Eine stürmische Braut
Roman. Deutsche Erstausgabe
Major Logan Montheiths Schiff gerät auf dem Weg Richtung England in einen schweren Sturm, und der attraktive Agent in geheimer Mission für die Krone wird über Bord geschleudert. Doch Rettung naht in Gestalt der wunderschönen Linnet,...
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Eine stürmische Braut “
Major Logan Montheiths Schiff gerät auf dem Weg Richtung England in einen schweren Sturm, und der attraktive Agent in geheimer Mission für die Krone wird über Bord geschleudert. Doch Rettung naht in Gestalt der wunderschönen Linnet, die Logan, der bei dem Unfall sein Gedächtnis verloren hat, bei sich aufnimmt. Er ist sofort von ihrer Kühnheit und Stärke fasziniert und kann kaum mehr an etwas anderes denken. Als seine Erinnerung zurückkehrt, erkennt Logan jedoch: Nicht nur er, nein, auch Linnet und ihre Liebe schweben in höchster Gefahr...
Klappentext zu „Eine stürmische Braut “
Eine wunderbare Mischung aus Leidenschaft und Abenteuer!Major Logan Montheiths Schiff gerät auf dem Weg Richtung England in einen schweren Sturm, und der attraktive Agent in geheimer Mission für die Krone wird über Bord geschleudert. Doch Rettung naht in Gestalt der wunderschönen Linnet, die Logan, der bei dem Unfall sein Gedächtnis verloren hat, bei sich aufnimmt. Er ist sofort von ihrer Kühnheit und Stärke fasziniert und kann kaum mehr an etwas anderes denken. Als seine Erinnerung zurückkehrt, erkennt Logan jedoch: Nicht nur er, nein, auch Linnet und ihre Liebe schweben in höchster Gefahr ...
Lese-Probe zu „Eine stürmische Braut “
Eine stürmische Braut von Stephanie LaurensAus dem Amerikanischen von Jutta Nickel
1
10. Dezember 1822
Ein Uhr nachts
An Deck der Heloise Leger, im Ärmelkanal
Die Hölle kannte keinen größeren Zorn als die unheilvollen Stürme, die im Winter den Ärmelkanal aufwühlten. Wie mit der Kraft einer Urgewalt tobte der Orkan über ihm, als Major Logan Monteith zurücksprang, um der scharfen Klinge des Mörders der Sekte Schwarze Kobra auszuweichen. Logan hob seinen Säbel und wollte den Hieb des zweiten Killers mit dem Dolch in seiner linken Hand kontern, während er gleichzeitig das vordringende Messer des ersten Angreifers abwehrte; er vermutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er erfuhr, was es mit dem Leben nach dem Tode auf sich hatte.
Der Wind heulte. Wellen krachten. Wasser ergoss sich in zischendem Schwall über das Deck.
Die Nacht war noch schwärzer als der Hades; Regen hing wie ein verschwommener Schleier über dem Schiff. Logan fiel einen Schritt zurück und wischte sich das Wasser von den Augen.
Die Mörder sprangen gleichzeitig vor und drängten ihn im Kampf bis an den Bug zurück. Klingen kreuzten sich, Stahl klirrte auf Stahl, Funken flammten wie hell leuchtende Nadelstiche in der alles verschlingenden Dunkelheit auf.
Plötzlich legte sich das Deck schräg - alle drei Kombattanten kämpften verzweifelt um ihr Gleichgewicht.
... mehr
Das portugiesische Handelsschiff mit dem Ziel Portsmouth steckte in Schwierigkeiten. Als Logan bei seiner Ankunft in Lissabon vor fünf Tagen entdeckt hatte, dass es in der Stadt von Mitgliedern der Kobra-Sekte nur so wimmelte, war er gezwungen gewesen, sich der Schiffsmannschaft anzuschließen. Es war, als ob die sturmgepeitschte See mit ihren donnernden Wellen das hin und her schlingernde Schiff verprügeln wollte, als sich das Deck schräg legte und das Schiff sich im Wind nicht mehr halten konnte. Logan konnte nicht sagen, ob das Ruder gebrochen war oder ob der Captain das Steuer aufgegeben hatte. Er hatte keine Zeit, durch die regenverhangene Dunkelheit zur Brücke zu linsen.
Instinkt und Erfahrung befahlen ihm, die Männer, die ihm jetzt gegenüberstanden, nicht aus dem Blick zu lassen. Noch einen dritten hatte es gegeben, den Logan aber schon mit seinem ersten Hieb erledigt hatte. Die Leiche war verschwunden, verschlungen von den gefräßigen Wellen.
Logan holte mit dem Säbel weit aus und schlug zu, wurde aber sofort zu Abwehr und Gegenangriff gezwungen und musste noch einen Schritt in den engen Bug zurückweichen. Musste seine Bewegungen noch weiter reduzieren, seine Möglichkeiten einschränken. Gleichviel. Bei zwei gegen einen im eiskalt prasselnden Regen, während er mit der einen Faust krampfhaft seinen Dolch und mit der anderen den Säbel umklammerte und während die Ledersohlen seiner Stiefel rutschten und ausglitten - die Mörder hatten sogar den Vorteil, barfuß zu kämpfen -, konnte er nicht wirkungsvoll in die Offensive gehen.
Er würde nicht überleben.
Das wurde ihm klar, als er wieder einen bösartigen Stoß abwehrte; und doch, noch während er es tat, erwachte in ihm eine unglaubliche Halsstarrigkeit. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte er als Offizier der Kavallerie gedient, hatte in Kriegen auf dem halben Globus gekämpft, war mehr als einmal durch die Hölle gegangen - und hatte überlebt.
Schon früher hatte er Mördern Auge in Auge gegenübergestanden - und lebte immer noch.
Wunder geschahen.
Das sagte er sich selbst dann noch, als er mit zusammengebissenen Zähnen den Arm mit dem Säbel nach oben abwinkelte, um einen Hieb auf seinen Kopf abzuwehren ... seine Füße knickten weg, sodass er gegen die Reling stürzte.
Die hölzerne Halterung, eine Art verschlossener Köcher, die ihm auf den Rücken geschnallt war, knallte ihm an die Wirbelsäule.
Aus den Augenwinkeln sah er weiße Zähne in einem dunklen Gesicht aufblitzen, ein barbarisches Grinsen, als der zweite Meuchelmörder herumschwang und zuschlug. Logan atmete zischend aus, als die Klinge an seiner linken Seite entlangglitt, den Mantel und sein Hemd durchschnitt, in das Muskelfleisch drang und den Knochen streifte, bevor sie über seinen Magen glitt, um ihm die Eingeweide aufzuschlitzen. Instinktiv hatte er sich flach an die Reling gepresst; ja, die Klinge schlitzte ihn auf, drang aber nicht tief genug.
Nicht dass es ihn retten würde.
Es war, als würde ein zackiger brillantweißer Riss den schwarzen Himmel zersplittern, als der Blitz zuckte. In den Sekunden der Helligkeit sah Logan die beiden Mörder, sah es in ihren dunklen Augen fanatisch glitzern, sah den Triumph auf ihren Gesichtern und wie sie sich zum Sprung sammelten, um ihn niederzuwerfen.
Er blutete stark.
Er blickte dem Tod ins Auge. Spürte ihn. Schmeckte Asche, als eisige Finger sich in seine Muskeln gruben und nach seiner Seele griffen.
Ein letztes Mal sog er die Luft in die Lunge, machte sich bereit. Bedachte man seine Mission und das, womit er sich in den vergangenen Jahren beschäftigt hatte, müsste der heilige Petrus zumindest ernsthaft erwägen, ihn in die Himmelsgefilde einzulassen.
Ein lange vergessenes Gebet formte sich auf seinen Lippen.
Die Meuchelmörder setzten zum Sprung an.
Krach!!!
Der Aufprall kam plötzlich, scharf, katastrophal. Spülte ihn und die Mörder über Bord. Der Sturz in die aufgewühlte Tiefe, in den brüllenden Zorn der See, brachte sie auseinander.
Der Instinkt ergriff von ihm Besitz, als er in die eisige Dunkelheit stürzte. Logan richtete sich auf und strebte nach oben. Mit der linken Faust hielt er immer noch den Dolch umklammert; der Säbel, den er losgelassen hatte, war an seinem Gürtel befestigt, und er spürte, wie die Waffe ihm beruhigend gegen das Bein schlug.
Er war ein guter Schwimmer. Was für die Meuchelmörder höchstwahrscheinlich nicht galt; es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie überhaupt schwimmen konnten. Er verscheuchte die Gedanken an sie - er hatte jetzt dringendere Sorgen -, brach durch die Wasseroberfläche und sog die Luft tief in die Lunge. Schüttelte den Kopf und linste dann durch das Wasser, das seine Wimpern immer noch nach unten drückte.
Der Sturm raste jetzt mit voller Kraft und türmte die See auf wie ein Gebirge. Nur bis zur nächsten Welle, weiter nicht, konnte er etwas erkennen; die Winde tobten mit unbändiger Wucht über das Wasser und peitschten und schossen hin und her und heulten lauter als tausend Todesfeen.
Als der Sturm das Schiff erwischt hatte, hatte es sich auf offener See ungefähr in der Mitte des Ärmelkanals befunden. Er hatte keine Ahnung, wie weit sie abgetrieben worden waren, und er wusste auch nicht, in welche Richtung. War das rettende Ufer in der Nähe, oder ...?
Beim Aufschlag auf die Wasseroberfläche hatte er Blut verloren. Wie lange würde er sich in diesem teuflischen Kessel eisiger Wellen noch halten können? Wann würden seine ohnehin schon erschöpften Kräfte endgültig versiegen ...?
Seine Hand stieß auf irgendetwas. Holz. Eine Planke. Nein, sogar noch besser - ein ganzer Block von Planken. Verzweifelt griff Logan danach, klammerte sich grimmig fest, als die nächste Welle versuchte, ihn fortzuspülen, biss die Zähne zusammen und riss sich auf das behelfsmäßige Floß.
Die Kälte hatte zwar seine Muskeln betäubt, aber trotzdem jagte ihm durch die Schnittwunde an seiner linken Flanke ein brennender Schmerz durch den gesamten Körper.
Längere Zeit lag er einfach nur hingestreckt auf den Planken und sammelte seine versiegenden Kräfte und stählte seinen Willen. Dann robbte er sich Zentimeter für Zentimeter nach vorn, bis er sich mit der rechten Hand an der gezackten Kante festhalten konnte. Seine Füße schlenkerten zwar immer noch im Wasser, aber bis zu den Knien war sein Körper gestützt; es gab keine bessere Lösung.
Die Wellen brandeten wieder auf. Sein Floß bäumte sich auf, konnte die Welle dann aber reiten.
Unter der peitschenden See krachten die Wellen zusammen. Er presste die Wange auf das nasse Holz, während er lauschte, sich konzentrierte und sich bestätigte, dass die Wellen auf irgendetwas aufschlugen, was sich ganz in der Nähe befinden musste.
Das Schiff, so dachte er, musste rechts von ihm durch die unverminderte Dunkelheit schlingern. Auseinanderbrechen. Sinken. Bedachte man, wie er und die Mörder durch die Luft geschleudert worden waren, musste der Aufprall mittschiffs erfolgt sein. Mit letzter Kraft hob er den Kopf, suchte, sah Trümmer, aber keine Leichen - keine weiteren Überlebenden - nur er und die Meuchelmörder hatten sich so weit auf dem Vorderschiff befunden.
Wieder zuckte ein Blitz und erhellte die nackten Schiffsmasten, die sich wie eine Silhouette vor dem tintenschwarzen Himmel abzeichneten.
Kaum war der Donner über ihn hereingebrochen, als er ein saugendes, rauschendes Geräusch hörte. Ihm schwante Böses ... sein Blick fiel auf das Schiff.
Auf das schwankende, kenternde Schiff, das bereits heftig Schlagseite hatte.
In der dunklen Nacht sah er, wie der Hauptmast nach unten kippte ...
Ihm blieb noch nicht einmal die Zeit für einen Fluch, als der Mast mit seiner Spitze auf ihn hinunterkrachte und alles um ihn herum schwarz wurde.
»Linnet! Linnet! Komm schnell! Komm her und schau dir das an!«
Linnet Trevission hob den Blick von den alten Steinfliesen des Weges, der von den Ställen zur Küchentür führte. Sie hatte den Stall verlassen und näherte sich dem Küchengarten; unmittelbar vor ihr erhob sich ihr solides und gemütliches Häuschen namens Mon Coeur, das in der schützenden Umarmung der Ulmen und Tannen verankert war, die sich in den unablässigen Seewinden in den seltsamsten Formen bogen.
Nachdem der Nachhall des Orkans noch die halbe Nacht lang getobt hatte, herrschte inzwischen nur noch ein milder, fast schon schüchtern kokettierender Wind, und die Wintersonne tauchte die blassen Steine des Hauses in eine honigfarbene Glut.
»Linnet! Linnet!«
Sie lächelte, als Chester, eines ihrer Mündel - ein flachsblonder Schuft von gerade mal sieben Jahren -, um das Haus in Richtung der hinteren Tür stürmte.
»Chester! Ich bin hier.«
Der Junge schaute auf und sah zum Stallweg.
»Du musst herkommen!« Er bremste, blieb schließlich stehen, schnappte sich ihre Hand und zerrte an ihr. »Da war ein Schiffbruch!« Sein Gesicht glühte vor Aufregung, die Stimme klang angespannt, und er schaute ihr direkt in die Augen. »Da sind Leichen! Und Will sagt, dass ein Mann noch lebendig ist! Du musst sofort kommen!«
Linnet schwand das Lächeln aus dem Gesicht.
»Ja, natürlich.« Sie raffte die Röcke ein paar Zentimeter hoch - wünschte sich, Hosen angezogen zu haben - und eilte rasch zur Hintertür, während sie sich vor Augen führte, was sie nun zu tun hatte - nichts anderes als das, was sie schon so oft getan hatte.
An der Südwestspitze von Guernsey gehörte der Umgang mit Schiffswracks unausweichlich zum Leben.
Chester trottete an ihrer Seite, er hatte ihre Hand ergriffen - zu fest -, andererseits hatte er seinen Vater vor drei Jahren an die See verloren. Als sie sich der Küchentür näherten, tauchte Linnets Tante auf.
»Habe ich richtig gehört? Ein Wrack?«, fragte Muriel.
Linnet nickte.
»Will hat Chester geschickt. Es gibt mindestens einen Überlebenden. Ich mache mich sofort auf den Weg. Kannst du Edgar und die anderen suchen? Sag ihnen, dass sie das alte Gatter mitbringen sollen. Und das Verbandszeug und die Schienen nicht vergessen.«
»Ja, natürlich. Aber wohin?«
Linnet schaute Chester an.
»Welche Bucht?«
»Die im Westen.«
Linnet fing Muriels Blick auf. Natürlich, die im Westen - die mit den meisten Felsen und der größten Gefahr. Besonders für diejenigen, die angespült wurden.
»Knochenbrüche. So gut wie sicher.«
Muriel nickte knapp und schickte sie mit einer Handbewegung fort.
»Mach dich auf den Weg. Wenn du zurück bist, habe ich alles vorbereitet.«
Linnet sah Chester an.
»Los, wir rennen.«
Chester grinste, ließ ihre Hand los, drehte sich um und rannte um das Haus.
Linnet hatte beide Hände frei, raffte ihre Röcke zusammen und nahm die Verfolgung auf. Mit ihren längeren Beinen hatte sie sich Chester schon bald an die Fersen geheftet. Der Pfad führte durch die umstehenden Bäume und dann durch das felsige Gebiet, das an den Rand der niederen Klippen grenzte.
»Halt!«, rief Linnet, als sie die südliche Landzunge der langen nordwestlichen Seite der Insel umrundet hatten und die westliche Bucht sich unter ihnen öffnete.
Chester blieb an der Spitze des Weges stehen - ein Pfad, der kaum breiter war als ein Ziegenpfad und bis zu dem Streifen grobkörnigen Sandstrands hinunterreichte. Jenseits des Strandes lagen Felsen, die jetzt entblößt waren, weil Ebbe herrschte und das Wasser sich zurückgezogen hatte; ein großes Durcheinander aus Granit, angefangen von faustgroßen Brocken, die den Boden der Bucht bildeten. Die Bucht war nicht besonders breit und eingeschlossen von zwei Kaps aus größeren, zerklüfteten Felsen, die bis in die aufpeitschenden, grauen Wellen ragten.
Linnet schaute hinunter und sah drei Körper, zwei davon hingestreckt, als ob man sie achtlos auf die Felsen geschleudert hätte. Diese zwei waren tot - mussten tot sein, gemessen an den verdrehten Gliedmaßen, Köpfen und Rücken. Von dem dritten Körper konnte sie nur einen kurzen Blick erhaschen, denn Will und Brandon, zwei weitere Mündel, hatten sich über den Mann gebeugt.
Linnet spürte Chesters bittenden Blick und nickte.
»Einverstanden. Gehen wir.«
Er flitzte davon wie ein Hase. Linnet raffte wieder ihre Röcke und eilte mit einer Ungezwungenheit, die der Chesters kaum nachstand, den vertrauten Pfad hinunter. Auf dem Weg nach unten ließ sie den Blick nochmals über die Bucht schweifen und registrierte den Plunder, den der Sturm angespült hatte; die Beweisstücke verrieten ihrem geübten Blick, dass es ein Kaufmannsschiff mit großer Fracht gewesen sein musste, das an den messerscharfen Felsen zerschellt war, die unter den Wellen im Nordwesten lauernd hervorlugten.
Auf dem Strand rannte Chester zu Will und Brandon. Linnet unterdrückte den Impuls, ihm hastig zu folgen, und bahnte sich ihren Weg sorgfältig durch die Felsen, um sich erst die Bestätigung zu holen, dass die anderen beiden Männer tatsächlich tot waren und ihre Hilfe nicht mehr brauchten. Dem Ansehen nach zwei Matrosen, beide dunkelhäutig. Spanier?
Sie ließ sie liegen, wo sie waren, und ging durch die Felsen zurück zum Strand bis zu der Stelle nahe den Klippen, wo der dritte Körper lag.
Der fünfzehnjährige Will hatte ihr den Rücken zugedreht, schaute aber auf, als sie sich näherte. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst.
»Er hatte sich an eine Planke geklammert. Wir haben sie angehoben und hergebracht.«
Sie blieb stehen, ließ die Hand auf Wills Schulter sinken und beantwortete die Frage, die er gar nicht gestellt hatte.
»Du kannst keinen Schaden anrichten, wenn er schon auf der Planke liegt und du ihn bewegst.«
Dann betrachtete sie zum ersten Mal ihren Überlebenden. Mit dem Bauch lag er auf der Planke; ein nasses Durcheinander schwarzer Haare verbarg sein Gesicht.
Er war groß. Kein Riese, aber in Gesellschaft würde er beeindruckend wirken. Breite Schultern. Lange, schwere Gliedmaßen. Sie ließ den Blick über seinen Rücken schweifen; stirnrunzelnd bemerkte sie die Wölbung unter seinem durchnässten Mantel. Als sie sich bückte und die Wölbung berührte, spürte sie deren Härte und tastete an der seltsamen Form entlang.
»Es ist ein hölzerner Zylinder in Ölzeug«, erklärte Will, »der in einer ledernen Halterung steckt und mit einer Schlaufe um seinen Gürtel geschlungen ist. Wahrscheinlich müssen seine Arme durch weitere Schlaufen führen, damit alles festsitzt.«
Linnet nickte.
»Merkwürdig.« Trug er diesen Zylinder etwa heimlich? Die Befestigung über den Muskeln seines Rückens wäre unter den Falten des Mantels allerdings aufgefallen, sobald er sich aufgerichtet hätte.
Sie ließ den Blick über seine Beine schweifen, konnte aber keinen Hinweis auf Knochenbrüche oder Wunden entdecken. Er trug eine Stiefelhose und einen lockeren Mantel der Art, wie viele Matrosen ihn trugen. Den rechten Arm hatte er ausgestreckt, und die Finger seiner langen Hand hatten sich um die vordere Kante der Planke gebogen. Die andere Hand jedoch lag auf einer Höhe mit seinem Gesicht; die Finger hielten das Heft eines Dolches mit tödlichem Griff umklammert.
Für einen Schiffbrüchigen doch etwas merkwürdig.
Ihr war bewusst, wie stark ihr Herz klopfte - zwar war sie zu den Klippen gerannt, aber deswegen dürfte es eigentlich nicht so heftig schlagen -, als sie sich bückte und die Waffe anschaute. Kein gewöhnlicher Dolch, stellte sie fest, sondern eher ein langes Stilett. Der Schliff der Klinge war erlesen, das Heft länger als bei den meisten anderen Stichwaffen und mit einem runden Stein an der Kreuzverstrebung verziert. Sie schob die langen, eiskalten, harten Finger fort, die sich um den Dolch klammerten, und reichte ihn Will.
»Halt das mal für mich.«
Der Mann hatte sich nicht gerührt; kein einziger Muskel hatte sich auch nur einen Hauch angespannt. Linnet zog sich zurück, sie war sich bewusst, dass es in ihr zuckte, so als wollten ihre Instinkte sie warnen; und doch wollte es ihr um nichts in der Welt gelingen, diese Botschaft zu entziffern.
Der Fremde war schließlich so gut wie tot - obwohl sie nicht genau sagen konnte, ob er es nicht vielleicht doch schon ganz war -, wie hätte er also gefährlich sein können?
»Ein Schwert hat er auch«, sagte Brandon auf der anderen Seite der Planke, »hier.«
Linnet schaute auf die Stelle, auf die Brandon gezeigt hatte, und löste dann die Schlaufe, mit der der Säbel am Gürtel des Mannes befestigt war. Vorsichtig zog sie die Waffe unter dem Bein des Mannes hervor, richtete sich auf und betrachtete sie.
»Es ist ein Säbel. Aus der Kavallerie.« Während des Krieges hatte sie genug davon gesehen. Aber der Krieg war nun schon lange vorbei, die Kavallerie hatte sich größtenteils aufgelöst. Vielleicht war dieser Mann ein einfacher Soldat gewesen, der nach dem Krieg wieder zur See gefahren war?
»Wir glauben, dass er lebt«, sagte Brandon, »aber wir können keinen Puls finden, Außerdem atmet er nicht. Nun, jedenfalls nicht so, dass davon wirklich die Rede sein könnte.«
Linnet ließ den Säbel bei Brandon und kehrte an Wills Seite zurück, denn zu der Seite hatte der Mann den Kopf gedreht.
»Er muss am Leben sein, weil er blutet«, sagte Will, »siehst du?« Er lupfte die Kleidung des Mannes an der Seite an, wobei sich ein Riss zeigte und den Blick auf blasse Haut und eine lange, scheußliche Stichwunde freigab - die ihm erst kürzlich zugefügt worden sein konnte.
Linnet hockte sich neben Will und schaute sich die Wunde an. Erkannte einen Schwerthieb. Das erklärte Messer und Säbel. Während Will die Kleidung hielt, beugte sie sich vor, untersuchte die Wunde und folgte ihr nach oben - seitlich hinauf am Oberkörper des Mannes. Dickes Muskelfleisch war durchtrennt worden. Sie verfolgte die Wunde nach unten und sog die Luft scharf ein, als sie Knochen erblickte - eine Rippe. Das war allerdings so weit unten, dass sich dort nicht mehr viel Muskelfleisch zwischen gespannter Haut und Brustkorb befand.
»Er blutet«, beharrte Will, »schau doch nur, hier.«
Linnet hatte die blassrosa Flüssigkeit, die aus der Wunde sickerte, durchaus bemerkt. Sie nickte, war aber noch nicht bereit zu erklären, dass es sich auch schlicht um Meerwasser handeln könnte, welches aus der Wunde tröpfelte, nachdem es sich mit zuvor schon ausgetretenem Blut vermischt hatte. Bevor der Mann gestorben war.
Und doch war es möglich, dass er noch lebte. Das Meer hatte seine Muskeln beinahe gefrieren lassen; jede Blutung würde extrem langsam vonstattengehen, selbst wenn er noch lebte.
Linnet verfolgte die Spur der Wunde weiter, entdeckte, dass sie sich in einem Winkel nach innen richtete, über den Magen des Mannes. Weiter als bis zu seiner Taille konnte sie nichts erkennen, dafür aber eine Bauchwunde, die bis in die Eingeweide reichte ... falls es sich wirklich darum handelte, dann war der Mann so gut wie tot, ob er nun schon gestorben war oder nicht.
So wie er lag, könnte der Druck seines Körpergewichts zusammen mit der Wirkung der eisigen See geholfen haben, die Wunde verschlossen zu halten und die übliche Blutung zu verhindern.
Sie schaute Brandon an, dann Will, der neben ihr war. Chester lungerte an ihrer Schulter herum.
»Ich muss mir die Wunde quer über seinem Magen genauer ansehen. Ihr müsst mir helfen, ihn seitlich aufzurichten. So weit, dass ich genug erkennen kann.«
Eifrig griffen die Jungen nach der linken Schulter des Mannes, nach seiner Flanke. Linnet hatte sich auf die Knie gehockt und legte dem Mann Brandons Hände auf die Schulter, Wills Hände unter seine linke Hüfte. Sie brachte Chester in Stellung, um Brandon zu unterstützen, der die Schulter stemmen würde.
»Alle zusammen.« Linnet fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stieß ein kleines Gebet aus. Sie hatte reichlich Erfahrung in Sachen Leben und Tod und auch mit dem Meer; kein Grund also, sich innerlich so tief auf die Rettung eines Fremden einzulassen, weshalb sie sich einredete, dass sie um der Jungen willen hoffte, der Fremde sei noch am Leben. »Jetzt.«
Die Jungen hievten den Körper hoch, drückten und richteten ihn auf. Sobald sie ihn angewinkelt und in eine stabile Lage gebracht hatten, ging Linnet wieder in die Hocke, näherte sich dem schweren Körper und schaute nach unten, um den Verlauf der Wunde zu verfolgen - und stieß dann den Atem aus, von dem sie gar nicht wusste, dass sie ihn angehalten hatte. Sie wich zurück und nickte.
»Lasst ihn runter.«
»Wird er wieder gesund?«, fragte Chester.
Das konnte sie jetzt noch nicht versprechen.
»Über seinem Magen ist die Wunde nicht so tief. Keine echte Gefahr. Er hat Glück gehabt.« In ihrem Geiste formte sich eine kleine Szene. Bilder, wie der Mann wohl zu seiner Verwundung gekommen sein mochte. Es hatte ein tödlicher Hieb sein sollen. Oder doch zumindest ein solcher, der ihn außer Gefecht setzte. Es stimmte, dass er dem Tod nur um Haaresbreite entronnen war, kurz bevor das Schiff zerstört wurde.
»Aber er atmet doch gar nicht richtig«, sagte Brandon.
Linnet war immer noch nicht überzeugt, dass er tatsächlich noch lebte. Sie prüfte den Puls an seinem Handgelenk, dann an seiner kräftigen Kehle. Sie konnte nichts feststellen, auch kein erkennbares Heben und Senken des Brustkorbs, was aber auch daran liegen mochte, dass er beinahe erfroren war. Es half alles nichts. Sie rückte wieder näher. Mit einer Hand schob sie das schwarze Haar zurück, das sein Gesicht verbarg, bückte sich zu ihm hinunter, konzentrierte sich - und stellte das Atmen ein.
Er war schön - auf erschütternde, herzzerreißende und atemberaubende Weise schön. Sein glattes, eckiges Gesicht mit den wohlgeformten Zügen sah geradezu aus wie der Inbegriff männlicher Schönheit - nirgendwo eine weiche Note. Zusammen mit der muskulösen Härte seines Körpers versprach das Gesicht Männlichkeit, Leidenschaft und unverstellte, unverhohlene und unverfälschte Sünde.
Ein solches Gesicht gehörte nicht etwa einem Mann, der sich dem süßen Leben hingeben wollte, sondern der Tatkraft, dem Befehl und dem Verlangen.
Feste, feine Lippen, die ihr einen verführerischen Schauder über den Rücken jagten. Die Konturen seines Kiefers ließen den Puls bis in ihre Fingerspitzen pochen. Die schwarzen Brauen über der breiten Stirn waren geformt wie ein Flügel und die Wimpern so schwarz und dick, dass sie sofort neidisch wurde.
Sie war wie erstarrt.
Unsicher schauten die Jungen zu, warteten auf ihr Urteil. Wie üblich hatten ihre Instinkte sie nicht getrogen. Dieser Mann war gefährlich - würde gefährlich werden. Zumindest ihrem Geisteszustand, wenn auch sonst nichts.
Männer wie dieser - die aussahen wie er, einen Körper besaßen wie seinen - verlockten Frauen zur Sünde.
Und zur Dummheit.
Sie atmete tief durch und zwang sich, seinen Anblick nicht länger in sich einzusaugen, zwang ihren Geist, nicht länger verzückt zu sein. Sie zögerte, sie musste noch näher rücken - und war doch zu aufgewühlt, um es unüberlegt zu riskieren.
Sie behielt ihren gegenwärtigen Abstand bei - der ohnehin schon viel zu weit geschwunden war - und hielt die Finger unter seine Nase. Spürte nichts.
Linnet drehte ihre Hand um und hielt die zarte Haut ihres Handgelenks nahe an seine Nase, ohne auch nur den leisesten Lufthauch zu spüren.
Mit schmalen Lippen und einer stummen Verwünschung für diesen gestürzten Engel rückte sie näher, noch näher - winkelte den Kopf so an, dass er nur noch eine Winzigkeit von ihm entfernt war ...
Und spürte einen unendlich zarten Lufthauch, Atem, einen Atemstoß.
Sie zog sich zurück, richtete sich auf den Knien auf und starrte dem Mann ins Gesicht. Dann prüfte sie nochmals die Wunde an seiner Flanke. Ja, es war Blut, nicht nur aussickernde Flüssigkeit.
»Er lebt.«
Chester schrie laut auf. Die anderen beiden grinsten.
Linnet nicht. Sie stand auf und schaute auf den Schlamassel hinunter.
»Wir müssen ihn zum Haus schaffen.«
»Uff! Er ist so verdammt schwer!« Linnet widerstand der Versuchung, ihn einfach fallen zu lassen, und legte die Schultern des Fremden auf ihren Kissen ab. Natürlich musste er ihr Bett bekommen, denn es war im Haus das einzige, das lang und breit und höchstwahrscheinlich auch stabil genug war, um ihn zu tragen.
Dann trat sie zurück, stützte die Hände auf die Hüften und starrte ihn einfach nur an, bewusstlos wie er war.
Muriel stand an der anderen Seite und stopfte die Decken ums Bett.
»Jetzt müssen wir ihn erst mal auftauen. Ich habe die Kinder schon mit heißen Backsteinen nach oben geschickt.«
Linnet nickte, sie hatte den Blick auf die tief schlafende Gestalt im Bett gerichtet. Sie hörte, wie Muriel das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss; Linnet verschränkte die Arme und tauschte den starrenden gegen einen grimmigen Blick, während sie darum kämpfte, ihren Geist und ihre Sinne zu hindern, sich ständig mit dem Körper in ihrem Bett zu beschäftigen - mit der Vorstellung all dieser entblößten, gewaschenen und abgetrockneten Muskeln und der genähten, gesalbten und gut verbundenen Wunde auf ihrer Matratze.
Sie hatte schon mehr nackte Männer gesehen, als sie zählen konnte, in allen möglichen Zuständen. Das war nicht zu verhindern gewesen da sie ihre Kindheit größtenteils auf dem Schiff ihres Vaters verbracht hatte. Sicherlich lag es nicht daran, dass ihr die Sache neu war oder dass sie unter einem Angriff jungfräulicher Empfindlichkeit litt, der ihre Nerven erzittern ließ und ihre Brust eng und ihren Atem flach machte. Ihr Magen fühlte sich besonders flau an. Eigentlich hätte sie behauptet - und sie war sich wirklich sicher gewesen -, dass sie den Anblick eines weiteren nackten Mannes kaum registriert hätte - und dass dieser Anblick keinerlei Wirkung auf sie ausüben und keinen bleibenden Eindruck hinterlassen würde.
Stattdessen ... lag ein gefallener Engel nackt in ihrem Bett, und ihr Puls hämmerte immer noch.
Nachdem Edgar, John und die anderen Männer am Strand angekommen waren und den Fremden zum Haus und hinauf in ihr Schlafzimmer geschleppt und ihn auf ihr Bett gehievt hatten, hatte sie Muriel geholfen, ihn zu versorgen. Sie hatte ihrer Tante geholfen, ihm die Kleidung auszuziehen und seine kräftigen Muskeln entblößt, hatte geholfen, ihn zu baden und abzutrocknen, hatte seine Wunde genäht und verbunden. Kaum verwunderlich, dass ihr nach dieser Anstrengung immer noch heiß war.
Und sie hoffte, dass ihre Tante die ungewöhnliche Röte auf ihren Wangen darauf zurückführen würde.
Muriel und sie hatten die Wunde gründlich versorgt und bandagiert. Nach und nach war er wieder aufgetaut, das Blut war wieder normal durch seine Adern geflossen, und er hatte auch wieder normal geblutet; in dieser Hinsicht war es ein Vorteil gewesen, dass er im eisigen Wasser gelegen hatte. Sie hatten es nicht geschafft, ihm ein Nachthemd überzuziehen; noch nicht einmal eines von ihrem Vater hatte passen wollen. Und wie schwierig es gewesen war, mit den schweren Armen und dem schweren Körper des Mannes umzugehen ... stattdessen hatte Muriel zusätzliche Decken besorgt.
»Hier sind die Backsteine.« Will drückte die Tür mit der Schulter auf und kam herein. In den Händen trug er zwei mit Flanell umwickelte Steine, die auf dem Küchenherd vorgewärmt worden waren.
Die anderen - Brandon, dreizehn Jahre alt und fast so groß wie Will, Jennifer, zwölf, die achtjährige Gillyflower und Chester - folgten ihm mit ebenfalls mindestens einem Stein in der Hand.
Linnet hob die Daunendecke an, griff sich einen Stein und platzierte ihn auf der Decke, die den Körper des Fremden einhüllte. Sie arbeitete sich einmal um ihn herum, sodass er schließlich wie in einem erhitzten Hufeisen lag, das von seinem Oberkörper bis rund um seine sehr großen Füße reichte. Kaum hatte sie den letzten Stein an seine Stelle gebracht, stopfte sie die Daunendecke wieder um ihn.
Dann trat sie zurück und betrachtete ihren Patienten.
»Mehr können wir nicht tun. Jetzt heißt es abwarten.«
Die Kinder blieben noch eine Weile stehen und verschwanden erst, als der Mann sich weiterhin nicht rührte. Linnet blieb bei ihm.
Sie war unruhig, ängstlich und auf seltsame Weise wachsam und hatte keine Ahnung, was an diesem Mann sie dazu brachte, auf und ab zu marschieren. Warum nur fiel ihr Blick immer wieder auf das Gesicht dieses gefallenen Engels, während sie ihn innerlich lautlos beschwor, am Leben zu bleiben?
Hin und wieder blieb sie am Bett stehen und legte ihm die Hand auf die Stirn.
Seine Stirn blieb eiskalt.
Tödlich kalt.
Trotz allem, was sie getan hatten, war es durchaus möglich, dass er nicht wieder aufwachen würde. Geschweige denn, sich erholen.
Warum um alles in der Welt das Leben eines Fremden ihr so viel bedeutete - sie hatte keine Ahnung. Aber sie wollte unbedingt, dass er am Leben blieb. Wollte mit aller Kraft, dass er lebte, und zwang ihm ihren Willen beständig auf.
Es war schlicht nicht hinnehmbar, dass erst ein gefallener Engel in ihr Leben stürzte und dann starb, bevor sie auch nur die Farbe seiner Augen kennengelernt hatte. Es geschah nicht jeden Tag, dass Engel vom Himmel fielen - oder in der Bucht angespült wurden. Und in all ihren sechsundzwanzig Jahren waren ihre Augen noch nie auf einen Mann wie ihn gefallen, mochte er nun wach sein oder im Koma liegen. Sie wollte mehr über ihn erfahren, sehnte sich geradezu danach.
Ein gefährliches Verlangen, ja, vielleicht. Aber wann war sie je vor der Gefahr zurückgeschreckt?
Der Nachmittag verflüchtigte sich, ohne dass der Zustand ihres Patienten sich veränderte. Sie seufzte, als der Abend anbrach. Die Kinder kamen nochmals mit warmen Steinen, und sie half, die kalten Steine gegen die warmen auszutauschen. Die Kinder polterten wieder die Treppe hinab und freuten sich auf ihr Abendessen, während sie die Vorhänge vorzog und einen letzten prüfenden Blick auf den Mann warf, bevor sie zur Tür eilte.
Ihr Blick fiel auf die Dinge, die sie auf der hohen Schlafzimmerkommode neben der Tür abgelegt hatte. Linnet hielt inne, betrachtete nochmals die Gestalt, die so still in ihrem Bett lag, und ergriff die drei Gegenstände - die einzigen, die er außer seiner Kleidung noch bei sich getragen hatte.
Das lange Messer - ein feines Stück, viel feiner, als man es im Besitz eines Matrosen vermuten würde.
Der Säbel - mit Sicherheit die Waffe eines Kavalleristen, oft gebraucht und liebevoll geschliffen.
Sie hatte den Jungen aufgetragen, beide Klingen zu polieren. Das Futteral des Säbels wäre unter Umständen noch zu retten.
Bei dem dritten Gegenstand handelte es sich um einen hölzernen Köcher. Höchst merkwürdig. Wie Will richtig vermutete, hatte der Mann ihn in Ölzeug verpackt in einer Lederschlinge getragen; da er selbst nicht in der Lage gewesen war, die Schlinge aufzuschneiden, hatten sie die Schultergurte auftrennen müssen, um ihm den Köcher abzunehmen. Das Holz war ausländisch; sie nahm an, dass es sich um Rosenholz handelte. Die Messingbefestigung, die die hölzernen Streben zusammenhielt und ein Ende des Köchers verschloss, machte ebenfalls den Eindruck, von irgendwo anders her zu stammen, von einer fremden Küste.
Linnet nahm alle drei Gegenstände an sich, schaute noch einmal zurück aufs Bett, auf den dunklen Kopf, der still und schweigend auf ihren Kissen lag, drehte sich um und ging zur Tür hinaus, die sie schweigend hinter sich schloss.
Logan erwachte in dem dunklen Zimmer.
In einem weichen Bett, mit dem Duft einer Frau.
Das hatte er sofort registriert. Was den Rest betraf ...
Wo zum Teufel bin ich?
Ganz vorsichtig öffnete er die Augen und schaute sich um. Sein Kopf tat weh ... pochte, schmerzte. So schlimm, dass er vor Schmerz kaum blinzeln konnte. Als er es doch tat, sah er einen Kamin auf der anderen Seite des Zimmers mit einem Haufen glühender Kohlen in einem Feuer.
Wo um alles in der Welt halte ich mich auf?
Er versuchte nachzudenken, schaffte es aber nicht. Sobald er die Stirn runzelte, verschlimmerte sich der Schmerz. Er bewegte sich kaum merklich und stellte fest, dass er zwar keinen Verband um den Kopf hatte, dass sich aber eine lange und breite Bandage um seinen Oberkörper wand.
Er war also verwundet worden.
Wie? Wo? Wann?
Die Fragen reihten sich in seinem Kopf. Antworten blieben allerdings aus.
Dann hörte er Stimmen. Aus der Ferne, durch Wände und Türen, obwohl sein Gehör so scharf schien wie immer ...
Kinder. Die Stimmen gehörten Kindern. Kleinen Kindern, zu hell und kreischend, um nicht mehr jung zu sein.
An Kinder konnte er sich nicht erinnern.
Aufgescheucht und verunsichert bewegte er die Arme, dann die Beine. Alle Gliedmaßen funktionierten kontrolliert. Nur sein Kopf schmerzte so heftig. Behutsam stieß er die Brocken beiseite, die er als eingehüllte Backsteine erkannte, und rutschte auf die Bettkante.
Dumpf beharrte sein Gedächtnis darauf, dass irgendwo Feinde lauerten, wenngleich er sich an nichts Genaueres erinnern konnte. War er gefangen genommen worden? Befand er sich in feindlichem Lager?
Mit äußerster Sorgfalt zog er sich im Bett hoch, schwang die Beine über die Kante und setzte sich auf. Das Zimmer schwankte förmlich hin und her, bis er sich stabilisiert hatte.
Ermutigt stand er auf.
Das Blut schoss ihm in den Kopf.
Er brach zusammen.
Krachte dumpf zu Boden, schrie beinahe auf - hätte aufschreien können -, als sein Kopf auf die Holzdielen traf. Er stöhnte, hörte Schritte auf irgendeiner Treppe, versuchte, sich langsam aufzurichten.
Die Tür flog auf.
Auf einen Ellbogen gestützt drehte er den Kopf und schaute sich um, er wusste genau, dass er zu schwach und zu hilflos war, sich zu verteidigen. Es war aber auch kein Feind, der hereingestürmt war.
Sondern ein Engel mit rotgoldenem Haar, so hell und feurig wie eine Flamme, und dieser Engel ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, fand ihn und kam zu ihm gerannt.
War er etwa gestorben und im Himmel gelandet?
»Tölpel! Warum zum Teufel müssen Sie unbedingt aufstehen? Sie sind verwundet, Dummkopf!«
Also doch kein Engel. Noch nicht mal der Himmel. Sie zankte ihn weiter aus und überprüfte zornig seine Bandagen, bevor die kleinen, erstaunlich kräftigen Hände seinen Arm packten und ihn hochreißen wollten, was, wie er genau wusste, unmöglich war. Aber da waren auch schon zwei stramme Burschen an ihrer Seite. Doch-kein-Engel stieß ein paar Befehle aus, einer der Burschen bückte sich unter seinen anderen Arm, während der zweite ihr half, ihn hochzuziehen, nachdem sie bis drei gezählt hatten ...
Es schmerzte. Höllisch.
Überall.
Er stöhnte, als sie ihn überraschend sanft aufs Bett zurücklegten, auf seine linke Seite, und ihn anschließend umsichtig auf den Rücken rollten.
Doch kein-Engel machte ein Aufhebens, die durcheinandergeratenen Decken wieder zurückzuschlagen, die Backsteine wieder ordentlich an ihren Platz zu rücken. Logan beobachtete, wie sie mit den Lippen Worte formte - eine Reihe zunehmend kräftiger Beiworte. Und als sein schlimmster Schmerz sich verflüchtigt hatte, bemerkte er, dass er lächelte.
Sie sah es ebenfalls, starrte ihn an und warf die Decken über ihn. Er lächelte weiter, bestimmt ziemlich dümmlich; denn der Schmerz war immer noch so stark, dass er nichts richtig einschätzen konnte. Nur eins fiel ihm auf: Er war nackt. Entblößt bis auf die Haut, hatte keinen Fetzen Stoff am Leib außer dem Verband - und sein Doch-kein-Engel hatte nicht mit der Wimper gezuckt.
Obwohl sein gesamter Körper praktisch gewelkt war - bis auf einen gewissen Teil -, und genau das musste sie einfach registriert haben. Nein, das konnte ihr unmöglich entgangen sein, als sie den Blick über ihn hatte schweifen lassen, während sie ihn zurück ins Bett verfrachtete, ihn hinlegte, ihn ausstreckte.
Was bestimmt zu bedeuten hatte, dass sie und er sich geliebt hatten. Was hätte es sonst bedeuten sollen?
Er konnte sich nicht an sie erinnern. Noch nicht einmal an ihren Namen. Konnte sich nicht erinnern, wie seine Hände in all das volle, warme Haar gesunken waren, wie er seinen Mund auf ihre sündigen Lippen gepresst hatte ... Lippen, von denen er annahm, dass sie boshafte Dinge taten ... an die er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte - sondern an nichts anderes als an vernichtenden Schmerz.
Eine ältere Lady trat ein, sagte etwas, schaute ihn an und kam zum Bett, als seine Geliebte versuchte, ihn noch weiter in die Mitte der breiten Matratze zu rücken. Weil er dachte, dass er behilflich sein solle, rollte er nach rechts ...
Schmerz schoss auf. Um ihn herum wurde alles schwarz.
Das Stöhnen, das dem Fremden über die Lippen fuhr, war so eindringlich, dass Linnet zusammenzuckte - sie beobachtete, wie sein Körper schlaff wurde, als habe er keine Knochen mehr im Leib, und ihr war klar, dass er wieder bewusstlos wurde.
»Verdammt! Ich hatte noch nicht mal die Gelegenheit zu fragen, wer er eigentlich ist.« Sie musterte sein Gesicht. »Woher kommt das jetzt?«
Muriel war ebenfalls besorgt.
»Hast du ihn auf Kopfverletzungen untersucht?«
»Ja, es gab keine ... jedenfalls war nichts zu sehen.« Linnet kniete sich neben ihn und betastete seinen Kopf. »Aber sein Haar ist auch so dick, vielleicht ...« Unendlich sanft nahm sie seinen Schädel zwischen ihre Hände. Breitete die Finger aus, suchte, tastete ... »Oh, du liebe Güte! Da ist eine große, sehr große Prellung.« Sie zog die Hand zurück und betrachtete ihre Fingerspitzen. »Blut. Das heißt, die Haut ist verletzt.«
Die Untersuchung führte zu einer weiteren Runde umsichtiger Versorgung, zu warmem Wasser in einer Schüssel, Handtüchern, Salben und schließlich zu einem ganzen Packen Bandagen; Muriel und sie reinigten, trockneten, betupften und bandagierten die Wunde.
»Sieht so aus, als hätte man ihm mit einem Rundholz auf den Schädel geschlagen.«
Sie wollten den Bereich, in dem er lag, so aufpolstern, dass ihr Patient in der Lage war, sich ohne Schmerzen in den Kissen zu bewegen. Deshalb mussten John und Edgar helfen, ihn aufzurichten, und dabei genau darauf achten, dass die Bandagen um Oberkörper und Bauch nicht verrutschten.
Edgar untersuchte die Wunde.
»Muss einen harten Schädel haben, dass er das überlebt hat.«
John nickte.
»Der Kerl hat ziemliches Glück gehabt. Mit diesem Schlag und dem Sturm und dem Wrack und allem. Ein Schutzengel hat die Flügel über ihn gebreitet, könnte man meinen, und das hat ihn gerettet.«
Linnet bedankte sich bei den beiden und schickte sie zurück zum Abendessen. Muriel auch; nachdem sie die Tür hinter ihrer Tante geschlossen hatte, kehrte Linnet zum Bett zurück. Mit verschränkten Armen umklammerte sie die Ellbogen und starrte auf ihren Patienten hinunter.
Er hatte zur kämpfenden Truppe gehört, wie sie vermutete, hatte in wechselnden Einheiten gedient. Denn zahlreiche Narben bedeckten seinen Körper, meistens kleine und ältere. Ein Schutzengel, der für ein Leben in Geborgenheit sorgte? Jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Zu gern, wirklich zu gern würde sie wissen, wer er war.
Und bedachte man, wie sie in diesem Winkel der Welt ihr Dasein fristete, musste sie es einfach erfahren.
Sie zog sich in den Armsessel am Fenster zurück und beobachtete ihn eine Weile. Als er sich weiterhin nicht rührte, geschweige denn aufwachte und irgendeine Dummheit beging wie zum Beispiel Aufstehen, erhob sie sich und ging wieder nach unten. Um ihr Abendessen zu beenden und neue, warme Backsteine zu organisieren.
Drei Stunden später stand Linnet wieder am Bett, hatte die Arme verschränkt und musterte ihren bewusstlosen gefallenen Engel. Im Dämmerlicht der Lampe, die sie auf dem kleinen Tischchen aufgestellt hatte, betrachtete sie sein Gesicht und mühte sich, ihre Besorgnis zu zügeln.
Sein Teint war nicht einmal schlecht, das Gesicht allerdings auch gebräunt, was sie in die Irre führen konnte. Der Atem ging tief und gleichmäßig, und sein Puls war, als sie ihn vor wenigen Minuten geprüft hatte, kräftig und gleichmäßig gewesen.
Trotzdem gab es keine Anzeichen, dass er bald aufwachen würde.
Nach seinem unklugen Ausflug war er wieder in die Bewusstlosigkeit gesunken, vermutlich tiefer als zuvor. Das allein war schon schlimm genug; aber wirklich besorgniserregend war seine immer noch kalte Muskulatur. Selbst die Stellen, die inzwischen aufgewärmt sein sollten, waren eiskalt geblieben.
Immerhin wusste sie jetzt, dass seine Augen dunkelblau waren. So dunkel, dass sie ursprünglich angenommen hatte, sie seien schwarz; aber dann hatte er ihr direkt in die Augen geschaut, und sie hatte die blauen Flammen in der Dunkelheit bemerkt.
Nun war er also ihr gefallener Engel mit schwarzem Haar und Mitternachtsaugen - und trotz der vier Backsteine, die sie nochmals ausgetauscht hatten, war er ihrem Empfinden nach immer noch viel zu kalt. In seinen Reaktionen viel zu schwach. Dem Tod viel zu nahe. Und irgendwie wurde sie die Überzeugung nicht los, dass sein Überleben von größter Bedeutung war. Und dass es aus irgendwelchen Gründen an ihr lag, dafür zu sorgen, dass er es schaffte.
Es war lächerlich. Aber es fühlte sich an, als handelte es sich um eine Prüfung, die Gott ihr geschickt hatte. Schließlich rettete sie ständig Menschen - genau das war ihre Aufgabe; es gehörte zu ihrer Rolle. Würde sie also auch einen gefallenen Engel retten können?
Sie marschierte auf und ab, wanderte mit finsterem Blick durch das Haus - ihr Haus, ihr Heim - und glitt endlich in einen behaglichen Schlummer. John und Edgar hatten noch im Herrenhaus ausgeholfen; nach dem Dinner saßen sie gewöhnlich noch im Wohnzimmer und plauderten - heute Abend ergingen sie sich in Vermutungen über das Wrack und den Fremden - und zogen sich dann in das Cottage zurück, das sie mit dem Stallmeister Vincent und dem Gärtner Bright bewohnten. Die Köchin Mrs. Pennyweather sowie die Dienstmädchen Molly und Prue schmiegten sich schon längst in ihre Betten im Dienstbotenquartier im Erdgeschoss.
Muriel und Buttons - Miss Lillian Buttons war die Gouvernante der Kinder - hatten Zimmer im ersten Stock, in dem Flügel, der Linnets großem Schlafzimmer gegenüberlag. Die Kinderzimmer lagen im ausladenden Dachboden, auf beiden Seiten des Spielzimmers als auch des Schulzimmers.
Da das Herrenhaus auf dem Anwesen die südwestliche Spitze von Guernsey einnahm, bildete Mon Coeur eine kleine, eigenständige Gemeinde, deren Leiterin zweifellos Linnet - Miss Trevission - war. Wirklich, sie wirkte eher wie eine Lehnsherrin, so als würde sie ihre Herrschaft durch Erbrecht ausüben; es war jedenfalls anzunehmen, dass sie mit genau solchen Augen betrachtet wurde.
Adel verpflichtet, ja, das war es vielleicht. Dieses Gespür der Verantwortung für diejenigen, die ihr anvertraut waren, das musste es wohl sein, was sie antrieb, dafür zu sorgen, dass der Fremde am Leben blieb.
Später ging Linnet zu ihm und musterte sein Gesicht.Wollte ihn mit ihrem Willen zwingen, mit den Lidern zu flattern, die Augen aufzuschlagen und sie wieder anzuschauen. Sie wollte sehen, wie seine Lippen sich wieder hochzogen, denn das hatten sie schon einmal getan, und zwar auf unglaublich verführerische Weise. Allerdings vermutete sie, dass er zu jenem Zeitpunkt noch im Delirium gelegen hatte.
Natürlich lag er einfach nur da. Sie legte die Hand auf seine Stirn, ließ sie dann an seinem Hals hinuntergleiten und bestätigte sich, dass er immer noch viel zu kalt war. Er war buchstäblich komatös, und nichts, was sie bisher unternommen hatten, hatte ihn ausreichend gewärmt.
Sie zog die Hand zurück und stieß den Atem aus. Eigentlich hatte sie vorgehabt, auf dem Tagesbett am Fenster zu schlafen, aber ... ihr Bett war das größte im Herrenhaus - entworfen für ein Paar, bei dem der Mann groß war. Nur ... wenn sie ihn wärmen wollte, musste sie natürlich nahe bei ihm schlafen anstatt entfernt.
Sie eilte zu ihrer Kommode und holte das dickste Flanellnachthemd heraus. Mit einem Auge auf dem Bett zog sie sich ihr warmes Kleid aus, das wollene Unterkleid und das feine Hemd und streifte sich das Nachthemd über den Kopf.
Ihr Patient hatte sich nicht gerührt. Noch nicht einmal mit den Lidern geflattert.
Rasch ließ sie ihr Haar herunter, fuhr sich mit den Fingern durch die dichte Masse und lockerte die langen Locken, indem sie den Kopf schüttelte. Dann holte sie ihren wollenen Morgenmantel von dem Haken seitlich am Schrank, schlüpfte hinein und schloss den Gürtel - noch eine Rüstung gegen den Angriff, so bescheiden er auch sein mochte, auf ihren Anstand.
Sie verspottete sich stumm, als sie sich dem Bett näherte. Ganz gleich, wer er sein mochte, ihr ganzes Leben schon musste sie mit Männern fertigwerden. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass es ihr auch diesmal gelingen würde, dass sie auch mit ihm fertigwerden würde. Er würde es lernen, genau wie die anderen. Sie erteilte Befehle, die anderen gehorchten. Das war ihre Welt, und nichts würde sich daran ändern.
Sie hob die Decken, überprüfte die Steine und fand sie, wie vermutet, bereits abgekühlt. Also zog sie sie aus dem Bett und stapelte sie neben der Tür auf, bevor sie zum Bett zurückkehrte.
Erneut hob sie ruhig die Decken und glitt in die vertraute Weichheit. Links neben ihrem gefallenen Engel. Sie legte die Hände an seine bandagierte Seite und schob ihn sanft, ließ nicht nach, bis er sich auf seine unverletzte rechte Seite rollte. Hastig schob sie sich näher, schmiegte sich von hinten eng an ihn und nutzte ihren Körper, um ihn in dieser Stellung zu stützen.
Einen Arm schob sie unter ihn, den anderen über ihn, und wärmte ihn, so gut sie konnte. Anschließend lehnte sie die Wange an die kühle, weiche Haut seines Rückens - nur weil sein Rücken sich gerade anbot. Sie hatte ihre Zweifel, dass sie schlafen würde, schloss aber trotzdem die Augen.
Sie erwachte in dem Gefühl zu schwimmen, zu schweben. Ihre Sinne arbeiteten nur langsam, wollten nur zögerlich aus dem angenehmen Meer auftauchen, in das sie versunken waren. Eine merkwürdige Wärme durchströmte sie, verführte sie, sich einfach nur zu entspannen und sich von der Flut der sinnlichen Empfindungen überrollen zu lassen ...
Es brauchte viele lange Minuten, bis sie sich wieder ausreichend orientieren konnte, um Alarm zu schlagen. Und selbst dann noch stellte ein Teil in ihr ungläubig infrage, dass überhaupt eine Gefahr drohte - unfähig, diese Gefahr wahrzunehmen - nicht hier, nicht jetzt.
Nicht in diesen langen, an-und abschwellenden Wellen der Lust, die irgendetwas, irgendein Wesen, sanft durch ihr Inneres schickte.
Aber dann schlossen sich eine harte Handfläche und lange, harte Finger um ihre nackte Brust - sie wurde mit einem erschütternden Aufstöhnen sinnlicher Lust aus dem Dämmerzustand gerissen.
Ihre Sinne taumelten, tanzten Walzer zu einer Melodie, die ihr noch nie zuvor zu Ohren gekommen war. Sie musste die Augen aufschlagen, um sich wieder orientieren zu können. Sich zu überzeugen, dass ihre Stellungen sich irgendwie verändert hatten, dass sowohl sie als auch ihr gefallener Engel sich umgedreht hatten und dass jetzt er es war, der sich eng an sie schmiegte, seinen Oberkörper an ihren Rücken.
Seine Hände an ihren Körper.
Seine aufgerichtete Männlichkeit zwischen ihren Schenkeln.
Natürlich wusste sie nur zu gut, dass sie aus dem Bett springen sollte. Jetzt, genau jetzt, bevor seine wandernde Hand und die Lust, die sie ihr verschaffte, ihre Sinne wieder belagerten.
Aber ... seine Hand, seine Finger, streichelten und liebkosten sie, spielten und zupften ... Seufzend schloss sie die Augen.
Verdammt. Er wusste genau, was er tat. Wusste es und konnte es besser als jeder andere Mann, dem sie je begegnet war. Sie biss sich auf die Lippe, als sie aufstöhnen wollte, während seine forschende Hand wieder näher kam und dann auf ihrer anderen Brust liegen blieb, um ihr die Ehre zu erweisen.
Er war eindeutig erfahren. Und sie war keine welkende Jungfrau, keine Ausgeburt züchtiger Schüchternheit ... und doch ...
Nein, das durfte sie nicht zulassen.
Denn sonst würde sie sich am nächsten Morgen selbst abscheulich finden. Nicht zuletzt deshalb, weil sie, wie sie nur zu gut wusste, es zuließ, dass ihr gefallener Engel sie so schnell haben durfte. Noch ohne dass sie überhaupt ein einziges Wort gewechselt hatten! Sie würde ihm zu große Macht über sich verleihen.
Oder ihn jedenfalls glauben lassen, dass er tatsächlich Macht über sie ausübte. Und das würde zu unnötigen Kämpfen führen. Auf diesem Gebiet war sie die unumschränkte Herrscherin, und solche Dinge geschahen auf ihr Kommando - nur auf ihr Kommando.
Seufzend nahm sie hin, dass sie der Sache jetzt ein Ende setzen musste. Sie öffnete die Augen, orientierte sich in ihrer Umgebung - was nur zu dem Ergebnis führte, dass ihr ein gänzlich unvertrauter Schauder über den Rücken jagte.
Ihr Morgenmantel stand offen, die vorderen Hälften waren gespreizt. Das Nachthemd war nach oben geschoben, vorn bis über ihre Brüste und auf dem Rücken bis zur Mitte, weshalb sie spüren konnte ...
Sie musste dem ein Ende setzen. Sofort. Aber sie war auch zu klug, um zu versuchen, sich durch Zappeln zu befreien oder sogar wegzuspringen. Jede Bewegung würde es ihm anheimstellen, sie gehen zu lassen oder auch nicht. Und es könnte sein, dass er es nicht wollte. Jedenfalls nicht bereitwillig. Vielleicht würde er versuchen, sie bitten zu lassen.
Linnet war es gewohnt, mit Männern ihre Spielchen zu treiben. Eine Art Schach. In Gedanken gürtete sie schon ihre Lenden - zügelte ihre Sinne und legte sie schließlich an die Kette - und streckte dann die Arme über dem Kopf aus, räkelte ihren langen Körper auf sinnliche Weise und drehte sich in seiner Umklammerung um, sodass sie ihn anschauen konnte.
Aber es funktionierte nicht wie geplant.
Anstatt dass er sie in seinem männlichen Triumph träge anlächelte und sich bereit zeigte, ihre weibliche Unterwerfung anzuerkennen, blieb ihr kaum die Zeit zu registrieren, dass seine Augen geschlossen waren, sein Gesichtsausdruck leer - dass, wenngleich sie erwacht war, dies für ihn nicht galt -, bevor eine harte Hand in ihr ungebundenes Haar tauchte, ihren Schädel umfasste, er den bandagierten Kopf hob und seine Lippen sich über ihren schlossen.
Gefräßig.
Gierig.
Als ob er kurz vor dem Verhungern stünde und sie seine einzige Rettung sei.
Als sein Kopf auf ihren traf, war es, als würde eine Welle auf sie herabstürzen, eine Welle aus Leidenschaft und Hunger und Verlangen und Not, die allesamt in dem brennenden Kuss brodelten. Auf Anhieb flammte ein Flächenbrand zwischen ihnen auf. Sie fühlte sich, als würde sie dahinschmelzen, ihre Muskeln waren zwar angespannt - und wurden doch reglos, flüssig und hingebungsvoll; eine Leere - ein hohler Schmerz - keimte in ihrem Innern auf und sehnte sich danach, erfüllt zu werden.
Ursprünglich. Dringend. Fordernd.
All das war er - und sorgte dafür, dass sie sich ebenso fühlte.
Ihre Hände strichen über seine Schultern. Selbst als sie darum kämpfte, im übertragenen Sinne wieder auf die Füße zu kommen, spürte sie, wie sich unter der immer noch kühlen Oberfläche seiner Haut eine Wärme ausbreitete.
Wenn ihr Austausch überhaupt irgendeine Wirkung zeigte, dann erhitzte er ihn.
Wenn er wach gewesen wäre, dann hätte die Tatsache, dass sie sich umgedreht hatte, ihn lange genug innehalten lassen, um seine Flamme zu löschen. Stattdessen hatte sein bewusstloser, träumender Geist diese sinnliche Drehung, mit der sie ihn anschauen wollte, als Ermutigung und Zustimmung gelesen. Als Unterwerfung.
Als es ihr klar wurde, hatte er bereits nach ihrem Mund verlangt und nach jedem einzelnen ihrer Sinne - mit einer Leidenschaft, die so gewaltig war, dass es ihr die Sprache verschlug.
Seine Zunge erforschte sie, verschmolz mit ihrer, und ihr Körper wurde so lebendig, wie er es noch nie zuvor gewesen war. Und doch - träumte er etwa?
Noch in dem Moment, in dem sie sich mit dieser Schlussfolgerung abkämpfte - zu ergründen versuchte, was es zu bedeuten hatte und was sie tun sollte -, riss er seine Lippen von ihren, zog den Kopf nach unten und fuhr mit dem Mund an ihre Brust.
Nahm die aufgerichtete Knospe in seinen Mund und sog daran.
Hart.
Ihr Körper bog sich durch. Angestrengt mühte sie sich, ein Stöhnen zu unterdrücken - das erste wahrhaft lustvolle Stöhnen, welches ihr je über die Lippen gekommen war. Er stieß sie auf den Rücken und beugte sich in der Dunkelheit über sie. Sie ergriff seine Schultern, und das Stöhnen schluchzte in ihrer Kehle, als er mit gesenktem Kopf weiter an ihr sog, ihre Brüste liebkoste und mit ihnen spielte.
Noch im Schlaf wusste er genau, wie er dafür zu sorgen hatte, ihren Körper schnell, rasend schnell und brüllend zum Leben zu erwecken. Ihn zum Singen zu bringen, in Flammen auflodern zu lassen.
Drei Liebhaber hatte sie gehabt; hatte genau drei Mal »Liebe gemacht«, ein einziges Mal mit jedem. Die Erfahrungen hatten sie überzeugt, dass diese Sache nichts für sie war. Nichts, was zu ihr passte.
Und da sie ja ohnehin nie heiraten würde, hatte sie keinen Grund gesehen, mehr zu lernen.
Aber jetzt sah sie sich einer Erfahrung gegenüber, mit der sie nicht gerechnet hatte. Sogar als die Lust erneut durch sie pulsierte und ihr Körper sich unter ihm bog, sich ihm beschwörend entgegenbog, war ihr klar, dass sie ihn, ihren gefallenen Engel, zum Aufhören bringen konnte. Aber dazu würde sie ihn wecken müssen. Obwohl er verwundet und geschwächt war, war er zu stark für sie, um ihn einfach wegzustoßen und wieder sanft in den Schlaf zu wiegen. Aber ihre Gründe, sich nicht auf ihn einzulassen, zählten nicht, sofern er weiter schlief. Denn wenn er nicht Bescheid wusste, würde er sich auch nicht erinnern können, sobald er erwachte ...
Seine Lippen schweiften abwärts, mit den Händen hatte er ihre Seiten fest im Griff. Ihr Körper summte und brummte - war auf schier unglaubliche Art lebendig, hungrig und bedürftig. Seine Hände waren hart und rau, aber wohlgeformt, und schmiegten sich jetzt an ihre Kurven, glitten an ihr hinunter und liebkosten die Rundungen ihres Hinterns; lange Finger massierten sie, streichelten sie zärtlich.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich ... überwältigt. Und einen Hauch hilflos. Nicht wahrhaft hilflos ... jedenfalls nicht beängstigend. Aber seine Kraft und seine Stärke hüllten sie ein, führten sie, kontrollierten sie ... so weit sie es gestattete.
Und dann bewegte er sich auf ihr, ganz und gar auf ihr, und seine harten und muskulösen Schenkel spreizten ihre, sodass er seine Hüften dazwischen platzieren konnte.
Ihr Atem ging stoßweise. Sie musste entscheiden. Jetzt. Seine lange, harte und aufgerichtete Männlichkeit streifte die Innenseite ihres Schenkels, löste Empfindungen aus und gab Versprechungen ab, ließ Neugierde aufflackern, zersplitterte ihre frühere Entschlossenheit.
Jeder Nerv, jeder Zentimeter ihres Körpers wollte es wissen.
Aber würde er aufwachen? Wäre es ihm möglich, beim unausweichlichen Ende anzukommen, ohne sich aus Morpheus' Umklammerung zu befreien?
Und wenn sie es herausfand - was für ein Risiko! Allerdings war sie noch nie einer Herausforderung aus dem Weg gegangen - in ihrem ganzen Leben noch nicht. Immer schon hatte sie Risiken einkalkuliert und gewonnen.
Er hob den Kopf, bedeckte ihren Körper mit seinem und schloss seine Lippen über ihren.
Drang in ihren Mund ein, forderte, eroberte sie aufs Neue - und Linnet hob die Hände, umschloss seinen bandagierten Kopf und erwiderte den Kuss.
Tauchte bereitwillig in die Hitze ein, warf sich in das Getümmel, genoss den Augenblick und setzte sich dem Risiko aus.
Sie küsste ihn so ausgehungert, wie er sie geküsst hatte - wie sie noch nie einen anderen Mann geküsst hatte. Nie zuvor hatte es ein Mann gewagt, sie zu verschlingen oder gar sie eingeladen, ihn zu verschlingen.
Heiße, wahnsinnige Momente verstrichen, in denen sie sich förmlich duellierten. Sein Rückgrat war durchgebogen, als er sich dann mit gezügelter Kraft bewegte und sie spürte, wie die marmorne Härte seiner Männlichkeit ihre Lippen teilte. Unausweichlich drängte er sich in sie hinein, drängte durch die Feuchtigkeit in ein instinktives Willkommen.
Obwohl er sie dort noch nicht einmal berührt hatte, war sie bereit - bereit und willens und überaus begierig, ihn in seiner ganzen Länge zu spüren, seine blanke Kraft und sein Gewicht, war begierig, seine Stärke zu erleben, als er stetig in ihr nach vorn drang und zum Schluss tief in ihr Inneres stieß.
Er dehnte sie, streckte sie, wie es noch nie zuvor jemand mit ihr getan hatte. Noch nie hatte sie sich so überfallen und erobert gefühlt, so ganz und gar in Besitz genommen.
So erfüllt.
Dann bewegte er sich wieder, in tiefen, natürlichen Stößen, die sie unter ihm erschütterten - es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sich so genommen fühlte wie noch nie ... fraglos nahm er alles, was sie ihm gewähren würde, einfach alles, was sie zusammenkratzen konnte, und sie gab und gewährte tatsächlich - er ließ ihr auch keine andere Wahl.
Irgendwie wendete sich das Blatt, und nun war es an ihr, mit den Fingerspitzen in seinem Hintern zu versinken, ihn zu ergreifen und sich festzuklammern, drängend und verlangend. Und er gab, gewährte großzügig und verströmte all seine Macht, seine Leidenschaft in ihr, durch sie hindurch, trieb die Herrlichkeit noch weiter und noch höher, immer höher - stieß mit aller Kraft tief in ihr Inneres, bis sie zusammenbrach.
Bis die Herrlichkeit in sich zusammenfiel und die Empfindungen in glitzernde Splitter barsten und sie mit einem stummen Schrei aufgab.
Logan hörte den Schrei, diesen unbeschreiblich beschwörenden Laut der weiblichen Erfüllung, und ließ die Zügel schießen. Ließ es zu, dass der Traum ihn in die vertraute Hitze und das vertraute Feuer einhüllte, ergab sich diesem ursprünglichen, drängenden Verlangen und ließ alle Hoffnung fahren, die heiße Umklammerung der feuchten Lippen seiner Geliebten noch länger zu genießen; kaum waren die Wellen ihrer Erleichterung verklungen, als er härter und noch härter in ihren Körper stieß - in den Körper seiner Traumgeliebten, die ihn eindeutig sehr gut kannte.
Die es zugelassen hatte, dass er sie ritt, und anschließend ihn geritten hatte. Die seinen Bedürfnissen entsprochen hatte, zu ihnen gepasst hatte und ihnen entgegengekommen war.
Die ihn zu dem geführt hatte, was geschehen war - auf den Gipfel seiner erotischen Träume.
Er spürte, wie sich die Erleichterung näherte, spürte, wie sie ihn ergriff, ihn hochspülte und über ihm zusammenbrach. Mit einem letzten Stoß sank er tief in sie hinein und ergab sich. Ließ es zu, dass es ihn ergriff.
Ihn erschütterte.
Bis er schließlich erzitterte und der Schlaf ihn wieder einhüllte und in noch tiefere Gebiete hinabzog, dort wo Befriedigung und Erfüllung sich mischten und ihn besänftigten und in himmlischer Glückseligkeit wiegten.
Linnet lag neben ihrem gefallenen Engel. Sein Gewicht war ein merkwürdiger Trost, als sie sich angestrengt abkämpfte, irgendetwas zurückzugewinnen - ihren Verstand, ihre Gliedmaßen. Selbst ihre Sinne schienen so zerfetzt, dass sie sie niemals wieder würde nutzen können. So als ob sie einer Flamme zu nahe gekommen war und sich versengt hatte.
Oh ... du ... lieber ... Himmel. Das war der erste zusammenhängende Gedanke, den sie Minuten lang denken konnte. Als sie schließlich ausreichend Kontrolle über ihre Beine und ausreichend gedankliche Schärfe zurückgewonnen hatte, stieß sie ihn sanft, stupste ihn an und zupfte an ihm und brachte ihn dazu, sich so weit zur Seite zu drehen, dass sie unter ihm hervorrutschen konnte.
Schwer und schlaff fiel er neben sie. Aber sie befürchtete nicht länger, ihn aufzuwecken. Wenn es durch ihre jüngsten Übungen nicht geschehen war, dann würde ihn so bald nichts aus dem Schlaf reißen. Und sie war überzeugt, dass er nicht aufgewacht war; hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, das Risiko nicht gescheut - und es hatte sich ausgezahlt.
Auf herrliche Art und Weise.
Copyright © 2013 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München.
Das portugiesische Handelsschiff mit dem Ziel Portsmouth steckte in Schwierigkeiten. Als Logan bei seiner Ankunft in Lissabon vor fünf Tagen entdeckt hatte, dass es in der Stadt von Mitgliedern der Kobra-Sekte nur so wimmelte, war er gezwungen gewesen, sich der Schiffsmannschaft anzuschließen. Es war, als ob die sturmgepeitschte See mit ihren donnernden Wellen das hin und her schlingernde Schiff verprügeln wollte, als sich das Deck schräg legte und das Schiff sich im Wind nicht mehr halten konnte. Logan konnte nicht sagen, ob das Ruder gebrochen war oder ob der Captain das Steuer aufgegeben hatte. Er hatte keine Zeit, durch die regenverhangene Dunkelheit zur Brücke zu linsen.
Instinkt und Erfahrung befahlen ihm, die Männer, die ihm jetzt gegenüberstanden, nicht aus dem Blick zu lassen. Noch einen dritten hatte es gegeben, den Logan aber schon mit seinem ersten Hieb erledigt hatte. Die Leiche war verschwunden, verschlungen von den gefräßigen Wellen.
Logan holte mit dem Säbel weit aus und schlug zu, wurde aber sofort zu Abwehr und Gegenangriff gezwungen und musste noch einen Schritt in den engen Bug zurückweichen. Musste seine Bewegungen noch weiter reduzieren, seine Möglichkeiten einschränken. Gleichviel. Bei zwei gegen einen im eiskalt prasselnden Regen, während er mit der einen Faust krampfhaft seinen Dolch und mit der anderen den Säbel umklammerte und während die Ledersohlen seiner Stiefel rutschten und ausglitten - die Mörder hatten sogar den Vorteil, barfuß zu kämpfen -, konnte er nicht wirkungsvoll in die Offensive gehen.
Er würde nicht überleben.
Das wurde ihm klar, als er wieder einen bösartigen Stoß abwehrte; und doch, noch während er es tat, erwachte in ihm eine unglaubliche Halsstarrigkeit. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte er als Offizier der Kavallerie gedient, hatte in Kriegen auf dem halben Globus gekämpft, war mehr als einmal durch die Hölle gegangen - und hatte überlebt.
Schon früher hatte er Mördern Auge in Auge gegenübergestanden - und lebte immer noch.
Wunder geschahen.
Das sagte er sich selbst dann noch, als er mit zusammengebissenen Zähnen den Arm mit dem Säbel nach oben abwinkelte, um einen Hieb auf seinen Kopf abzuwehren ... seine Füße knickten weg, sodass er gegen die Reling stürzte.
Die hölzerne Halterung, eine Art verschlossener Köcher, die ihm auf den Rücken geschnallt war, knallte ihm an die Wirbelsäule.
Aus den Augenwinkeln sah er weiße Zähne in einem dunklen Gesicht aufblitzen, ein barbarisches Grinsen, als der zweite Meuchelmörder herumschwang und zuschlug. Logan atmete zischend aus, als die Klinge an seiner linken Seite entlangglitt, den Mantel und sein Hemd durchschnitt, in das Muskelfleisch drang und den Knochen streifte, bevor sie über seinen Magen glitt, um ihm die Eingeweide aufzuschlitzen. Instinktiv hatte er sich flach an die Reling gepresst; ja, die Klinge schlitzte ihn auf, drang aber nicht tief genug.
Nicht dass es ihn retten würde.
Es war, als würde ein zackiger brillantweißer Riss den schwarzen Himmel zersplittern, als der Blitz zuckte. In den Sekunden der Helligkeit sah Logan die beiden Mörder, sah es in ihren dunklen Augen fanatisch glitzern, sah den Triumph auf ihren Gesichtern und wie sie sich zum Sprung sammelten, um ihn niederzuwerfen.
Er blutete stark.
Er blickte dem Tod ins Auge. Spürte ihn. Schmeckte Asche, als eisige Finger sich in seine Muskeln gruben und nach seiner Seele griffen.
Ein letztes Mal sog er die Luft in die Lunge, machte sich bereit. Bedachte man seine Mission und das, womit er sich in den vergangenen Jahren beschäftigt hatte, müsste der heilige Petrus zumindest ernsthaft erwägen, ihn in die Himmelsgefilde einzulassen.
Ein lange vergessenes Gebet formte sich auf seinen Lippen.
Die Meuchelmörder setzten zum Sprung an.
Krach!!!
Der Aufprall kam plötzlich, scharf, katastrophal. Spülte ihn und die Mörder über Bord. Der Sturz in die aufgewühlte Tiefe, in den brüllenden Zorn der See, brachte sie auseinander.
Der Instinkt ergriff von ihm Besitz, als er in die eisige Dunkelheit stürzte. Logan richtete sich auf und strebte nach oben. Mit der linken Faust hielt er immer noch den Dolch umklammert; der Säbel, den er losgelassen hatte, war an seinem Gürtel befestigt, und er spürte, wie die Waffe ihm beruhigend gegen das Bein schlug.
Er war ein guter Schwimmer. Was für die Meuchelmörder höchstwahrscheinlich nicht galt; es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie überhaupt schwimmen konnten. Er verscheuchte die Gedanken an sie - er hatte jetzt dringendere Sorgen -, brach durch die Wasseroberfläche und sog die Luft tief in die Lunge. Schüttelte den Kopf und linste dann durch das Wasser, das seine Wimpern immer noch nach unten drückte.
Der Sturm raste jetzt mit voller Kraft und türmte die See auf wie ein Gebirge. Nur bis zur nächsten Welle, weiter nicht, konnte er etwas erkennen; die Winde tobten mit unbändiger Wucht über das Wasser und peitschten und schossen hin und her und heulten lauter als tausend Todesfeen.
Als der Sturm das Schiff erwischt hatte, hatte es sich auf offener See ungefähr in der Mitte des Ärmelkanals befunden. Er hatte keine Ahnung, wie weit sie abgetrieben worden waren, und er wusste auch nicht, in welche Richtung. War das rettende Ufer in der Nähe, oder ...?
Beim Aufschlag auf die Wasseroberfläche hatte er Blut verloren. Wie lange würde er sich in diesem teuflischen Kessel eisiger Wellen noch halten können? Wann würden seine ohnehin schon erschöpften Kräfte endgültig versiegen ...?
Seine Hand stieß auf irgendetwas. Holz. Eine Planke. Nein, sogar noch besser - ein ganzer Block von Planken. Verzweifelt griff Logan danach, klammerte sich grimmig fest, als die nächste Welle versuchte, ihn fortzuspülen, biss die Zähne zusammen und riss sich auf das behelfsmäßige Floß.
Die Kälte hatte zwar seine Muskeln betäubt, aber trotzdem jagte ihm durch die Schnittwunde an seiner linken Flanke ein brennender Schmerz durch den gesamten Körper.
Längere Zeit lag er einfach nur hingestreckt auf den Planken und sammelte seine versiegenden Kräfte und stählte seinen Willen. Dann robbte er sich Zentimeter für Zentimeter nach vorn, bis er sich mit der rechten Hand an der gezackten Kante festhalten konnte. Seine Füße schlenkerten zwar immer noch im Wasser, aber bis zu den Knien war sein Körper gestützt; es gab keine bessere Lösung.
Die Wellen brandeten wieder auf. Sein Floß bäumte sich auf, konnte die Welle dann aber reiten.
Unter der peitschenden See krachten die Wellen zusammen. Er presste die Wange auf das nasse Holz, während er lauschte, sich konzentrierte und sich bestätigte, dass die Wellen auf irgendetwas aufschlugen, was sich ganz in der Nähe befinden musste.
Das Schiff, so dachte er, musste rechts von ihm durch die unverminderte Dunkelheit schlingern. Auseinanderbrechen. Sinken. Bedachte man, wie er und die Mörder durch die Luft geschleudert worden waren, musste der Aufprall mittschiffs erfolgt sein. Mit letzter Kraft hob er den Kopf, suchte, sah Trümmer, aber keine Leichen - keine weiteren Überlebenden - nur er und die Meuchelmörder hatten sich so weit auf dem Vorderschiff befunden.
Wieder zuckte ein Blitz und erhellte die nackten Schiffsmasten, die sich wie eine Silhouette vor dem tintenschwarzen Himmel abzeichneten.
Kaum war der Donner über ihn hereingebrochen, als er ein saugendes, rauschendes Geräusch hörte. Ihm schwante Böses ... sein Blick fiel auf das Schiff.
Auf das schwankende, kenternde Schiff, das bereits heftig Schlagseite hatte.
In der dunklen Nacht sah er, wie der Hauptmast nach unten kippte ...
Ihm blieb noch nicht einmal die Zeit für einen Fluch, als der Mast mit seiner Spitze auf ihn hinunterkrachte und alles um ihn herum schwarz wurde.
»Linnet! Linnet! Komm schnell! Komm her und schau dir das an!«
Linnet Trevission hob den Blick von den alten Steinfliesen des Weges, der von den Ställen zur Küchentür führte. Sie hatte den Stall verlassen und näherte sich dem Küchengarten; unmittelbar vor ihr erhob sich ihr solides und gemütliches Häuschen namens Mon Coeur, das in der schützenden Umarmung der Ulmen und Tannen verankert war, die sich in den unablässigen Seewinden in den seltsamsten Formen bogen.
Nachdem der Nachhall des Orkans noch die halbe Nacht lang getobt hatte, herrschte inzwischen nur noch ein milder, fast schon schüchtern kokettierender Wind, und die Wintersonne tauchte die blassen Steine des Hauses in eine honigfarbene Glut.
»Linnet! Linnet!«
Sie lächelte, als Chester, eines ihrer Mündel - ein flachsblonder Schuft von gerade mal sieben Jahren -, um das Haus in Richtung der hinteren Tür stürmte.
»Chester! Ich bin hier.«
Der Junge schaute auf und sah zum Stallweg.
»Du musst herkommen!« Er bremste, blieb schließlich stehen, schnappte sich ihre Hand und zerrte an ihr. »Da war ein Schiffbruch!« Sein Gesicht glühte vor Aufregung, die Stimme klang angespannt, und er schaute ihr direkt in die Augen. »Da sind Leichen! Und Will sagt, dass ein Mann noch lebendig ist! Du musst sofort kommen!«
Linnet schwand das Lächeln aus dem Gesicht.
»Ja, natürlich.« Sie raffte die Röcke ein paar Zentimeter hoch - wünschte sich, Hosen angezogen zu haben - und eilte rasch zur Hintertür, während sie sich vor Augen führte, was sie nun zu tun hatte - nichts anderes als das, was sie schon so oft getan hatte.
An der Südwestspitze von Guernsey gehörte der Umgang mit Schiffswracks unausweichlich zum Leben.
Chester trottete an ihrer Seite, er hatte ihre Hand ergriffen - zu fest -, andererseits hatte er seinen Vater vor drei Jahren an die See verloren. Als sie sich der Küchentür näherten, tauchte Linnets Tante auf.
»Habe ich richtig gehört? Ein Wrack?«, fragte Muriel.
Linnet nickte.
»Will hat Chester geschickt. Es gibt mindestens einen Überlebenden. Ich mache mich sofort auf den Weg. Kannst du Edgar und die anderen suchen? Sag ihnen, dass sie das alte Gatter mitbringen sollen. Und das Verbandszeug und die Schienen nicht vergessen.«
»Ja, natürlich. Aber wohin?«
Linnet schaute Chester an.
»Welche Bucht?«
»Die im Westen.«
Linnet fing Muriels Blick auf. Natürlich, die im Westen - die mit den meisten Felsen und der größten Gefahr. Besonders für diejenigen, die angespült wurden.
»Knochenbrüche. So gut wie sicher.«
Muriel nickte knapp und schickte sie mit einer Handbewegung fort.
»Mach dich auf den Weg. Wenn du zurück bist, habe ich alles vorbereitet.«
Linnet sah Chester an.
»Los, wir rennen.«
Chester grinste, ließ ihre Hand los, drehte sich um und rannte um das Haus.
Linnet hatte beide Hände frei, raffte ihre Röcke zusammen und nahm die Verfolgung auf. Mit ihren längeren Beinen hatte sie sich Chester schon bald an die Fersen geheftet. Der Pfad führte durch die umstehenden Bäume und dann durch das felsige Gebiet, das an den Rand der niederen Klippen grenzte.
»Halt!«, rief Linnet, als sie die südliche Landzunge der langen nordwestlichen Seite der Insel umrundet hatten und die westliche Bucht sich unter ihnen öffnete.
Chester blieb an der Spitze des Weges stehen - ein Pfad, der kaum breiter war als ein Ziegenpfad und bis zu dem Streifen grobkörnigen Sandstrands hinunterreichte. Jenseits des Strandes lagen Felsen, die jetzt entblößt waren, weil Ebbe herrschte und das Wasser sich zurückgezogen hatte; ein großes Durcheinander aus Granit, angefangen von faustgroßen Brocken, die den Boden der Bucht bildeten. Die Bucht war nicht besonders breit und eingeschlossen von zwei Kaps aus größeren, zerklüfteten Felsen, die bis in die aufpeitschenden, grauen Wellen ragten.
Linnet schaute hinunter und sah drei Körper, zwei davon hingestreckt, als ob man sie achtlos auf die Felsen geschleudert hätte. Diese zwei waren tot - mussten tot sein, gemessen an den verdrehten Gliedmaßen, Köpfen und Rücken. Von dem dritten Körper konnte sie nur einen kurzen Blick erhaschen, denn Will und Brandon, zwei weitere Mündel, hatten sich über den Mann gebeugt.
Linnet spürte Chesters bittenden Blick und nickte.
»Einverstanden. Gehen wir.«
Er flitzte davon wie ein Hase. Linnet raffte wieder ihre Röcke und eilte mit einer Ungezwungenheit, die der Chesters kaum nachstand, den vertrauten Pfad hinunter. Auf dem Weg nach unten ließ sie den Blick nochmals über die Bucht schweifen und registrierte den Plunder, den der Sturm angespült hatte; die Beweisstücke verrieten ihrem geübten Blick, dass es ein Kaufmannsschiff mit großer Fracht gewesen sein musste, das an den messerscharfen Felsen zerschellt war, die unter den Wellen im Nordwesten lauernd hervorlugten.
Auf dem Strand rannte Chester zu Will und Brandon. Linnet unterdrückte den Impuls, ihm hastig zu folgen, und bahnte sich ihren Weg sorgfältig durch die Felsen, um sich erst die Bestätigung zu holen, dass die anderen beiden Männer tatsächlich tot waren und ihre Hilfe nicht mehr brauchten. Dem Ansehen nach zwei Matrosen, beide dunkelhäutig. Spanier?
Sie ließ sie liegen, wo sie waren, und ging durch die Felsen zurück zum Strand bis zu der Stelle nahe den Klippen, wo der dritte Körper lag.
Der fünfzehnjährige Will hatte ihr den Rücken zugedreht, schaute aber auf, als sie sich näherte. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst.
»Er hatte sich an eine Planke geklammert. Wir haben sie angehoben und hergebracht.«
Sie blieb stehen, ließ die Hand auf Wills Schulter sinken und beantwortete die Frage, die er gar nicht gestellt hatte.
»Du kannst keinen Schaden anrichten, wenn er schon auf der Planke liegt und du ihn bewegst.«
Dann betrachtete sie zum ersten Mal ihren Überlebenden. Mit dem Bauch lag er auf der Planke; ein nasses Durcheinander schwarzer Haare verbarg sein Gesicht.
Er war groß. Kein Riese, aber in Gesellschaft würde er beeindruckend wirken. Breite Schultern. Lange, schwere Gliedmaßen. Sie ließ den Blick über seinen Rücken schweifen; stirnrunzelnd bemerkte sie die Wölbung unter seinem durchnässten Mantel. Als sie sich bückte und die Wölbung berührte, spürte sie deren Härte und tastete an der seltsamen Form entlang.
»Es ist ein hölzerner Zylinder in Ölzeug«, erklärte Will, »der in einer ledernen Halterung steckt und mit einer Schlaufe um seinen Gürtel geschlungen ist. Wahrscheinlich müssen seine Arme durch weitere Schlaufen führen, damit alles festsitzt.«
Linnet nickte.
»Merkwürdig.« Trug er diesen Zylinder etwa heimlich? Die Befestigung über den Muskeln seines Rückens wäre unter den Falten des Mantels allerdings aufgefallen, sobald er sich aufgerichtet hätte.
Sie ließ den Blick über seine Beine schweifen, konnte aber keinen Hinweis auf Knochenbrüche oder Wunden entdecken. Er trug eine Stiefelhose und einen lockeren Mantel der Art, wie viele Matrosen ihn trugen. Den rechten Arm hatte er ausgestreckt, und die Finger seiner langen Hand hatten sich um die vordere Kante der Planke gebogen. Die andere Hand jedoch lag auf einer Höhe mit seinem Gesicht; die Finger hielten das Heft eines Dolches mit tödlichem Griff umklammert.
Für einen Schiffbrüchigen doch etwas merkwürdig.
Ihr war bewusst, wie stark ihr Herz klopfte - zwar war sie zu den Klippen gerannt, aber deswegen dürfte es eigentlich nicht so heftig schlagen -, als sie sich bückte und die Waffe anschaute. Kein gewöhnlicher Dolch, stellte sie fest, sondern eher ein langes Stilett. Der Schliff der Klinge war erlesen, das Heft länger als bei den meisten anderen Stichwaffen und mit einem runden Stein an der Kreuzverstrebung verziert. Sie schob die langen, eiskalten, harten Finger fort, die sich um den Dolch klammerten, und reichte ihn Will.
»Halt das mal für mich.«
Der Mann hatte sich nicht gerührt; kein einziger Muskel hatte sich auch nur einen Hauch angespannt. Linnet zog sich zurück, sie war sich bewusst, dass es in ihr zuckte, so als wollten ihre Instinkte sie warnen; und doch wollte es ihr um nichts in der Welt gelingen, diese Botschaft zu entziffern.
Der Fremde war schließlich so gut wie tot - obwohl sie nicht genau sagen konnte, ob er es nicht vielleicht doch schon ganz war -, wie hätte er also gefährlich sein können?
»Ein Schwert hat er auch«, sagte Brandon auf der anderen Seite der Planke, »hier.«
Linnet schaute auf die Stelle, auf die Brandon gezeigt hatte, und löste dann die Schlaufe, mit der der Säbel am Gürtel des Mannes befestigt war. Vorsichtig zog sie die Waffe unter dem Bein des Mannes hervor, richtete sich auf und betrachtete sie.
»Es ist ein Säbel. Aus der Kavallerie.« Während des Krieges hatte sie genug davon gesehen. Aber der Krieg war nun schon lange vorbei, die Kavallerie hatte sich größtenteils aufgelöst. Vielleicht war dieser Mann ein einfacher Soldat gewesen, der nach dem Krieg wieder zur See gefahren war?
»Wir glauben, dass er lebt«, sagte Brandon, »aber wir können keinen Puls finden, Außerdem atmet er nicht. Nun, jedenfalls nicht so, dass davon wirklich die Rede sein könnte.«
Linnet ließ den Säbel bei Brandon und kehrte an Wills Seite zurück, denn zu der Seite hatte der Mann den Kopf gedreht.
»Er muss am Leben sein, weil er blutet«, sagte Will, »siehst du?« Er lupfte die Kleidung des Mannes an der Seite an, wobei sich ein Riss zeigte und den Blick auf blasse Haut und eine lange, scheußliche Stichwunde freigab - die ihm erst kürzlich zugefügt worden sein konnte.
Linnet hockte sich neben Will und schaute sich die Wunde an. Erkannte einen Schwerthieb. Das erklärte Messer und Säbel. Während Will die Kleidung hielt, beugte sie sich vor, untersuchte die Wunde und folgte ihr nach oben - seitlich hinauf am Oberkörper des Mannes. Dickes Muskelfleisch war durchtrennt worden. Sie verfolgte die Wunde nach unten und sog die Luft scharf ein, als sie Knochen erblickte - eine Rippe. Das war allerdings so weit unten, dass sich dort nicht mehr viel Muskelfleisch zwischen gespannter Haut und Brustkorb befand.
»Er blutet«, beharrte Will, »schau doch nur, hier.«
Linnet hatte die blassrosa Flüssigkeit, die aus der Wunde sickerte, durchaus bemerkt. Sie nickte, war aber noch nicht bereit zu erklären, dass es sich auch schlicht um Meerwasser handeln könnte, welches aus der Wunde tröpfelte, nachdem es sich mit zuvor schon ausgetretenem Blut vermischt hatte. Bevor der Mann gestorben war.
Und doch war es möglich, dass er noch lebte. Das Meer hatte seine Muskeln beinahe gefrieren lassen; jede Blutung würde extrem langsam vonstattengehen, selbst wenn er noch lebte.
Linnet verfolgte die Spur der Wunde weiter, entdeckte, dass sie sich in einem Winkel nach innen richtete, über den Magen des Mannes. Weiter als bis zu seiner Taille konnte sie nichts erkennen, dafür aber eine Bauchwunde, die bis in die Eingeweide reichte ... falls es sich wirklich darum handelte, dann war der Mann so gut wie tot, ob er nun schon gestorben war oder nicht.
So wie er lag, könnte der Druck seines Körpergewichts zusammen mit der Wirkung der eisigen See geholfen haben, die Wunde verschlossen zu halten und die übliche Blutung zu verhindern.
Sie schaute Brandon an, dann Will, der neben ihr war. Chester lungerte an ihrer Schulter herum.
»Ich muss mir die Wunde quer über seinem Magen genauer ansehen. Ihr müsst mir helfen, ihn seitlich aufzurichten. So weit, dass ich genug erkennen kann.«
Eifrig griffen die Jungen nach der linken Schulter des Mannes, nach seiner Flanke. Linnet hatte sich auf die Knie gehockt und legte dem Mann Brandons Hände auf die Schulter, Wills Hände unter seine linke Hüfte. Sie brachte Chester in Stellung, um Brandon zu unterstützen, der die Schulter stemmen würde.
»Alle zusammen.« Linnet fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stieß ein kleines Gebet aus. Sie hatte reichlich Erfahrung in Sachen Leben und Tod und auch mit dem Meer; kein Grund also, sich innerlich so tief auf die Rettung eines Fremden einzulassen, weshalb sie sich einredete, dass sie um der Jungen willen hoffte, der Fremde sei noch am Leben. »Jetzt.«
Die Jungen hievten den Körper hoch, drückten und richteten ihn auf. Sobald sie ihn angewinkelt und in eine stabile Lage gebracht hatten, ging Linnet wieder in die Hocke, näherte sich dem schweren Körper und schaute nach unten, um den Verlauf der Wunde zu verfolgen - und stieß dann den Atem aus, von dem sie gar nicht wusste, dass sie ihn angehalten hatte. Sie wich zurück und nickte.
»Lasst ihn runter.«
»Wird er wieder gesund?«, fragte Chester.
Das konnte sie jetzt noch nicht versprechen.
»Über seinem Magen ist die Wunde nicht so tief. Keine echte Gefahr. Er hat Glück gehabt.« In ihrem Geiste formte sich eine kleine Szene. Bilder, wie der Mann wohl zu seiner Verwundung gekommen sein mochte. Es hatte ein tödlicher Hieb sein sollen. Oder doch zumindest ein solcher, der ihn außer Gefecht setzte. Es stimmte, dass er dem Tod nur um Haaresbreite entronnen war, kurz bevor das Schiff zerstört wurde.
»Aber er atmet doch gar nicht richtig«, sagte Brandon.
Linnet war immer noch nicht überzeugt, dass er tatsächlich noch lebte. Sie prüfte den Puls an seinem Handgelenk, dann an seiner kräftigen Kehle. Sie konnte nichts feststellen, auch kein erkennbares Heben und Senken des Brustkorbs, was aber auch daran liegen mochte, dass er beinahe erfroren war. Es half alles nichts. Sie rückte wieder näher. Mit einer Hand schob sie das schwarze Haar zurück, das sein Gesicht verbarg, bückte sich zu ihm hinunter, konzentrierte sich - und stellte das Atmen ein.
Er war schön - auf erschütternde, herzzerreißende und atemberaubende Weise schön. Sein glattes, eckiges Gesicht mit den wohlgeformten Zügen sah geradezu aus wie der Inbegriff männlicher Schönheit - nirgendwo eine weiche Note. Zusammen mit der muskulösen Härte seines Körpers versprach das Gesicht Männlichkeit, Leidenschaft und unverstellte, unverhohlene und unverfälschte Sünde.
Ein solches Gesicht gehörte nicht etwa einem Mann, der sich dem süßen Leben hingeben wollte, sondern der Tatkraft, dem Befehl und dem Verlangen.
Feste, feine Lippen, die ihr einen verführerischen Schauder über den Rücken jagten. Die Konturen seines Kiefers ließen den Puls bis in ihre Fingerspitzen pochen. Die schwarzen Brauen über der breiten Stirn waren geformt wie ein Flügel und die Wimpern so schwarz und dick, dass sie sofort neidisch wurde.
Sie war wie erstarrt.
Unsicher schauten die Jungen zu, warteten auf ihr Urteil. Wie üblich hatten ihre Instinkte sie nicht getrogen. Dieser Mann war gefährlich - würde gefährlich werden. Zumindest ihrem Geisteszustand, wenn auch sonst nichts.
Männer wie dieser - die aussahen wie er, einen Körper besaßen wie seinen - verlockten Frauen zur Sünde.
Und zur Dummheit.
Sie atmete tief durch und zwang sich, seinen Anblick nicht länger in sich einzusaugen, zwang ihren Geist, nicht länger verzückt zu sein. Sie zögerte, sie musste noch näher rücken - und war doch zu aufgewühlt, um es unüberlegt zu riskieren.
Sie behielt ihren gegenwärtigen Abstand bei - der ohnehin schon viel zu weit geschwunden war - und hielt die Finger unter seine Nase. Spürte nichts.
Linnet drehte ihre Hand um und hielt die zarte Haut ihres Handgelenks nahe an seine Nase, ohne auch nur den leisesten Lufthauch zu spüren.
Mit schmalen Lippen und einer stummen Verwünschung für diesen gestürzten Engel rückte sie näher, noch näher - winkelte den Kopf so an, dass er nur noch eine Winzigkeit von ihm entfernt war ...
Und spürte einen unendlich zarten Lufthauch, Atem, einen Atemstoß.
Sie zog sich zurück, richtete sich auf den Knien auf und starrte dem Mann ins Gesicht. Dann prüfte sie nochmals die Wunde an seiner Flanke. Ja, es war Blut, nicht nur aussickernde Flüssigkeit.
»Er lebt.«
Chester schrie laut auf. Die anderen beiden grinsten.
Linnet nicht. Sie stand auf und schaute auf den Schlamassel hinunter.
»Wir müssen ihn zum Haus schaffen.«
»Uff! Er ist so verdammt schwer!« Linnet widerstand der Versuchung, ihn einfach fallen zu lassen, und legte die Schultern des Fremden auf ihren Kissen ab. Natürlich musste er ihr Bett bekommen, denn es war im Haus das einzige, das lang und breit und höchstwahrscheinlich auch stabil genug war, um ihn zu tragen.
Dann trat sie zurück, stützte die Hände auf die Hüften und starrte ihn einfach nur an, bewusstlos wie er war.
Muriel stand an der anderen Seite und stopfte die Decken ums Bett.
»Jetzt müssen wir ihn erst mal auftauen. Ich habe die Kinder schon mit heißen Backsteinen nach oben geschickt.«
Linnet nickte, sie hatte den Blick auf die tief schlafende Gestalt im Bett gerichtet. Sie hörte, wie Muriel das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss; Linnet verschränkte die Arme und tauschte den starrenden gegen einen grimmigen Blick, während sie darum kämpfte, ihren Geist und ihre Sinne zu hindern, sich ständig mit dem Körper in ihrem Bett zu beschäftigen - mit der Vorstellung all dieser entblößten, gewaschenen und abgetrockneten Muskeln und der genähten, gesalbten und gut verbundenen Wunde auf ihrer Matratze.
Sie hatte schon mehr nackte Männer gesehen, als sie zählen konnte, in allen möglichen Zuständen. Das war nicht zu verhindern gewesen da sie ihre Kindheit größtenteils auf dem Schiff ihres Vaters verbracht hatte. Sicherlich lag es nicht daran, dass ihr die Sache neu war oder dass sie unter einem Angriff jungfräulicher Empfindlichkeit litt, der ihre Nerven erzittern ließ und ihre Brust eng und ihren Atem flach machte. Ihr Magen fühlte sich besonders flau an. Eigentlich hätte sie behauptet - und sie war sich wirklich sicher gewesen -, dass sie den Anblick eines weiteren nackten Mannes kaum registriert hätte - und dass dieser Anblick keinerlei Wirkung auf sie ausüben und keinen bleibenden Eindruck hinterlassen würde.
Stattdessen ... lag ein gefallener Engel nackt in ihrem Bett, und ihr Puls hämmerte immer noch.
Nachdem Edgar, John und die anderen Männer am Strand angekommen waren und den Fremden zum Haus und hinauf in ihr Schlafzimmer geschleppt und ihn auf ihr Bett gehievt hatten, hatte sie Muriel geholfen, ihn zu versorgen. Sie hatte ihrer Tante geholfen, ihm die Kleidung auszuziehen und seine kräftigen Muskeln entblößt, hatte geholfen, ihn zu baden und abzutrocknen, hatte seine Wunde genäht und verbunden. Kaum verwunderlich, dass ihr nach dieser Anstrengung immer noch heiß war.
Und sie hoffte, dass ihre Tante die ungewöhnliche Röte auf ihren Wangen darauf zurückführen würde.
Muriel und sie hatten die Wunde gründlich versorgt und bandagiert. Nach und nach war er wieder aufgetaut, das Blut war wieder normal durch seine Adern geflossen, und er hatte auch wieder normal geblutet; in dieser Hinsicht war es ein Vorteil gewesen, dass er im eisigen Wasser gelegen hatte. Sie hatten es nicht geschafft, ihm ein Nachthemd überzuziehen; noch nicht einmal eines von ihrem Vater hatte passen wollen. Und wie schwierig es gewesen war, mit den schweren Armen und dem schweren Körper des Mannes umzugehen ... stattdessen hatte Muriel zusätzliche Decken besorgt.
»Hier sind die Backsteine.« Will drückte die Tür mit der Schulter auf und kam herein. In den Händen trug er zwei mit Flanell umwickelte Steine, die auf dem Küchenherd vorgewärmt worden waren.
Die anderen - Brandon, dreizehn Jahre alt und fast so groß wie Will, Jennifer, zwölf, die achtjährige Gillyflower und Chester - folgten ihm mit ebenfalls mindestens einem Stein in der Hand.
Linnet hob die Daunendecke an, griff sich einen Stein und platzierte ihn auf der Decke, die den Körper des Fremden einhüllte. Sie arbeitete sich einmal um ihn herum, sodass er schließlich wie in einem erhitzten Hufeisen lag, das von seinem Oberkörper bis rund um seine sehr großen Füße reichte. Kaum hatte sie den letzten Stein an seine Stelle gebracht, stopfte sie die Daunendecke wieder um ihn.
Dann trat sie zurück und betrachtete ihren Patienten.
»Mehr können wir nicht tun. Jetzt heißt es abwarten.«
Die Kinder blieben noch eine Weile stehen und verschwanden erst, als der Mann sich weiterhin nicht rührte. Linnet blieb bei ihm.
Sie war unruhig, ängstlich und auf seltsame Weise wachsam und hatte keine Ahnung, was an diesem Mann sie dazu brachte, auf und ab zu marschieren. Warum nur fiel ihr Blick immer wieder auf das Gesicht dieses gefallenen Engels, während sie ihn innerlich lautlos beschwor, am Leben zu bleiben?
Hin und wieder blieb sie am Bett stehen und legte ihm die Hand auf die Stirn.
Seine Stirn blieb eiskalt.
Tödlich kalt.
Trotz allem, was sie getan hatten, war es durchaus möglich, dass er nicht wieder aufwachen würde. Geschweige denn, sich erholen.
Warum um alles in der Welt das Leben eines Fremden ihr so viel bedeutete - sie hatte keine Ahnung. Aber sie wollte unbedingt, dass er am Leben blieb. Wollte mit aller Kraft, dass er lebte, und zwang ihm ihren Willen beständig auf.
Es war schlicht nicht hinnehmbar, dass erst ein gefallener Engel in ihr Leben stürzte und dann starb, bevor sie auch nur die Farbe seiner Augen kennengelernt hatte. Es geschah nicht jeden Tag, dass Engel vom Himmel fielen - oder in der Bucht angespült wurden. Und in all ihren sechsundzwanzig Jahren waren ihre Augen noch nie auf einen Mann wie ihn gefallen, mochte er nun wach sein oder im Koma liegen. Sie wollte mehr über ihn erfahren, sehnte sich geradezu danach.
Ein gefährliches Verlangen, ja, vielleicht. Aber wann war sie je vor der Gefahr zurückgeschreckt?
Der Nachmittag verflüchtigte sich, ohne dass der Zustand ihres Patienten sich veränderte. Sie seufzte, als der Abend anbrach. Die Kinder kamen nochmals mit warmen Steinen, und sie half, die kalten Steine gegen die warmen auszutauschen. Die Kinder polterten wieder die Treppe hinab und freuten sich auf ihr Abendessen, während sie die Vorhänge vorzog und einen letzten prüfenden Blick auf den Mann warf, bevor sie zur Tür eilte.
Ihr Blick fiel auf die Dinge, die sie auf der hohen Schlafzimmerkommode neben der Tür abgelegt hatte. Linnet hielt inne, betrachtete nochmals die Gestalt, die so still in ihrem Bett lag, und ergriff die drei Gegenstände - die einzigen, die er außer seiner Kleidung noch bei sich getragen hatte.
Das lange Messer - ein feines Stück, viel feiner, als man es im Besitz eines Matrosen vermuten würde.
Der Säbel - mit Sicherheit die Waffe eines Kavalleristen, oft gebraucht und liebevoll geschliffen.
Sie hatte den Jungen aufgetragen, beide Klingen zu polieren. Das Futteral des Säbels wäre unter Umständen noch zu retten.
Bei dem dritten Gegenstand handelte es sich um einen hölzernen Köcher. Höchst merkwürdig. Wie Will richtig vermutete, hatte der Mann ihn in Ölzeug verpackt in einer Lederschlinge getragen; da er selbst nicht in der Lage gewesen war, die Schlinge aufzuschneiden, hatten sie die Schultergurte auftrennen müssen, um ihm den Köcher abzunehmen. Das Holz war ausländisch; sie nahm an, dass es sich um Rosenholz handelte. Die Messingbefestigung, die die hölzernen Streben zusammenhielt und ein Ende des Köchers verschloss, machte ebenfalls den Eindruck, von irgendwo anders her zu stammen, von einer fremden Küste.
Linnet nahm alle drei Gegenstände an sich, schaute noch einmal zurück aufs Bett, auf den dunklen Kopf, der still und schweigend auf ihren Kissen lag, drehte sich um und ging zur Tür hinaus, die sie schweigend hinter sich schloss.
Logan erwachte in dem dunklen Zimmer.
In einem weichen Bett, mit dem Duft einer Frau.
Das hatte er sofort registriert. Was den Rest betraf ...
Wo zum Teufel bin ich?
Ganz vorsichtig öffnete er die Augen und schaute sich um. Sein Kopf tat weh ... pochte, schmerzte. So schlimm, dass er vor Schmerz kaum blinzeln konnte. Als er es doch tat, sah er einen Kamin auf der anderen Seite des Zimmers mit einem Haufen glühender Kohlen in einem Feuer.
Wo um alles in der Welt halte ich mich auf?
Er versuchte nachzudenken, schaffte es aber nicht. Sobald er die Stirn runzelte, verschlimmerte sich der Schmerz. Er bewegte sich kaum merklich und stellte fest, dass er zwar keinen Verband um den Kopf hatte, dass sich aber eine lange und breite Bandage um seinen Oberkörper wand.
Er war also verwundet worden.
Wie? Wo? Wann?
Die Fragen reihten sich in seinem Kopf. Antworten blieben allerdings aus.
Dann hörte er Stimmen. Aus der Ferne, durch Wände und Türen, obwohl sein Gehör so scharf schien wie immer ...
Kinder. Die Stimmen gehörten Kindern. Kleinen Kindern, zu hell und kreischend, um nicht mehr jung zu sein.
An Kinder konnte er sich nicht erinnern.
Aufgescheucht und verunsichert bewegte er die Arme, dann die Beine. Alle Gliedmaßen funktionierten kontrolliert. Nur sein Kopf schmerzte so heftig. Behutsam stieß er die Brocken beiseite, die er als eingehüllte Backsteine erkannte, und rutschte auf die Bettkante.
Dumpf beharrte sein Gedächtnis darauf, dass irgendwo Feinde lauerten, wenngleich er sich an nichts Genaueres erinnern konnte. War er gefangen genommen worden? Befand er sich in feindlichem Lager?
Mit äußerster Sorgfalt zog er sich im Bett hoch, schwang die Beine über die Kante und setzte sich auf. Das Zimmer schwankte förmlich hin und her, bis er sich stabilisiert hatte.
Ermutigt stand er auf.
Das Blut schoss ihm in den Kopf.
Er brach zusammen.
Krachte dumpf zu Boden, schrie beinahe auf - hätte aufschreien können -, als sein Kopf auf die Holzdielen traf. Er stöhnte, hörte Schritte auf irgendeiner Treppe, versuchte, sich langsam aufzurichten.
Die Tür flog auf.
Auf einen Ellbogen gestützt drehte er den Kopf und schaute sich um, er wusste genau, dass er zu schwach und zu hilflos war, sich zu verteidigen. Es war aber auch kein Feind, der hereingestürmt war.
Sondern ein Engel mit rotgoldenem Haar, so hell und feurig wie eine Flamme, und dieser Engel ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, fand ihn und kam zu ihm gerannt.
War er etwa gestorben und im Himmel gelandet?
»Tölpel! Warum zum Teufel müssen Sie unbedingt aufstehen? Sie sind verwundet, Dummkopf!«
Also doch kein Engel. Noch nicht mal der Himmel. Sie zankte ihn weiter aus und überprüfte zornig seine Bandagen, bevor die kleinen, erstaunlich kräftigen Hände seinen Arm packten und ihn hochreißen wollten, was, wie er genau wusste, unmöglich war. Aber da waren auch schon zwei stramme Burschen an ihrer Seite. Doch-kein-Engel stieß ein paar Befehle aus, einer der Burschen bückte sich unter seinen anderen Arm, während der zweite ihr half, ihn hochzuziehen, nachdem sie bis drei gezählt hatten ...
Es schmerzte. Höllisch.
Überall.
Er stöhnte, als sie ihn überraschend sanft aufs Bett zurücklegten, auf seine linke Seite, und ihn anschließend umsichtig auf den Rücken rollten.
Doch kein-Engel machte ein Aufhebens, die durcheinandergeratenen Decken wieder zurückzuschlagen, die Backsteine wieder ordentlich an ihren Platz zu rücken. Logan beobachtete, wie sie mit den Lippen Worte formte - eine Reihe zunehmend kräftiger Beiworte. Und als sein schlimmster Schmerz sich verflüchtigt hatte, bemerkte er, dass er lächelte.
Sie sah es ebenfalls, starrte ihn an und warf die Decken über ihn. Er lächelte weiter, bestimmt ziemlich dümmlich; denn der Schmerz war immer noch so stark, dass er nichts richtig einschätzen konnte. Nur eins fiel ihm auf: Er war nackt. Entblößt bis auf die Haut, hatte keinen Fetzen Stoff am Leib außer dem Verband - und sein Doch-kein-Engel hatte nicht mit der Wimper gezuckt.
Obwohl sein gesamter Körper praktisch gewelkt war - bis auf einen gewissen Teil -, und genau das musste sie einfach registriert haben. Nein, das konnte ihr unmöglich entgangen sein, als sie den Blick über ihn hatte schweifen lassen, während sie ihn zurück ins Bett verfrachtete, ihn hinlegte, ihn ausstreckte.
Was bestimmt zu bedeuten hatte, dass sie und er sich geliebt hatten. Was hätte es sonst bedeuten sollen?
Er konnte sich nicht an sie erinnern. Noch nicht einmal an ihren Namen. Konnte sich nicht erinnern, wie seine Hände in all das volle, warme Haar gesunken waren, wie er seinen Mund auf ihre sündigen Lippen gepresst hatte ... Lippen, von denen er annahm, dass sie boshafte Dinge taten ... an die er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte - sondern an nichts anderes als an vernichtenden Schmerz.
Eine ältere Lady trat ein, sagte etwas, schaute ihn an und kam zum Bett, als seine Geliebte versuchte, ihn noch weiter in die Mitte der breiten Matratze zu rücken. Weil er dachte, dass er behilflich sein solle, rollte er nach rechts ...
Schmerz schoss auf. Um ihn herum wurde alles schwarz.
Das Stöhnen, das dem Fremden über die Lippen fuhr, war so eindringlich, dass Linnet zusammenzuckte - sie beobachtete, wie sein Körper schlaff wurde, als habe er keine Knochen mehr im Leib, und ihr war klar, dass er wieder bewusstlos wurde.
»Verdammt! Ich hatte noch nicht mal die Gelegenheit zu fragen, wer er eigentlich ist.« Sie musterte sein Gesicht. »Woher kommt das jetzt?«
Muriel war ebenfalls besorgt.
»Hast du ihn auf Kopfverletzungen untersucht?«
»Ja, es gab keine ... jedenfalls war nichts zu sehen.« Linnet kniete sich neben ihn und betastete seinen Kopf. »Aber sein Haar ist auch so dick, vielleicht ...« Unendlich sanft nahm sie seinen Schädel zwischen ihre Hände. Breitete die Finger aus, suchte, tastete ... »Oh, du liebe Güte! Da ist eine große, sehr große Prellung.« Sie zog die Hand zurück und betrachtete ihre Fingerspitzen. »Blut. Das heißt, die Haut ist verletzt.«
Die Untersuchung führte zu einer weiteren Runde umsichtiger Versorgung, zu warmem Wasser in einer Schüssel, Handtüchern, Salben und schließlich zu einem ganzen Packen Bandagen; Muriel und sie reinigten, trockneten, betupften und bandagierten die Wunde.
»Sieht so aus, als hätte man ihm mit einem Rundholz auf den Schädel geschlagen.«
Sie wollten den Bereich, in dem er lag, so aufpolstern, dass ihr Patient in der Lage war, sich ohne Schmerzen in den Kissen zu bewegen. Deshalb mussten John und Edgar helfen, ihn aufzurichten, und dabei genau darauf achten, dass die Bandagen um Oberkörper und Bauch nicht verrutschten.
Edgar untersuchte die Wunde.
»Muss einen harten Schädel haben, dass er das überlebt hat.«
John nickte.
»Der Kerl hat ziemliches Glück gehabt. Mit diesem Schlag und dem Sturm und dem Wrack und allem. Ein Schutzengel hat die Flügel über ihn gebreitet, könnte man meinen, und das hat ihn gerettet.«
Linnet bedankte sich bei den beiden und schickte sie zurück zum Abendessen. Muriel auch; nachdem sie die Tür hinter ihrer Tante geschlossen hatte, kehrte Linnet zum Bett zurück. Mit verschränkten Armen umklammerte sie die Ellbogen und starrte auf ihren Patienten hinunter.
Er hatte zur kämpfenden Truppe gehört, wie sie vermutete, hatte in wechselnden Einheiten gedient. Denn zahlreiche Narben bedeckten seinen Körper, meistens kleine und ältere. Ein Schutzengel, der für ein Leben in Geborgenheit sorgte? Jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Zu gern, wirklich zu gern würde sie wissen, wer er war.
Und bedachte man, wie sie in diesem Winkel der Welt ihr Dasein fristete, musste sie es einfach erfahren.
Sie zog sich in den Armsessel am Fenster zurück und beobachtete ihn eine Weile. Als er sich weiterhin nicht rührte, geschweige denn aufwachte und irgendeine Dummheit beging wie zum Beispiel Aufstehen, erhob sie sich und ging wieder nach unten. Um ihr Abendessen zu beenden und neue, warme Backsteine zu organisieren.
Drei Stunden später stand Linnet wieder am Bett, hatte die Arme verschränkt und musterte ihren bewusstlosen gefallenen Engel. Im Dämmerlicht der Lampe, die sie auf dem kleinen Tischchen aufgestellt hatte, betrachtete sie sein Gesicht und mühte sich, ihre Besorgnis zu zügeln.
Sein Teint war nicht einmal schlecht, das Gesicht allerdings auch gebräunt, was sie in die Irre führen konnte. Der Atem ging tief und gleichmäßig, und sein Puls war, als sie ihn vor wenigen Minuten geprüft hatte, kräftig und gleichmäßig gewesen.
Trotzdem gab es keine Anzeichen, dass er bald aufwachen würde.
Nach seinem unklugen Ausflug war er wieder in die Bewusstlosigkeit gesunken, vermutlich tiefer als zuvor. Das allein war schon schlimm genug; aber wirklich besorgniserregend war seine immer noch kalte Muskulatur. Selbst die Stellen, die inzwischen aufgewärmt sein sollten, waren eiskalt geblieben.
Immerhin wusste sie jetzt, dass seine Augen dunkelblau waren. So dunkel, dass sie ursprünglich angenommen hatte, sie seien schwarz; aber dann hatte er ihr direkt in die Augen geschaut, und sie hatte die blauen Flammen in der Dunkelheit bemerkt.
Nun war er also ihr gefallener Engel mit schwarzem Haar und Mitternachtsaugen - und trotz der vier Backsteine, die sie nochmals ausgetauscht hatten, war er ihrem Empfinden nach immer noch viel zu kalt. In seinen Reaktionen viel zu schwach. Dem Tod viel zu nahe. Und irgendwie wurde sie die Überzeugung nicht los, dass sein Überleben von größter Bedeutung war. Und dass es aus irgendwelchen Gründen an ihr lag, dafür zu sorgen, dass er es schaffte.
Es war lächerlich. Aber es fühlte sich an, als handelte es sich um eine Prüfung, die Gott ihr geschickt hatte. Schließlich rettete sie ständig Menschen - genau das war ihre Aufgabe; es gehörte zu ihrer Rolle. Würde sie also auch einen gefallenen Engel retten können?
Sie marschierte auf und ab, wanderte mit finsterem Blick durch das Haus - ihr Haus, ihr Heim - und glitt endlich in einen behaglichen Schlummer. John und Edgar hatten noch im Herrenhaus ausgeholfen; nach dem Dinner saßen sie gewöhnlich noch im Wohnzimmer und plauderten - heute Abend ergingen sie sich in Vermutungen über das Wrack und den Fremden - und zogen sich dann in das Cottage zurück, das sie mit dem Stallmeister Vincent und dem Gärtner Bright bewohnten. Die Köchin Mrs. Pennyweather sowie die Dienstmädchen Molly und Prue schmiegten sich schon längst in ihre Betten im Dienstbotenquartier im Erdgeschoss.
Muriel und Buttons - Miss Lillian Buttons war die Gouvernante der Kinder - hatten Zimmer im ersten Stock, in dem Flügel, der Linnets großem Schlafzimmer gegenüberlag. Die Kinderzimmer lagen im ausladenden Dachboden, auf beiden Seiten des Spielzimmers als auch des Schulzimmers.
Da das Herrenhaus auf dem Anwesen die südwestliche Spitze von Guernsey einnahm, bildete Mon Coeur eine kleine, eigenständige Gemeinde, deren Leiterin zweifellos Linnet - Miss Trevission - war. Wirklich, sie wirkte eher wie eine Lehnsherrin, so als würde sie ihre Herrschaft durch Erbrecht ausüben; es war jedenfalls anzunehmen, dass sie mit genau solchen Augen betrachtet wurde.
Adel verpflichtet, ja, das war es vielleicht. Dieses Gespür der Verantwortung für diejenigen, die ihr anvertraut waren, das musste es wohl sein, was sie antrieb, dafür zu sorgen, dass der Fremde am Leben blieb.
Später ging Linnet zu ihm und musterte sein Gesicht.Wollte ihn mit ihrem Willen zwingen, mit den Lidern zu flattern, die Augen aufzuschlagen und sie wieder anzuschauen. Sie wollte sehen, wie seine Lippen sich wieder hochzogen, denn das hatten sie schon einmal getan, und zwar auf unglaublich verführerische Weise. Allerdings vermutete sie, dass er zu jenem Zeitpunkt noch im Delirium gelegen hatte.
Natürlich lag er einfach nur da. Sie legte die Hand auf seine Stirn, ließ sie dann an seinem Hals hinuntergleiten und bestätigte sich, dass er immer noch viel zu kalt war. Er war buchstäblich komatös, und nichts, was sie bisher unternommen hatten, hatte ihn ausreichend gewärmt.
Sie zog die Hand zurück und stieß den Atem aus. Eigentlich hatte sie vorgehabt, auf dem Tagesbett am Fenster zu schlafen, aber ... ihr Bett war das größte im Herrenhaus - entworfen für ein Paar, bei dem der Mann groß war. Nur ... wenn sie ihn wärmen wollte, musste sie natürlich nahe bei ihm schlafen anstatt entfernt.
Sie eilte zu ihrer Kommode und holte das dickste Flanellnachthemd heraus. Mit einem Auge auf dem Bett zog sie sich ihr warmes Kleid aus, das wollene Unterkleid und das feine Hemd und streifte sich das Nachthemd über den Kopf.
Ihr Patient hatte sich nicht gerührt. Noch nicht einmal mit den Lidern geflattert.
Rasch ließ sie ihr Haar herunter, fuhr sich mit den Fingern durch die dichte Masse und lockerte die langen Locken, indem sie den Kopf schüttelte. Dann holte sie ihren wollenen Morgenmantel von dem Haken seitlich am Schrank, schlüpfte hinein und schloss den Gürtel - noch eine Rüstung gegen den Angriff, so bescheiden er auch sein mochte, auf ihren Anstand.
Sie verspottete sich stumm, als sie sich dem Bett näherte. Ganz gleich, wer er sein mochte, ihr ganzes Leben schon musste sie mit Männern fertigwerden. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass es ihr auch diesmal gelingen würde, dass sie auch mit ihm fertigwerden würde. Er würde es lernen, genau wie die anderen. Sie erteilte Befehle, die anderen gehorchten. Das war ihre Welt, und nichts würde sich daran ändern.
Sie hob die Decken, überprüfte die Steine und fand sie, wie vermutet, bereits abgekühlt. Also zog sie sie aus dem Bett und stapelte sie neben der Tür auf, bevor sie zum Bett zurückkehrte.
Erneut hob sie ruhig die Decken und glitt in die vertraute Weichheit. Links neben ihrem gefallenen Engel. Sie legte die Hände an seine bandagierte Seite und schob ihn sanft, ließ nicht nach, bis er sich auf seine unverletzte rechte Seite rollte. Hastig schob sie sich näher, schmiegte sich von hinten eng an ihn und nutzte ihren Körper, um ihn in dieser Stellung zu stützen.
Einen Arm schob sie unter ihn, den anderen über ihn, und wärmte ihn, so gut sie konnte. Anschließend lehnte sie die Wange an die kühle, weiche Haut seines Rückens - nur weil sein Rücken sich gerade anbot. Sie hatte ihre Zweifel, dass sie schlafen würde, schloss aber trotzdem die Augen.
Sie erwachte in dem Gefühl zu schwimmen, zu schweben. Ihre Sinne arbeiteten nur langsam, wollten nur zögerlich aus dem angenehmen Meer auftauchen, in das sie versunken waren. Eine merkwürdige Wärme durchströmte sie, verführte sie, sich einfach nur zu entspannen und sich von der Flut der sinnlichen Empfindungen überrollen zu lassen ...
Es brauchte viele lange Minuten, bis sie sich wieder ausreichend orientieren konnte, um Alarm zu schlagen. Und selbst dann noch stellte ein Teil in ihr ungläubig infrage, dass überhaupt eine Gefahr drohte - unfähig, diese Gefahr wahrzunehmen - nicht hier, nicht jetzt.
Nicht in diesen langen, an-und abschwellenden Wellen der Lust, die irgendetwas, irgendein Wesen, sanft durch ihr Inneres schickte.
Aber dann schlossen sich eine harte Handfläche und lange, harte Finger um ihre nackte Brust - sie wurde mit einem erschütternden Aufstöhnen sinnlicher Lust aus dem Dämmerzustand gerissen.
Ihre Sinne taumelten, tanzten Walzer zu einer Melodie, die ihr noch nie zuvor zu Ohren gekommen war. Sie musste die Augen aufschlagen, um sich wieder orientieren zu können. Sich zu überzeugen, dass ihre Stellungen sich irgendwie verändert hatten, dass sowohl sie als auch ihr gefallener Engel sich umgedreht hatten und dass jetzt er es war, der sich eng an sie schmiegte, seinen Oberkörper an ihren Rücken.
Seine Hände an ihren Körper.
Seine aufgerichtete Männlichkeit zwischen ihren Schenkeln.
Natürlich wusste sie nur zu gut, dass sie aus dem Bett springen sollte. Jetzt, genau jetzt, bevor seine wandernde Hand und die Lust, die sie ihr verschaffte, ihre Sinne wieder belagerten.
Aber ... seine Hand, seine Finger, streichelten und liebkosten sie, spielten und zupften ... Seufzend schloss sie die Augen.
Verdammt. Er wusste genau, was er tat. Wusste es und konnte es besser als jeder andere Mann, dem sie je begegnet war. Sie biss sich auf die Lippe, als sie aufstöhnen wollte, während seine forschende Hand wieder näher kam und dann auf ihrer anderen Brust liegen blieb, um ihr die Ehre zu erweisen.
Er war eindeutig erfahren. Und sie war keine welkende Jungfrau, keine Ausgeburt züchtiger Schüchternheit ... und doch ...
Nein, das durfte sie nicht zulassen.
Denn sonst würde sie sich am nächsten Morgen selbst abscheulich finden. Nicht zuletzt deshalb, weil sie, wie sie nur zu gut wusste, es zuließ, dass ihr gefallener Engel sie so schnell haben durfte. Noch ohne dass sie überhaupt ein einziges Wort gewechselt hatten! Sie würde ihm zu große Macht über sich verleihen.
Oder ihn jedenfalls glauben lassen, dass er tatsächlich Macht über sie ausübte. Und das würde zu unnötigen Kämpfen führen. Auf diesem Gebiet war sie die unumschränkte Herrscherin, und solche Dinge geschahen auf ihr Kommando - nur auf ihr Kommando.
Seufzend nahm sie hin, dass sie der Sache jetzt ein Ende setzen musste. Sie öffnete die Augen, orientierte sich in ihrer Umgebung - was nur zu dem Ergebnis führte, dass ihr ein gänzlich unvertrauter Schauder über den Rücken jagte.
Ihr Morgenmantel stand offen, die vorderen Hälften waren gespreizt. Das Nachthemd war nach oben geschoben, vorn bis über ihre Brüste und auf dem Rücken bis zur Mitte, weshalb sie spüren konnte ...
Sie musste dem ein Ende setzen. Sofort. Aber sie war auch zu klug, um zu versuchen, sich durch Zappeln zu befreien oder sogar wegzuspringen. Jede Bewegung würde es ihm anheimstellen, sie gehen zu lassen oder auch nicht. Und es könnte sein, dass er es nicht wollte. Jedenfalls nicht bereitwillig. Vielleicht würde er versuchen, sie bitten zu lassen.
Linnet war es gewohnt, mit Männern ihre Spielchen zu treiben. Eine Art Schach. In Gedanken gürtete sie schon ihre Lenden - zügelte ihre Sinne und legte sie schließlich an die Kette - und streckte dann die Arme über dem Kopf aus, räkelte ihren langen Körper auf sinnliche Weise und drehte sich in seiner Umklammerung um, sodass sie ihn anschauen konnte.
Aber es funktionierte nicht wie geplant.
Anstatt dass er sie in seinem männlichen Triumph träge anlächelte und sich bereit zeigte, ihre weibliche Unterwerfung anzuerkennen, blieb ihr kaum die Zeit zu registrieren, dass seine Augen geschlossen waren, sein Gesichtsausdruck leer - dass, wenngleich sie erwacht war, dies für ihn nicht galt -, bevor eine harte Hand in ihr ungebundenes Haar tauchte, ihren Schädel umfasste, er den bandagierten Kopf hob und seine Lippen sich über ihren schlossen.
Gefräßig.
Gierig.
Als ob er kurz vor dem Verhungern stünde und sie seine einzige Rettung sei.
Als sein Kopf auf ihren traf, war es, als würde eine Welle auf sie herabstürzen, eine Welle aus Leidenschaft und Hunger und Verlangen und Not, die allesamt in dem brennenden Kuss brodelten. Auf Anhieb flammte ein Flächenbrand zwischen ihnen auf. Sie fühlte sich, als würde sie dahinschmelzen, ihre Muskeln waren zwar angespannt - und wurden doch reglos, flüssig und hingebungsvoll; eine Leere - ein hohler Schmerz - keimte in ihrem Innern auf und sehnte sich danach, erfüllt zu werden.
Ursprünglich. Dringend. Fordernd.
All das war er - und sorgte dafür, dass sie sich ebenso fühlte.
Ihre Hände strichen über seine Schultern. Selbst als sie darum kämpfte, im übertragenen Sinne wieder auf die Füße zu kommen, spürte sie, wie sich unter der immer noch kühlen Oberfläche seiner Haut eine Wärme ausbreitete.
Wenn ihr Austausch überhaupt irgendeine Wirkung zeigte, dann erhitzte er ihn.
Wenn er wach gewesen wäre, dann hätte die Tatsache, dass sie sich umgedreht hatte, ihn lange genug innehalten lassen, um seine Flamme zu löschen. Stattdessen hatte sein bewusstloser, träumender Geist diese sinnliche Drehung, mit der sie ihn anschauen wollte, als Ermutigung und Zustimmung gelesen. Als Unterwerfung.
Als es ihr klar wurde, hatte er bereits nach ihrem Mund verlangt und nach jedem einzelnen ihrer Sinne - mit einer Leidenschaft, die so gewaltig war, dass es ihr die Sprache verschlug.
Seine Zunge erforschte sie, verschmolz mit ihrer, und ihr Körper wurde so lebendig, wie er es noch nie zuvor gewesen war. Und doch - träumte er etwa?
Noch in dem Moment, in dem sie sich mit dieser Schlussfolgerung abkämpfte - zu ergründen versuchte, was es zu bedeuten hatte und was sie tun sollte -, riss er seine Lippen von ihren, zog den Kopf nach unten und fuhr mit dem Mund an ihre Brust.
Nahm die aufgerichtete Knospe in seinen Mund und sog daran.
Hart.
Ihr Körper bog sich durch. Angestrengt mühte sie sich, ein Stöhnen zu unterdrücken - das erste wahrhaft lustvolle Stöhnen, welches ihr je über die Lippen gekommen war. Er stieß sie auf den Rücken und beugte sich in der Dunkelheit über sie. Sie ergriff seine Schultern, und das Stöhnen schluchzte in ihrer Kehle, als er mit gesenktem Kopf weiter an ihr sog, ihre Brüste liebkoste und mit ihnen spielte.
Noch im Schlaf wusste er genau, wie er dafür zu sorgen hatte, ihren Körper schnell, rasend schnell und brüllend zum Leben zu erwecken. Ihn zum Singen zu bringen, in Flammen auflodern zu lassen.
Drei Liebhaber hatte sie gehabt; hatte genau drei Mal »Liebe gemacht«, ein einziges Mal mit jedem. Die Erfahrungen hatten sie überzeugt, dass diese Sache nichts für sie war. Nichts, was zu ihr passte.
Und da sie ja ohnehin nie heiraten würde, hatte sie keinen Grund gesehen, mehr zu lernen.
Aber jetzt sah sie sich einer Erfahrung gegenüber, mit der sie nicht gerechnet hatte. Sogar als die Lust erneut durch sie pulsierte und ihr Körper sich unter ihm bog, sich ihm beschwörend entgegenbog, war ihr klar, dass sie ihn, ihren gefallenen Engel, zum Aufhören bringen konnte. Aber dazu würde sie ihn wecken müssen. Obwohl er verwundet und geschwächt war, war er zu stark für sie, um ihn einfach wegzustoßen und wieder sanft in den Schlaf zu wiegen. Aber ihre Gründe, sich nicht auf ihn einzulassen, zählten nicht, sofern er weiter schlief. Denn wenn er nicht Bescheid wusste, würde er sich auch nicht erinnern können, sobald er erwachte ...
Seine Lippen schweiften abwärts, mit den Händen hatte er ihre Seiten fest im Griff. Ihr Körper summte und brummte - war auf schier unglaubliche Art lebendig, hungrig und bedürftig. Seine Hände waren hart und rau, aber wohlgeformt, und schmiegten sich jetzt an ihre Kurven, glitten an ihr hinunter und liebkosten die Rundungen ihres Hinterns; lange Finger massierten sie, streichelten sie zärtlich.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich ... überwältigt. Und einen Hauch hilflos. Nicht wahrhaft hilflos ... jedenfalls nicht beängstigend. Aber seine Kraft und seine Stärke hüllten sie ein, führten sie, kontrollierten sie ... so weit sie es gestattete.
Und dann bewegte er sich auf ihr, ganz und gar auf ihr, und seine harten und muskulösen Schenkel spreizten ihre, sodass er seine Hüften dazwischen platzieren konnte.
Ihr Atem ging stoßweise. Sie musste entscheiden. Jetzt. Seine lange, harte und aufgerichtete Männlichkeit streifte die Innenseite ihres Schenkels, löste Empfindungen aus und gab Versprechungen ab, ließ Neugierde aufflackern, zersplitterte ihre frühere Entschlossenheit.
Jeder Nerv, jeder Zentimeter ihres Körpers wollte es wissen.
Aber würde er aufwachen? Wäre es ihm möglich, beim unausweichlichen Ende anzukommen, ohne sich aus Morpheus' Umklammerung zu befreien?
Und wenn sie es herausfand - was für ein Risiko! Allerdings war sie noch nie einer Herausforderung aus dem Weg gegangen - in ihrem ganzen Leben noch nicht. Immer schon hatte sie Risiken einkalkuliert und gewonnen.
Er hob den Kopf, bedeckte ihren Körper mit seinem und schloss seine Lippen über ihren.
Drang in ihren Mund ein, forderte, eroberte sie aufs Neue - und Linnet hob die Hände, umschloss seinen bandagierten Kopf und erwiderte den Kuss.
Tauchte bereitwillig in die Hitze ein, warf sich in das Getümmel, genoss den Augenblick und setzte sich dem Risiko aus.
Sie küsste ihn so ausgehungert, wie er sie geküsst hatte - wie sie noch nie einen anderen Mann geküsst hatte. Nie zuvor hatte es ein Mann gewagt, sie zu verschlingen oder gar sie eingeladen, ihn zu verschlingen.
Heiße, wahnsinnige Momente verstrichen, in denen sie sich förmlich duellierten. Sein Rückgrat war durchgebogen, als er sich dann mit gezügelter Kraft bewegte und sie spürte, wie die marmorne Härte seiner Männlichkeit ihre Lippen teilte. Unausweichlich drängte er sich in sie hinein, drängte durch die Feuchtigkeit in ein instinktives Willkommen.
Obwohl er sie dort noch nicht einmal berührt hatte, war sie bereit - bereit und willens und überaus begierig, ihn in seiner ganzen Länge zu spüren, seine blanke Kraft und sein Gewicht, war begierig, seine Stärke zu erleben, als er stetig in ihr nach vorn drang und zum Schluss tief in ihr Inneres stieß.
Er dehnte sie, streckte sie, wie es noch nie zuvor jemand mit ihr getan hatte. Noch nie hatte sie sich so überfallen und erobert gefühlt, so ganz und gar in Besitz genommen.
So erfüllt.
Dann bewegte er sich wieder, in tiefen, natürlichen Stößen, die sie unter ihm erschütterten - es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sich so genommen fühlte wie noch nie ... fraglos nahm er alles, was sie ihm gewähren würde, einfach alles, was sie zusammenkratzen konnte, und sie gab und gewährte tatsächlich - er ließ ihr auch keine andere Wahl.
Irgendwie wendete sich das Blatt, und nun war es an ihr, mit den Fingerspitzen in seinem Hintern zu versinken, ihn zu ergreifen und sich festzuklammern, drängend und verlangend. Und er gab, gewährte großzügig und verströmte all seine Macht, seine Leidenschaft in ihr, durch sie hindurch, trieb die Herrlichkeit noch weiter und noch höher, immer höher - stieß mit aller Kraft tief in ihr Inneres, bis sie zusammenbrach.
Bis die Herrlichkeit in sich zusammenfiel und die Empfindungen in glitzernde Splitter barsten und sie mit einem stummen Schrei aufgab.
Logan hörte den Schrei, diesen unbeschreiblich beschwörenden Laut der weiblichen Erfüllung, und ließ die Zügel schießen. Ließ es zu, dass der Traum ihn in die vertraute Hitze und das vertraute Feuer einhüllte, ergab sich diesem ursprünglichen, drängenden Verlangen und ließ alle Hoffnung fahren, die heiße Umklammerung der feuchten Lippen seiner Geliebten noch länger zu genießen; kaum waren die Wellen ihrer Erleichterung verklungen, als er härter und noch härter in ihren Körper stieß - in den Körper seiner Traumgeliebten, die ihn eindeutig sehr gut kannte.
Die es zugelassen hatte, dass er sie ritt, und anschließend ihn geritten hatte. Die seinen Bedürfnissen entsprochen hatte, zu ihnen gepasst hatte und ihnen entgegengekommen war.
Die ihn zu dem geführt hatte, was geschehen war - auf den Gipfel seiner erotischen Träume.
Er spürte, wie sich die Erleichterung näherte, spürte, wie sie ihn ergriff, ihn hochspülte und über ihm zusammenbrach. Mit einem letzten Stoß sank er tief in sie hinein und ergab sich. Ließ es zu, dass es ihn ergriff.
Ihn erschütterte.
Bis er schließlich erzitterte und der Schlaf ihn wieder einhüllte und in noch tiefere Gebiete hinabzog, dort wo Befriedigung und Erfüllung sich mischten und ihn besänftigten und in himmlischer Glückseligkeit wiegten.
Linnet lag neben ihrem gefallenen Engel. Sein Gewicht war ein merkwürdiger Trost, als sie sich angestrengt abkämpfte, irgendetwas zurückzugewinnen - ihren Verstand, ihre Gliedmaßen. Selbst ihre Sinne schienen so zerfetzt, dass sie sie niemals wieder würde nutzen können. So als ob sie einer Flamme zu nahe gekommen war und sich versengt hatte.
Oh ... du ... lieber ... Himmel. Das war der erste zusammenhängende Gedanke, den sie Minuten lang denken konnte. Als sie schließlich ausreichend Kontrolle über ihre Beine und ausreichend gedankliche Schärfe zurückgewonnen hatte, stieß sie ihn sanft, stupste ihn an und zupfte an ihm und brachte ihn dazu, sich so weit zur Seite zu drehen, dass sie unter ihm hervorrutschen konnte.
Schwer und schlaff fiel er neben sie. Aber sie befürchtete nicht länger, ihn aufzuwecken. Wenn es durch ihre jüngsten Übungen nicht geschehen war, dann würde ihn so bald nichts aus dem Schlaf reißen. Und sie war überzeugt, dass er nicht aufgewacht war; hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, das Risiko nicht gescheut - und es hatte sich ausgezahlt.
Auf herrliche Art und Weise.
Copyright © 2013 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München.
... weniger
Autoren-Porträt von Stephanie Laurens
Stephanie Laurens begann zu schreiben, um etwas Farbe in ihren trockenen wissenschaftlichen Alltag zu bringen. Ihre Bücher wurden bald so beliebt, dass sie aus ihrem Hobby den Beruf machte. Sie gehört zu den meistgelesenen und populärsten Liebesroman-Autorinnen der Welt. Stephanie Laurens lebt in einem Vorort von Melbourne/Australien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephanie Laurens
- 2013, 576 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Nickel, Jutta
- Übersetzer: Jutta Nickel
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442378508
- ISBN-13: 9783442378500
- Erscheinungsdatum: 15.07.2013
Kommentar zu "Eine stürmische Braut"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eine stürmische Braut".
Kommentar verfassen