngeren Jahren hatte sie mehr Abstand gehabt, jetzt erkannte sie, wie glücklich sie sich alle schätzen konnten, am Leben zu sein.
»Konnten sie denn gar nichts für ihn tun?«, fragte Simon. »Konnten sie's nicht zustopfen?«
Er klang gereizt, als hätte die Medizin es einmal mehr versäumt, das Einfache und Offensichtliche zu tun.
Andrew war von wilder Freude erfüllt. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sein Vater sich angewöhnt hatte, den medizinischen Ausdrücken seiner Mutter plumpe, ignorante Vorschläge entgegenzustellen. Intrazerebrale Blutungen. Zustopfen. Seine Mutter bekam nicht mit, worauf sein Vater aus war. Wie immer. Andrew aß seine Weetabix, und in ihm brannte der Hass.
»Als sie ihn uns brachten, war es zu spät, noch irgendetwas zu unternehmen.« Ruth ließ einen Teebeutel in die Kanne fallen. »Er starb im Krankenwagen, kurz bevor sie eintrafen.«
»Ach du meine Fresse«, sagte Simon. »Wie alt war er, vierzig?«
Aber Ruth war abgelenkt.
»Dein Haar ist hinten total verfilzt, Paul. Hast du es nicht gebürstet? «
Sie zog eine Bürste aus ihrer Handtasche und drückte sie ihrem jüngeren Sohn in die Hand.
»Gab's denn keine Vorwarnung?«, fragte Simon, während Paul die Bürste durch seinen dichten Haarschopf zerrte.
»Anscheinend hatte er seit ein paar Tagen starke Kopfschmerzen. «
»Ach.« Simon kaute seinen Toast. »Und die hat er nicht beachtet? «
»Nein. Er wird sich nichts dabei gedacht haben.«
Simon schluckte. »Da sieht man's mal wieder, was?«, sagte er gewichtig. »Man muss auf sich aufpassen.«
Wie weise, dachte Andrew mit wütender Verachtung, wie tiefschürfend. Also war Barry Fairbrother selber schuld, dass sein Hirn geplatzt war. Du selbstgefälliger Wichser, sagte Andrew zu seinem Vater, laut, in seinem Kopf.
Simon zeigte mit dem Messer auf seinen Ältesten und sagte: »Ach, und übrigens. Der da wird sich einen Job suchen, unsere Pickelfresse hier.«
Verblüfft drehte sich Ruth zu ihrem Mann und ihrem Sohn um. Auf Andrews rot werdenden Wangen trat die Akne überdeutlich hervor, während er auf die bräunliche Pampe in seiner Schüssel starrte.
»Ja, ja«, fuhr Simon fort. »Der faule kleine Scheißer wird anfangen, Geld zu verdienen. Wenn er rauchen will, kann er das von seinem eigenen Lohn bezahlen. Kein Taschengeld mehr.«
»Andrew!«, jaulte Ruth auf. »Du hast doch nicht etwa ...«
»O doch, hat er. Ich hab ihn im Holzschuppen erwischt«, sagte Simon triefend vor Gehässigkeit.
»Andrew!«
»Kein Geld mehr von uns. Wenn du Kippen willst, kauf sie dir selber.«
»Aber wir waren uns doch einig«, wimmerte Ruth. »Wir waren uns einig, wo er doch die Abschlussprüfung vor sich hat ...«
»So wie er die Probeprüfung versaut hat, können wir von Glück sagen, wenn er überhaupt einen Abschluss schafft. Kann ja schon mal bei McDonald's anfangen, ein bisschen Erfahrung sammeln.« Simon stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und genoss den Anblick von Andrews hängendem Kopf, dem pickligen Rand seines Gesichtes. »Weil, 'ne Wiederholung zahlen wir dir nicht, Bürschchen. Entweder jetzt oder nie.«
»Oh, Simon«, sagte Ruth vorwurfsvoll.
»Was?«
Simon kam mit zwei stampfenden Schritten auf seine Frau zu. Ruth wich an die Spüle zurück. Paul fiel die rosa Haarbürste aus der Hand.
»Ich denk nicht dran, für die Drecksraucherei von dem kleinen Wichser zu zahlen! Was für eine verdammte Frechheit, in meinem Schuppen zu rauchen!«
Bei dem Wort »meinem« schlug sich Simon mit der Faust auf die Brust. Das dumpfe Geräusch ließ Ruth zusammenzucken.
»Ich hab längst Lohn nach Hause gebracht, als ich so alt war wie der picklige kleine Scheißer hier. Wenn er Kippen will, kann er die selbst bezahlen, klar? Klar?«
Seine Nase war nur noch wenige Zentimeter von Ruths Gesicht entfernt.
»Ja, Simon«, sagte sie ganz leise.
Andrews Magen verkrampfte sich. Erst vor zehn Tagen hatte er sich etwas geschworen, war der Moment bereits gekommen? Aber sein Vater trat einen Schritt zurück und marschierte aus der Küche. Ruth, Andrew und Paul blieben ganz still, als hätten sie gelobt, sich in seiner Abwesenheit nicht zu bewegen.
»Hast du vollgetankt?«, brüllte Simon, wie immer, wenn Ruth Nachtschicht gehabt hatte.
»Ja«, rief Ruth munter zurück, um Heiterkeit, Normalität bemüht.
Die Haustür klapperte und knallte.
Ruth machte sich an der Teekanne zu schaffen, wartete darauf, dass sich die aufgeladene Atmosphäre wieder entspannte. Erst als Andrew hinausgehen wollte, um sich die Zähne zu putzen, sagte sie etwas.
»Er macht sich Sorgen um dich, Andrew. Um deine Gesundheit. «
Von wegen, der blöde Arsch.
Im Kopf zahlte Andrew seinem Vater jede Obszönität mit gleicher Münze heim. Im Kopf konnte er Simon in fairem Kampf besiegen.
Zu seiner Mutter sagte er nur laut: »Ja. Okay.«
III
Evertree Crescent war eine halbrunde Bungalowanlage aus den 1930er Jahren und lag zwei Minuten von Pagfords Marktplatz entfernt. In Nummer sechsunddreißig saß Shirley Mollison an ihre Kissen gelehnt und trank den Tee, den ihr Mann ihr gebracht hatte. Alles, was sie in den verspiegelten Türen des Einbauschranks erkennen konnte, hatte etwas Verschwommenes. Das lag zum einen daran, dass sie keine Brille trug, zum anderen an den Vorhängen mit dem Rosenmuster, die den Raum in ein sanftes Licht tauchten. In dieser schmeichelhaften Beleuchtung wirkte ihr rosiges Gesicht mit den Grübchen unter den kurzen silbergrauen Haaren puttenhaft.
Das Schlafzimmer war gerade groß genug für Shirleys Einzel- und Howards Doppelbett, zusammengeschoben, ohne zueinander zu passen. Howards Matratze, die noch deutliche Spuren seines schweren Körpers aufwies, war leer. Shirley lauschte dem sanften Rauschen der Dusche, betrachtete ihr rosiges Spiegelbild und kostete die Nachricht aus, die nach wie vor die Luft belebte wie perlender Champagner.
Barry Fairbrother war tot. Ausgelöscht. Umgehauen. Kein Ereignis von nationaler Bedeutung, kein Krieg, kein Börsenkrach, kein Terroranschlag hätte in Shirley diese Ehrfurcht, dieses leidenschaftliche Interesse und die fieberhaften Spekulationen auslösen können, die sie momentan verzehrten.
Sie hatte Barry Fairbrother gehasst. Shirley und ihr Mann, für gewöhnlich bei all ihren Freundschaften und Feindschaften einer Meinung, waren sich in diesem Fall nie ganz einig geworden. Howard hatte gelegentlich zugegeben, den bärtigen kleinen Mann amüsant zu finden, der sich ihm über die abgestoßenen Tische im Gemeindesaal von Pagford hinweg so unbarmherzig entgegenstellte, doch Shirley machte keinen Unterschied zwischen Politischem und Privatem. Barry hatte gegen das Anliegen opponiert, das Howard mehr als alles andere am Herzen lag, und damit hatte Barry Fairbrother sich Shirley zur erbitterten Feindin gemacht.
Loyalität gegenüber ihrem Mann war der Hauptgrund für Shirleys tiefe Abneigung, wenn auch nicht der einzige. Ihre Menschenkenntnis war nur auf eines ausgerichtet, wie bei einem Hund, der darauf dressiert war, Drogen zu erschnüffeln. Ständig glaubte sie Herablassung zu wittern, und deren üblen Geruch hatte sie schon vor langem in den Ansichten von Barry Fairbrother und seinen Kumpanen im Gemeinderat wahrgenommen. Die Fairbrothers dieser Welt bildeten sich ein, ihr Universitätsstudium mache sie zu besseren Menschen als sie und Howard, und ihre Ansichten seien gewichtiger. Tja, ihre Arroganz hatte an diesem Tag einen Dämpfer bekommen. Fairbrothers plötzlicher Tod bestärkte Shirley in ihrer festen Überzeugung, dass Barry, was auch immer er und seine Anhänger geglaubt haben mochten, in jeder Hinsicht minderwertiger war als ihr Mann, der es immerhin, zusätzlich zu all seinen anderen Vorzügen, schon vor sieben Jahren geschafft hatte, einen Herzinfarkt zu überleben.
(Keine Sekunde lang hatte Shirley geglaubt, dass ihr Howard sterben würde, selbst als er im Operationssaal lag. Howards Anwesenheit auf Erden war für Shirley eine Selbstverständlichkeit, wie Sonnenlicht und Atemluft. Das hatte sie auch hinterher gesagt, als Freunde und Nachbarn darüber sprachen, auf welch wunderbare Weise er davongekommen war, und wie glücklich sie sich alle schätzen konnten, im nahen Yarvil eine kardiologische Station zu haben, und wie schrecklich besorgt Shirley gewesen sein musste.
»Ich wusste immer, dass er durchkommen wird«, hatte Shirley gesagt, völlig ruhig und gelassen. »Daran habe ich nie gezweifelt. «
Und hier war er, munter wie eh und je; und dort war Fairbrother, im Leichenschauhaus. Tja, da konnte man mal wieder sehen.)
Das Hochgefühl des heutigen Morgens erinnerte Shirley an den Tag nach der Geburt ihres Sohnes Miles. Auch da hatte sie ans Kissen gelehnt im Bett gesessen, genau wie jetzt, mit der Sonne, die durch das Fenster der Entbindungsstation schien, einer Tasse Tee in den Händen, die ihr jemand zubereitet hatte, während sie darauf wartete, dass man ihr den wunderschönen neuen Sohn zum Stillen brachte. Geburt und Tod: Beides verlieh dem Leben und ihrer eigenen Bedeutung einen höheren Wert. Die Nachricht von Barry Fairbrothers Ableben lag in ihrem Schoß wie ein neugeborenes Baby, und all ihre Bekannten würden sich diebisch darüber freuen. Sie würde die Quelle sein, denn sie war die Erste, oder doch fast die Erste, die diese Nachricht erhalten hatte.
Nichts von dieser in Shirley schäumenden Begeisterung hatte sich gezeigt, solange Howard im Zimmer gewesen war. Sie hatten nur die zu plötzlichen Todesfällen passenden Bemerkungen ausgetauscht, bevor er unter die Dusche gegangen war. Natürlich hatte Shirley gewusst, während diese Floskeln zwischen ihnen hin und her geglitten waren wie die Kugeln auf einem Abakus, dass Howard genau wie sie hocherfreut sein musste. Doch diese Gefühle laut zu äußern, wenn die Nachricht über den Todesfall noch ganz frisch in der Luft hing, wäre nicht besser gewesen als splitternackt zu tanzen und Obszönitäten zu kreischen, und Howard und Shirley trugen stets einen unsichtbaren Mantel des Anstands.
Shirley kam noch ein Gedanke. Sie stellte Tasse und Untertasse auf den Nachttisch, schlüpfte aus dem Bett, zog ihren Chenille- Morgenmantel über, setzte die Brille auf, tappte über den Flur und klopfte an die Badezimmertür.
»Howard?«
Ein fragender Grunzlaut ertönte durch das Prasseln des Wassers.
»Meinst du, ich sollte was auf die Website stellen? Über Fairbrother? «
»Gute Idee«, rief er nach kurzem Nachdenken durch die Tür. »Hervorragende Idee.«
Also eilte sie weiter ins Arbeitszimmer. Es war das kleinste Zimmer des Bungalows, längst verlassen von ihrer Tochter Patricia, die nach London gezogen war und nur selten erwähnt wurde.
Shirley war ungeheuer stolz auf ihre Internetkenntnisse. Vor zehn Jahren hatte sie in Yarvil Abendkurse besucht, bei denen sie zu den ältesten und langsamsten Teilnehmerinnen gehörte. Trotzdem hatte sie durchgehalten, fest entschlossen, Administrator der neuen Website des Gemeinderats von Pagford zu werden. Sie loggte sich ein und rief die Homepage des Gemeinderats auf.
Die kurze Mitteilung ging ihr leicht von der Hand.
Gemeinderat Barry Fairbrother Mit großem Bedauern teilen wir das Ableben von Gemeinderat Barry Fairbrother mit. Unsere Gedanken sind in diesen schweren Zeiten bei seiner Familie.
Aufmerksam las sie noch einmal durch, was sie geschrieben hatte, drückte auf Enter und sah wenig später die Mitteilung auf der Nachrichtenseite auftauchen.
Die Königin hatte die Fahne über dem Buckingham Palace auf Halbmast gesetzt, als Prinzessin Diana gestorben war. Ihre Majestät nahm einen ganz besonderen Platz in Shirleys Innenleben ein. Während sie über die Mitteilung auf der Website nachdachte, war sie zufrieden und glücklich, das Richtige getan zu haben. Man lernte eben von den Besten.
Sie schloss die Nachrichtenseite des Gemeinderats, klickte auf ihre bevorzugte medizinische Website und gab sorgfältig die Wörter »Gehirn« und »Tod« in die Suchmaske ein.
Die Treffer waren endlos. Shirley scrollte durch die Möglichkeiten, ließ ihren Blick auf und ab wandern und überlegte, welchem dieser tödlichen Leiden, manche davon die reinsten Zungenbrecher, sie ihr momentanes Glück verdankte. Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte, und stellte ihren Freundinnen hin und wieder Diagnosen.
Aber an diesem Morgen konnte sie sich nicht auf lange Wörter oder Symptome konzentrieren, ihre Gedanken schweiften zu der weiteren Verbreitung der Nachricht ab, und sie stellte im Geist bereits eine Liste von Telefonnummern zusammen. Sie überlegte, ob Aubrey und Julia Bescheid wussten und was sie dazu sagen würden. Und ob Howard es ihr überlassen würde, Maureen zu informieren, oder ob ihm dieses Vergnügen vorbehalten sein würde.
Das alles war ungeheuer aufregend.
IV
Andrew Price schloss die Eingangstür des kleinen weißen Hauses und folgte seinem jüngeren Bruder den steilen Gartenpfad hinab. Der Boden knirschte unter seinen Schritten, und das Metalltor in der Hecke war eiskalt. Keiner der Jungen hatte auch nur einen Moment für den vertrauten Ausblick übrig, der sich ihnen bot: das Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss, überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort. Wenn die Familie einmal Gäste hatte, was selten vorkam, fand Andrew es zum Kotzen, wie sein Vater damit prahlte, als hätte er das Ganze entworfen und erbaut. Vor kurzem hatte Andrew beschlossen, den Anblick von Asphalt, zerbrochenen Fenstern und Graffiti vorzuziehen. Er träumte von London und einem tollen Leben dort.
Die Brüder marschierten bis zum Ende des Weges und blieben an der Ecke zur breiteren Straße stehen. Andrew griff in die Hecke, fummelte ein bisschen herum und zog schließlich ein halbvolles Päckchen Benson & Hedges und eine leicht feuchte Schachtel Streichhölzer heraus. Nach mehreren Fehlversuchen, bei denen die Zündköpfe an der Reibfläche abbröckelten, gelang es ihm, die Zigarette anzuzünden. Zwei oder drei tiefe Züge, dann durchdrang das grummelnde Dröhnen des Schulbusses die Stille. Vorsichtig drückte Andrew das glühende Ende der Zigarette mit den Fingern aus und verstaute den Rest wieder in der Packung.
Der Bus war immer schon zu zwei Dritteln voll, wenn er die Abzweigung nach Hilltop House erreichte, da er bereits die weiter entfernten Farmen und Häuser abgeklappert hatte. Die Brüder suchten sich wie üblich getrennte Plätze, jeder einen Doppelsitz, und schauten aus dem Fenster, während der Bus rumpelnd hinunter nach Pagford fuhr.
Am Fuß des Hügels stand ein Haus in einem keilförmigen Garten. Die vier Kinder der Fairbrothers warteten für gewöhnlich vor dem Eingangstor, aber heute war niemand zu sehen. Alle Vorhänge waren zugezogen. Andrew fragte sich, ob es üblich war, im Dunkeln zu sitzen, wenn jemand starb.
Vor ein paar Wochen hatte Andrew bei der Disco in der Schulaula Niamh Fairbrother angebaggert, eine von Barrys Zwillingstöchtern. Danach hatte sie die widerliche Angewohnheit entwickelt, ihm nachzuspionieren. Andrews Eltern waren kaum mit den Fairbrothers bekannt. Simon und Ruth hatten so gut wie keine Freunde, schienen aber zumindest für Barry etwas übrigzuhaben, der die Kleinstfiliale der einzigen noch in Pagford verbliebenen Bank geleitet hatte. In der kleinen Stadt war der Name Barry Fairbrother jedoch immer präsent, er tauchte in allen möglichen Verbindungen auf, ob als Gemeinderat, bei Theateraufführungen in der Stadthalle oder dem von der Kirche veranstalteten Volkslauf. Das waren Dinge, an denen Andrew kein Interesse hatte und von denen sich seine Eltern fernhielten.
Als der Bus links abbog und die Church Row hinunterzockelte, vorbei an den geräumigen, terrassenförmig angelegten viktorianischen Häusern, gab sich Andrew einem kurzen Tagtraum hin, in dem sein Vater tot umfiel, niedergeknallt von einem unsichtbaren Heckenschützen. Andrew sah sich, wie er seiner schluchzen den Mutter den Rücken tätschelte und gleichzeitig den Beerdigungsunternehmer anrief. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel und bestellte den billigsten Sarg.
Die drei Jawandas, Jaswant, Sukhvinder und Rajpal, stiegen am unteren Ende der Church Row ein. Andrew hatte darauf geachtet, einen Sitz mit einem freien Platz vor sich einzunehmen, und wollte Sukhvinder mit Willenskraft dazu bringen, sich vor ihn zu setzen, nicht um ihretwillen (Andrews bester Freund Fats bezeichnete sie als »Titt'n Tusse«), sondern weil SIE sich oft neben Sukhvinder setzte. Und ob nun sein telepathischer Ansporn an diesem Morgen besonders wirksam war oder nicht, Sukhvinder entschied sich tatsächlich für den Sitz vor ihm. Triumphierend starrte Andrew, ohne etwas wahrzunehmen, auf die verschmierten Fenster und umklammerte seine Schultasche fester, um die Erektion zu verbergen, die durch die heftige Vibration des Busses entstanden war.
Mit jedem neuen Ruckeln und Holpern stieg die Erwartung, während sich das schwerfällige Fahrzeug durch die schmalen Straßen schob, um die enge Kurve zum Marktplatz und auf die Ecke IHRER Straße zu.
Noch nie hatte sich Andrew so sehr für ein Mädchen interessiert. Sie war erst seit kurzem hier. Eine seltsame Zeit, die Schule zu wechseln, im Frühjahrstrimester des Abschlussjahres zur Sekundarstufe. Ihr Name war Gaia, und das passte, weil er diesen Namen nie zuvor gehört hatte und sie etwas vollkommen Neues war. Sie war eines Morgens in den Bus gestiegen wie der Beweis, zu welch unglaublichen Höhen sich die Natur aufschwingen konnte, und hatte zwei Reihen vor ihm Platz genommen, während er wie gebannt auf die Perfektion ihrer Schultern und ihres Hinterkopfes starrte.
Ihr Haar war kupferbraun und fiel in langen Wellen bis knapp unter ihre Schulterblätter. Ihre Nase war vollkommen gerade, schmal und so kurz, dass sie die herausfordernd üppigen, bleichen Lippen betonte. Ihre weit auseinander stehenden Augen hatten dichte Wimpern und waren von einem grüngefleckten Haselnussbraun, wie ein spät gepflückter Apfel. Andrew hatte sie noch nie geschminkt gesehen, und keine einzige Unreinheit verunstaltete ihre Haut. Ihr Gesicht war ein Gesamtkunstwerk absoluter Symmetrie und ungewöhnlicher Proportionen, und er hätte es stundenlang anschauen können, auf der Suche nach dem Ursprung dieser Faszination.
Erst letzte Woche war er heimgekehrt nach einer Doppelstunde Biologie, in der er sie dank einer gottgewollten Anordnung der Tische fast die ganze Zeit über hatte betrachten können. In der Sicherheit seines Zimmers hatte er hinterher notiert (nachdem er zunächst heftig masturbiert und anschließend eine halbe Stunde lang die Wand angestarrt hatte) »Schönheit ist Geometrie«. Sofort hatte er das Papier wieder zerrissen, und jedes Mal, wenn er dar an dachte, kam er sich blöde vor, aber trotzdem, da war etwas dran. Ihre hinreißende Schönheit war das Ergebnis geringfügiger Veränderungen eines Musters, was zu atemberaubender Harmonie führte.
Gleich würde sie da sein, und wenn sie sich, wie so oft, neben die mürrische Sukhvinder setzte, wäre sie nahe genug, um das Nikotin an ihm riechen zu können. Er würde sehen, wie der Bussitz unter ihrem Körper ein wenig nachgab, wenn sie sich darauffallen ließ, und wie sich diese kupferfarbene Haarpracht über die Haltestange am Sitz ergoss.
Der Busfahrer bremste, Andrew wandte das Gesicht von der Tür ab und gab sich den Anschein, tief in Gedanken versunken zu sein. Er würde sich umschauen, wenn sie eingestiegen war, als hätte er gerade erst bemerkt, dass der Bus angehalten hatte. Er würde Blickkontakt aufnehmen, ihr womöglich zunicken. Er wartete darauf, das Öffnen der Türen zu hören, aber das leise Pochen des Motors wurde nicht von dem vertrauten Zischen und Rumpeln unterbrochen.
Andrew schaute sich um und sah nichts als die schäbige kurze Hope Street, zu beiden Seiten von kleinen Reihenhäusern gesäumt. Der Busfahrer beugte sich vor, um sich zu vergewissern, dass Gaia nicht kam. Andrew wollte ihn bitten zu warten, weil sie erst in der Woche zuvor aus einem der kleinen Häuser gestürmt und auf den Bus zugerannt war (da war es vertretbar gewesen, hinzuschauen, denn das hatten alle getan), und der Anblick der rennenden Gaia hatte seine Gedanken stundenlang in Beschlag genommen. Aber der Fahrer drehte das große Steuer herum, und der Bus fuhr weiter. Andrew wandte sein Gesicht wieder dem schmutzigen Fenster zu, mit Schmerzen im Herzen und Feuer in den Lenden.
V
In den kleinen Reihenhäusern der Hope Street hatten früher Arbeiter gewohnt. Im Badezimmer von Nummer zehn rasierte sich Gavin Hughes langsam und mit unnötiger Vorsicht. Er war so blond und sein Bart wuchs so spärlich, dass eine Rasur nur zweimal wöchentlich nötig war. Das klamme, leicht schmuddelige Badezimmer war der einzige Rückzugsort, und wenn er hier bis um acht herumtrödelte, hätte er einen plausiblen Grund dafür, sofort zur Arbeit aufbrechen zu müssen. Ihm graute davor, mit Kay zu reden.
Am Abend zuvor war er einer Diskussion nur dadurch aus dem Weg gegangen, dass er so ausgiebig und einfallsreich mit ihr geschlafen hatte, wie seit den Anfängen ihrer Beziehung nicht mehr. Kay war voll nervtötender Begeisterung darauf eingegangen, hatte von einer Stellung in die nächste gewechselt, ihre stämmigen Beine für ihn angehoben, sich verbogen wie eine slawische Akrobatin, der sie mit ihrer olivfarbenen Haut und dem kurzen schwarzen Haar ein wenig ähnelte. Zu spät hatte er erkannt, dass sie diesen ungewöhnlichen Akt der Zuwendung als ein stillschweigendes Geständnis all der Liebesschwüre angesehen hatte, die er keinesfalls vorzubringen gedachte. Sie hatte ihn gierig geküsst. Zu Beginn ihrer Affäre hatte er ihre feuchten, zudringlichen Küsse erotisch gefunden, doch jetzt stießen sie ihn eher ab. Er hatte lange gebraucht, um zum Höhepunkt zu kommen, da sein Grausen über das, was er da in Gang gesetzt hatte, ständig drohte, seine Erektion zusammenfallen zu lassen. Selbst das hatte gegen ihn gearbeitet: Kay schien sein ungewöhnliches Durchhaltevermögen für einen Beweis seiner Virilität zu halten.
Als es endlich vorbei war, hatte sie sich in der Dunkelheit an ihn geschmiegt und ihm über das Haar gestrichen. Niedergeschlagen hatte er ins Nichts gestarrt, da ihm bewusst war, dass sich seine vage Hoffnung auf mehr Distanz unfreiwillig ins Gegenteil verkehrt hatte. Nachdem sie eingeschlafen war, hatte er dagelegen, den einen Arm unter ihr festgeklemmt, das feuchte Laken unangenehm klebrig an seinem Oberschenkel, auf einer klumpigen Matratze mit alten Sprungfedern, und hatte sich gewünscht, er hätte den Mut, ein Schweinehund zu sein, sich davonzuschleichen und nie wiederzukommen.
Kays Badezimmer roch nach Schimmel und feuchten Schwämmen. Haare klebten am Rand der kleinen Wanne. Farbe blätterte von den Wänden.
»Müsste mal gestrichen werden«, hatte Kay gesagt.
Gavin hatte sich gehütet, ihr freiwillig Hilfe anzubieten. Die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte, waren sein Talisman und sein Schutz; in Gedanken fädelte er sie auf und ließ sie durch die Finger gleiten wie die Perlen eines Rosenkranzes. Nie hatte er das Wort »Liebe« in den Mund genommen, nie von Ehe gesprochen. Er hatte sie nie gebeten, nach Pagford zu ziehen. Und doch war sie hier, und irgendwie gelang es ihr, ihm das Gefühl zu vermitteln, es sei seine Schuld.
Sein Gesicht starrte ihn aus dem fleckigen Spiegel an. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und sein schütteres blondes Haar war dünn und trocken. Die nackte Birne unter der Decke beleuchtete das spitze Gesicht mit forensischer Grausamkeit.
Vierunddreißig, dachte er, und ich sehe aus wie mindestens vierzig.
Er hob den Rasierer und machte sich vorsichtig über die zwei dicken blonden Haare her, die rechts und links von seinem hervortretenden Adamsapfel sprossen.
Fäuste donnerten gegen die Badezimmertür. Gavins Hand rutschte ab, Blut tropfte von seinem dünnen Hals auf sein sauberes weißes Hemd.
»Dein Freund«, erklang ein wütender weiblicher Schrei, »ist immer noch im Bad, und ich komme zu spät!«
»Ich bin fertig!«, rief er.
Der Schnitt brannte, aber egal. Hier war seine Ausrede, auf dem Silbertablett serviert: Schau her, was deine Tochter angerichtet hat. Ich muss nach Hause und mir vor der Arbeit noch ein frisches Hemd anziehen. Beinahe leichten Herzens griff er nach Jackett und Krawatte, die er über einen Haken an der Tür gehängt hatte, und schloss auf.
Gaia drängte sich an ihm vorbei, knallte die Tür hinter sich zu und rammte den Riegel davor. Auf dem schmalen Treppenabsatz vor dem Bad roch es scharf und unangenehm nach verbranntem Gummi. Gavin dachte daran, wie das Kopfteil des Bettes in der Nacht gegen die Wand gekracht war, wie das billige Kiefernholz geknarrt hatte, an Kays Stöhnen und ihre Schreie. Manchmal vergaß man einfach, dass auch ihre Tochter im Haus war.
Rasch lief er die nackten Holzstufen hinunter. Kay hatte ihm erzählt, sie habe vor, sie abzuschleifen und zu lackieren, aber er bezweifelte, dass sie es jemals tun würde, denn schon ihre Wohnung in London war schäbig und in keinem guten Zustand gewesen. Außerdem war er überzeugt, dass sie erwartete, demnächst bei ihm einzuziehen, aber das würde er nicht zulassen. Das war seine letzte Bastion, und wenn er unter Zwang geriet, würde er sie bis aufs Blut verteidigen.
»Was hast du denn gemacht?«, kreischte Kay, als sie das Blut auf seinem Hemd sah. Sie trug den billigen knallroten Kimono, den er nicht leiden konnte, der ihr aber so gut stand.
»Gaia hat gegen die Tür gedonnert, und ich bin zusammengeschreckt. Ich muss nach Hause und mich umziehen.«
»Aber ich hab dir doch Frühstück gemacht!«, sagte sie rasch.
Jetzt merkte er, dass der Geruch nach verbranntem Gummi in Wirklichkeit von Rühreiern stammte. Sie sahen bleich und verkocht aus.
»Keine Zeit, Kay. Ich muss das Hemd wechseln, ich habe eine frühe -«
Sie häufte bereits die erstarrte Masse auf drei Teller.
»Fünf Minuten, du kannst doch wohl noch fünf Minuten -«
Das Handy in seiner Jackentasche summte laut, und er zog es heraus. Gleichzeitig überlegte er, ob er den Nerv haben würde zu behaupten, es handle sich um einen dringenden Fall.
»Du lieber Gott«, rief er mit ungeheucheltem Entsetzen.
»Was ist denn?«
»Barry. Barry Fairbrother! Er ist - Scheiße, er ist - er ist tot! Das ist von Miles. Verdammte Scheiße. Gottverdammte Scheiße!«
Sie legte den Löffel weg.
»Wer ist Barry Fairbrother?«
»Mein Partner beim Squash. Er war erst vierundvierzig! Gott im Himmel!«
Er las die SMS noch einmal. Kay beobachtete ihn verwirrt. Sie wusste, dass Miles ein Kollege von Gavin in der Anwaltskanzlei war, doch sie war ihm nie vorgestellt worden. Und Barry Fairbrother war für sie nur ein Name.
Ein Gewitter kam die Treppe hinunter: Gaia stampfte beim Rennen auf.
»Eier«, bemerkte sie an der Küchentür. »Als ob du mir die jeden Morgen machst. Nein danke. Und wegen dem«, mit einem giftigen Blick auf Gavins Hinterkopf, »hab ich wahrscheinlich den Kack-Bus verpasst.«
»Tja, wenn du nicht so lange für deine Haare gebraucht hättest «, brüllte Kay ihrer Tochter nach, die durch den Flur stürmte, mit der Schultasche gegen die Wände schlug und die Haustür hinter sich zuknallte.
»Ich muss gehen, Kay«, sagte Gavin.
»Aber ich hab alles fertig, du könntest doch noch -«
»Ich muss das Hemd wechseln. Und Mist, ich hab Barrys Testament aufgesetzt, ich muss es mir noch mal anschauen. Nein, tut mir leid, ich muss gehen. Ich fasse es nicht«, fügte er hinzu, während er Miles' SMS erneut durchlas. »Ich kann es nicht fassen. Wir haben doch noch am Donnerstag Squash gespielt. Ich kann's nicht - o Gott.«
Ein Mann war gestorben, und dagegen konnte sie nichts einwenden, ohne ungerecht zu erscheinen. Gavin küsste sie flüchtig auf die starren Lippen und entfernte sich dann durch den dunklen, schmalen Flur.
»Sehn wir uns ...?«
»Ich melde mich später.« Er tat, als hätte er sie nicht gehört.
Gavin eilte über die Straße zu seinem Auto, atmete die kalte Luft in tiefen Zügen ein und hielt den Gedanken an Barrys Tod fest wie ein Fläschchen mit explosiver Flüssigkeit, das er nicht zu schütteln wagte. Während er den Zündschlüssel umdrehte, stellte er sich Barrys Zwillingstöchter vor, wie sie auf ihrem Doppelstockbett weinend das Gesicht in die Kissen drückten. Er hatte sie dort liegen sehen, eine über der anderen, jede mit ihrem Nintendo DS, als er bei der letzten Einladung zum Abendessen an ihrer Zimmertür vorbeigekommen war.
Die Fairbrothers waren für ihn stets das ideale Paar gewesen. Nun würde er nie wieder bei ihnen essen. Oft hatte er Barry gesagt, was für ein Glückspilz er sei. Am Ende wohl doch nicht.
Auf dem Bürgersteig kam jemand auf ihn zu. Voller Panik, es könnte Gaia sein, die ihn anschrie oder verlangte, dass er sie mitnahm, setzte er zu heftig zurück und prallte gegen das Auto hinter seinem: Kays alter Corsa. Als die Person auf Höhe des Seitenfensters war, stellte er fest, dass es sich um eine ausgemergelte, humpelnde alte Frau in Pantoffeln handelte. Schwitzend schlug Gavin das Lenkrad ein und manövrierte sich aus der Parklücke. Beim Gasgeben blickte er in den Rückspiegel und sah, wie Gaia die Tür zu Kays Haus wieder aufschloss.
Das Atmen fiel ihm schwer. In seiner Brust steckte ein fester Knoten. Erst jetzt ging ihm auf, dass Barry Fairbrother sein bester Freund gewesen war.
VI
Der Schulbus hatte Fields erreicht, die ausgedehnte Siedlung am Stadtrand von Yarvil. Schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satellitenschüsseln und überwucherte Grasflächen, all das fesselte Andrews Aufmerksamkeit genauso wenig wie die mit glitzerndem Frost überzogenen Ruinen der Abtei von Pagford. Früher hatte ihn Fields fasziniert und eingeschüchtert, doch inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.
Die Bürgersteige waren voller Kinder und Jugendlicher auf dem Weg zur Schule, viele im T-Shirt, trotz der Kälte. Andrew entdeckte Krystal Weedon, Zielscheibe für Gespött und schlechte Witze. Mitten in einer Gruppe von Jungen und Mädchen hüpfte sie herum und lachte brüllend. An jedem Ohr baumelten zahllose Ohrringe, und ihr Stringtanga war über dem Rand ihrer tief sitzenden Trainingshose deutlich zu sehen. Andrew kannte sie seit der Grundschule, und sie kam in vielen seiner grellsten Erinnerungen aus dieser Zeit vor. Sie hatten sich über ihren Namen lustig gemacht, aber statt zu heulen, wie es die meisten anderen Mädchen getan hätten, hatte die fünfjährige Krystal mitgemacht, gegackert und gekreischt: »Weed-on! Krystal weed-on! Krystal ka-cken!« Und sie hatte vor der ganzen Klasse die Hose runtergezogen und sich hingehockt, als wollte sie es wirklich machen. Noch immer erinnerte er sich lebhaft an ihre nackte rosa Möse, es war, als wäre der Weihnachtsmann in ihrer Mitte aufgetaucht. Und er wusste auch noch, wie Miss Oates Krystal mit hochrotem Gesicht aus dem Raum geführt hatte.
Mit zwölf Jahren, nach dem Übertritt in die Gesamtschule, war Krystal das am weitesten entwickelte Mädchen ihres Jahrgangs und hatte hinten im Klassenzimmer herumgelungert, wo alle, wenn sie fertig waren, ihre Mathearbeitsblätter hinbringen und gegen das nachfolgende Blatt austauschen sollten. Wie es angefangen hatte, wusste Andrew nicht (er war mal wieder als einer der Letzten mit der Matheaufgabe fertig geworden), aber als er zu den Plastikkästen mit den Arbeitsblättern kam, ordentlich aufgereiht auf den Regalen an der Rückwand, befummelten Rob Calder und Mark Richards gerade einer nach dem anderen Krystals Brüste. Die meisten anderen Jungen schauten wie gebannt zu, die Köpfe vor dem Lehrer hinter den Mathebüchern verborgen, während die Mädchen, größtenteils knallrot im Gesicht, so taten, als würden sie nichts sehen. Andrew verstand, dass die Hälfte der Jungen bereits an der Reihe gewesen war und alle von ihm erwarteten, auch mitzumachen. Einerseits hatte er gewollt, andererseits nicht. Er hatte sich nicht vor den Brüsten gefürchtet, sondern vor Krystals dreistem, herausforderndem Blick. Er hatte Angst gehabt, es falsch zu machen. Als der nichtsahnende und unfähige Mr Simmonds schließlich aufgeschaut und gesagt hatte: »Du stehst jetzt schon ewig da hinten, Krystal, hol dir ein Arbeitsblatt und setz dich wieder«, war Andrew regelrecht erleichtert gewesen.
Obwohl sie längst in verschiedenen Unterrichtsgruppen waren, mussten sie ihre Anwesenheit morgens immer noch in derselben Klasse registrieren lassen, daher wusste Andrew, dass Krystal manchmal anwesend war, oft nicht, und dass sie fast ständig in Schwierigkeiten steckte. Furcht kannte sie nicht, so wenig wie die Jungs, die mit selbstgestochenen Tattoos zur Schule kamen, mit aufgeplatzten Lippen, Zigaretten und Geschichten über Zusammenstöße mit der Polizei, über Drogen und schnellen Sex.
Die Gesamtschule Winterdown lag direkt am Stadtrand von Yarvil, ein hässliches dreistöckiges Gebäude, an dessen Außenwänden sich Fenster mit türkis gestrichener Holzverkleidung abwechselten. Nachdem sich die Bustüren quietschend geöffnet hatten, schloss sich Andrew der wogenden Menge in schwarzen Blazern und Pullovern an, die über den Parkplatz auf die beiden Eingangstüren der Schule zuströmte. Als er sich gerade durch den Engpass der Doppeltür quetschen wollte, bemerkte er einen ankommenden Nissan Micra und trat zur Seite, um auf seinen besten Freund zu warten.
Dickie, Dicker, Dickster, Flubberwurm, Fleischklops, Walla, Fatboy, Fats: Stuart Wall war der Junge mit den meisten Spitznamen in der Schule. Sein federnder Gang, seine Magerkeit, sein schmales, blasses Gesicht, die Segelohren und der stets gequälte Ausdruck waren eigentlich markant genug, aber was ihn wirklich von allen anderen abhob, waren sein bissiger Humor, seine Gleichgültigkeit und Gelassenheit. Irgendwie war es ihm gelungen, sich von den höchst unglücklichen Verbindungen zu distanzieren. Eine weniger robuste Person wäre daran zerbrochen: die Peinlichkeit, der Sohn eines verspotteten und unbeliebten stellvertretenden Schulleiters zu sein und eine trutschige, übergewichtige Beratungslehrerin zur Mutter zu haben. Er war vor allem und ohne Frage er selbst. Fats, Schulberühmtheit und Wahrzeichen. Und sogar die Kinder aus Fields lachten über seine Witze und machten sich eher selten über seine Eltern lustig - so kühl und grausam gab er ihre Spötteleien zurück.
Fats' Selbstbeherrschung bekam selbst an diesem Morgen keinen Riss, als er sich, in voller Sicht der vorbeiströmenden Horden, nicht nur neben seiner Mutter aus dem Nissan zwängen musste, sondern auch noch neben seinem Vater, der für gewöhnlich getrennt von ihnen zur Schule fuhr. Als Fats federnd auf ihn zukam, musste Andrew wieder an Krystal Weedon und ihren über der Trainingshose blitzenden Stringtanga denken.
»Was geht, Arf?«, fragte Fats.
»Fats.«
Sie schoben sich gemeinsam in die Menge, die Schultaschen über die Schulter gehängt, trafen damit die kleineren Kinder ins Gesicht und schufen sich so ein wenig Platz.
»Pingel hat geheult«, sagte Fats, als sie die überfüllte Treppe hochstiegen.
»Häh?«
»Barry Fairbrother ist gestern Nacht tot umgefallen.«
»Ach so. Ja, hab ich gehört«, sagte Andrew.
Fats bedachte Andrew mit dem zweifelnden Blick, den er aufsetzte, wenn andere sich übernahmen und vorgaben, mehr zu wissen, mehr zu sein, als sie waren.
»Meine Mum war im Krankenhaus, als sie ihn reinbrachten«, sagte Andrew gereizt. »Sie arbeitet da, schon vergessen?«
»Ach ja«, sagte Fats, und die Skepsis war weg. »Er und Pingel waren ja so was wie ›echte Kumpels‹. Und er wird's hier groß verkünden. Nicht gut, Arf.«
Sie trennten sich oben an der Treppe, um sich in ihren jeweiligen Klassenzimmern anzumelden. Der größte Teil von Andrews Klasse war bereits dort, saß auf den Tischen, ließ die Beine baumeln, lehnte seitlich an den Schränken. Schultaschen lagen unter den Stühlen. Es war lauter und entspannter als an einem normalen Montagmorgen, denn die anstehende Schulversammlung versprach einen Gang durchs Freie zur Turnhalle. Ihre Klassenlehrerin saß an ihrem Pult und hakte die hereinkommenden Schüler ab. Sie machte sich nie die Mühe, die Namen einzeln aufzurufen. Nur einer der vielen kleinen Versuche, mit denen sie sich bei ihnen beliebt machen wollte, und die Klasse verachtete sie dafür.
Krystal kam rein, als es zur Versammlung klingelte. Von der Tür her schrie sie: »Ich bin da, Miss!«, und machte auf dem Absatz kehrt. Alle folgten ihr, immer noch schwatzend. Andrew und Fats trafen sich oben an der Treppe wieder und wurden mit dem allgemeinen Strom aus den hinteren Türen und über den asphaltierten Hof geschwemmt.
Die Turnhalle roch nach Schweiß und Turnschuhen. Das Getöse von zwölfhundert unermüdlich plappernden Jugendlichen hallte von den nackten weißen Wänden wider. Ein harter und total verfleckter Belag in Industriegrau bedeckte den Boden, auf dem in unterschiedlichen Farben Felder für Badminton und Tennis, Hockey und Fußball markiert waren. Der Belag schürfte einem die Beine eklig auf, wenn man fiel, war aber angenehmer zum Sitzen als blankes Holz, wenn man eine ganze Schulversammlung darauf durchhalten musste. Andrew und Fats hatten die Ehre erlangt, auf Plastikstühlen zu sitzen, die für die Mittelstufe aufgestellt waren.
Vorn in der Halle stand ein altes hölzernes Rednerpult, und daneben saß Mrs Shawcross, die Schulleiterin. Fats' Vater Colin Wall, genannt »Pingel«, setzte sich neben sie. Er war sehr groß, hatte eine hohe Stirn, eine Halbglatze und einen leicht nachzuahmenden Gang, hielt er doch die Arme steif an die Seiten gedrückt und wippte mehr auf und ab, als zur Fortbewegung nötig war. Alle nannten ihn Pingel wegen seiner berüchtigten Manie, die Sortierfächer an der Wand vor seinem Büro in Ordnung zu halten. In einige von ihnen kamen die Anwesenheitslisten, nach dem sie abgehakt waren, andere waren bestimmten Fachbereichen zugeordnet. »Achte darauf, das ins richtige Sortierfach zu legen, Alisa!« »Lass das nicht so raushängen, sonst fällt es aus dem Sortierfach, Kevin!« »Tritt nicht darauf, Mädchen! Heb das auf und gib es her, das gehört in ein Sortierfach!«
Die anderen Lehrer nannten sie Ablagefächer. Man nahm allgemein an, dass sie das taten, um sich von Pingel abzusetzen.
»Aufrücken, aufrücken«, sagte Mr Meacher, der Werkkundelehrer zu Andrew und Fats, die zwischen sich und Kevin Cooper einen Stuhl frei gelassen hatten.
Pingel nahm seinen Platz hinter dem Rednerpult ein. Die Schüler gaben nicht so schnell Ruhe, wie sie es für die Schulleiterin getan hätten. Genau in dem Augenblick, in dem auch die letzte Stimme verstummt war, öffnete sich die Doppeltür in der rechten Wand, und Gaia kam herein.
Sie blickte sich in der Halle um (Andrew gestattete sich, sie zu beobachten, da die halbe Halle hinschaute. Sie kam zu spät, war ein unbekanntes Gesicht und wunderschön, außerdem redete ja nur Pingel) und ging rasch, aber nicht unangemessen schnell (denn sie besaß Fats' Gabe der unerschütterlichen Ruhe) hinten um die Schüler herum. Andrew konnte den Kopf nicht so weit drehen, um sie im Auge zu behalten, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, dass er beim Aufrücken mit Fats einen Platz neben sich frei gelassen hatte.
Er hörte leichte, schnelle Schritte näher kommen, und dann war sie da, hatte sich direkt neben ihn gesetzt. Sie stieß an seinen Stuhl, bewegte ihn mit ihrem Körper. Ein zarter Hauch von Parfüm stieg ihm in die Nase. Seine ganze linke Körperseite brannte in dem Bewusstsein ihrer unmittelbaren Nähe, und er war heilfroh, dass auf der Wange, die er ihr zuwandte, nicht so viele Pickel waren wie auf der anderen. Er war ihr noch nie so nahe gewesen und überlegte, ob er es wagen sollte, sie anzuschauen, sich bemerkbar zu machen, kam aber sofort zu dem Entschluss, dass er zu lange gezögert hatte und es zu spät war, um locker zu wirken.
Er kratzte sich an der linken Schläfe, deckte auf diese Weise sein Gesicht ab und verdrehte die Augen, um auf ihre locker im Schoß verschränkten Hände zu schauen. Die Nägel waren kurz, sauber und unlackiert. Am kleinen Finger steckte ein schlichter Silberring.
Fats drückte Andrew diskret den Ellbogen in die Seite.
»Zum Schluss«, sagte Pingel, und Andrew ging auf, dass er Pingel die Wörter schon zwei Mal hatte sagen hören. In der Turnhalle herrschte inzwischen völlige Stille, alles Gezappel hatte aufgehört und die Luft war aufgeladen mit Neugier, Spannung und Unbehagen.
»Zum Schluss«, wiederholte Pingel, und seine Stimme geriet zitternd außer Kontrolle, »habe ich eine sehr ..., eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Mr Barry Fairbrother, der während der letzten zwei Jahre unsere äußerst erfalg ..., erfolg ..., erfolgreichen Ruderinnen trainiert hat, ist ...«
Er schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»... gestern Abend ...«
Pingel Wall weinte vor allen, und sein kahler Kopf sackte auf die Brust.
Durch die Zuschauer lief gleichzeitig ein Aufstöhnen und Kichern, und viele Gesichter wandten sich Fats zu, der sich völlig gleichgültig gab, etwas irritiert vielleicht, ansonsten aber ungerührt.
»... gestorben ...«, schluchzte Pingel, und die Schulleiterin stand sichtlich verärgert auf.
»... gestern Abend ... gestorben.«
Irgendwo in der Mitte der hinteren Stuhlreihen kreischte jemand auf.
»Wer hat da gelacht?«, brüllte Pingel, und die Luft knisterte vor entzückter Anspannung. »WIE KANNST DU ES WAGEN! Welches Mädchen hat da gelacht, wer war das?«
Mr Meacher war bereits aufgesprungen und deutete wütend auf jemanden in der Reihe hinter Andrew und Fats. Andrews Stuhl wurde wieder angestoßen, weil Gaia sich umgedreht hatte, genau wie alle anderen auch. Andrews gesamter Körper schien extrem empfindsam geworden zu sein, denn er spürte, wie Gaia sich zu ihm hinüberlehnte. Wenn er sich plötzlich in die andere Richtung drehte, würde er ihr in die Augen schauen.
»Wer hat da gelacht?«, wiederholte Pingel und stellte sich auf die Zehenspitzen, als könnte er die Schuldige absurderweise vom Rednerpult aus erkennen. Mr Meacher machte Mundbewegungen und deutete hektisch auf die Person, die er als Schuldige erkannt hatte.
»Wer ist es, Mr Meacher?«, rief Pingel.
Mr Meacher hatte Schwierigkeiten, die Schuldige zu bewegen, ihren Platz zu verlassen, aber als Pingel sich anschickte, zu ihnen zu kommen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen, schoss Krystal Weedon hoch, knallrot im Gesicht, und drängte sich schubsend durch die Reihe.
»Sie kommen nach der Schulversammlung sofort in mein Büro!«, schrie Pingel. »Absolut skandalös! Vollkommen respektlos! Gehen Sie mir aus den Augen!«
Aber Krystal blieb am Ende der Reihe stehen, zeigte Pingel den Stinkefinger und schrie: »HAB DOCH NIX GEMACHT, DU PIMMEL!«
Gewaltiges Stimmengewirr und Gelächter brausten auf. Die Lehrer bemühten sich vergebens, den Lärm in den Griff zu bekommen, und ein oder zwei verließen ihre Plätze, um ihre eigenen Schüler mit Drohungen einzuschüchtern.
Die Doppeltüren schwangen hinter Krystal und Mr Meacher zu.
»Ruhe jetzt!«, brüllte die Schulleiterin, und eine nervöse Unruhe voller Zappelei und Geflüster breitete sich in der Halle aus. Fats blickte starr geradeaus, und diesmal wirkte sein Gleichmut gezwungen, seine Haut hatte eine dunklere Färbung angenommen.
Andrew spürte, wie Gaia auf ihren Stuhl zurücksank. Er nahm allen Mut zusammen, schaute nach links und grinste. Sie lächelte prompt zurück.
VII
Obwohl Pagfords Feinkostgeschäft seine Türen erst um neun Uhr dreißig öffnete, war Howard Mollison früher da. Er war ein außerordentlich fettleibiger Mann von vierundsechzig. Da sein gewaltiger Hängebauch bis auf die Oberschenkel reichte, mussten die meisten Leute sofort an seinen Penis denken, wenn sie ihn das erste Mal sahen. Sie überlegten, wann er ihn wohl zuletzt gesehen hatte, wie er ihn wusch und wie es ihm gelang, all das damit auszuführen, wozu ein Penis gedacht war. Howards Statur setzte diese Gedanken unwillkürlich in Gang. Doch er konnte mit seinen Kunden jovial und humorvoll plaudern, so dass er neben all dem Unbehagen auch Vertrauen verbreitete. Beim ersten Besuch des Ladens kauften die Kunden immer viel mehr, als sie beabsichtigt hatten. Während er arbeitete, schwatzte er ununterbrochen, schob mit seinen Wurstfingern den Schinkenschneider vor und zurück, ließ seidenfeine Schinkenscheiben auf das darunter gehaltene Zellophan gleiten, stets ein Zwinkern in seinen runden blauen Augen und ein Lachen, das sein Vielfachkinn erzittern ließ.
Howard hatte eine Art Uniform erfunden, die er bei der Arbeit trug: weißes Hemd, Kordhose, dunkelgrüne Segeltuchschürze und eine Sherlock-Holmes-Mütze, an der eine Reihe Angelköder fürs Fliegenfischen befestigt war. Mochte diese Mütze zuerst auch ein Witz gewesen sein, setzte er sie inzwischen jeden Morgen mit heiligem Ernst in der Personaltoilette auf seine dichten grauen Locken.
Das Geschäft morgens zu öffnen war Howards ganze Freude. Er ging gerne im Laden umher, wenn nur das leise Summen der Kühlaggregate zu hören war, und genoss es, alles zum Leben zu erwecken - das Licht einzuschalten, die Abdeckungen zu entfernen, um die Schätze im Kühlregal sichtbar zu machen: die bleichen graugrünen Artischocken, die onyxschwarzen Oliven, die getrockneten Tomaten glichen in ihrem Gewürzöl rubinroten Seepferdchen.
An diesem Morgen mischte sich jedoch Ungeduld in seine Freude. Seine Geschäftspartnerin Maureen war spät dran, und genauso wie Miles vor ein paar Stunden befürchtete nun Howard, dass ihm jemand mit der sensationellen Nachricht zuvorkommen könnte.
Er blieb neben dem Durchbruch in der Wand zu dem früheren Schuhgeschäft stehen, in dem bald Pagfords neuestes Café eröffnet werden würde, und überprüfte die schwere Plastikplane, die den Staub von den Waren fernhalten sollte. Sie hatten vor, das Café Ostern zu eröffnen, um mehr Touristen ins West Country zu locken, für die Howard das Schaufenster jährlich mit Cider, Käse und Strohpüppchen aus der Region füllte.
Hinter ihm läutete die Glocke, und er drehte sich um. Sein zusammengeflicktes und durch einen Bypass verstärktes Herz raste vor Aufregung.
Maureen war eine schlanke, leicht nach vorn gebeugte Frau von zweiundsechzig Jahren, die Witwe von Howards ehemaligem Partner. Ihre krumme Haltung ließ sie älter erscheinen, obwohl sie nach Kräften bemüht war, sich an ihre Jugendlichkeit zu klammern. Sie färbte sich die Haare pechschwarz, kleidete sich in grelle Farben und schwankte auf unverantwortlich hohen Stilettos umher, die sie im Laden gegen Gesundheitssandalen tauschte.
»Morgen, Mo«, sagte Howard. Er hatte sich fest vorgenommen, nichts zu überstürzen, aber bald würden die Kunden kommen, und er hatte eine Menge zu sagen. »Hast du schon gehört?«
Sie sah ihn fragend an.
»Barry Fairbrother ist tot.«
Ihr blieb der Mund offen stehen.
»Nein! Wie das denn?«
Howard tippte sich an die Schläfe. »Irgendwas ist kaputt gegangen. Da drin. Miles war dabei, hat alles mit angesehen. Auf dem Parkplatz vom Golfclub.«
»Nein!«, wiederholte sie.
»Mausetot«, sagte Howard, als gäbe es Abstufungen von Totsein und als sei die Art, wie Barry Fairbrother abgetreten war, besonders schäbig.
Maureens grell geschminkte Lippen hingen herab, während sie sich bekreuzigte. Ihr Katholizismus verlieh solchen Augenblicken immer etwas Pittoreskes.
»Miles war dabei?«, krächzte sie. Howard hörte ihrer tiefen Exraucherstimme das gierige Verlangen an, jede kleinste Einzelheit zu erfahren.
»Willst du nicht erst mal den Kessel aufsetzen, Mo?«
Wenigstens konnte er ihre Qual noch um ein paar Minuten verlängern. In ihrer Hast, zu ihm zurückzukehren, schwappte ihr brühheißer Tee über die Hand. Sie setzten sich hinter dem Ladentisch auf die hölzernen Barhocker, die Howard dort für ruhige Zeiten hingestellt hatte, und Maureen kühlte ihre verbrühte Hand mit Eis, das sie sich aus dem Kühlschrank geholt hatte. Gemeinsam hechelten sie die konventionellen Aspekte der Tragödie durch: die Witwe (»Sie wird nicht mehr weiterwissen, hat doch nur für Barry gelebt«), die Kinder (»Vier Teenager, was für eine Bürde ohne Vater«), das relativ junge Alter des Toten (»Er war nicht viel älter als Miles, nicht wahr?«), und dann kamen sie endlich zu der wahren Bedeutung dieses Ablebens, neben der alles andere unwichtiges Herumgerede war.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Maureen begierig.
»Hm, ja nun. Das ist die Frage, nicht wahr? Wir haben da eine plötzliche Vakanz, und das könnte alles auf den Kopf stellen.«
»Eine was?«, fragte Maureen voller Sorge, ihr könnte etwas Wichtiges entgangen sein.
»Eine plötzliche Vakanz«, wiederholte Howard. »So nennt man das, wenn durch einen Todesfall ein Sitz im Gemeinderat frei wird. Der korrekte Ausdruck«, fügte er belehrend hinzu.
Howard war Vorsitzender des Gemeinderats und »First Citizen« von Pagford. Zu diesem Amt gehörte eine vergoldete und emaillierte Amtskette, die in dem kleinen Tresor ruhte, den Shirley und er in ihrem Einbaukleiderschrank hatten installieren lassen. Wenn Pagford doch nur das Stadtrecht bekommen würde, dann dürfte er sich endlich Bürgermeister nennen, was er faktisch ohnehin war. Shirley hatte das auf der Website des Gemeinderats deutlich hervorgehoben. Und unter einem Foto vom strahlenden Howard mit seiner Amtskette war zu lesen, er nehme Einladungen zu öffentlichen Veranstaltungen und Geschäftsempfängen in der Region gerne entgegen. Erst vor ein paar Wochen hatte er in der Grundschule die Urkunden für die Radfahrprüfung ausgehändigt.
Howard trank einen Schluck Tee und sagte mit einem Lächeln, um seinen Worten die Spitze zu nehmen: »Fairbrother war ein Scheißkerl, Mo, wirklich. Er konnte ein echter Scheißkerl sein.«
»Oh, ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß.«
»Ich hätte es mit ihm ausfechten müssen, wenn er noch am Leben wäre. Frag Shirley. Er konnte ein hinterhältiger Scheißkerl sein.«
»Oh, ich weiß.«
»Na gut, wir werden sehen. Wir werden sehen. Damit dürfte die Sache erledigt sein. Nicht dass ich auf diese Weise gewinnen wollte, beileibe nicht«, fügte er mit einem tiefen Seufzen hinzu. »Aber wenn es um das Wohl von Pagford geht, um die Gemeinde ... ist das nicht verkehrt.«
Howard sah auf die Uhr. »Ist fast halb, Mo.«
Sie öffneten nie zu spät, schlossen nie zu früh. Das Geschäft wurde mit den Ritualen und der Regelmäßigkeit eines Tempels geführt.
Maureen stakste hinüber, um die Tür zu öffnen und die Jalousien hochzuziehen. Ruckweise öffnete sich dabei die Aussicht auf den Marktplatz: malerisch und gut gepflegt, was größtenteils den gemeinsamen Anstrengungen jener Eigentümer zu verdanken war, deren Grundstücke auf den Platz hinausgingen. Überall waren Blumenkästen, Hängeampeln und Pflanzkübel angebracht, jedes Jahr in aufeinander abgestimmten Farben bepflanzt. Das Black Canon (eines der ältesten Pubs in England) lag Mollison & Lowe am Platz gegenüber.
Howard holte rechteckige lange Platten mit frischen Pâtés aus dem Hinterzimmer und reihte sie, dekoriert mit glänzenden Zitronenecken und Beeren, fein säuberlich unter der Glasplatte des Ladentisches auf. Leicht schnaufend von der Anstrengung, ordnete Howard die letzten Pâtés an und blieb eine Weile stehen, den Blick auf das Kriegerdenkmal in der Mitte des Platzes gerichtet.
Pagford war an diesem Morgen schön wie immer, und Howard erlebte einen Moment der Klarheit, sowohl für sein eigenes Leben als auch für das des Ortes, dessen pulsierendes Herz er war, so sah er es zumindest. Er war begierig, das alles in sich aufzunehmen: die glänzenden schwarzen Bänke, die roten und violetten Blumen, die von der Sonne vergoldete Spitze des Steinkreuzes. Und Barry Fairbrother war tot. In dieser plötzlichen Neuordnung dessen, was Howard als Schlachtfeld begriff, das Schlachtfeld, auf dem er und Barry sich so lange feindlich gegenübergestanden hatten, meinte Howard einen Akt der Vorsehung zu erkennen.
»Howard«, sagte Maureen scharf. »Howard.«
Eine Frau kam über den Platz, eine schlanke, schwarzhaarige, braunhäutige Frau in einem Trenchcoat, die mürrisch auf ihre Schuhspitzen schaute.
»Glaubst du, sie ...? Weiß sie es schon?«, flüsterte Maureen.
»Keine Ahnung«, sagte Howard.
Maureen, die noch keine Zeit gefunden hatte, ihre Gesundheitssandalen anzuziehen, knickte bei dem Versuch, schnell vom Schaufenster zurückzuweichen, fast mit dem Fuß um und verschwand eilig hinter dem Ladentisch. Howard nahm bedächtig, ja fast majestätisch den Platz hinter der Kasse ein, wie ein Kanonier, der in Stellung geht.
Die Glocke klingelte, und Dr. Parminder Jawanda drückte, immer noch missmutig, die Tür zum Feinkostladen auf. Sie nahm weder von Howard noch von Maureen Notiz, sondern ging direkt zum Regal mit den Ölen. Maureens Blick folgte ihr mit der unverwandten Aufmerksamkeit eines Habichts, der eine Feldmaus im Visier hat.
»Guten Morgen«, sagte Howard, als Parminder mit einer Flasche in der Hand an den Ladentisch trat.
»Morgen.«
Dr. Jawanda sah ihm selten in die Augen, weder bei den Gemeinderatssitzungen noch bei Begegnungen außerhalb des Gemeindesaals. Howard amüsierte sich immer über ihre Unfähigkeit, ihre Abneigung zu verbergen. Das brachte ihn dazu, ausgesprochen galant und höflich aufzutreten.
»Heute keine Sprechstunde?«
»Nein.« Parminder kramte in ihrer Handtasche.
Maureen konnte sich nicht mehr bremsen.
»Schrecklich«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Das mit Barry Fairbrother.«
»Hm.« Parminder kramte weiter in ihrer Handtasche. »Wie bitte?«
»Das mit Barry Fairbrother«, wiederholte Maureen.
»Was ist denn mit ihm?«
Parminders Birminghamer Dialekt klang selbst nach sechzehn Jahren Pagford noch stark durch. Wegen der senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen sah sie immer angestrengt aus, manchmal war sie schlecht gelaunt, manchmal nur konzentriert.
»Er ist gestorben«, sagte Maureen und beobachtete sie aufmerksam. »Gestern Abend. Howard hat es mir gerade erzählt.«
Parminder blieb ganz still, die Hand in ihrer Tasche. Dann glitt ihr Blick seitwärts zu Howard.
»Ist auf dem Parkplatz des Golfclubs zusammengebrochen und gestorben«, sagte Howard. »Miles war da, hat alles mit angesehen. «
Einige Sekunden vergingen.
»Soll das ein Witz sein?«, wollte Parminder wissen, ihre Stimme hart und schrill.
»Natürlich ist das kein Witz«, sagte Maureen und kostete ihre eigene Empörung voll aus. »Wer würde denn über so etwas Witze machen?«
Mit einem Knall stellte Parminder das Öl auf die Glasplatte des Ladentisches und marschierte aus dem Geschäft.
»Also wirklich!«, rief Maureen mit entzückter Missbilligung. »›Soll das ein Witz sein?‹ Reizend!«
»Das war der Schock«, sagte Howard weise und sah Parminder nach, die mit flatterndem Trenchcoat über den Platz lief. »Die da wird sich genauso grämen wie die Witwe. Allerdings könnte es interessant werden«, fügte er hinzu und kratzte sich selbstvergessen am Bauch, wo es ihn oft juckte, »zu sehen, was sie ...«
Er ließ den Satz unvollendet, aber das spielte keine Rolle, Maureen wusste genau, was er meinte. Während sie die Gemeinderätin Jawanda um die Ecke verschwinden sahen, dachten beide an die plötzliche Vakanz, und zwar nicht als einen freien Platz, sondern als eine Wundertüte voller Möglichkeiten.
VIII
Das alte Pfarrhaus war das letzte und stattlichste der viktorianischen Häuser in der Church Row. Es stand ganz am Ende, in einem großen Eckgarten, gegenüber von St. Michael and All Saints.
Parminder war die letzten paar Meter gerannt. Schließlich machte sie sich an dem schwergängigen Schloss zu schaffen und stieß die Tür auf. Sie wollte es nicht glauben, bevor sie es auch von jemand anderem gehört hatte, von irgendjemandem, doch in der Küche läutete bereits unheilkündend das Telefon.
»Ja?«
»Ich bin's, Vikram.«
Parminders Mann war Herzchirurg. Er arbeitete im Kreiskrankenhaus South West in Yarvil und rief seine Frau für gewöhnlich nie von der Arbeit aus an. Parminder umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Finger schmerzten.
»Ich habe es nur durch Zufall erfahren. Klingt nach einem Aneurysma. Ich habe Huw Jeffries gebeten, die Obduktion ganz oben auf die Liste zu setzen. Besser für Mary, wenn sie möglichst bald weiß, was es war. Sie dürften ihn sich schon vorgenommen haben.« »Okay«, flüsterte Parminder.
»Tessa Wall war dabei«, sagte er. »Ruf Tessa an.«
»Ja«, sagte Parminder. »Mach ich.«
Aber als sie aufgelegt hatte, sank sie auf einen der Küchenstühle und starrte aus dem Fenster in den Garten, ohne etwas wahrzunehmen, die Finger an den Mund gedrückt.
Alles war zerstört. Die Tatsache, dass alles noch da war - die Wände, die Stühle und die aufgehängten Kinderzeichnungen - bedeutete nichts. Jedes einzelne Atom war auseinandergesprengt worden und hatte sich im selben Moment wieder zusammengefügt. Der Eindruck von Beständigkeit und Stabilität war lächerlich. Bei der kleinsten Berührung würde sich alles auflösen, da es plötzlich fragil und mürbe geworden war.
Sie hatte keine Kontrolle über ihre Gedanken. Auch die waren wie zerstört, und zufällige, bruchstückhafte Erinnerungen tauchten auf und wirbelten wieder davon: der Tanz mit Barry auf der Neujahrsfeier bei den Walls und das alberne Gespräch, das sie auf dem Rückweg von der letzten Gemeinderatssitzung geführt hatten.
»Du hast ein kuhgesichtiges Haus.«
»Kuhgesichtig? Was heißt das denn?«
»Es ist vorne schmaler als hinten. Das bringt Glück. Aber es steht an einer Straßenmündung. Das bringt Unglück.«
»Also gleicht sich das aus«, hatte Barry gesagt.
Das Blutgefäß in seinem Kopf musste zu dem Zeitpunkt schon gefährlich angeschwollen gewesen sein, und sie hatten es beide nicht gewusst.
Wie betäubt ging Parminder von der Küche in das düstere Wohnzimmer, in dem es wegen der hoch aufragenden Föhre im Vorgarten nie richtig hell wurde, egal bei welchem Wetter. Parminder konnte den Baum nicht leiden, doch er blieb stehen, da Vikram und sie wussten, welches Theater die Nachbarn machen würden, wenn sie ihn fällten.
Sie kam nicht zur Ruhe. Ging durch den Flur, dann zurück in die Küche, wo sie zum Telefon griff und Tessa Wall anrief, die nicht abnahm. War vermutlich bei der Arbeit. Zitternd kehrte Parminder zum Küchenstuhl zurück.
Ihr Kummer war derart groß und ungezügelt, dass er sie ängstigte wie eine wilde Bestie, die unerwartet aus der Erde hervor gebrochen war. Barry, der kleine, bärtige Barry, ihr Freund, ihr Verbündeter.
Ihr Vater war genauso gestorben. Sie war fünfzehn gewesen, war aus der Stadt zurückgekommen und hatte ihn auf dem Rasen liegend gefunden, den Rasenmäher neben sich und die Sonne heiß auf seinem Hinterkopf. Parminder verabscheute plötzliche Todesfälle. Langes Siechtum, vor dem sich so viele Menschen fürchteten, war für sie eine tröstliche Aussicht. Zeit, alles vorzubereiten und zu organisieren, Zeit, um sich zu verabschieden ...
Noch immer drückte sie die Hände fest auf den Mund. Sie starrte auf das ernste, liebe Gesicht von Guru Nanak, das ans Korkbrett geheftet war.
(Vikram mochte das Foto nicht.
»Was soll das hier?«
»Mir gefällt es«, hatte sie trotzig geantwortet.)
Barry war tot.
Sie unterdrückte das starke Verlangen, in Tränen auszubrechen, mit einer Heftigkeit, die ihre Mutter immer missbilligt hatte, vor allem nach dem Tod des Vaters, als sich ihre anderen Töchter und die Tanten und Kusinen alle laut klagend auf die Brust geschlagen hatten. »Und das auch noch, wo du doch seine Lieblingstochter warst!« Aber Parminder hatte ihre ungeweinten Tränen tief in sich verschlossen, wo sie anscheinend eine chemische Umwandlung durchmachten, um dann später als Lavaströme der Wut in die Außenwelt zurückzukehren, die sich regelmäßig über ihre Kinder und die Arzthelferinnen ergossen.
Noch immer sah sie Howard und Maureen hinter dem Ladentisch stehen, der eine gewaltig, die andere dürr, und in ihrer Vorstellung blickten sie von weit oben auf sie herab, während sie ihr erzählten, dass ihr Freund tot war.
Mit einem Schwall von Wut und Hass, den sie beinahe freudig begrüßte, dachte Parminder: Sie sind froh. Sie glauben, sie gewinnen jetzt.
Wieder sprang sie auf, ging hinüber ins Wohnzimmer und nahm vom obersten Regal eine Ausgabe von Sainchis herunter, ihr brandneues heiliges Buch. Sie schlug es irgendwo auf und las ohne Überraschung, aber mit dem Gefühl, in ihr eigenes erschüttertes Gesicht im Spiegel zu schauen:
O Seele, die Welt ist ein tiefer, dunkler Schlund. Von allen Seiten wirft der Tod sein Netz aus.
IX
Die Beratungsstelle der Gesamtschule Winterdown war in einem Raum untergebracht, den man durch die Schulbibliothek erreichte. Er hatte kein Fenster, und nur eine einzelne Neonröhre hing an der Decke.
Tessa Wall, Leiterin der Beratungsstelle und Frau des stellvertretenden Schulleiters, betrat den Raum um halb elf, völlig übernächtigt und mit einem Becher starkem Pulverkaffee in der Hand, den sie aus dem Lehrerzimmer mitgebracht hatte. Sie war eine kleine, stämmige Frau mit einem unscheinbaren Gesicht, die ihr ergrauendes Haar selber schnitt, dabei geriet der stumpfe Pony oft ein wenig schief. Ihre Kleidung wirkte selbstgenäht, und sie mochte Schmuck aus bunten Perlen und Holz. Der Rock des Tages schien aus Jute zu sein, und dazu trug sie eine unförmige Wolljacke in Erbsgrün. Tessa betrachtete sich nur selten in bodentiefen Spiegeln und boykottierte Läden, in denen das unvermeidlich war.
Da der Beratungsraum einer Gefängniszelle glich, hatte sie versucht, ihn freundlicher zu gestalten, und einen Wandteppich aus Nepal mitgebracht, den sie noch aus ihrer Studentenzeit besaß: ein regenbogenfarbenes Tuch mit einer knallgelben Sonne und einem Mond, von dem stilisierte, wellenförmige Strahlen ausgingen. Die anderen Wände hatte sie mit Plakaten beklebt, die entweder hilfreiche Tipps zum Aufbau des Selbstwertgefühls gaben oder Telefonnummern von anonymen Hotlines nannten, die bei körperlichen und seelischen Problemen weiterhalfen.
Die Schulleiterin hatte beim letzten Mal, als sie im Beratungsraum vorbeischaute, eine etwas sarkastische Bemerkung dazu gemacht. »Und wenn uns nichts mehr einfällt, rufen die Gören beim Sorgentelefon für Kinder an, wie?«, hatte sie gesagt und auf das Plakat gezeigt, das am meisten ins Auge sprang.
Leise stöhnend sank Tessa auf den Stuhl, nahm die Armbanduhr ab, weil sie drückte, und legte sie neben einem Stapel Kopien ab. Sie bezweifelte, dass sie heute mit den vorgegebenen Richtlinien für Beratungsgespräche Erfolg haben würde, sie hatte sogar Zweifel, dass Krystal Weedon überhaupt auftauchen würde. Krystal verschwand regelmäßig aus der Schule, wenn sie sich aufregte oder langweilte. Manchmal wurde sie abgefangen, bevor sie das Tor erreichte, und am Schlafittchen wieder hineingeschleift, fluchend und kreischend. Gelegentlich entwischte sie jedoch und schwänzte tagelang.
Es wurde zwanzig vor elf, die Schulglocke läutete, und Tessa wartete.
Um zehn Uhr einundfünfzig stürmte Krystal herein und knallte die Tür hinter sich zu. Sie sackte vor Tessa auf dem Stuhl zusammen, verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und ließ ihre billigen Ohrringe hin und her schwingen.
»Sie können Ihrem Mann sagen«, brachte sie mit zitternder Stimme hervor, »dass ich nicht gelacht hab, verdammte Scheiße!«
»Bitte nicht fluchen, Krystal«, bat Tessa.
»Ich hab nicht gelacht, klar?«, brüllte Krystal.
Einige Schüler waren mit Mappen unter dem Arm in die Bibliothek gekommen. Sie spähten durch die Glasscheibe in der Tür, und einer grinste, als er Krystals Hinterkopf erblickte. Tessa stand auf, ließ das Rollo vor der Scheibe herab und kehrte zu ihrem Platz unter der Sonne und dem Mond zurück.
»Also gut, Krystal. Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?«
»Ihr Mann hat was wegen Mr Fairbrother gesagt, okay, und ich konnte nicht hören, was er gesagt hat, okay, also hat Nikki mir's gesagt, und ich konnt's verdammt -«
»Krystal!«
»Konnt's nicht glauben, okay, und hab losgebrüllt, aber ich hab nicht gelacht! Ich hab verdammt -«
»Krystal.«
»Ich hab nicht gelacht, klar?«, schrie Krystal, die Arme jetzt fest um sich gelegt, die Beine verschlungen.
»Ist ja gut, Krystal.«
Tessa war an die Wut der Kinder gewöhnt, die sie am häufigsten in der Beratung sah. Viele von ihnen besaßen keinerlei Arbeitsmoral; sie logen, benahmen sich schlecht und schummelten regelmäßig, und doch war ihre Wut, wenn man sie zu Unrecht für etwas beschuldigte, grenzenlos und unverfälscht. Tessa glaubte, in diesem Ausbruch echten Zorn zu erkennen, im Gegensatz zu dem künstlichen, den Krystal sonst gern an den Tag legte. Außerdem war Tessa der Aufschrei, den sie in der Versammlung gehört hatte, gleich wie ein Ausdruck des Entsetzens und der Bestürzung vorgekommen, nicht der Erheiterung. Tessa hatte ein mulmiges Gefühl dabei gehabt, als Colin es öffentlich als Lachen bezeichnet hatte.
»Ich war bei Pingel -«
»Krystal.«
»Ich hab Ihrem scheiß Mann -«
»Krystal, zum letzten Mal, bitte keine Schimpfwörter in meiner Gegenwart.«
»Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht gelacht hab, ich hab's ihm gesagt! Und trotzdem hat er mir scheiß Nachsitzen aufgebrummt. «
Tränen der Wut schimmerten in den stark geschminkten Augen des Mädchens. Hitze war ihr ins Gesicht gestiegen, sie funkelte Tessa an, bereit aufzuspringen, zu fluchen, Tessa den Stinkefinger zu zeigen. Das in fast zwei Jahren mühselig zwischen ihnen aufgebaute hauchdünne Vertrauen stand kurz vor der Zerreißprobe.
»Ich glaube dir, Krystal. Ich glaube, dass du nicht gelacht hast, aber bitte fluche nicht in meiner Gegenwart.«
Plötzlich rieben dicke kleine Finger in verschmierten Augen. Tessa zog Papiertücher aus ihrer Schublade und reichte sie Krystal rüber, die sie ohne Dank nahm, an die Augen drückte und sich damit die Nase putzte. Krystals Hände waren das Anrührendste an ihr: die Fingernägel kurz und breit, nachlässig lackiert, all ihre Handbewegungen naiv und direkt wie die eines kleinen Kindes.
Tessa wartete, bis sich Krystals schnaubende Atemzüge beruhigt hatten. Dann sagte sie: »Ich weiß, wie traurig du bist, weil Mr Fairbrother gestorben ist.«
»Ja, bin ich«, sagte Krystal mit beträchtlicher Aggression. »Na und?«
Tessa hatte plötzlich das Gefühl, dass Barry diesem Gespräch zuhörte. Sie konnte sein wehmütiges Lächeln sehen, konnte ganz deutlich hören, wie er »Ist sie nicht ein Herzchen?« sagte. Tessa schloss die brennenden Augen und brachte kein Wort hervor. Sie hörte Krystal herumzappeln, zählte im Stillen bis zehn und schlug die Augen wieder auf. Krystal starrte sie an, die Arme immer noch verschränkt, mit rotem Kopf und trotzigem Blick.
»Ich bin auch sehr traurig über Mr Fairbrothers Tod«, sagte Tessa. »Er war nämlich ein Freund von uns. Das ist der Grund, warum Mr Wall ein bisschen ...«
»Ich hab ihm gesagt, ich hab nicht ...«
»Lass mich bitte ausreden, Krystal. Mr Wall war heute sehr bestürzt und hat deswegen vermutlich missverstanden, was du getan hast. Ich werde mit ihm reden.«
»Der ändert seine verkack ...«
»Krystal!«
»Nee, tut er nicht.«
Krystal trommelte mit dem Fuß gegen das Bein von Tessas Schreibtisch. Tessa zog den Ellbogen weg, um die Vibration nicht zu spüren, und sagte: »Ich werde mit Mr Wall reden.«
Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene und wartete geduldig darauf, dass Krystal etwas erwiderte. Krystal behielt ihr aufsässiges Schweigen bei, trat gegen das Tischbein und schluckte immer wieder.
»Was war denn mit Mr Fairbrother?«, fragte sie schließlich.
»Man vermutet, in seinem Kopf ist ein Gefäß geplatzt«, sagte Tessa.
»Wieso?«
»Er wurde mit einer Schwäche geboren, von der er nichts ahnte«, erwiderte Tessa.
Tessa wusste, dass Krystal plötzliche Todesfälle vertrauter waren als ihr. Menschen aus dem Umfeld von Krystals Mutter starben mit solcher Regelmäßigkeit vorzeitig, dass man hätte meinen können, sie wären in einen Geheimkrieg verwickelt, von dem der Rest der Welt nichts ahnte. Krystal hatte Tessa erzählt, dass sie mit sechs Jahren die Leiche eines toten jungen Mannes im Badezimmer ihrer Mutter gefunden hatte. Das war der Grund gewesen, sie einmal mehr in die Fürsorge ihrer Großmutter Cath zu geben. Nana Cath spielte eine große Rolle in vielen Geschichten über Krystals Kindheit: eine seltsame Mischung aus Retterin und Landplage.
»Jetzt ist unsre Mannschaft am Arsch«, sagte Krystal.
»Nein, ist sie nicht«, sagte Tessa. »Und bitte nicht diese Sprache, Krystal.«
»Ist sie wohl.«
Tessa wollte ihr widersprechen, doch der Impuls wurde von ihrer Erschöpfung erdrückt. Krystal hatte ohnehin recht, sagte ein rationaler Teil in Tessa. Der Ruderachter war am Ende. Niemand außer Barry hätte Krystal Weedon dazu gebracht, in einer Gruppe mitzumachen und dabeizubleiben. Sie würde aussteigen, das wusste Tessa. Vermutlich wusste Krystal es auch. Eine Weile saßen sie schweigend da, und Tessa war zu müde, Worte zu finden, mit denen sie die Atmosphäre zwischen ihnen noch hätte ändern können. Sie fröstelte, fühlte sich ungeschützt, wund bis auf die Knochen. Sie war seit über vierundzwanzig Stunden wach.
(Samantha Mollison hatte sie abends um zehn aus dem Krankenhaus angerufen, gerade als Tessa nach einem langen Bad aus der Wanne gestiegen war, um sich die Nachrichten auf BBC anzusehen. Sie hatte sich wieder angezogen, während Colin unartikulierte Laute von sich gab und gegen die Möbel stieß. Sie hatten nach oben gerufen, um ihrem Sohn Bescheid zu geben, dass sie gingen, und waren dann zum Auto gerannt. Colin war viel zu schnell nach Yarvil gefahren, als könne er Barry wieder zum Leben erwecken, wenn er die Fahrt in Rekordzeit schaffte; der Realität ein Schnippchen schlagen und sie nach eigenen Wünschen formen.)
»Wenn Sie nicht mit mir reden, geh ich«, sagte Krystal.
»Sei nicht so grob, Krystal, bitte«, sagte Tessa. »Ich bin heute wirklich müde. Mr Wall und ich waren gestern Nacht im Krankenhaus bei Mr Fairbrothers Frau. Die beiden sind gute Freunde von uns.«
(Mary war völlig zusammengebrochen, als Tessa eingetroffen war. Sie hatte ihr Gesicht mit einem Aufschluchzen an Tessas Hals verborgen. Und während Tessas eigene Tränen auf Marys schmalen Rücken tropften, hatte sie gedacht, dass das Geräusch, das Mary von sich gab, Totenklage genannt wurde. Der Körper, um den Tessa sie so oft beneidet hatte, schlank und klein, hatte in ihren Armen gebebt, kaum fähig, die Trauer zu ertragen, die ihm zugemutet wurde.
Tessa wusste nicht mehr, wann Miles und Samantha gegangen waren. Sie kannte die beiden nicht besonders gut. Vermutlich waren sie sogar froh gewesen, gehen zu können.)
»Die Frau von ihm hab ich mal gesehn«, sagte Krystal. »Blond, war bei unsern Wettkämpfen.«
»Ja«, sagte Tessa.
Krystal kaute auf ihren Fingerspitzen.
»Er wollte, dass ich mit der Zeitung rede«, sagte sie plötzlich.
»Wie bitte?«, fragte Tessa verwirrt.
»Mr Fairbrother. Er wollt mich interviewen lassen. Allein.«
Die Lokalzeitung hatte einmal berichtet, dass der Ruderachter der Winterdown beim Endlauf der regionalen Wettkämpfe als Erster durchs Ziel gekommen war. Krystal, die nicht gut lesen konnte, hatte eine Ausgabe der Zeitung mitgebracht, um sie Tessa zu zeigen, und Tessa hatte ihr den Artikel laut vorgelesen und dazu bewundernde Bemerkungen gemacht. Das war das beste Beratungsgespräch von allen gewesen.
»Wollten sie dich wegen des Ruderns interviewen?«, fragte Tessa. »Wegen der Mannschaft?«
»Nö«, sagte Krystal. »Wegen was anderm.« Dann: »Wann ist Beerdigung?«
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Tessa.
Krystal kaute an den Nägeln, und Tessa brachte nicht die Kraft auf, das Schweigen zu durchbrechen, das sich um sie verfestigte.
X
Die Bekanntgabe von Barrys Tod auf der Website des Gemeinderats löste kaum ein Kräuseln auf der Oberfläche aus, sie blieb ein winziger Kieselstein in einem gewaltigen Ozean. Trotzdem wurde an diesem Montagmorgen mehr telefoniert in Pagford, und kleine Menschentrauben bildeten sich auf den schmalen Bürgersteigen, um sich in entsetztem Ton zu vergewissern, ob das stimmte, was sie gehört hatten.
Während sich die Nachricht verbreitete, fand eine seltsame Veränderung statt. Barrys Unterschrift in den Akten aus seinem Büro und unter den E-Mails im Posteingang seines umfangreichen Bekanntenkreises bekam eine Bedeutung zugeschrieben wie sonst nur die Brotkrümelspur eines verirrten Jungen im Wald. Dieses rasche Gekritzel, diese Pixel, eingegeben von Fingern, die inzwischen auf ewig zum Stillstand gekommen waren, nahmen die makabre Form wertloser Hülsen an. Gavin fühlte sich bereits ein wenig abgestoßen vom Anblick der Kurzmitteilungen seines Freundes auf dem Handy, und eines der Mädchen aus dem Ruderachter, beim Rückweg von der Schulversammlung immer noch in Tränen aufgelöst, wurde fast hysterisch, als sie in ihrer Schultasche ein von Barry unterschriebenes Formular fand.
Die dreiundzwanzigjährige Reporterin von der Yarvil and District Gazette hatte keine Ahnung, dass Barrys einst so reges Gehirn jetzt nur noch eine Handvoll schwammigen Gewebes in einer Nierenschale im Kreiskrankenhaus South West war. Sie las sich durch, was er ihr eine Stunde vor seinem Tod gemailt hatte, und rief dann seine Handynummer an, doch niemand meldete sich. Barrys Handy, das er auf Marys Wunsch hin abgestellt hatte, bevor sie zum Golfclub aufgebrochen waren, lag stumm neben der Mikrowelle in der Küche, zusammen mit seinen anderen persönlichen Dingen, die das Krankenhaus ihr ausgehändigt hatte. Niemand hatte die Sachen angefasst. Diese vertrauten Gegenstände - sein Schlüsselbund, sein Handy, sein abgeschabter alter Geldbeutel - wirkten wie Teile des Toten, sie hätten seine Finger sein können, seine Lungenflügel.
Die Nachricht von Barrys Tod verbreitete sich immer weiter, ging wie ein Strahlenkranz von jenen aus, die im Krankenhaus gewesen waren. Weiter und weiter, bis sie Yarvil und jene erreichte, die Barry nur vom Sehen, vom Hörensagen oder dem Namen nach gekannt hatten. Allmählich verloren die Fakten Form und Fokus, wurden in manchen Fällen verzerrt. Manchmal ging Barry fast hinter der Art seines Sterbens verloren und wurde zu nicht mehr als einer Eruption aus Kotze und Pisse, eine zuckende Katastrophe, und es schien unpassend, geradezu grotesk komisch, dass ein Mann so schlampig vor dem schmucken kleinen Golfclub sterben konnte.
Und so kam es, dass Simon Price, der in seinem Haus oben auf dem Hügel mit Blick über ganz Pagford als einer der Ersten von Barrys Tod erfahren hatte, in der Druckerei Harcourt-Walsh, in der er seit seinem Schulabgang arbeitete, eine ganz eigene Version der Geschichte hörte. Er hörte sie von einem jungen, Kaugummi kauenden Gabelstaplerfahrer, den Simon missmutig an seiner Bürotür vorfand, als er am späten Nachmittag von der Toilette kam.
Der Junge war eigentlich nicht gekommen, um über Barry zu reden.
»Das Ding, das Sie haben wollten«, hatte er genuschelt, als er Simon ins Büro gefolgt war und Simon die Tür geschlossen hatte.
»Ich kann's Ihnen Mittwoch liefern, wenn Sie's immer noch wollen. «
»Ach?«, sagte Simon und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Ich dachte, es sei schon da?«
»Ist es auch, kann's aber erst Mittwoch abholen.«
»Wie viel wolltest du noch mal?«
»Achtzig, auf die Kralle.«
Der Junge kaute heftig, Simon hörte das Schmatzen. Kaugummi kauen gehörte zu Simons liebsten Hassobjekten.
»Ist aber ein Echter, oder?«, wollte Simon wissen. »Nicht irgendein billiger Scheißdreck.«
»Kommt direkt vom Lager«, sagte der Junge, seine Füße und Schultern waren ständig in Bewegung. »Original, noch in der Verpackung. «
»Na gut«, sagte Simon. »Bring ihn am Mittwoch mit.«
»Was, hierher?« Der Junge verdrehte die Augen. »Nee, nicht in die Arbeit, Mann. Wo wohnen Sie?«
»Pagford«, sagte Simon.
»Wo da?«
Simons Abneigung, seine Adresse zu nennen, grenzte an Aberglauben. Er hatte nicht nur etwas gegen Besuch - Eindringlinge in seine Privatsphäre und mögliche Plünderer seines Eigentums -, sondern betrachtete Hilltop House als unversehrt, makellos, es gehörte zu einer völlig anderen Welt als Yarvil und die laute, dröhnende Druckerei.
»Ich hol ihn nach der Arbeit ab«, sagte Simon, ohne auf die Frage einzugehen. »Wo hast du ihn abgestellt?«
Dem Jungen gefiel das nicht. Simon funkelte ihn an.
»Also, ich brauch das Geld vorab«, hielt der Gabelstaplerfahrer ihn hin.
»Du kriegst das Geld, wenn ich die Ware habe.«
»So läuft das nicht, Mann.«
Simon hatte das Gefühl, Kopfschmerzen zu bekommen. Er wurde die schreckliche Vorstellung nicht los, ausgelöst von seiner gedankenlosen Frau, dass im Kopf eines Mannes eine winzige Bombe ticken konnte, seit Ewigkeiten unentdeckt. Das ständige Geratter und Rumpeln der Druckmaschinen war bestimmt nicht gut für ihn, das unablässige Hämmern könnte seine Gefäßwände seit Jahren angegriffen haben.
»Na gut«, murrte er und rutschte auf dem Stuhl zur Seite, um an den Geldbeutel in der Gesäßtasche zu kommen. Mit ausgestreckter Hand trat der Junge an den Schreibtisch.
»Wohnen Sie in der Nähe vom Golfplatz in Pagford?«, fragte er, als Simon ihm die Zehner in die Hand zählte. »Ein Kumpel von mir ist da gestern Abend vorbeigekommen und hat gesehen, wie ein Kerl tot umfiel. Hat einfach auf den Parkplatz gekotzt, ist umgekippt und war tot.«
»Ja, hab davon gehört«, sagte Simon und rieb den letzten Zehner zwischen den Fingern, bevor er ihn weiterreichte, um sich zu vergewissern, dass nicht zwei Scheine zusammenklebten.
»War korrupt, ein korrupter Gemeinderat. Der Kerl, der gestorben ist. Hat sich schmieren lassen. Grays hat ihn bezahlt, damit sie ihn als Bauunternehmer behalten.«
»Ach ja?«, sagte Simon scheinbar gelangweilt, war jedoch höchst interessiert. Barry Fairbrother, wer hätte das gedacht?
»Ich meld mich dann wieder.« Der Junge schob die achtzig Pfund in die Gesäßtasche. »Und wir holen ihn am Mittwoch.«
Die Bürotür schloss sich. Über der faszinierenden Enthüllung von Barry Fairbrothers Verderbtheit vergaß Simon seine Kopfschmerzen, die kaum mehr waren als ein Piksen. Barry Fairbrother, so rührig und umgänglich, so beliebt und freundlich - dabei ließ er sich die ganze Zeit von Grays schmieren.
Simon war von der Information nicht so erschüttert, wie es jeder andere gewesen wäre, der Barry gekannt hatte, und in seinen Augen setzte es Barry auch nicht herab. Im Gegenteil, er verspürte zunehmend Respekt für den Toten. Jeder, der auch nur ein bisschen Verstand hatte, arbeitete ständig und insgeheim daran, sich so viel wie möglich unter den Nagel zu reißen, das wusste Simon. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte er die Tabellenkalkulation auf seinem Bildschirm an, nun wieder taub für den Krach der Druckmaschinen hinter seinem staubigen Fenster.
Wenn man eine Familie hatte, blieb einem nichts anderes übrig, als Vollzeit zu arbeiten, aber Simon hatte immer gewusst, dass es andere, bessere Möglichkeiten gab, dass ein Leben in Saus und Braus über seinem Kopf schwebte wie eine prall gefüllte Piñata, die er aufschlagen könnte, wenn er nur einen entsprechend großen Stock hätte und das Wissen, wann er zuschlagen musste. Simon hing dem kindlichen Glauben an, dass der Rest der Welt nur als Bühne für das eigene Drama existierte, dass das Schicksal über ihm wachte, ihm Hinweise und Zeichen bescherte, und er hatte das untrügliche Gefühl, ihm sei ein Zeichen, ein göttlicher Wink zuteilgeworden.
Übernatürliche Fingerzeige waren für eine ganze Reihe abenteuerlicher Entscheidungen in Simons Vergangenheit verantwortlich. Jahre zuvor, als er noch Lehrling in der Druckerei war, eine Hypothek abzahlen musste, die er sich kaum leisten konnte, und seine Frau schwanger war, hatte er beim Grand National hundert Pfund auf ein hoch favorisiertes Rennpferd namens Ruthie's Baby gesetzt, das dann beim vorletzten Hindernis gestürzt war. Kurz nach dem Kauf von Hilltop House hatte Simon zwölfhundert Pfund, die Ruth für Vorhänge und Teppiche hatte ausgeben wollen, in ein kurzfristiges Projekt gesteckt, geleitet von einem großspurigen alten Bekannten aus Yarvil. Simons Kapital war mit dem Firmenchef verschwunden, doch obwohl Simon gewütet und geflucht und seinen jüngeren Sohn die halbe Treppe hinuntergestoßen hatte, hatte er sich nicht an die Polizei gewandt. Er hatte von gewissen Unregelmäßigkeiten bei der Firmenführung gewusst, bevor er sein Geld investierte, und er sah unangenehme Fragen auf sich zukommen.
Diesen Verlusten standen jedoch auch Glücksfälle gegenüber, Kniffe, die zogen, Ahnungen, die sich auszahlten, und Simon maß ihnen große Bedeutung bei, wenn er Bilanz zog. Sie waren der Grund, warum er seinen Sternen vertraute, die ihn in dem Glauben bestärkten, das Universum müsse noch mehr für ihn auf Lager haben als den Schwachsinn, für ein bescheidenes Gehalt zu arbeiten, bis er in Rente ging oder starb. Gaunereien und Abkürzungen, Vorteilsnahme und Begünstigung, alle machten es und sogar, wie es schien, der kleine Barry Fairbrother.
Hier, in seinem winzigen Büro, schaute Simon Price begehrlich auf einen leeren Platz in den Reihen der Eingeweihten und erkannte eine Goldgrube, die niemand bisher erschlossen hatte.
Übersetzung: Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Der Abdruck der Liedtexte erfolgt mit freundlicher Genehmigung: »Umbrella«: Written by Terius Nash, Christopher »Tricky« Stewart, Shawn Carter and Thaddis Harrell © 2007 by 2082 Music Publishing (ASCAP)/Songs of Peer, Ltd. (ASCAP)/March Ninth Music Publishing (ASCAP)/Carter Boys Music (ASCAP)/EMI Music Publishing Ltd (PRS)/Sony/ATV Music Publishing (PRS). All rights on behalf of WB Music Corp. and 2082 Music Publishing Administered by Warner/Chappell North America Ltd. All Rights on behalf of March Ninth Music Publishing Controlled and Administered by Songs of Peer, Ltd. (ASCAP). All Rights on behalf of Carter Boys Music Controlled and Administered by EMI Music Publishing Ltd. All rights on behalf of Thaddis Harrell Controlled and Administered by Sony/ATV Music Publishing.
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Eine Übersetzung der Liedtexte findet sich im Anhang
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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2012 und Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Originalcopyright © J. K. Rowling 2012 Originalverlag: Little Brown Ltd, London 2012 Originaltitel: The Casual Vacancy Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer nach einem Entwurf von Mario J. Pulice Illustration und gemalte Schrift von Joel Holland Umschlag © 2012 Hachette Book Group, Inc. Autorenfoto: Wall to Wall Media Ltd. Fotograph: Andrew Montgomery Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-551-58888-3 Printed in Germany
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Autoren-Porträt von J.K. Rowling
J.K. Rowling ist die Autorin der Harry Potter-Bücher. Weltweit wurden ihre Bücher in 73 Sprachen übersetzt und haben über 450 Millionen Leser gefunden. J. K. Rowling, die mit zahlreichen Literaturpreisen, wie z. B. dem Hans-Christian-Andersen-Preis, ausgezeichnet wurde, unterstützt über ihre Stiftung Volant zahlreiche gemeinnützige Projekte.
Bibliographische Angaben
- Autor: J.K. Rowling
- 2013, 11. Aufl., 576 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548285287
- ISBN-13: 9783548285283
- Erscheinungsdatum: 28.11.2013
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