Eine skandalöse Lady
Roman. Deutsche Erstausgabe
Bei einer Party findet sich Lillian mit einem Fremden in der Bibliothek eingeschlossen. Ein Skandal!
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Produktinformationen zu „Eine skandalöse Lady “
Bei einer Party findet sich Lillian mit einem Fremden in der Bibliothek eingeschlossen. Ein Skandal!
Klappentext zu „Eine skandalöse Lady “
Heiß und verführerisch wie eine sinnliche Liebesnacht!Lady Lillian Bourne kann sich keinen weiteren Skandal leisten, doch das Schicksal scheint sich gegen sie verschworen zu haben: Während einer Party findet sie sich allein mit einem mysteriösen Fremden in der Bibliothek eingeschlossen. Wenn das bekannt wird, ist ihr Leben ruiniert. Lord Damien Northfield hingegen genießt das kleine Intermezzo mit Lily und kann seitdem an nichts anderes mehr denken. Als er den Auftrag erhält, ein erpresserisches Mordkomplott aufzudecken, stößt er erneut auf die reizende Miss Bourne. Nur sie kann ihm helfen, den Mörder zu enttarnen ...
Lese-Probe zu „Eine skandalöse Lady “
Eine skandalöse Lady von Emma WildesDeutsch von Juliane Korelski
Kapitel 1
London 1816
Eine Bibliothek war ein wirklich wunderbarer Ort, um während eines Balls ein wenig auszuruhen, dachte Lady Lillian Bourne und lehnte sich zufrieden in den weichen Polstern zurück, um die friedliche Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.
Viel Zeit hatte sie nicht. Mit Glück blieben ihr zwanzig Minuten - sofern sie es überhaupt wagte, so lange fortzubleiben. Aber sie brauchte diesen Rückzug und die Stille, wenigstens für ein paar Minuten. Die Klänge des Orchesters wehten nur noch leise zu ihr herüber. Angenehm, nicht mehr so aufdringlich laut wie im Ballsaal, wo Geräusche jeder Art auf einen eindrangen. Nicht dass sie ungesellig gewesen wäre - nein, das nicht. Nur ging ihr das oberflächliche Getue und Gerede der angeblich so feinen Londoner Gesellschaft arg auf die Nerven.
Während sie noch ihren Gedanken nachhing, merkte sie plötzlich, dass sie nicht mehr allein war. Jemand anders schien ebenfalls auf der Suche nach einem friedlichen Plätzchen zu sein.
Die Tür öffnete sich, schloss sich und wurde fast augenblicklich ein zweites Mal geöffnet. Wie viele Leute wollten denn noch in ihr Refugium eindringen?
Als Nächstes hörte sie eine dunkle Männerstimme, die unverkennbar einen Fluch murmelte. Einen äußerst faszinierenden, denn er enthielt ein Wort, das sie nicht kannte und vermutlich als unschicklich galt.
Dann eine zweite Stimme. »Hier habt Ihr Euch also versteckt, Mylord?« Zweifellos handelte es sich um eine Frau, und ihr heißblütiger, verführerischer Tonfall verriet eindeutig, was sie im Sinn hatte.
... mehr
Lily, die sich zwanglos in die Samtpolster des Sofas gekuschelt und ganz undamenhaft die Beine mit überkreuzten Füßen weit ausgestreckt hatte, musste sich zur Ordnung rufen, um sich nicht aufzusetzen und zu schauen, wer da den Raum betreten hatte. Aber da ihre Furcht, entdeckt zu werden, größer war als ihre Neugier, ließ sie es und beschränkte sich aufs Lauschen.
»Ja, ich war auf der Suche nach einem Ort, wo ich ein paar Minuten ganz für mich sein kann. Allein.« Das letzte Wort betonte er unmissverständlich.
Seine Begleiterin ignorierte den diskreten Hinweis. »Ihr seid immer so witzig«, sagte sie und stimmte ein helles, melodiöses Lachen an.
»Bin ich das?« Die Stimme des Mannes klang ironisch, aber nicht aggressiv, sondern eher lässig. »Dessen war ich mir bisher nicht bewusst. Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, Lady Piedmont?«
Lady Piedmont? Etwa die Lady Piedmont, deren Gatte derzeit als Kandidat für den Posten des Premierministers gehandelt wurde? Hochinteressant. Lily las nämlich nicht nur die Klatschspalten, sondern interessierte sich ebenfalls für Politik und das Intrigenspiel in der britischen Regierung. Und von daher war ihr der Name sehr wohl vertraut.
»Ich denke, Ihr wisst ganz genau, warum ich Euch gefolgt bin.«
Die Lady wirkte auf Lily erheblich weniger weltgewandt, als man ihr gemeinhin nachsagte. Dafür war sie unglaublich direkt und ging äußerst zielstrebig vor, denn ihre geflüsterte Andeutung ließ keine Zweifel an ihren Absichten aufkommen. Und das Ausbleiben einer Antwort nährte bei Lily den Verdacht, dass sie durchaus erfolgreich sein könnte.
So langsam wurde ihr die Sache peinlich. Sie saß da in der Dunkelheit und konnte sich nicht bemerkbar machen. Warum zum Teufel geriet sie immer wieder in Situationen wie diese, fragte Lily sich mit einer Mischung aus Verärgerung und Verdruss. Sie wollte doch nur ein paar Minuten lang ihre Ruhe haben, unbeobachtet von den Gaffern, die jeden ihrer Schritte verfolgten und nur darauf warteten, dass sie erneut einen Fauxpas beging.
Dabei reichte es ihr wirklich, einmal bei der Gesellschaft in Ungnade gefallen zu sein. Das war mehr als genug.
»Miriam«, sagte der unbekannte Mann, und seine Stimme klang noch tiefer. »Tut das nicht. Ich werde nicht darauf eingehen.«
»Aber, aber, mein Lieber. Euer Körper spricht eine andere Sprache. Sie werden ja ganz hart.«
»Kein Wunder, wenn eine schöne Frau sich daranmacht, meine Hose aufzuknöpfen. Ich glaube, bei den meisten Männern würde das nicht ohne Folgen bleiben. Was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass es mir recht ist und ich diese Annäherung fortzusetzen wünsche.«
»Nein? Da erzählt man sich aber andere Dinge. Überdies heißt es, Ihr wärt bemerkenswert gut bestückt. Ich bin sehr bestrebt, diese Behauptung zu überprüfen.« Sie schnurrte leise und verführerisch.
»Du lieber Himmel, habt ihr Frauen denn kein besseres Thema, über das es sich zu reden lohnt? Tut mir leid, Mylady, doch ich habe kein Interesse daran, Eure Neugier zu stillen. «
Lady Piedmont zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von der Zurückweisung, stieß vielmehr atemlos hervor: »Küsst mich noch einmal.«
»Beim ersten Mal habe nicht ich Euch geküsst«, wandte er ein, »sondern Ihr mich. Das ist ein himmelweiter Unterschied, meine Liebe.«
Lily konnte nicht länger dem Impuls widerstehen, sich aufzurichten und einen kurzen Blick über die Rückenlehne des Sofas zu riskieren, die sie bislang verbarg. Im schwachen Schein des Mondes, der durch die Fenster fiel, erkannte sie auf der anderen Seite des lang gestreckten Raumes vage die Umrisse eines Mannes und einer Frau. Den des offenbar in Bedrängnis geratenen, noch nicht identifizierten Lords und seiner zu allem entschlossenen Verführerin. Beide waren dermaßen mit sich selbst beschäftigt, der eine auf Abwehr, die andere auf Angriff, dass sie Lilys Anwesenheit nicht bemerkten.
Zwar konnte sie die Gesichter nicht genau erkennen, doch sie wusste, dass Lady Piedmont ausnehmend hübsch war. Obwohl sie die Blüte ihrer Jahre bereits überschritten hatte, stellte sie noch so manche junge Frau in den Schatten mit ihren flammend roten Haaren und der üppigen Figur. Jetzt setzte sie ihre Reize entschlossen bei dem hochgewachsenen Unbekannten ein, den sie zweifellos als Beute auserkoren hatte. Lily sah, dass er ihre Handgelenke gepackt hielt, damit sie nicht weiter an seiner Hose herumnestelte. Stattdessen presste sie sich jetzt aufreizend gegen seinen Körper und drückte ihn dabei gegen ein Bücherregal.
Hätte sie eine solche Szene mit umgekehrten Vorzeichen beobachtet - eine junge Lady, bedrängt von einem Mann -, würde Lily nach der Chinavase auf dem Tisch zu ihrer Rechten greifen, um das unschuldige Mädchen aus den Fängen des Verführers zu retten. Doch in diesem Fall war das Objekt der Begierde ein großer, breitschultriger Mann, der durchaus in der Lage zu sein schien, sich zur Wehr zu setzen. Wenn er es denn ernsthaft wollte.
»Euer Interesse an mir ist äußerst schmeichelhaft«, hörte sie ihn jetzt mit leichtem Spott sagen. »Aber es ist nicht gerade schicklich, wenn wir gemeinsam dem Ballsaal noch länger fernbleiben, und wird zudem kaum unbemerkt bleiben. Ich denke, es wäre das Beste, wenn Ihr umgehend zurückkehrt. «
»Ich habe mich noch nie um Anstand und Moral geschert.
Gesittetes Verhalten zählt nicht gerade zu meinen hervorstechenden Eigenschaften.«
Das glaubte Lily unbesehen. Keine anständige Lady würde sich dermaßen an einen Mann pressen, noch dazu gegen dessen Willen. Tugendhaft war das jedenfalls nicht. Ihr kam eher das Wörtchen schamlos in den Sinn.
»Wollt Ihr wirklich einen Eklat riskieren? Oder zumindest die Gerüchteküche anheizen? Es kann doch nicht angenehm sein, wenn ganz London hinter vorgehaltener Hand über Euch tuschelt.«
Nein, dachte Lily, das war es weiß Gott nicht. Sie wusste es aus eigener leidvoller Erfahrung. Keine Frau, die auf sich hielt, konnte so etwas wollen.
»Sollten wir das nicht lieber später diskutieren? An einem diskreteren Ort?«
»Nein.«
»Liebster, ich ...«
»Nein.« Seine Stimme klang sehr höflich, fast ein bisschen nachsichtig, aber zugleich war da ein drohender Unterton, der keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Ablehnung aufkommen ließ.
»Warum nicht?«, fragte sie schmollend. Zumindest schien sie jedoch endlich zu begreifen, dass er ihre Annäherungsversuche definitiv nicht wünschte.
»Dafür gibt es unzählige Gründe.«
In diesem Augenblick spürte Lily einen Anflug von Bewunderung für den Fremden. Schließlich würden sich die wenigsten Gentlemen in einer solchen Situation derart standhaft erweisen. Dieser unbekannte Lord hingegen blieb bei seiner Weigerung. Nein hieß bei ihm Nein.
Gut für ihn.
Jetzt ließ er Lady Piedmonts Handgelenke los und hob seine erfolglose Verführerin mühelos hoch, obwohl sie empört nach Luft schnappte. Ging mit ihr zur Tür, öffnete sie rasch und stellte die widerstrebende Lady auf den Boden, bevor er wieder in die Bibliothek trat, die Tür zuzog und den Schlüssel im Schloss drehte.
Lily duckte sich erneut hinter die Sofalehne. »Zum Teufel, ich hoffe nur, hier gibt es irgendwo einen ordentlichen Brandy «, hörte sie ihn murmeln.
Den gab es tatsächlich. Das Tablett mit der Karaffe und den Gläsern stand auf einem kleinen polierten Tischchen sehr nahe bei dem Sofa, auf dem sie noch immer saß. Sie fragte sich, wie das Schicksal nur so gemein mit ihr umgehen konnte und sie erneut in eine verfängliche Situation brachte, anders als damals, aber möglicherweise ebenfalls gefährlich. Oder wie sollte man das nennen, wenn man sich plötzlich mit einem wildfremden Gentleman eingesperrt in einem Raum befand? Dabei hatte Lily sich ganz fest vorgenommen, allem aus dem Weg zu gehen, was sie kompromittieren könnte. Allem, was als unschicklich und unanständig galt.
Ein zweiter Skandal würde ihren Ruf endgültig ruinieren.
Sie schaute sich um. Fluchtmöglichkeiten gab es keine. Kein geöffnetes Fenster, kein Möbelstück, unter dem sie sich hätte verstecken können. Stattdessen bewegte der Mann sich gezielt in ihre Richtung, kam immer näher. Voller Panik hielt sie die Luft an.
Verdammt noch mal, würde ihr Bruder Jonathan jetzt vermutlich sagen. Mit Recht, denn die Sache entwickelte sich wirklich übel. Und das, obwohl sie sich nicht das Geringste vorzuwerfen hatte. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, dass sie genau das Gleiche suchte wie dieser Fremde zufällig auch: ein paar Minuten Ruhe und eine kleine Pause vom Ball. Es war ja schließlich nicht ihr Fehler, dass die hartnäckige Lady Piedmont ihm in unsittlicher Weise nachstellte.
Lily beschloss, dass es das Beste sei, sich einfach bemerkbar zu machen.
Ein zarter, flüchtiger Geruch nach Veilchen, den er beim Betreten der Bibliothek wahrgenommen hatte, hatte ihm bereits verraten, dass sich jemand im Raum befand. Der süße Duft war nur ganz schwach, längst nicht so aufdringlich wie das schwere Gardenienparfum von Lady Piedmont, doch er entging ihm nicht. Zumal in einer Umgebung, in der es ansonsten nach staubigen alten Büchern mit rissigen Ledereinbänden roch.
Außerdem war da das leise Rascheln von Seide gewesen. Von Röcken, deren Trägerin sich bewegte, und zwar irgendwo am anderen Ende des Raumes, wo er unter den hohen Fenstern die Umrisse einer kleinen Sitzgruppe erkannte. Er stellte sich vor, dass man am Tag, wenn man es sich dort mit einem Buch gemütlich machte, einen schönen Blick über den Garten haben musste.
Der Gedanke an die Fremde faszinierte ihn. Lord Damien Northfield lächelte, als er darüber nachdachte, was sie so alles mitbekommen hatte. Bestimmt war ihr das Ganze schrecklich peinlich, sodass sie sich davor fürchtete, entdeckt zu werden. Trotz der Musik, die vom Ballsaal herüberdrang, konnte er sie hastig und aufgeregt atmen hören. Andere hätten es vielleicht gar nicht registriert, doch er hatte während der Kriege gegen Napoleon der Krone in geheimer Mission gedient, und hinter den feindlichen Linien schärften sich die Sinne. Sonst überlebte man nicht lange.
Nur zu gern wüsste er, wie sie aussah. Und was sie in die Bibliothek getrieben hatte. Warum zog sie sich zurück und verkroch sich hier? Bald würde er es vielleicht erfahren, denn immer mehr näherte er sich nicht nur dem Tischchen mit der Karaffe, sondern auch dem Sofa, auf dem sich die Unbekannte versteckte.
Bei jedem Schritt schmerzte sein Bein, das er ein wenig nachzog. Die Wunde war zwar verheilt, aber die Ärzte hatten ihm ganz freimütig gesagt, dass es in seiner Beweglichkeit eingeschränkt bleibe und er nie mehr ganz normal gehen könne. Kurz gesagt, es war eine verfluchte Plage.
Jetzt war er bei der Sitzgruppe angelangt, sagte mit höflich- neutraler Stimme »Guten Abend«, als würden sie sich nicht unter so merkwürdigen Umständen begegnen.
Ein paar Minuten lang herrschte Stille, bis sie ein leises Klirren hörte, als er den Stöpsel von der Glaskaraffe hob und sich einen Brandy einschenkte.
»Ihr wusstet, dass ich hier bin?«, sagte sie erstaunt.
Ebenso wie ihr Geruch und ihre Bewegungen, die er aus dem Rascheln ihrer Röcke herauslas, gefiel ihm der Rhythmus und Klang ihrer Stimme, die voll, dunkel und warm und melodisch war. Und ihre direkte Art. Obwohl es ihn reizte, sich umzudrehen und sie näher in Augenschein zu nehmen, verzichtete er zunächst darauf und trank erst einmal einen Schluck aus dem Glas. Französischer Brandy vom Feinsten, wie er zu seiner Freude feststellte, sehr weich im Geschmack. »Ja, ich wusste es.«
Sie setzte sich auf - auch das hörte er bloß. »Warum habt Ihr denn nichts gesagt?«
»Und warum habt Ihr geschwiegen?« Damien ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen, ehe er einen zweiten Schluck nahm und sich langsam umdrehte.
Sein erster Eindruck war, dass seine kleine Spionin bezaubernd sein musste. Nicht richtig schön vielleicht. Zumindest nicht auf die Art einer Lady Piedmont mit ihren üppigen Brüsten und den flammenden Haaren. Anders eben, aber hübsch und einprägsam. Das erkannte er trotz des Dämmerlichts. Ihre Haare hatten eine dunkle Farbe, die im Mondschein braungolden schimmerte. Ihre Gestalt war schlank und zierlich, was ihm sehr zusagte, und ihre Haut hell und makellos. Zu ihrer Erscheinung passte das schlichte, wiewohl sehr modische Kleid, das auf alles Überladene, auf Rüschen, Spitzen und allerlei Applikationen verzichtete. Der Ausschnitt brachte die sanften Rundungen ihrer Brüste verführerisch zur Geltung, und der rosafarbene Stoff schmeichelte ihrem Teint.
Fast trotzig reckte sie ihr wohlgeformtes Kinn. »Ich war zuerst hier.«
Faszinierend. Er liebte diese kämpferische Art. Außerdem war ihr Einwand berechtigt, und so zuckte er nur mit den Schultern, beobachtete sie bloß. Würde er diese Angewohnheit wohl jemals ablegen? Gott, er hoffte es so sehr. Immerzu musterte er die Menschen mit einer unnatürlichen Intensität. Früher war das wichtig gewesen, genau wie die Schärfung aller Sinne. Jetzt hingegen brauchte er es nicht mehr - und er hasste es eigentlich, ständig auf der Hut zu sein, als würden überall Gefahren lauern - trotzdem schaffte er es nicht, sich umzustellen. Vielleicht lag es daran, dass er nur um ein Haar dem Tod entronnen war.
»Da gebe ich Euch recht«, sagte er endlich und trank noch einen Schluck von dem Brandy. Er hatte unzählige Verhöre durchgeführt, und man sagte, er sei sehr, sehr gut darin - er selbst wusste am besten, dass das stimmte. »Da niemand hier ist, der uns einander vorstellen könnte und Ihr zudem bereits Zeugin einer sehr persönlichen Auseinandersetzung geworden seid, denke ich, wir sollten das nachholen.« Er verbeugte sich leicht. »Lord Damien Northfield, zu Euren Diensten.«
Er spürte ihr Zögern, bevor sie kühl antwortete: »Lady Lillian Bourne.«
Er war noch nicht lange genug zurück in der Gesellschaft, um mit den aktuellen Klatschgeschichten vertraut zu sein. Abgesehen davon hielt er nach seinen Erlebnissen in Portugal und Spanien, wo Großbritannien auf Seiten der beiden Länder gegen Frankreich kämpfte, die diversen lässlichen Sünden der englischen Oberschicht für mehr als zweitrangig. Etwas am Klang ihrer Stimme sagte ihm allerdings, dass sie voraussetzte, ihr Name müsse ihm etwas sagen. Aber was?
Bestimmt meinte sie nicht seinen Eindruck, dass er zu ihr passte. Lillian. Er mochte den Namen. Elegant, ohne prüde zu wirken.
»Darf ich mich bei Euch entschuldigen, weil Ihr diese peinliche Situation belauschen musstet?« Das war das Mindeste, was sie als unverheiratete junge Lady erwarten durfte - und dass sie das war, darauf würde er sein Leben verwetten. Eine Jungfrau, die eine dermaßen unanständige Auseinandersetzung mit anhören musste!
»Mir kam es so vor, als wärt Ihr nicht derjenige gewesen, der sich unangemessen verhielt, Mylord.«
Hübsch und intelligent. Die Ironie ihrer Worte entging ihm nicht. »Ich habe mir große Mühe gegeben, ihr auszuweichen «, antwortete er mit einem leichten Lächeln und hoffte, dass es entwaffnend auf sie wirkte.
»Sie ist sehr schön.«
Ihre Direktheit überraschte ihn erneut. »Ja.« Er drehte sein Glas in den Händen, nippte daran und erklärte: »Aber ihr unverfrorenes Jagdverhalten reizt mich nicht. So etwas habe ich schon oft genug erlebt.«
Blitzte Belustigung in ihren Augen auf? Er war sich nicht sicher. »Das nenne ich eine wirklich interessante Bemerkung «, sagte sie. »Reden wir noch immer über liebestolle Damen, die sich Euch in die Arme werfen?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir.«
Jeder andere Mann hätte sie vermutlich einfach gefragt, warum sie nicht im Ballsaal sei und sich die zarten Füße blutig tanzte, doch er mied den direkten Weg. Seine Methoden, die gewünschten Informationen zu erhalten, waren eher subtiler Natur. »Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit den Gepflogenheiten der Gesellschaft nicht mehr so vertraut bin.«
Zu seiner Überraschung fragte sie nicht nach dem Grund. Diese Lady Lillian war selbst für ihn schwer durchschaubar. Weder ließ sie erkennen, ob sie bereits von ihm gehört hatte, noch fragte sie ihn, warum er so lange den erlauchten Adelskreisen ferngeblieben sei. Sie tat nichts dergleichen. Stattdessen stand sie auf. Die rosafarbene Seide raschelte, und der Veilchenduft, der sie dezent umgab, verstärkte sich ein wenig.
»Ich muss jetzt zurück zum Ball, und man sollte uns nicht gemeinsam beim Verlassen des Raumes sehen - auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass sich jemand in der Nähe der Bibliothek herumtreibt. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn Ihr eine angemessene Zeit warten würdet, bis Ihr ebenfalls zu dem Fest zurückkehrt.«
Schade, dachte er. Gerade jetzt, wo der Abend eine angenehme Wendung zu nehmen versprach, wollte sie verschwinden. Er ließ sich seine Enttäuschung jedoch nicht anmerken.
Sein Lächeln war freundlich. »Selbstverständlich ...« Er zögerte. »Aber nur, wenn Ihr mir verratet, warum Ihr Euch lieber in der dunklen Bibliothek aufhaltet statt im Ballsaal.«
»Ihr, Mylord, stellt Bedingungen für ein ehrenwertes Verhalten?«
Damien blinzelte nicht. »Auf jeden Fall. Ihr werdet noch feststellen, dass es bei mir für alles Bedingungen gibt.« Auch das hatte er im Krieg gelernt. Schätze deinen Gegner richtig ein und reagiere dementsprechend - so lauteten vereinfacht die Prämissen für strategisches Verhalten.
»Ich werde was feststellen?«, wiederholte sie vorsichtig, und wenn er ehrlich war, fand er seine Formulierung selbst ausgesprochen merkwürdig und zweideutig.
Damien Northfield, ein Mann, der einst für den Feldzug auf der Iberischen Halbinsel wichtiger gewesen war als der berühmte Oberbefehlshaber, der Duke of Wellington, wusste darauf nichts zu erwidern.
»Falls wir uns erneut begegnen sollten«, wich er aus. Er sah, wie sie nickte und sich grazil auf die Tür zubewegte. Ihm gefiel, wie sie sich dabei in den Hüften wiegte. Überhaupt mochte er alles an ihr, dachte er, während er ihr nachschaute.
O ja, schwor er sich insgeheim. Wir werden uns wiedersehen.
Schließlich hatte sie seine Frage noch nicht beantwortet.
Kapitel 2
Lily kam sich vor, als sei sie soeben zum Duell gefordert worden, wenngleich zu einem ohne Waffen. Genau das nämlich bedeuteten Lord Northfields Worte: eine Provokation, eine Herausforderung. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich dabei fühlen sollte.
Während sie so würdevoll wie möglich durch den Raum schritt und nach dem Schlüssel im Schloss griff, versuchte sie sich daran zu erinnern, was sie über ihn wusste. Nicht viel, wie sie feststellte. Außer dass er der jüngere Bruder des Duke of Rolthven war, am Krieg gegen Napoleon teilgenommen hatte und während der letzten Schlacht, in Waterloo, verwundet worden war. Vermutlich der Grund für sein Hinken.
Und das war's dann schon. Aber es reichte, um ihre Neugier zu wecken. Plötzlich wollte sie mehr über diesen geheimnisvollen Fremden erfahren.
Sie hatte feststellen können, dass er gut aussah. Groß und stattlich mit dichtem, leicht gewelltem kastanienbraunem Haar. Wenn er lächelte, wirkte seine Miene leicht spöttisch mit einem Hauch von Bitterkeit. Seine Gesichtszüge konnte man als klassisch bezeichnen, insgesamt also rundum attraktiv, wobei ihr insbesondere sein sinnlicher Mund und die dunklen, eindringlichen Augen auffielen.
Und sie hatte geglaubt, jeden respektablen Junggesellen der besseren Gesellschaft bereits zu kennen! Immerhin stand sie unter der Protektion der beinahe schon Furcht einflößenden Witwe des Duke of Eddington, denn diese resolute Dame hatte Lillian unter ihre Fittiche genommen. Schuld daran war ihr älterer Bruder Jonathan, der die Enkelin der Herzoginwitwe geheiratet hatte. Seitdem setzte Ihre Gnaden alles daran, die junge Frau trotz ihres lädierten Rufes an den Mann zu bringen und sie damit gesellschaftlich zu rehabilitieren. Es würde bestimmt nicht einfach werden, dachte Lily, und wenn sie jetzt noch länger dem Ball fernblieb, würde das die Angelegenheit nicht leichter machen.
Das Schloss war schwergängig, und verzweifelt kämpfte sie darum, den Schlüssel zu drehen und die Tür endlich zu öffnen. Und dann kam es zur Katastrophe. Nicht einmal nur zu einer kleinen, sondern gleich zu einer großen, denn der Schlüssel brach ab.
Er war groß, reich verziert und zweifellos schon alt und morsch. Bestürzt hielt sie das zerbrochene Teil hoch und starrte es an. Warum um Himmels willen konnte es nicht ein paar Minuten länger halten, nachdem es offenbar jahrhundertelang seine Dienste getan hatte? Warum musste der Schlüssel ausgerechnet jetzt abbrechen?
Langsam drehte sie sich um, stieß innerlich einen Fluch aus, den eine Lady niemals laut aussprechen würde, bevor sie so gelassen wie möglich sagte: »Ich fürchte, wir sind eingesperrt. «
»Oh?« Vom anderen Ende des Raumes ließ sich Damien Northfields Miene nur schwer deuten. Sie sah bloß, dass er entspannt an seinem Brandy nippte. »Das kommt wohl ungelegen. «
Ungelegen? Vielleicht traf das auf ihn zu, für sie hingegen war es ein Desaster. Schließlich konnte sie es sich unter keinen Umständen leisten, in einem abgesperrten Raum mit einem Mann entdeckt zu werden. Denn wie zum Teufel sollte sie erklären, was sie beide in der Bibliothek des Gastgebers zu suchen hatten? Und warum die Tür abgeschlossen war? Letzteres aufzuklären würde bedeuten, Lady Piedmont zu kompromittieren und ihre Annäherungsversuche öffentlich zu machen. Unmöglich. Überdies blieb immer noch die Frage nach dem Grund für ihrer beider Aufenthalt in der Bibliothek.
»Der Schlüssel ist abgebrochen.«
»Ja, das habe ich deutlich gehört. Vermutlich stehen wir jetzt vor einem Problem. Normalerweise kann ich ein Schloss ohne Weiteres knacken, doch wenn was drinsteckt und den Mechanismus blockiert, wie hier vermutlich der Fall, wird es schwierig.«
Seine ruhige Stimme reizte sie, und am liebsten hätte sie ihm einen der schweren Lederbände, die überall auf den Tischchen herumlagen, an den Kopf geworfen. Stattdessen rang sie das Gefühl von Panik nieder, das sich ihrer bemächtigen wollte, und sie fragte mit bewundernswerter Fassung: »Und wie sollen wir den Raum nun verlassen?«
»Eine wirklich gute Frage. Durch die Fenster, würde ich vorschlagen, obwohl es leider zu regnen angefangen hat.«
Wie bitte?
Als Lily vorstürzte und ihr Gesicht an die Scheiben drückte, sah sie, dass es inzwischen aus den bleischweren Wolken, die schon früher am Abend den Himmel bedeckt hatten, wie aus Gießkannen schüttete.
Ein ungehaltener Protestlaut entschlüpfte ihren Lippen, laut und aus vollem Herzen kommend. Doch nicht nur der Regen stellte ein Problem dar, weil er ihr Kleid und ihre Frisur für alle sichtbar ruinieren würde, sondern da wäre bei einer Flucht aus einem der Fenster auch noch ein dorniges Rosengestrüpp zu überwinden. Nass und mit zerrissenem Kleid würde sie auf den Ball zurückkehren müssen. Und jeder konnte sehen, dass sie alles andere getan hatte, als sich kurz im Ruheraum frisch zu machen.
Sie atmete tief durch und wappnete sich, bevor sie sich umdrehte, die Hände in ihre Seidenröcke gekrallt. »Wir müssen irgendetwas tun.«
»Ich finde es merkwürdig, dass Ihr das so sagt.« Northfield stand noch immer völlig gelassen beim Tisch mit den Getränken und schien kein bisschen nervös. In seinem eleganten dunklen Abendanzug sah er aus wie der perfekte englische Gentleman.
Abgesehen von seinen Augen, die nicht ganz in dieses Bild passten. In ihnen las sie erhöhte Wachsamkeit und zudem einen Hauch von Gefahr. Sie fragte: »Wie sage ich was?«
»Ihr habt im Plural gesprochen, dass wir etwas tun müssten. « Seinen Mund umspielte ein leichtes Lächeln, eigentlich nicht mehr als ein amüsierter Zug. »Die meisten jungen Damen hätten erwartet, dass ich mich um die Lösung unseres kleinen Dilemmas kümmere.«
»Ich bin nicht wie die meisten Frauen.«
»Ja, den Eindruck gewinne ich allmählich ebenfalls.«
Lag da etwa Spott in seiner Stimme? Darüber würde sie später nachdenken. Lily hatte absolut keine Lust, ihm zu erklären, warum es so fatal wäre, wenn jemand sie hier gemeinsam entdeckte. »Lord Damien, ich muss jetzt wirklich zurück zum Ball.«
»Dann lasst mich einen Blick auf die Tür werfen.« Er stellte seinen inzwischen geleerten Cognacschwenker weg und kam zu ihr herüber, verhielt kurz seine Schritte, um ein langes, schmales Messer aus einer Art Scheide an seinem Stiefel zu ziehen. Obwohl sie eigentlich andere Sorgen hatte, fiel ihr die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen auf, als er sich vor die Tür kniete und den dünnen Stahl in das Schloss steckte. Als er nach wenigen Minuten den Kopf schüttelte, verlor sie jede Hoffnung. Wenn er es nicht schaffte, die Tür zu öffnen, dann würde das niemand vermögen. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht zu benennen vermochte, vertraute sie ihm bedingungslos.
»Vielleicht lässt der Regen ja nach«, warf sie kleinlaut ein, doch das beständige Rauschen vor den Fenstern verhieß nichts Gutes. Die Duchess würde sich ihren Kopf auf einem Teller servieren lassen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich mich dieser optimistischen Sichtweise anschließen kann.« Seine Stimme klang ironisch. »Ich öffne Euch gerne das Fenster, damit Ihr hinaussteigen könnt, doch scheint es mir zumindest derzeit eine schlechte Idee zu sein. Wartet lieber noch ein paar Minuten, bis der Wolkenbruch nachlässt.«
Ein paar Minuten? Wie viel Zeit blieb ihr noch? Nicht mehr lange, und man würde sie vermissen, falls man sie nicht ohnehin bereits suchte. Half es, eine plötzliche Erkrankung vorzutäuschen? Lily hasste Lügen, und außerdem erklärte es nicht, warum sie mit einem Mann in einem Zimmer eingesperrt war. Wie sollte sie mit dieser heiklen Situation umgehen?
»Hier, nehmt.«
Sie blickte auf. Lord Damien bot ihr ein kleines Glas mit einer goldfarbenen Flüssigkeit an. »An den Geschmack von Brandy muss man sich erst gewöhnen, doch ich empfehle ihn wärmstens für alle Formen von Stress. Falls man zum Beispiel mit einem Mann in einer Bibliothek festsitzt, den man nicht kennt. Leider steht hier kein Sherry herum, fürchte ich.«
Lily hatte das Gefühl, dass der Abend von Sekunde zu Sekunde schlimmer wurde, und Besserung schien nicht in Aussicht, nicht einmal als kleiner Hoffnungsstrahl am Horizont. Seufzend nahm sie das Glas entgegen. Sie hatte weiß Gott schon weit schamlosere Dinge in ihrem Leben getan, als Brandy zu trinken. Beim ersten Schluck musste sie keuchen, denn der ungewohnt starke Alkohol brannte sich in jeden Zentimeter ihres Halses. Lily ließ sich wieder auf das Sofa fallen, und für einen kurzen Moment glaubte sie, Erleichterung über das Gesicht Northfields huschen zu sehen, weil auch er jetzt Platz nehmen konnte. Ihr war bisher nicht der Gedanke gekommen, dass sein Bein ihn bei längerem Stehen schmerzte, aber genau das schien der Fall zu sein.
Wie führte man unter den gegebenen Umständen ein ungezwungenes, höfliches Gespräch? Sie hatte keine Ahnung. Vermutlich fand er das Ganze nicht so schlimm, weil er die Vorgeschichte nicht kannte. Und sie verspürte keine Lust, ihm davon zu erzählen. Stattdessen wechselte sie abrupt das Thema. »Wie kam es zu der Verwundung?«, fragte sie und deutete auf sein Bein.
Damien lehnte sich lässig zurück und kreuzte die Füße. Er hatte sich nachgeschenkt und spürte erleichtert, dass der Brandy den Schmerz in seinem Oberschenkel ein wenig dämpfte. Das vermittelte ihm die Illusion, dass seine Welt noch in Ordnung und er der Alte war. Ein wertvoller Spion im Dienste der britischen Krone.
Aber er wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, sein Leben zu verändern. Zukünftig war er nur noch Lord Damien Northfield, nachgeborener Sohn und Bruder des derzeitigen Duke of Rolthven - und der nächste Titelträger war bereits geboren. Damit bestand für ihn keine Möglichkeit mehr, in den Hochadel aufzusteigen. Nicht dass ihn das störte. Im Gegenteil war es ihm lieber so. Im Moment allerdings interessierte ihn vor allem die Panik in den sehr blauen und sehr hübschen Augen der jungen Lady, die ihm gegenübersaß und sich an ihren Brandy klammerte.
Warum sie so heftig reagierte, war ihm ein Rätsel. Aber den Geheimnissen anderer auf den Grund zu gehen, das war schließlich seine Spezialität. »Ich weiß es nicht ganz genau«, gab er zu und gab sich große Mühe, möglichst unbeteiligt zu klingen. Er hatte damals fast sein Bein verloren ... Lieber Himmel, es war verdammt knapp gewesen, und hätte er damals nicht in letzter Sekunde das Bewusstsein wiedererlangt, hätten die Chirurgen ihr blutiges Werk bereits getan. »Soweit ich weiß, rückten die Franzosen gerade vor, und es herrschte ein heilloses Chaos. So sehr, dass mich in dem allgemeinen Durcheinander die Kugel eines Landmanns traf. Leider Gottes verletzte sie eine Arterie, und ich verlor sehr viel Blut.«
Er sah die Szene wieder vor sich, als sei es gestern gewesen. Der beißende Rauch in der Luft. Männer, die schrien, und die vielen, vielen Verwundeten, die stöhnend oder sterbend auf dem Schlachtfeld lagen, dazu die Pferde, die zu Boden gegangen waren ... Nicht gerade das richtige Gesprächsthema, um eine junge, wohlerzogene Lady zu unterhalten.
Lillian Bourne schaute wieder zu den Fenstern, gegen die nach wie vor der Regen trommelte. Sie hob das Glas an die Lippen und verzog das Gesicht beim Trinken. Ihre Stimme klang etwas heiser. »Ich nehme an, auf eine merkwürdige Art neigen wir, die wir nie die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erfahren mussten, zu einer Glorifizierung dieser Schlachten, obwohl die Wirklichkeit bestimmt ganz anders aussieht.«
Eine sehr tiefgründige Antwort. »Eines dürft Ihr mir glauben «, murmelte er. »Es ist alles andere als glorreich.«
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn direkt an. »Ihr habt meine Frage beantwortet, und ich sollte mich dafür revanchieren, indem ich Euch gestehe, warum ich in die Bibliothek gegangen bin. Aus demselben Grund, den Ihr Lady Piedmont genannt habt. Ich wollte ein bisschen für mich sein.«
Damien betrachtete nachdenklich sein Glas. »Warum? Ich gebe zu, ich war zu lange außen vor, aber ich dachte eigentlich, die meisten jungen Ladys lieben es, zu tanzen und zu flirten und sich zu amüsieren.«
»So jung bin ich nicht mehr.«
Da war es wieder, dieses trotzig vorgestreckte Kinn. Warum bloß fand er ausgerechnet das so bezaubernd? Er ließ sich Zeit, um sie genauer zu betrachten. Nein, eine Debütantin, gerade dem Schulzimmer entwachsen, war sie nicht mehr, aber eine alte Jungfer erst recht nicht. Er schätzte sie auf höchstens zweiundzwanzig, und ihre Figur bot, wenngleich eher zierlich, durchaus weibliche Reize. Dazu die glänzenden Haare, die feinen Gesichtszüge und, nicht zu vergessen, ihre wunderschönen Augen ... Es gefiel ihm, was er sah, wie sie da in den Polstern des Sofas lag, ein Idealbild weiblicher Eleganz.
»Warum seid Ihr noch nicht verheiratet?«
Sie lächelte ein wenig süffisant. »Fragt Ihr immer so direkt, Lord Damien?«
Eine interessante Antwort. »Eigentlich bin ich nie so direkt. Meine Spezialität sind eher Umwege und verschlungene Pfade - und meist verberge ich die Dinge, anstatt sie offenzulegen.«
»Ich habe gehört, Ihr hättet als Spion für Wellington gearbeitet. «
Er nahm noch einen Schluck, überlegte, ob er ehrlich antworten sollte. Eigentlich war es jetzt, nach Ende des Krieges, egal. »Was hat es schon zu bedeuten, was ich im Dienst für unser Vaterland getan habe?«
Ihre Antwort klang etwas aufmüpfig: »Entschuldigung, ich konnte nicht ahnen, dass meine Bemerkung an Tabus rührt und Euch irritiert.« Sie schaute ihn prüfend an. »Darf ich es anders formulieren?«
»Bitte sehr.«
»Da es offensichtlich zu Euren speziellen Talenten gehört, drohende Katastrophen im Vorfeld zu erkennen und zu verhindern, wüsste ich gerne, wie wir Eurer Meinung nach aus dieser Zwickmühle herauskommen können?«
Er fand ihre direkte Art erfrischend. »Ich sehe da verschiedene Lösungsansätze.«
»Ach, tatsächlich? Soweit ich das beurteilen kann, regnet es immer noch in Strömen. Dabei sollte ich längst zurück auf dem Ball sein. Ich darf gar nicht daran denken, was passiert, wenn die Herzoginwitwe mein zu langes Fortbleiben bemerkt.«
Langsam dämmerte ihm, wo ihr spezielles Problem lag. »Die Herzoginwitwe?«
»Ja, die Duchess of Eddington.«
Als Sohn eines Duke und damit einer Familie aus dem Hochadel entstammend, kannte er sich aus mit den wichtigsten Peers des Königreichs. »Dann verstehe ich das richtig, dass die Dame Sie protegiert?«
»Mein Bruder hat ihre Enkelin geheiratet. Wenn es mehrere Lösungen für unser Problem gibt, möglichst rasch diesen Raum zu verlassen, zählt sie bitte auf.«
Lady Lillian schien sich nicht allzu vielen Illusionen über ihre Lage hinzugeben, dachte er. Sie wollte eine brauchbare Lösung, und zwar sofort.
Damien räusperte sich diskret. »Ihr könntet aus dem Fenster klettern und klatschnass im Ballsaal wieder auftauchen.«
»Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen, vielen Dank. Aber das möchte ich nur in Betracht ziehen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Habt Ihr nichts Besseres auf Lager?«
»Ich könnte aus dem Fenster steigen und meine Abendkleidung ruinieren, um anschließend dafür zu sorgen, dass die Tür von außen geöffnet wird. Allerdings bleibt das Problem, dass Ihr hier eingesperrt seid, ohne eine plausible Erklärung dafür bieten zu können. Außerdem kann ich nicht gut zugeben, davon gewusst zu haben.«
»Nein, auch das wäre zu offensichtlich.«
»Dritte Möglichkeit: Wir benutzen den Geheimgang.«
Endlich gelang es ihm, ihr einen gewissen Respekt abzunötigen. Die hübsche Lillian richtete sich auf. »Was? Wo denn?«
»Dort, beim Kamin.« Er deutete in die Richtung. »Bei Häusern wie diesem gibt es oft Geheimgänge, die in der Bibliothek beginnen. Einfach weil hier wichtige Dokumente aufbewahrt werden, die bei Gefahr in Sicherheit gebracht werden müssen. Wenn Ihr die Holzvertäfelung ganz genau anschaut, werdet Ihr die Geheimtür entdecken.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Lily, die sich zwanglos in die Samtpolster des Sofas gekuschelt und ganz undamenhaft die Beine mit überkreuzten Füßen weit ausgestreckt hatte, musste sich zur Ordnung rufen, um sich nicht aufzusetzen und zu schauen, wer da den Raum betreten hatte. Aber da ihre Furcht, entdeckt zu werden, größer war als ihre Neugier, ließ sie es und beschränkte sich aufs Lauschen.
»Ja, ich war auf der Suche nach einem Ort, wo ich ein paar Minuten ganz für mich sein kann. Allein.« Das letzte Wort betonte er unmissverständlich.
Seine Begleiterin ignorierte den diskreten Hinweis. »Ihr seid immer so witzig«, sagte sie und stimmte ein helles, melodiöses Lachen an.
»Bin ich das?« Die Stimme des Mannes klang ironisch, aber nicht aggressiv, sondern eher lässig. »Dessen war ich mir bisher nicht bewusst. Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, Lady Piedmont?«
Lady Piedmont? Etwa die Lady Piedmont, deren Gatte derzeit als Kandidat für den Posten des Premierministers gehandelt wurde? Hochinteressant. Lily las nämlich nicht nur die Klatschspalten, sondern interessierte sich ebenfalls für Politik und das Intrigenspiel in der britischen Regierung. Und von daher war ihr der Name sehr wohl vertraut.
»Ich denke, Ihr wisst ganz genau, warum ich Euch gefolgt bin.«
Die Lady wirkte auf Lily erheblich weniger weltgewandt, als man ihr gemeinhin nachsagte. Dafür war sie unglaublich direkt und ging äußerst zielstrebig vor, denn ihre geflüsterte Andeutung ließ keine Zweifel an ihren Absichten aufkommen. Und das Ausbleiben einer Antwort nährte bei Lily den Verdacht, dass sie durchaus erfolgreich sein könnte.
So langsam wurde ihr die Sache peinlich. Sie saß da in der Dunkelheit und konnte sich nicht bemerkbar machen. Warum zum Teufel geriet sie immer wieder in Situationen wie diese, fragte Lily sich mit einer Mischung aus Verärgerung und Verdruss. Sie wollte doch nur ein paar Minuten lang ihre Ruhe haben, unbeobachtet von den Gaffern, die jeden ihrer Schritte verfolgten und nur darauf warteten, dass sie erneut einen Fauxpas beging.
Dabei reichte es ihr wirklich, einmal bei der Gesellschaft in Ungnade gefallen zu sein. Das war mehr als genug.
»Miriam«, sagte der unbekannte Mann, und seine Stimme klang noch tiefer. »Tut das nicht. Ich werde nicht darauf eingehen.«
»Aber, aber, mein Lieber. Euer Körper spricht eine andere Sprache. Sie werden ja ganz hart.«
»Kein Wunder, wenn eine schöne Frau sich daranmacht, meine Hose aufzuknöpfen. Ich glaube, bei den meisten Männern würde das nicht ohne Folgen bleiben. Was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass es mir recht ist und ich diese Annäherung fortzusetzen wünsche.«
»Nein? Da erzählt man sich aber andere Dinge. Überdies heißt es, Ihr wärt bemerkenswert gut bestückt. Ich bin sehr bestrebt, diese Behauptung zu überprüfen.« Sie schnurrte leise und verführerisch.
»Du lieber Himmel, habt ihr Frauen denn kein besseres Thema, über das es sich zu reden lohnt? Tut mir leid, Mylady, doch ich habe kein Interesse daran, Eure Neugier zu stillen. «
Lady Piedmont zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von der Zurückweisung, stieß vielmehr atemlos hervor: »Küsst mich noch einmal.«
»Beim ersten Mal habe nicht ich Euch geküsst«, wandte er ein, »sondern Ihr mich. Das ist ein himmelweiter Unterschied, meine Liebe.«
Lily konnte nicht länger dem Impuls widerstehen, sich aufzurichten und einen kurzen Blick über die Rückenlehne des Sofas zu riskieren, die sie bislang verbarg. Im schwachen Schein des Mondes, der durch die Fenster fiel, erkannte sie auf der anderen Seite des lang gestreckten Raumes vage die Umrisse eines Mannes und einer Frau. Den des offenbar in Bedrängnis geratenen, noch nicht identifizierten Lords und seiner zu allem entschlossenen Verführerin. Beide waren dermaßen mit sich selbst beschäftigt, der eine auf Abwehr, die andere auf Angriff, dass sie Lilys Anwesenheit nicht bemerkten.
Zwar konnte sie die Gesichter nicht genau erkennen, doch sie wusste, dass Lady Piedmont ausnehmend hübsch war. Obwohl sie die Blüte ihrer Jahre bereits überschritten hatte, stellte sie noch so manche junge Frau in den Schatten mit ihren flammend roten Haaren und der üppigen Figur. Jetzt setzte sie ihre Reize entschlossen bei dem hochgewachsenen Unbekannten ein, den sie zweifellos als Beute auserkoren hatte. Lily sah, dass er ihre Handgelenke gepackt hielt, damit sie nicht weiter an seiner Hose herumnestelte. Stattdessen presste sie sich jetzt aufreizend gegen seinen Körper und drückte ihn dabei gegen ein Bücherregal.
Hätte sie eine solche Szene mit umgekehrten Vorzeichen beobachtet - eine junge Lady, bedrängt von einem Mann -, würde Lily nach der Chinavase auf dem Tisch zu ihrer Rechten greifen, um das unschuldige Mädchen aus den Fängen des Verführers zu retten. Doch in diesem Fall war das Objekt der Begierde ein großer, breitschultriger Mann, der durchaus in der Lage zu sein schien, sich zur Wehr zu setzen. Wenn er es denn ernsthaft wollte.
»Euer Interesse an mir ist äußerst schmeichelhaft«, hörte sie ihn jetzt mit leichtem Spott sagen. »Aber es ist nicht gerade schicklich, wenn wir gemeinsam dem Ballsaal noch länger fernbleiben, und wird zudem kaum unbemerkt bleiben. Ich denke, es wäre das Beste, wenn Ihr umgehend zurückkehrt. «
»Ich habe mich noch nie um Anstand und Moral geschert.
Gesittetes Verhalten zählt nicht gerade zu meinen hervorstechenden Eigenschaften.«
Das glaubte Lily unbesehen. Keine anständige Lady würde sich dermaßen an einen Mann pressen, noch dazu gegen dessen Willen. Tugendhaft war das jedenfalls nicht. Ihr kam eher das Wörtchen schamlos in den Sinn.
»Wollt Ihr wirklich einen Eklat riskieren? Oder zumindest die Gerüchteküche anheizen? Es kann doch nicht angenehm sein, wenn ganz London hinter vorgehaltener Hand über Euch tuschelt.«
Nein, dachte Lily, das war es weiß Gott nicht. Sie wusste es aus eigener leidvoller Erfahrung. Keine Frau, die auf sich hielt, konnte so etwas wollen.
»Sollten wir das nicht lieber später diskutieren? An einem diskreteren Ort?«
»Nein.«
»Liebster, ich ...«
»Nein.« Seine Stimme klang sehr höflich, fast ein bisschen nachsichtig, aber zugleich war da ein drohender Unterton, der keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Ablehnung aufkommen ließ.
»Warum nicht?«, fragte sie schmollend. Zumindest schien sie jedoch endlich zu begreifen, dass er ihre Annäherungsversuche definitiv nicht wünschte.
»Dafür gibt es unzählige Gründe.«
In diesem Augenblick spürte Lily einen Anflug von Bewunderung für den Fremden. Schließlich würden sich die wenigsten Gentlemen in einer solchen Situation derart standhaft erweisen. Dieser unbekannte Lord hingegen blieb bei seiner Weigerung. Nein hieß bei ihm Nein.
Gut für ihn.
Jetzt ließ er Lady Piedmonts Handgelenke los und hob seine erfolglose Verführerin mühelos hoch, obwohl sie empört nach Luft schnappte. Ging mit ihr zur Tür, öffnete sie rasch und stellte die widerstrebende Lady auf den Boden, bevor er wieder in die Bibliothek trat, die Tür zuzog und den Schlüssel im Schloss drehte.
Lily duckte sich erneut hinter die Sofalehne. »Zum Teufel, ich hoffe nur, hier gibt es irgendwo einen ordentlichen Brandy «, hörte sie ihn murmeln.
Den gab es tatsächlich. Das Tablett mit der Karaffe und den Gläsern stand auf einem kleinen polierten Tischchen sehr nahe bei dem Sofa, auf dem sie noch immer saß. Sie fragte sich, wie das Schicksal nur so gemein mit ihr umgehen konnte und sie erneut in eine verfängliche Situation brachte, anders als damals, aber möglicherweise ebenfalls gefährlich. Oder wie sollte man das nennen, wenn man sich plötzlich mit einem wildfremden Gentleman eingesperrt in einem Raum befand? Dabei hatte Lily sich ganz fest vorgenommen, allem aus dem Weg zu gehen, was sie kompromittieren könnte. Allem, was als unschicklich und unanständig galt.
Ein zweiter Skandal würde ihren Ruf endgültig ruinieren.
Sie schaute sich um. Fluchtmöglichkeiten gab es keine. Kein geöffnetes Fenster, kein Möbelstück, unter dem sie sich hätte verstecken können. Stattdessen bewegte der Mann sich gezielt in ihre Richtung, kam immer näher. Voller Panik hielt sie die Luft an.
Verdammt noch mal, würde ihr Bruder Jonathan jetzt vermutlich sagen. Mit Recht, denn die Sache entwickelte sich wirklich übel. Und das, obwohl sie sich nicht das Geringste vorzuwerfen hatte. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, dass sie genau das Gleiche suchte wie dieser Fremde zufällig auch: ein paar Minuten Ruhe und eine kleine Pause vom Ball. Es war ja schließlich nicht ihr Fehler, dass die hartnäckige Lady Piedmont ihm in unsittlicher Weise nachstellte.
Lily beschloss, dass es das Beste sei, sich einfach bemerkbar zu machen.
Ein zarter, flüchtiger Geruch nach Veilchen, den er beim Betreten der Bibliothek wahrgenommen hatte, hatte ihm bereits verraten, dass sich jemand im Raum befand. Der süße Duft war nur ganz schwach, längst nicht so aufdringlich wie das schwere Gardenienparfum von Lady Piedmont, doch er entging ihm nicht. Zumal in einer Umgebung, in der es ansonsten nach staubigen alten Büchern mit rissigen Ledereinbänden roch.
Außerdem war da das leise Rascheln von Seide gewesen. Von Röcken, deren Trägerin sich bewegte, und zwar irgendwo am anderen Ende des Raumes, wo er unter den hohen Fenstern die Umrisse einer kleinen Sitzgruppe erkannte. Er stellte sich vor, dass man am Tag, wenn man es sich dort mit einem Buch gemütlich machte, einen schönen Blick über den Garten haben musste.
Der Gedanke an die Fremde faszinierte ihn. Lord Damien Northfield lächelte, als er darüber nachdachte, was sie so alles mitbekommen hatte. Bestimmt war ihr das Ganze schrecklich peinlich, sodass sie sich davor fürchtete, entdeckt zu werden. Trotz der Musik, die vom Ballsaal herüberdrang, konnte er sie hastig und aufgeregt atmen hören. Andere hätten es vielleicht gar nicht registriert, doch er hatte während der Kriege gegen Napoleon der Krone in geheimer Mission gedient, und hinter den feindlichen Linien schärften sich die Sinne. Sonst überlebte man nicht lange.
Nur zu gern wüsste er, wie sie aussah. Und was sie in die Bibliothek getrieben hatte. Warum zog sie sich zurück und verkroch sich hier? Bald würde er es vielleicht erfahren, denn immer mehr näherte er sich nicht nur dem Tischchen mit der Karaffe, sondern auch dem Sofa, auf dem sich die Unbekannte versteckte.
Bei jedem Schritt schmerzte sein Bein, das er ein wenig nachzog. Die Wunde war zwar verheilt, aber die Ärzte hatten ihm ganz freimütig gesagt, dass es in seiner Beweglichkeit eingeschränkt bleibe und er nie mehr ganz normal gehen könne. Kurz gesagt, es war eine verfluchte Plage.
Jetzt war er bei der Sitzgruppe angelangt, sagte mit höflich- neutraler Stimme »Guten Abend«, als würden sie sich nicht unter so merkwürdigen Umständen begegnen.
Ein paar Minuten lang herrschte Stille, bis sie ein leises Klirren hörte, als er den Stöpsel von der Glaskaraffe hob und sich einen Brandy einschenkte.
»Ihr wusstet, dass ich hier bin?«, sagte sie erstaunt.
Ebenso wie ihr Geruch und ihre Bewegungen, die er aus dem Rascheln ihrer Röcke herauslas, gefiel ihm der Rhythmus und Klang ihrer Stimme, die voll, dunkel und warm und melodisch war. Und ihre direkte Art. Obwohl es ihn reizte, sich umzudrehen und sie näher in Augenschein zu nehmen, verzichtete er zunächst darauf und trank erst einmal einen Schluck aus dem Glas. Französischer Brandy vom Feinsten, wie er zu seiner Freude feststellte, sehr weich im Geschmack. »Ja, ich wusste es.«
Sie setzte sich auf - auch das hörte er bloß. »Warum habt Ihr denn nichts gesagt?«
»Und warum habt Ihr geschwiegen?« Damien ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen, ehe er einen zweiten Schluck nahm und sich langsam umdrehte.
Sein erster Eindruck war, dass seine kleine Spionin bezaubernd sein musste. Nicht richtig schön vielleicht. Zumindest nicht auf die Art einer Lady Piedmont mit ihren üppigen Brüsten und den flammenden Haaren. Anders eben, aber hübsch und einprägsam. Das erkannte er trotz des Dämmerlichts. Ihre Haare hatten eine dunkle Farbe, die im Mondschein braungolden schimmerte. Ihre Gestalt war schlank und zierlich, was ihm sehr zusagte, und ihre Haut hell und makellos. Zu ihrer Erscheinung passte das schlichte, wiewohl sehr modische Kleid, das auf alles Überladene, auf Rüschen, Spitzen und allerlei Applikationen verzichtete. Der Ausschnitt brachte die sanften Rundungen ihrer Brüste verführerisch zur Geltung, und der rosafarbene Stoff schmeichelte ihrem Teint.
Fast trotzig reckte sie ihr wohlgeformtes Kinn. »Ich war zuerst hier.«
Faszinierend. Er liebte diese kämpferische Art. Außerdem war ihr Einwand berechtigt, und so zuckte er nur mit den Schultern, beobachtete sie bloß. Würde er diese Angewohnheit wohl jemals ablegen? Gott, er hoffte es so sehr. Immerzu musterte er die Menschen mit einer unnatürlichen Intensität. Früher war das wichtig gewesen, genau wie die Schärfung aller Sinne. Jetzt hingegen brauchte er es nicht mehr - und er hasste es eigentlich, ständig auf der Hut zu sein, als würden überall Gefahren lauern - trotzdem schaffte er es nicht, sich umzustellen. Vielleicht lag es daran, dass er nur um ein Haar dem Tod entronnen war.
»Da gebe ich Euch recht«, sagte er endlich und trank noch einen Schluck von dem Brandy. Er hatte unzählige Verhöre durchgeführt, und man sagte, er sei sehr, sehr gut darin - er selbst wusste am besten, dass das stimmte. »Da niemand hier ist, der uns einander vorstellen könnte und Ihr zudem bereits Zeugin einer sehr persönlichen Auseinandersetzung geworden seid, denke ich, wir sollten das nachholen.« Er verbeugte sich leicht. »Lord Damien Northfield, zu Euren Diensten.«
Er spürte ihr Zögern, bevor sie kühl antwortete: »Lady Lillian Bourne.«
Er war noch nicht lange genug zurück in der Gesellschaft, um mit den aktuellen Klatschgeschichten vertraut zu sein. Abgesehen davon hielt er nach seinen Erlebnissen in Portugal und Spanien, wo Großbritannien auf Seiten der beiden Länder gegen Frankreich kämpfte, die diversen lässlichen Sünden der englischen Oberschicht für mehr als zweitrangig. Etwas am Klang ihrer Stimme sagte ihm allerdings, dass sie voraussetzte, ihr Name müsse ihm etwas sagen. Aber was?
Bestimmt meinte sie nicht seinen Eindruck, dass er zu ihr passte. Lillian. Er mochte den Namen. Elegant, ohne prüde zu wirken.
»Darf ich mich bei Euch entschuldigen, weil Ihr diese peinliche Situation belauschen musstet?« Das war das Mindeste, was sie als unverheiratete junge Lady erwarten durfte - und dass sie das war, darauf würde er sein Leben verwetten. Eine Jungfrau, die eine dermaßen unanständige Auseinandersetzung mit anhören musste!
»Mir kam es so vor, als wärt Ihr nicht derjenige gewesen, der sich unangemessen verhielt, Mylord.«
Hübsch und intelligent. Die Ironie ihrer Worte entging ihm nicht. »Ich habe mir große Mühe gegeben, ihr auszuweichen «, antwortete er mit einem leichten Lächeln und hoffte, dass es entwaffnend auf sie wirkte.
»Sie ist sehr schön.«
Ihre Direktheit überraschte ihn erneut. »Ja.« Er drehte sein Glas in den Händen, nippte daran und erklärte: »Aber ihr unverfrorenes Jagdverhalten reizt mich nicht. So etwas habe ich schon oft genug erlebt.«
Blitzte Belustigung in ihren Augen auf? Er war sich nicht sicher. »Das nenne ich eine wirklich interessante Bemerkung «, sagte sie. »Reden wir noch immer über liebestolle Damen, die sich Euch in die Arme werfen?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir.«
Jeder andere Mann hätte sie vermutlich einfach gefragt, warum sie nicht im Ballsaal sei und sich die zarten Füße blutig tanzte, doch er mied den direkten Weg. Seine Methoden, die gewünschten Informationen zu erhalten, waren eher subtiler Natur. »Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit den Gepflogenheiten der Gesellschaft nicht mehr so vertraut bin.«
Zu seiner Überraschung fragte sie nicht nach dem Grund. Diese Lady Lillian war selbst für ihn schwer durchschaubar. Weder ließ sie erkennen, ob sie bereits von ihm gehört hatte, noch fragte sie ihn, warum er so lange den erlauchten Adelskreisen ferngeblieben sei. Sie tat nichts dergleichen. Stattdessen stand sie auf. Die rosafarbene Seide raschelte, und der Veilchenduft, der sie dezent umgab, verstärkte sich ein wenig.
»Ich muss jetzt zurück zum Ball, und man sollte uns nicht gemeinsam beim Verlassen des Raumes sehen - auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass sich jemand in der Nähe der Bibliothek herumtreibt. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn Ihr eine angemessene Zeit warten würdet, bis Ihr ebenfalls zu dem Fest zurückkehrt.«
Schade, dachte er. Gerade jetzt, wo der Abend eine angenehme Wendung zu nehmen versprach, wollte sie verschwinden. Er ließ sich seine Enttäuschung jedoch nicht anmerken.
Sein Lächeln war freundlich. »Selbstverständlich ...« Er zögerte. »Aber nur, wenn Ihr mir verratet, warum Ihr Euch lieber in der dunklen Bibliothek aufhaltet statt im Ballsaal.«
»Ihr, Mylord, stellt Bedingungen für ein ehrenwertes Verhalten?«
Damien blinzelte nicht. »Auf jeden Fall. Ihr werdet noch feststellen, dass es bei mir für alles Bedingungen gibt.« Auch das hatte er im Krieg gelernt. Schätze deinen Gegner richtig ein und reagiere dementsprechend - so lauteten vereinfacht die Prämissen für strategisches Verhalten.
»Ich werde was feststellen?«, wiederholte sie vorsichtig, und wenn er ehrlich war, fand er seine Formulierung selbst ausgesprochen merkwürdig und zweideutig.
Damien Northfield, ein Mann, der einst für den Feldzug auf der Iberischen Halbinsel wichtiger gewesen war als der berühmte Oberbefehlshaber, der Duke of Wellington, wusste darauf nichts zu erwidern.
»Falls wir uns erneut begegnen sollten«, wich er aus. Er sah, wie sie nickte und sich grazil auf die Tür zubewegte. Ihm gefiel, wie sie sich dabei in den Hüften wiegte. Überhaupt mochte er alles an ihr, dachte er, während er ihr nachschaute.
O ja, schwor er sich insgeheim. Wir werden uns wiedersehen.
Schließlich hatte sie seine Frage noch nicht beantwortet.
Kapitel 2
Lily kam sich vor, als sei sie soeben zum Duell gefordert worden, wenngleich zu einem ohne Waffen. Genau das nämlich bedeuteten Lord Northfields Worte: eine Provokation, eine Herausforderung. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich dabei fühlen sollte.
Während sie so würdevoll wie möglich durch den Raum schritt und nach dem Schlüssel im Schloss griff, versuchte sie sich daran zu erinnern, was sie über ihn wusste. Nicht viel, wie sie feststellte. Außer dass er der jüngere Bruder des Duke of Rolthven war, am Krieg gegen Napoleon teilgenommen hatte und während der letzten Schlacht, in Waterloo, verwundet worden war. Vermutlich der Grund für sein Hinken.
Und das war's dann schon. Aber es reichte, um ihre Neugier zu wecken. Plötzlich wollte sie mehr über diesen geheimnisvollen Fremden erfahren.
Sie hatte feststellen können, dass er gut aussah. Groß und stattlich mit dichtem, leicht gewelltem kastanienbraunem Haar. Wenn er lächelte, wirkte seine Miene leicht spöttisch mit einem Hauch von Bitterkeit. Seine Gesichtszüge konnte man als klassisch bezeichnen, insgesamt also rundum attraktiv, wobei ihr insbesondere sein sinnlicher Mund und die dunklen, eindringlichen Augen auffielen.
Und sie hatte geglaubt, jeden respektablen Junggesellen der besseren Gesellschaft bereits zu kennen! Immerhin stand sie unter der Protektion der beinahe schon Furcht einflößenden Witwe des Duke of Eddington, denn diese resolute Dame hatte Lillian unter ihre Fittiche genommen. Schuld daran war ihr älterer Bruder Jonathan, der die Enkelin der Herzoginwitwe geheiratet hatte. Seitdem setzte Ihre Gnaden alles daran, die junge Frau trotz ihres lädierten Rufes an den Mann zu bringen und sie damit gesellschaftlich zu rehabilitieren. Es würde bestimmt nicht einfach werden, dachte Lily, und wenn sie jetzt noch länger dem Ball fernblieb, würde das die Angelegenheit nicht leichter machen.
Das Schloss war schwergängig, und verzweifelt kämpfte sie darum, den Schlüssel zu drehen und die Tür endlich zu öffnen. Und dann kam es zur Katastrophe. Nicht einmal nur zu einer kleinen, sondern gleich zu einer großen, denn der Schlüssel brach ab.
Er war groß, reich verziert und zweifellos schon alt und morsch. Bestürzt hielt sie das zerbrochene Teil hoch und starrte es an. Warum um Himmels willen konnte es nicht ein paar Minuten länger halten, nachdem es offenbar jahrhundertelang seine Dienste getan hatte? Warum musste der Schlüssel ausgerechnet jetzt abbrechen?
Langsam drehte sie sich um, stieß innerlich einen Fluch aus, den eine Lady niemals laut aussprechen würde, bevor sie so gelassen wie möglich sagte: »Ich fürchte, wir sind eingesperrt. «
»Oh?« Vom anderen Ende des Raumes ließ sich Damien Northfields Miene nur schwer deuten. Sie sah bloß, dass er entspannt an seinem Brandy nippte. »Das kommt wohl ungelegen. «
Ungelegen? Vielleicht traf das auf ihn zu, für sie hingegen war es ein Desaster. Schließlich konnte sie es sich unter keinen Umständen leisten, in einem abgesperrten Raum mit einem Mann entdeckt zu werden. Denn wie zum Teufel sollte sie erklären, was sie beide in der Bibliothek des Gastgebers zu suchen hatten? Und warum die Tür abgeschlossen war? Letzteres aufzuklären würde bedeuten, Lady Piedmont zu kompromittieren und ihre Annäherungsversuche öffentlich zu machen. Unmöglich. Überdies blieb immer noch die Frage nach dem Grund für ihrer beider Aufenthalt in der Bibliothek.
»Der Schlüssel ist abgebrochen.«
»Ja, das habe ich deutlich gehört. Vermutlich stehen wir jetzt vor einem Problem. Normalerweise kann ich ein Schloss ohne Weiteres knacken, doch wenn was drinsteckt und den Mechanismus blockiert, wie hier vermutlich der Fall, wird es schwierig.«
Seine ruhige Stimme reizte sie, und am liebsten hätte sie ihm einen der schweren Lederbände, die überall auf den Tischchen herumlagen, an den Kopf geworfen. Stattdessen rang sie das Gefühl von Panik nieder, das sich ihrer bemächtigen wollte, und sie fragte mit bewundernswerter Fassung: »Und wie sollen wir den Raum nun verlassen?«
»Eine wirklich gute Frage. Durch die Fenster, würde ich vorschlagen, obwohl es leider zu regnen angefangen hat.«
Wie bitte?
Als Lily vorstürzte und ihr Gesicht an die Scheiben drückte, sah sie, dass es inzwischen aus den bleischweren Wolken, die schon früher am Abend den Himmel bedeckt hatten, wie aus Gießkannen schüttete.
Ein ungehaltener Protestlaut entschlüpfte ihren Lippen, laut und aus vollem Herzen kommend. Doch nicht nur der Regen stellte ein Problem dar, weil er ihr Kleid und ihre Frisur für alle sichtbar ruinieren würde, sondern da wäre bei einer Flucht aus einem der Fenster auch noch ein dorniges Rosengestrüpp zu überwinden. Nass und mit zerrissenem Kleid würde sie auf den Ball zurückkehren müssen. Und jeder konnte sehen, dass sie alles andere getan hatte, als sich kurz im Ruheraum frisch zu machen.
Sie atmete tief durch und wappnete sich, bevor sie sich umdrehte, die Hände in ihre Seidenröcke gekrallt. »Wir müssen irgendetwas tun.«
»Ich finde es merkwürdig, dass Ihr das so sagt.« Northfield stand noch immer völlig gelassen beim Tisch mit den Getränken und schien kein bisschen nervös. In seinem eleganten dunklen Abendanzug sah er aus wie der perfekte englische Gentleman.
Abgesehen von seinen Augen, die nicht ganz in dieses Bild passten. In ihnen las sie erhöhte Wachsamkeit und zudem einen Hauch von Gefahr. Sie fragte: »Wie sage ich was?«
»Ihr habt im Plural gesprochen, dass wir etwas tun müssten. « Seinen Mund umspielte ein leichtes Lächeln, eigentlich nicht mehr als ein amüsierter Zug. »Die meisten jungen Damen hätten erwartet, dass ich mich um die Lösung unseres kleinen Dilemmas kümmere.«
»Ich bin nicht wie die meisten Frauen.«
»Ja, den Eindruck gewinne ich allmählich ebenfalls.«
Lag da etwa Spott in seiner Stimme? Darüber würde sie später nachdenken. Lily hatte absolut keine Lust, ihm zu erklären, warum es so fatal wäre, wenn jemand sie hier gemeinsam entdeckte. »Lord Damien, ich muss jetzt wirklich zurück zum Ball.«
»Dann lasst mich einen Blick auf die Tür werfen.« Er stellte seinen inzwischen geleerten Cognacschwenker weg und kam zu ihr herüber, verhielt kurz seine Schritte, um ein langes, schmales Messer aus einer Art Scheide an seinem Stiefel zu ziehen. Obwohl sie eigentlich andere Sorgen hatte, fiel ihr die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen auf, als er sich vor die Tür kniete und den dünnen Stahl in das Schloss steckte. Als er nach wenigen Minuten den Kopf schüttelte, verlor sie jede Hoffnung. Wenn er es nicht schaffte, die Tür zu öffnen, dann würde das niemand vermögen. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht zu benennen vermochte, vertraute sie ihm bedingungslos.
»Vielleicht lässt der Regen ja nach«, warf sie kleinlaut ein, doch das beständige Rauschen vor den Fenstern verhieß nichts Gutes. Die Duchess würde sich ihren Kopf auf einem Teller servieren lassen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich mich dieser optimistischen Sichtweise anschließen kann.« Seine Stimme klang ironisch. »Ich öffne Euch gerne das Fenster, damit Ihr hinaussteigen könnt, doch scheint es mir zumindest derzeit eine schlechte Idee zu sein. Wartet lieber noch ein paar Minuten, bis der Wolkenbruch nachlässt.«
Ein paar Minuten? Wie viel Zeit blieb ihr noch? Nicht mehr lange, und man würde sie vermissen, falls man sie nicht ohnehin bereits suchte. Half es, eine plötzliche Erkrankung vorzutäuschen? Lily hasste Lügen, und außerdem erklärte es nicht, warum sie mit einem Mann in einem Zimmer eingesperrt war. Wie sollte sie mit dieser heiklen Situation umgehen?
»Hier, nehmt.«
Sie blickte auf. Lord Damien bot ihr ein kleines Glas mit einer goldfarbenen Flüssigkeit an. »An den Geschmack von Brandy muss man sich erst gewöhnen, doch ich empfehle ihn wärmstens für alle Formen von Stress. Falls man zum Beispiel mit einem Mann in einer Bibliothek festsitzt, den man nicht kennt. Leider steht hier kein Sherry herum, fürchte ich.«
Lily hatte das Gefühl, dass der Abend von Sekunde zu Sekunde schlimmer wurde, und Besserung schien nicht in Aussicht, nicht einmal als kleiner Hoffnungsstrahl am Horizont. Seufzend nahm sie das Glas entgegen. Sie hatte weiß Gott schon weit schamlosere Dinge in ihrem Leben getan, als Brandy zu trinken. Beim ersten Schluck musste sie keuchen, denn der ungewohnt starke Alkohol brannte sich in jeden Zentimeter ihres Halses. Lily ließ sich wieder auf das Sofa fallen, und für einen kurzen Moment glaubte sie, Erleichterung über das Gesicht Northfields huschen zu sehen, weil auch er jetzt Platz nehmen konnte. Ihr war bisher nicht der Gedanke gekommen, dass sein Bein ihn bei längerem Stehen schmerzte, aber genau das schien der Fall zu sein.
Wie führte man unter den gegebenen Umständen ein ungezwungenes, höfliches Gespräch? Sie hatte keine Ahnung. Vermutlich fand er das Ganze nicht so schlimm, weil er die Vorgeschichte nicht kannte. Und sie verspürte keine Lust, ihm davon zu erzählen. Stattdessen wechselte sie abrupt das Thema. »Wie kam es zu der Verwundung?«, fragte sie und deutete auf sein Bein.
Damien lehnte sich lässig zurück und kreuzte die Füße. Er hatte sich nachgeschenkt und spürte erleichtert, dass der Brandy den Schmerz in seinem Oberschenkel ein wenig dämpfte. Das vermittelte ihm die Illusion, dass seine Welt noch in Ordnung und er der Alte war. Ein wertvoller Spion im Dienste der britischen Krone.
Aber er wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, sein Leben zu verändern. Zukünftig war er nur noch Lord Damien Northfield, nachgeborener Sohn und Bruder des derzeitigen Duke of Rolthven - und der nächste Titelträger war bereits geboren. Damit bestand für ihn keine Möglichkeit mehr, in den Hochadel aufzusteigen. Nicht dass ihn das störte. Im Gegenteil war es ihm lieber so. Im Moment allerdings interessierte ihn vor allem die Panik in den sehr blauen und sehr hübschen Augen der jungen Lady, die ihm gegenübersaß und sich an ihren Brandy klammerte.
Warum sie so heftig reagierte, war ihm ein Rätsel. Aber den Geheimnissen anderer auf den Grund zu gehen, das war schließlich seine Spezialität. »Ich weiß es nicht ganz genau«, gab er zu und gab sich große Mühe, möglichst unbeteiligt zu klingen. Er hatte damals fast sein Bein verloren ... Lieber Himmel, es war verdammt knapp gewesen, und hätte er damals nicht in letzter Sekunde das Bewusstsein wiedererlangt, hätten die Chirurgen ihr blutiges Werk bereits getan. »Soweit ich weiß, rückten die Franzosen gerade vor, und es herrschte ein heilloses Chaos. So sehr, dass mich in dem allgemeinen Durcheinander die Kugel eines Landmanns traf. Leider Gottes verletzte sie eine Arterie, und ich verlor sehr viel Blut.«
Er sah die Szene wieder vor sich, als sei es gestern gewesen. Der beißende Rauch in der Luft. Männer, die schrien, und die vielen, vielen Verwundeten, die stöhnend oder sterbend auf dem Schlachtfeld lagen, dazu die Pferde, die zu Boden gegangen waren ... Nicht gerade das richtige Gesprächsthema, um eine junge, wohlerzogene Lady zu unterhalten.
Lillian Bourne schaute wieder zu den Fenstern, gegen die nach wie vor der Regen trommelte. Sie hob das Glas an die Lippen und verzog das Gesicht beim Trinken. Ihre Stimme klang etwas heiser. »Ich nehme an, auf eine merkwürdige Art neigen wir, die wir nie die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erfahren mussten, zu einer Glorifizierung dieser Schlachten, obwohl die Wirklichkeit bestimmt ganz anders aussieht.«
Eine sehr tiefgründige Antwort. »Eines dürft Ihr mir glauben «, murmelte er. »Es ist alles andere als glorreich.«
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn direkt an. »Ihr habt meine Frage beantwortet, und ich sollte mich dafür revanchieren, indem ich Euch gestehe, warum ich in die Bibliothek gegangen bin. Aus demselben Grund, den Ihr Lady Piedmont genannt habt. Ich wollte ein bisschen für mich sein.«
Damien betrachtete nachdenklich sein Glas. »Warum? Ich gebe zu, ich war zu lange außen vor, aber ich dachte eigentlich, die meisten jungen Ladys lieben es, zu tanzen und zu flirten und sich zu amüsieren.«
»So jung bin ich nicht mehr.«
Da war es wieder, dieses trotzig vorgestreckte Kinn. Warum bloß fand er ausgerechnet das so bezaubernd? Er ließ sich Zeit, um sie genauer zu betrachten. Nein, eine Debütantin, gerade dem Schulzimmer entwachsen, war sie nicht mehr, aber eine alte Jungfer erst recht nicht. Er schätzte sie auf höchstens zweiundzwanzig, und ihre Figur bot, wenngleich eher zierlich, durchaus weibliche Reize. Dazu die glänzenden Haare, die feinen Gesichtszüge und, nicht zu vergessen, ihre wunderschönen Augen ... Es gefiel ihm, was er sah, wie sie da in den Polstern des Sofas lag, ein Idealbild weiblicher Eleganz.
»Warum seid Ihr noch nicht verheiratet?«
Sie lächelte ein wenig süffisant. »Fragt Ihr immer so direkt, Lord Damien?«
Eine interessante Antwort. »Eigentlich bin ich nie so direkt. Meine Spezialität sind eher Umwege und verschlungene Pfade - und meist verberge ich die Dinge, anstatt sie offenzulegen.«
»Ich habe gehört, Ihr hättet als Spion für Wellington gearbeitet. «
Er nahm noch einen Schluck, überlegte, ob er ehrlich antworten sollte. Eigentlich war es jetzt, nach Ende des Krieges, egal. »Was hat es schon zu bedeuten, was ich im Dienst für unser Vaterland getan habe?«
Ihre Antwort klang etwas aufmüpfig: »Entschuldigung, ich konnte nicht ahnen, dass meine Bemerkung an Tabus rührt und Euch irritiert.« Sie schaute ihn prüfend an. »Darf ich es anders formulieren?«
»Bitte sehr.«
»Da es offensichtlich zu Euren speziellen Talenten gehört, drohende Katastrophen im Vorfeld zu erkennen und zu verhindern, wüsste ich gerne, wie wir Eurer Meinung nach aus dieser Zwickmühle herauskommen können?«
Er fand ihre direkte Art erfrischend. »Ich sehe da verschiedene Lösungsansätze.«
»Ach, tatsächlich? Soweit ich das beurteilen kann, regnet es immer noch in Strömen. Dabei sollte ich längst zurück auf dem Ball sein. Ich darf gar nicht daran denken, was passiert, wenn die Herzoginwitwe mein zu langes Fortbleiben bemerkt.«
Langsam dämmerte ihm, wo ihr spezielles Problem lag. »Die Herzoginwitwe?«
»Ja, die Duchess of Eddington.«
Als Sohn eines Duke und damit einer Familie aus dem Hochadel entstammend, kannte er sich aus mit den wichtigsten Peers des Königreichs. »Dann verstehe ich das richtig, dass die Dame Sie protegiert?«
»Mein Bruder hat ihre Enkelin geheiratet. Wenn es mehrere Lösungen für unser Problem gibt, möglichst rasch diesen Raum zu verlassen, zählt sie bitte auf.«
Lady Lillian schien sich nicht allzu vielen Illusionen über ihre Lage hinzugeben, dachte er. Sie wollte eine brauchbare Lösung, und zwar sofort.
Damien räusperte sich diskret. »Ihr könntet aus dem Fenster klettern und klatschnass im Ballsaal wieder auftauchen.«
»Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen, vielen Dank. Aber das möchte ich nur in Betracht ziehen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Habt Ihr nichts Besseres auf Lager?«
»Ich könnte aus dem Fenster steigen und meine Abendkleidung ruinieren, um anschließend dafür zu sorgen, dass die Tür von außen geöffnet wird. Allerdings bleibt das Problem, dass Ihr hier eingesperrt seid, ohne eine plausible Erklärung dafür bieten zu können. Außerdem kann ich nicht gut zugeben, davon gewusst zu haben.«
»Nein, auch das wäre zu offensichtlich.«
»Dritte Möglichkeit: Wir benutzen den Geheimgang.«
Endlich gelang es ihm, ihr einen gewissen Respekt abzunötigen. Die hübsche Lillian richtete sich auf. »Was? Wo denn?«
»Dort, beim Kamin.« Er deutete in die Richtung. »Bei Häusern wie diesem gibt es oft Geheimgänge, die in der Bibliothek beginnen. Einfach weil hier wichtige Dokumente aufbewahrt werden, die bei Gefahr in Sicherheit gebracht werden müssen. Wenn Ihr die Holzvertäfelung ganz genau anschaut, werdet Ihr die Geheimtür entdecken.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Emma Wildes
Emma Wildes ist in Minnesota geboren, in New Mexico aufgewachsen und lebt heute im Mittleren Westen. Sie hat an der Illinois State University Geologie studiert. Mit ihrem Mann Chris, den sie während ihrer Studienzeit kennenlernte hat, hat sie drei Kinder. An warmen Sommertagen trinkt sie gerne ein Glas Wein an dem See, der sich in der Nähe ihres Hauses befindet. Am liebsten allerdings sitzt sie in ihrem Arbeitszimmer und schreibt Romane.Juliane Korelski, geboren 1979 in Halle/Westfalen, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Buchhändlerin und arbeitete bis zum Herbst 2006 in diesem Beruf. Aus Begeisterung für Geschichte entschied sie sich für das Studium der Geschichte und Antike Kulturen an der Universität Düsseldorf. Sie lebt und arbeitet in Düsseldorf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Emma Wildes
- 2013, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Korelski, Juliane
- Übersetzer: Juliane Korelski
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442379733
- ISBN-13: 9783442379736
- Erscheinungsdatum: 17.06.2013
Kommentar zu "Eine skandalöse Lady"
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