Eine Weihnachtsreise
Lady Vespasia und ihre...
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Lady Vespasia und ihre Freundin Isobel brechen nach Schottland zur Mutter der Toten auf. Die Reise fördert Erschreckendes zu Tage.
Ein englischer Landsitz wird kurz vor Weihnachten zum Schauplatz des tragischen Selbstmords einer jungen viktorianischen Adligen. Lady Vespasia und ihre Freundin Isobel brechen nach Schottland auf, um der Mutter der Toten einen Abschiedsbrief zu überbringen. Die Reise fördert erschreckende Erkenntnisse zu Tage. Anne Perry lässt den Leser hinter die Fassade der viktorianischen Gesellschaft blicken...
Eine Weihnachtsreise von Anne Perry
LESEPROBE
ERSTER TEIL
Oben an der Treppe hieltLady Vespasia Cumming-
Gould für einenAugenblick inne. Applecross in
Berkshire war einer jener prachtvollen Landsitze, in deren
herrschaftlichem Hausbreite marmorne Stufen in
weitem Schwung vom erstenStock in die Eingangshalle
hinabführten. Dort hattensich bereits die anderen Gäste
eingefunden und wartetendarauf, zu Tisch gerufen zu
werden.
Hier und da hob jemandden Blick zu Lady Vespasia,
und nach und nach recktenimmer mehr der Versammelten
die Köpfe. Zu warten, bisjeder Einzelne zu ihr aufblickte,
wäre vielleicht ein wenigübertrieben gewesen.
Vespasia hatte sich für ein Kleid in austernfarbenem Satin
entschieden. Nur wenigeDamen konnten es wagen,
sich in dieser Farbe zuzeigen. Doch Prinz Albert persönlich
hatte Vespasiazu einer der schönsten Frauen Europas
erklärt, ihr herrlichesHaar und ihre fein geschnittenen
Züge bewundert. Dass derPrinzgemahl ihr so offen seine
Bewunderung zeigte, trugallerdings nicht unbedingt dazu
bei, die Königin für sieeinzunehmen. Dabei
hatte Prinz Albert mitseiner Einschätzung wahrscheinlich
sogar Recht - was dieSache aber eher noch
schlimmer machte.
Im Augenblick befand sichLady Vespasia jedoch nicht
auf einer Feier bei Hofe,sondern auf einer ganz gewöhnlichen
Landpartie. AnfangDezember zog es die
bessere Gesellschaft oftfür Tage oder gar Wochen in die
herrschaftlichen Domizileaußerhalb der Stadt. Die hektische
Londoner Ballsaison mitihren zahllosen Empfängen
und Einladungen warvorüber, und wer einen Landsitz
sein Eigen nannte, freutesich dort im Kreise seiner
Lieben in allerBeschaulichkeit auf das Weihnachtsfest.
Es gab Gerüchte übereinen bevorstehenden Krieg auf
der Krim. Aber abgesehendavon brachte die Mitte des
Jahrhunderts KöniginViktorias weltumspannendem Imperium
vor allem Fortschritt undWohlstand.
Omegus Jones erwartete Vespasiaam Fuß der Treppe.
Er war nicht nur einperfekter Gastgeber sondern auch
ihr langjähriger Freund.Dabei hatte er die fünfzig bereits
überschritten, während Vespasia kaum mehr als
dreißig Lenze zählte.Genau genommen verdankte sie
die Bekanntschaft mit Omegus Jones ihrem um einige
Jahre älteren Ehemann.Die Kinder hatte sie diesmal
nicht mit nach Applecross genommen. In ihrem Haus in
London waren sie gut aufgehobenund wurden bestens
versorgt.
»Meine liebe Vespasia, Sie sehen einfach hinreißend
aus«, sagte Omegus mit einem wie üblich leicht spötti-
schen Lächeln. »Aber das wissen Sie selbst sicher ambesten.
Also bitte, halten Siemich nicht zum Narren, indem
Sie vorgeben, überraschtzu sein, oder gar so tun, als würde
ich übertreiben.« Derschlanke Omegus galt selbst als
recht ansehnlich undbrachte das Kunststück fertig, stets
natürlich und dabei dochunaufdringlich elegant zu wirken.
Aus seinen Zügen sprachein hintersinniger Humor,
und er fühlte sich hierdraußen auf dem Land offenbar
genauso zu Hause wie inden Londoner Salons.
»Danke«, sagte Vespasia schlicht. Eine ironische Entgegnung
erschien ihrunangebracht. Abgesehen davon
hatte Omegusihr durch seine Offenheit ohnehin schon
den Wind aus den Segelngenommen.
Mit ihr zusammentummelten sich im Augenblick etwa
ein Dutzend Gäste auf Applecross. Zu den hochrangigsten
gehörten zweifellos Lordund Lady Salchester,
dicht gefolgt von SirJohn und Lady Warburton. Lady
Warburtons Schwester hatte einen Herzog geehelicht,
und sie ließ keineGelegenheit aus, die anderen Gäste
daran zu erinnern.Vespasia selbst war die Tochter eines
Grafen, aber damit gingsie nicht hausieren. Schließlich
stellte es keinebesondere Leistung dar, in eine Familie
von altem Adelhineingeboren worden zu sein. Diejenigen,
die ihr Rang etwasanging, kannten ihn ohnehin. Seinen
Titel ständig zu erwähnen,war in Vespasias Augen
nicht nur geschmacklos,man erweckte dadurch auch den
Verdacht, man habe sonstnichts vorzuweisen. Meist dauerte
es nicht lange, bis derRespekt, den der Titel anfangs
erzeugte, inGeringschätzung umschlug.
Zu den Gästen gehörtenneben Fenton und Blanche
Twyford auch zwei junge Männer, die so manche Mutter
einer heiratsfähigenTochter nur zu gern als Schwiegersohn
gesehen hätte: Peter Hanning und Bertie Rosythe.
Gwendolen Kilmuir, die seit über einem Jahr verwitwet
war, und Isobel Alvie, die ihren Ehemannvor nunmehr
fast drei Jahren verlorenhatte, waren ebenfalls mit von
der Partie.
Es war nicht üblich, vordem Dinner Erfrischungen zu
reichen. Man machteeinfach so lange höfliche Konversation,
bis der Butler den Gongertönen ließ, der alle zu
Tisch rief. Dannschritten die Gäste in der Reihenfolge
ihres gesellschaftlichenRanges in den Speisesaal. So verlangte
es die Etikette, derenRegeln einem unumstößlichen
Gesetz gleichkamen.
Lady Salchester,eine ausgezeichnete Reiterin, trug
ein Kleid in tiefemWeinrot mit einem geradezu abenteuerlich
ausladenden Rock. ImAugenblick sprach sie
über die Rennen dervergangenen Saison im Allgemeinen
und über dieereignisreichen Tage von Royal Ascot
im Besonderen.
»Welch ein vollkommenesGeschöpf!«, rief sie voller
Begeisterung. Ihre Stimmefüllte mühelos den Raum.
»Dagegen waren alleanderen völlig chancenlos.«
Lady Warburtonlächelte, als sei sie derselben Meinung.
Bertie Rosythe - schlank, blond und wie immer makellos
gekleidet - gab sich diegrößte Mühe, seine Langeweile
zu verbergen. Er machteseine Sache hervorragend.
Wer ihn weniger gutkannte als Vespasia, hätte
glauben können, er hörenichts lieber als Berichte über
Wochen zurückliegendePferderennen.
Isobel gesellte sich zu Vespasia.Sie war keine Schönheit,
aber doch auf ihre dunkleArt attraktiv, hatte sehr
auffallende Augen undeinen wachen Geist.
»Ja, wirklich absolutvollkommen«, flüsterte sie.»Und
wenn irgendjemand keineChance hatte, dann sicher Lady
Salchester selbst.«
»Wovon redest duüberhaupt?«, fragte Vespasia, die
bereits ahnte, dass Isobel nicht etwa ein Pferd im Sinn
hatte.
»Von FannyOakley«,hauchte Isobel. Dabei beugte sie
sich noch näher zu Vespasia. »Hast du sie denn in Ascot
nicht gesehen? Wo hattestdu bloß deine Augen?«
»Auf der Rennbahn«,antwortete Vespasia trocken.
»Das ist nicht deinErnst!« Isobel lachte. »Oder hast
du etwa dein Geldverwettet? Gütiger Himmel!«
Vespasia las Besorgnis in IsobelsZügen. Es kam gar
nicht so selten vor, dasswohlhabende junge Frauen, die
sich langweilten, weilihre Ehemänner selten zu Hause
waren und das Personalihnen alle Pflichten abnahm, bis
über beide Ohren inSpiel- und Wettschulden versanken.
Für einen kurzen Momentwar Vespasia recht unbehaglich
zumute. Sie fragte sich,ob Isobel aufmerksam genug
war, die schwerbestimmbare, deprimierende Leere
wahrzunehmen,die sich in ihre Ehe geschlichen hatte. Jeder
wünschte sich guteFreunde. Ohne sie wäre das Leben
nur eineAneinanderreihung oberflächlicher Ver-
gnügungen. Doch in jedem Herzen gab es versteckte
Winkel, die niemandenetwas angingen. Eine bestimmte
Art des Schmerzes ließsich nur im Stillen ertragen. Isobel
konnte nicht wissen, wassich in der wilden Zeit der
48er Revolution in Romzugetragen hatte.Niemand ahnte
etwas davon. Eine solcheLiebe gab es nur einmal im
Leben. Dann musste siefür alle Zeit im Herzen verschlossen
werden und durfte sichnur manchmal im
Traum hervorwagen. Lady Vespasia Cumming-Gould
und Mario Corena würden sich nie wiedersehen.Vespasias
Leben spielte sich in denbesten Häusern von London
und an Orten wie Applecross ab. Hier war ihr Platz
und nicht im fernenItalien.
»Nein, mach dir keineSorgen«, antwortete Vespasia
leichthin. »Ich finde dieRennen auch ohne riskante Wetten
sehr anregend.«
»Sprichst du von denPferden?«, fragte Isobel leise.
»Wovon denn sonst?«, gab Vespasia zurück.
Isobel lachte.
Lord Salchesterentdeckte Vespasia und nickte ihr anerkennend
zu. Lady Salchester verzog den Mund zu einem
süßlichen Lächeln. Dochihr Blick blieb eisig.
»Guten Abend, Lady Vespasia«, sagte sie mit schneidender
Stimme. »Wie schön, Siezu sehen. Offenbar haben
Sie sich von denStrapazen der Saison schon ein wenig
erholt.« Lady Salchesters ungnädige Anspielung
bezog sich auf diefürchterliche Sommergrippe, die Vespasia
während der Henley-Regatta zu schaffen gemacht
hatte. »Hoffen wir, dassdas nächste Jahr nicht zu an-
strengend für Sie wird,meine Liebe«,fügte Lady Salchester
hinzu. Sie war überzwanzig Jahre älter als Vespasia
und galt als zäh undzielstrebig. Nur schön war sie nie gewesen.
Vespasia spürte Lord SalchestersBlicke, doch noch
eingehender fühlte siesich von Omegus Jones beobachtet.
Ihm zuliebe hielt siesich bei ihrer Antwort zurück.
Scheinbar witzigeBemerkungen, die vor allem auf die
Schwächen einer anderenPerson abzielten, fand sie ohnehin
nicht besonders lustig.»Das hoffe ich auch«, sagte
sie schlicht. »Es ist füralle lästig, wenn jemand nicht so
kann, wie er gern möchte.Ich werde mich bemühen, die
Stimmung nicht nocheinmal zu verderben.«
Isobel war überrascht. Lady Salchesterstaunte.
Vespasia lächelte lieblich und entschuldigte sich.
Gwendolen Kilmuir sprach gerade in ernstem Ton mit
Bertie Rosythe. Dabei neigte sie anmutig den Kopf. Die
Lichter in der Halleließen das tiefe Braun ihrer üppigen
Haarpracht mit demkräftigen Rosa ihres Kleides um die
Wette schimmern. Der Todihres Mannes lag inzwischen
etwas über ein Jahrzurück, und sie hatte die erstbeste
Gelegenheit beim Schopfgepackt, die schwarze Trauerkleidung
abzulegen. Mitachtundzwanzig Jahren war sie
noch längst keine alteFrau und beabsichtigte nicht, die
Trauerzeit über die vonder Gesellschaft als schicklich
empfundene Frist hinausauszudehnen. Herausfordernd
blickte sie zu Bertieauf. Doch sie lächelte dabei, und die
Wärme und Weichheit, diein diesem Augenblick in ihren
Zügen lagen, sprachenBände.
© Heyne Verlag
Übersetzung: Uschi Pilz
- Autor: Anne Perry
- 2004, 160 Seiten, Maße: 12,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453430263
- ISBN-13: 9783453430266
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