Eine wie Alaska
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Eine wieAlaska von John Green
LESEPROBE
Ich beschloss, noch ein wenig auf der Schaukel sitzen zu bleiben, teils,weil die Hitze allmählich nachließ und die Temperatur auf angenehme, wenn auchfeuchte, paarundzwanzig Grad gefallen war, teils,weil ich hoffte, dass Alaska vielleicht noch vorbeikam. Doch kaum war der Colonel weg, kamen die Mücken. Schwärme von Sandfliegen(die sich nicht auf den Sand beschränkten) und Moskitos umschwirrten mich, unddas hohe Fiepen ihrer Flügel hörte sich wie eine kakophonische Big Band an. Undso beschloss ich, doch zu rauchen.
Ich habe wirklich gedacht: Der Rauch wird die Mücken vertreiben. Und ingewissem Maße half es auch. Allerdings würde ich lügen, wenn ich behauptete,ich hätte mit Rauchen angefangen, nur um Insekten fernzuhalten. Ich fing mitRauchen an, weil ich erstens allein am See in einer Hollywoodschaukel saß,zweitens ein Päckchen Zigaretten hatte, und drittens, weil ich fand, wenn alleanderen Zigaretten rauchen konnten, ohne sich die Lunge aus dem Hals zu husten,dann konnte ich das verdammt noch mal auch. Kurzum, ich hatte keinen besondersguten Grund. Also belassen wir es bei viertens, wegen der Mücken.
Ich schaffte drei ganze Züge, bevor mir schlecht und schwindelig wurdeund ich einen nur halb unangenehmen Rausch verspürte. Dann stand ich auf undwollte gehen. Im gleichen Moment rief eine Stimme hinter mir:
»Und du kannst wirklich letzte Worte auswendig?«
Sie rannte auf mich zu, packte mich an der Schulter und drückte mich zurückauf die Schaukel.
»Ja«, sagte ich. Dann fügte ich zögernd hinzu: »Willst du es testen?«
»JFK.«
»Das ist offensichtlich«, antwortete ich.
»Ach ja?«, fragte sie.
»Nein. Das waren seine letzten Worte. Jemand sagte: Mr. President, Sie können nicht behaupten, dass Dallas Sienicht liebt, und darauf sagte er: Das ist offensichtlich, und dann haben sieihn erschossen.«
Sie lachte. »Gott, das ist ja furchtbar. Ich sollte nicht lachen. Aberich tus trotzdem«, und dann lachte sie wieder. »Alsogut, Mister Berühmte Letzte Worte. Ich hab was für dich.«Sie griff in ihren vollgestopften Rucksack und zerrteein Buch heraus. »Gabriel García Márquez. Der General in seinem Labyrinth. Einsmeiner absoluten Lieblingsbücher. Es geht um Simón Bolívar.« Ich wusste nicht, wer Simón Bolívar war, aber sie ließmir keine Zeit zu fragen. »Es ist ein historischer Roman, deswegen weiß ichnicht, ob es stimmt, aber in dem Buch hier, weißt du, was da seine letztenWorte sind? Nein, weißt du nicht. Aber ich sage es dir, SeñorAbschiedsbemerkungen.«
Und dann zündete sie sich eine Zigarette an und saugte so lange so festdaran, dass ich fürchtete, die ganze Zigarette würde in einem Zug abbrennen.Sie blies den Rauch aus und las mir vor:
»Ihn - also Simón Bolívar- durchschauerte die überwältigende Offenbarung, dass der wahnsinnige Wettlaufzwischen seinen Leiden und seinen Träumen in jenem Augenblick das Zielerreichte. Der Rest war Finsternis. Verflucht noch mal!,seufzte er. Wie komme ich bloß aus diesem Labyrinth heraus?«
Starke letzte Worte erkannte ich auf Anhieb, und ich beschloss, mir eineBiografie von diesem Simón Bolívarzu besorgen. Es waren wunderbare letzte Worte, auch wenn ich sie nicht ganzverstand. »Und was ist das für ein Labyrinth?«, fragteich.
Und jetzt ist ein guter Zeitpunkt, davon zu reden, wie schön sie war. Wiesie neben mir in der Dunkelheit saß und nach Mädchenschweiß und Sonnenscheinund Vanille roch in dieser von einem schmalen Mond erhellten Nacht, in der ichkaum mehr sah als ihre Silhouette, außer wenn sie an ihrer Kippe zog, wenn ihrGesicht von der glühenden Kirsche ihrer Zigarette in blassrotes Licht getauchtwurde. Doch selbst im Dunkeln konnte ich ihre Augen sehen - wie funkelndeSmaragde. Sie hatte die Art von Augen, die einen von vorneherein dazuverdammen, alles, was sie tat und sagte, gut zu finden. Und sie war nicht nurschön, sie war auch sexy: ihre Brüste unter dem engen Hemdchen, ihre schöngeschwungenen Beine, die unter der Schaukel baumelten, die Flipflops, die anihren knallblau lackierten Zehen schaukelten. Genau in diesem Moment, nachdem ichdie Frage nach dem Labyrinth gestellt hatte und bevor sie antwortete, wurde mirmit einem Mal die wahre Bedeutung von Kurven klar, von diesen tausend Stellen,an denen Mädchenkörper von einer Stelle in die nächste übergehen, vom Bogen desFußes zum Knöchel zur Wade, von der Wade zur Hüfte zur Taille zur Brust zum Halszur geschwungenen Nase zur Stirn zur Schulter zum gewölbten Bogen ihres Rückenszu ihrem Hintern zu usw. Ich hatte natürlich schon früher Kurven wahrgenommen,nur hatte ich sie bis heute Abend nie in ihrer vollen Bedeutung begriffen.
Ihr Mund war so nah, dass ich ihren warmen Atem in der Abendluft spürte,als sie sagte: »Das ist das Rätsel, verstehst du? Ist es das Labyrinth desLebens oder des Todes? Wem will er entkommen - der Welt oder ihrem Ende?« Ich wartete, dass sie fortfuhr, aber nach einer Weilebegriff ich, dass sie von mir die Antwort wollte.
»Äh, keine Ahnung«, sagte ich schließlich. »Hast du wirklich all die Büchergelesen, die in deinem Zimmer stehen?«
Sie lachte. »Gott, nein. Ein Drittel vielleicht. Aber ich werde sie alle lesen.Ich nenne es die Bibliothek meines Lebens. Jeden Sommer, seit ich klein war,hab ich auf Flohmärkten alle Bücher gekauft, die interessant aussahen. So habich immer was zu lesen. Dabei gibt es immer so viel zu tun: Kippen zu rauchen,Sex zu haben, auf Schaukeln zu schaukeln. Zeit zum Lesen hab ich wohl erst,wenn ich alt und langweilig geworden bin.«
Sie erzählte mir, dass ich sie an den Colonelerinnerte, damals, als er neu in Culver Creek war.Die beiden waren zusammen in die Neunte gekommen, beide mit Stipendien. Und siehatten schon damals eine »Leidenschaft für Schnaps und Unfug« geteilt, wie siees ausdrückte. Als ich Schnaps und Unfug hörte, fragte ich mich, ob ich da ingenau das reingestolpert war, was meine Mutter »die falschen Kreise« nannte.Doch für falsche Kreise wirkten beide überraschend intelligent auf mich. Alaskazündete sich eine neue Zigarette an der alten an und erzählte mir, dass der Colonel zwar gescheit gewesen sei, aber noch nichts erlebthatte, damals, als er in Culver Creek ankam.
»Aber das Problem hab ich schnell gelöst.« Siegrinste. »Bis November hatte ich ihm seine erste Freundin besorgt, eine ab solut reizende Nicht-Tagestäterin namens Janice. EinenMonat später hat er sie sitzen lassen. Sie war zu reich für seinArbeiterklassen-Blut, aber egal. Im ersten Jahr haben wir unseren erstenSchülerstreich organisiert - wir haben Klassenzimmer4 mit Murmeln ausgelegt. Natürlichwerden wir seitdem immer besser.« Sie lachte. So warChip zum Colonel geworden - der militärische Strategeihrer Streiche, und Alaska war immer Alaska gewesen, die überlebensgroßekreative Kraft dahinter.
»Du bist genau so gescheit wie er«, sagte sie. »Nur stiller. Und niedlicher,aber das darf ich eigentlich nicht sagen, denn ich liebe meinen Freund undniemand andern.«
»Danke, du bist auch nicht schlecht«, sagte ich, überwältigt von ihremKompliment. »Aber das darf ich eigentlich nicht sagen, denn ich liebe Halt.Stimmt. Ich hab gar keine Freundin.«
Sie lachte. »Keine Sorge, Pummel. Wenn ich dir eins besorgen kann, danneine Freundin. Wir machen einen Deal: Du kriegst raus, was das Labyrinth istund wie man rauskommt, und ich sorge dafür, dass du flachgelegt wirst.«
»Deal.« Und darauf gaben wir uns die Hand.
Später ging ich neben Alaska über die Wiese zu den Schlafsälen zurück.Die Zikaden summten ihr eintöniges Lied, genau wie zu Hause in Florida. Als wirso durch die Dunkelheit tappten, drehte sie sich plötzlich zu mir um. »Kennstdu das: Manchmal, wenn du nachts draußen bist, kriegst du Panik, auch wenn estotal albern und peinlich ist, aber du willst einfach nur nach Hause rennen?«
Irgendwie war das viel zu intim und persönlich, als dass man mit einerpraktisch Fremden darüber sprechen konnte, doch ich sagte: »Ja, total.« Sie schwieg einen Moment. Dann packte sie meine Hand undflüsterte: »Lauf lauf lauf lauf lauf!«
Und sie stürzte los und riss mich mit.
© Hanser Verlag
Übersetzung: Sophie Zeitz
- Autor: John Green
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2007, 279 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Sophie Zeitz
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446208534
- ISBN-13: 9783446208537
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