Eiskalter Tod / Young Sherlock Holmes Bd.3
Der dritte Band der coolen Serie für Jungs
London, 1868 - Der junge Sherlock Holmes ist einer hinterhältigen Verschwörung auf der Spur. Sein Bruder Mycroft steht unter Mordverdacht und die Beweislage scheint eindeutig: Mycroft wurde mit der Leiche in...
London, 1868 - Der junge Sherlock Holmes ist einer hinterhältigen Verschwörung auf der Spur. Sein Bruder Mycroft steht unter Mordverdacht und die Beweislage scheint eindeutig: Mycroft wurde mit der Leiche in...
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Produktinformationen zu „Eiskalter Tod / Young Sherlock Holmes Bd.3 “
Klappentext zu „Eiskalter Tod / Young Sherlock Holmes Bd.3 “
Der dritte Band der coolen Serie für JungsLondon, 1868 - Der junge Sherlock Holmes ist einer hinterhältigen Verschwörung auf der Spur. Sein Bruder Mycroft steht unter Mordverdacht und die Beweislage scheint eindeutig: Mycroft wurde mit der Leiche in einem verschlossenen Raum gefunden, ein blutiges Messer in der Hand. Nur Sherlock glaubt an die Unschuld seines Bruders. Doch kann er sie auch beweisen ... und Mycroft vor dem Galgen bewahren?
Der dritte Fall führt den jungen Sherlock bis ins eisige Moskau. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...
Lese-Probe zu „Eiskalter Tod / Young Sherlock Holmes Bd.3 “
Young Sherlock - eiskalter Tod von Andrew LaneKapitel 3
Die Fahrt nach Waterloo Station kam Sherlock kürzer vor, als er sie in Erinnerung hatte. Crowe war die ganze Zeit über schwer in Form. Unermüdlich zog er Schlussfolgerungen über die unterschiedlichsten Leute, die den Waggon bestiegen oder an den Bahnhöfen, an denen sie vorbeikamen, auf den Bahnsteigen standen. Nur um Sherlock zu necken, verwickelte er hin und wieder manche Leute in ein Gespräch und brachte sie dazu, sich über die Dinge auszulassen, die er Sherlock bereits kurz zuvor skizziert hatte. Die vorherige unangenehme Dissonanz, die wegen Rufus Stone zwischen ihnen aufgekommen war, schien sich in nichts aufgelöst zu haben.
Nachdem der Zug sich die letzten Meter in den Bahnhof geschleppt hatte und am Bahnsteig zum Halten gekommen war, stiegen die beiden aus und marschierten durch die Bahnhofshalle, um eine Droschke aufzutreiben.
Sherlock hatte das laute und bunte Treiben in Waterloo Station schon einmal erlebt. Aber als er und Amyus Crowe sich den Weg durch eine besonders dichte Menge von Männern mit Zylinderhüten bahnten, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er sich vorstellte, durch eine triste Landschaft von Industrieschloten zu wandeln, die sich über düsteren Fabriken erhoben. Der Dampf der Lokomotiven, der durch den Bahnhof waberte, verstärkte diesen Eindruck sogar noch. Irritiert und verärgert versuchte er, das Bild zu verdrängen. Es kam nicht oft vor, dass er von solchen Phantasiebildern heimgesucht wurde. Und er mochte es ganz und gar nicht, wenn das passierte. Schließlich gab es keinen logischen Weg, der einen von Zylinderhüten zu qualmenden Industrieschloten führte. Es war ein poetischer Vergleich, kein analytischer. Und natürlich keiner, den Amyus Crowe gutheißen würde.
... mehr
Ganz im Gegensatz vermutlich zu Rufus Stone. Der Gedanke ließ ihn in unbehagliches Schweigen versinken. Draußen vor dem Bahnhof rief Crowe eine Droschke herbei. Da sie nur einen Tag in London waren, hatten sie kein Gepäck. Also stiegen sie einfach ein und waren zur Abfahrt bereit.
Bei der Droschke handelte es sich um kaum mehr als eine in Fahrtrichtung offene Box auf zwei Rädern. Eine Box, bei der der Kutscher erhöht hinter dem Verdeck saß und die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, das durch Ledergeschirr und Zügel mit dem Gefährt verbunden war.
»Zum Diogenes Club«, rief Crowe zum Kutscher hinauf.
»Wo ist das, Mister?«, rief der Mann zurück.
»Fahren Sie zuerst zur Admiralität«, antwortete Crowe mit lauter Stimme. »Von da an werde ich Sie lotsen.«
Crowe ließ sich auf seinen Sitz sinken, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. »Der Club existiert erst ungefähr ein Jahr«, sagte er im Plauderton. »Dein Bruder ist wohl so was wie einer der Gründer, wie er mir erzählt hat. Der Club ist nach dem griechischen Philosophen Diogenes von Sinope benannt. Diogenes war einer der Begründer der kynischen Philosophie oder des Kynismus, wie die dafür gängige Bezeichnung lautet.« »Den Begriff habe ich schon mal gehört«, sagte Sherlock. »Aber ich weiß nicht genau, was er bedeutet.«
»Der Kynismus basiert darauf, dass der Sinn des Lebens darin besteht, ein tugendhaftes Leben in Einklang mit der Natur zu führen. Was in der Praxis bedeutet, dass jedes konventionelle Verlangen nach Reichtum, Macht und Ruhm abzulehnen und ein einfaches Leben ohne jedwede Besitztümer anzustreben ist. Da ist eigentlich nichts Schlechtes dran, auch wenn es natürlich mehr oder weniger jeglichen industriellen Fortschritt in einer Gesellschaft ausschließt. Die Kyniker glaubten auch, dass die Welt gleichermaßen allen Menschen gehört. Und dass Leid zum einen durch falsche Beurteilungen dessen entsteht, was wichtig und wertvoll ist, und zum anderen durch die wertlosen Sitten und Konventionen, mit denen sich eine Gesellschaft umgibt.« Er schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht genau, inwieweit diese Prinzipien für deinen Bruder oder den Club gelten. Aber du solltest wissen, dass der Diogenes Club eine sehr strenge Regel hat: Niemand darf dort sprechen. Nicht ein Wort. Die einzige Ausnahme bildet der Besucherraum, wo sich meiner Vermutung nach dein Bruder mit uns treffen wird. Wenn nicht, haben wir einen ungemütlichen Tag vor uns.«
Die Droschke ratterte über die Westminster-Bridge und Sherlocks Aufmerksamkeit wurde von den diversen Typen von Ruderbooten in Anspruch genommen, die auf dem dreckig braunen Wasser der Themse unterwegs waren. »Haben Diogenes und Platon eigentlich zur gleichen Zeit gelebt?«, fragte er, als ihm plötzlich Platons Buch Der Staat einfiel, das ihm sein Bruder vor seiner Fahrt nach Amerika geschenkt hatte.
»Haben sie«, antwortete Crowe. »Und sie sind nicht sehr gut miteinander ausgekommen. Aber das erzähle ich dir ein andermal.«
Am Nordufer der Themse bog die Droschke erst nach links und dann gleich wieder nach rechts auf eine breite, dreispurige Straße ab. Vor ihnen am Ende der Straße erkannte Sherlock Trafalgar Square mit dem Denkmal von Lord Nelson, das er gesehen hatte, als er das letzte Mal in London gewesen war.
Ein paar Sekunden später kam die Droschke zum Halten. Die beiden stiegen auf den Bürgersteig hinab, und Crowe entlohnte den Kutscher mit ein paar Pence.
Sie befanden sich nun am Ende der breiten, dreispurigen Prachtstraße, wo diese eine Kurve beschrieb und dann in eine andere Straße überging. In eine Hauswand vor ihnen war eine kleine Tür eingelassen. Neben dem Eingang hing eine Messingtafel. The Diogenes Club war dort in eingravierten Buchstaben zu lesen.
Crowe klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür. Wenige Augenblicke später schwang sie nach innen auf. Crowe ging voran und zog dabei den Kopf ein, um dem niedrigen Türsturz auszuweichen. Sherlock folgte.
Sie gelangten in eine schmale, mit Eichenholz getäfelte Eingangshalle, deren Fußboden aus Marmor bestand. Vor ihnen führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf. Durch eine offene Tür an der Seite bot sich ein Blick in einen großen Raum, der dicht mit grünen Ledersesseln möbliert war. Die Stille war so erdrückend, dass Sherlock fast das Gefühl überkam, als würde sich ein Schraubstock um seine Ohren legen. Unterstrichen wurde die Atmosphäre noch vom Ticken einer irgendwo im Schatten stehenden Uhr, das durch den Raum hallte.
Der Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, war klein und hatte etwas Wieselhaftes an sich. Er trug eine tadellose blaue Dienerlivree und wirkte wie ein ehemaliger Soldat. Sherlock war kein Experte, aber der Mann hielt sich gerade wie ein Ladestock, und seine Stiefel waren so blankpoliert, dass Sherlock vermutlich sein Gesicht darin hätte betrachten können. Crowe händigte dem Mann eine Visitenkarte aus. Der Diener warf einen Blick darauf, nickte und bedeutete ihnen dann, ihm durch den großen Raum voller grüner Ledersessel zu folgen. Die Sessel waren von Zeitung lesenden Männern belegt. Der Diener führte sie im Zickzackkurs zu einer Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes und klopfte.
Eine paar Leute erhoben den Kopf von ihrer Zeitungslektüre, um den Blick auf die Quelle des Lärms zu richten.
Sherlock lauschte, konnte allerdings keine Antwort hören. In Gedanken versetzte er sich gleich darauf einen Tritt in den Hintern: Wenn niemand im Club sprechen durfte, dann konnte er auch kaum erwarten, dass jemand laut »Herein!« rief. Offensichtlich wartete der Diener darauf, dass die Tür geöffnet wurde.
Nichts passierte. Wieder klopfte der Diener.
Dann stieß plötzlich etwas mit dumpfem Geräusch gegen die Tür. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, und sie ging auf.
Mycroft Holmes stand im Türrahmen. Er versperrte mit seinem massigen Körper die Sicht auf den Raum dahinter und sah ziemlich verwirrt aus.
Er bewegte seine Hand nach oben, wie um sich an die Stirn zu fassen, und schien ebenso wie Sherlock, Crowe und der Diener von der Tatsache überrascht zu sein, dass sie ein Messer hielt.
Mycroft starrte auf das Messer, als hätte er es nie zuvor gesehen. Dann wandte er den Kopf, um in den Raum zurückzublicken. Dabei machte er einen Schritt zur Seite, so dass Sherlock an ihm vorbeisehen konnte.
Ebenso wie die anderen Räumlichkeiten des Clubs waren die Wände mit Holz getäfelt. Allerdings gab es keine Fenster. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch, um den herum gepolsterte Stühle symmetrisch angeordnet waren.
Auf einem der Stühle saß ein Mann. Dem sich ausbreitenden Blutfleck und der Art nach zu schließen, wie seine ausdruckslosen Augen den von der Decke hängenden Kronleuchter anstarrten, war er tot.
»Mycroft«, brachte Sherlock hervor.
Überraschung breitete sich im Clubraum aus wie eine leise sich kräuselnde Welle, gefolgt von missbilligendem Gezische angesichts seines eklatanten Regelverstoßes. Aber er kümmerte sich nicht darum. Er wollte einfach nur wissen, was geschehen war.
Der Diener wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Crowe schnalzte einmal mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, und blies in einer pantomimischen Geste in eine imaginäre Trillerpfeife. Der Diener nickte, drehte sich um und lief davon. Crowe packte Sherlock am Arm, zog ihn in das Besucherzimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Sherlock registrierte, dass die Rückseite der Tür schwer gepolstert war, vermutlich um zu verhindern, dass Gesprächsgeräusche in den Clubraum drangen. Mit noch immer verwirrtem Blick und dem Messer in der Hand wich Mycroft zurück.
»Ich ... verstehe nicht«, sagte er zögernd.
»Mister Holmes«, blaffte Crowe. »Sie müssen sich konzentrieren. Was ist passiert? Erzählen Sie uns alles!«
»Ich ... habe auf Sie gewartet«, erwiderte Mycroft. Seine Stimme gewann an Kraft, während er redete. »Mit Hilfe der Zugfahrpläne und unter Berücksichtigung des zu dieser Tageszeit üblichen Verkehrs zwischen Waterloo Station und dem Club hatte ich Ihrer beiden Ankunft vorausberechnet. Dann ertönte ein Klopfen an der Tür. Der Diener - Brinnell - brachte mir eine Karte auf einem Tablett. Offensichtlich wollte ein Mann mich sprechen. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, und wollte ihn schon wegschicken, als mein Blick auf ein paar Worte fiel, die auf die Rückseite der Karte gekritzelt waren. Es waren Worte, die ... mit denen ich im Laufe meiner Tätigkeit im Außenministerium schon einmal zu tun hatte. Worte von großer Bedeutung. Also habe ich Brinnell angewiesen, den Mann hierherzubringen, in den Besucherraum.«
Er hielt inne und runzelte die Stirn, als würde er versuchen, sich an eine überaus verzwickte Sache zu erinnern.
»Ich habe hier gewartet«, fuhr er schließlich fort. »Dann hörte ich ein Klopfen an der Tür. Anstatt den Besuch hereinzurufen, ging ich zur Tür, um sie persönlich zu öffnen. Das ist hier im Diogenes Club so üblich. Dadurch wird unerwünschtes Reden vermieden, eine Sache, die die meisten Mitglieder als unerfreulich empfinden. Draußen stand ein Mann.«
»Dieser Mann?«, hakte Crowe nach und zeigte auf den Körper, der auf dem Stuhl zusammengesunken war.
»Ja«, sagte Mycroft und zuckte bei dem Anblick zusammen. »Das ist er. Ich habe ihm bedeutet hereinzukommen, was er dann auch machte. Danach schloss ich die Tür hinter ihm und ...«
Seine Stimme brach ab. Seine Hand - diejenige, die nicht das Messer hielt - hob sich, als wollte er etwas an seiner Stirn betasten. »Das ist alles, woran ich mich erinnere. Jedenfalls, bis ich wieder ein Klopfen an der Tür hörte. Ich dachte, ich hätte es mit einem von jenen Momenten zu tun, die die Franzosen als Déjà-vu bezeichnen und bei denen man glaubt, dass etwas passiert, was sich zuvor schon einmal haargenau so ereignet hat. Ich öffnete also die Tür und sah Brinnell und erneut Besucher vor mir. Nur dass Sie es waren, also Sie und Sherlock. Ich war verwirrt und drehte mich um. In der Erwartung, den ersten Besucher hinter mir zu sehen.« Mycroft wies auf die Leiche im Stuhl. »Und das tat ich auch«, fuhr er fort. Eine Spur des trocken nüchternen Tons, den Sherlock von seinem Bruder sonst gewohnt war, schlich sich langsam wieder in Mycrofts Stimme. »Allerdings nicht so, wie ich erwartet hatte.«
»Mister Holmes«, sagte Crowe. »Nur der Vollständigkeit halber und weil die Polizei zweifellos gleich dieselbe Frage stellen wird: Haben Sie den Mann umgebracht? «
»Ich kann mich nicht erinnern, den Mann umgebracht zu haben«, antwortete Mycroft vorsichtig.
»Ich würde vorschlagen, dass Sie auf diese Frage das nächste Mal besser mit einem einfachen Nein antworten. Auch wenn das wohl zunächst nicht allzu viel bringen wird.« Crowe seufzte. »Kennen Sie einen guten Anwalt?«
»Der Diogenes Club hat einen in seinen Diensten«, erwiderte Mycroft. »Brinnell kann Ihnen Namen und Adresse geben.«
»Dann seien Sie, was immer auch in nächster Zukunft passieren mag, versichert, dass wir uns um den Diogenes- Anwalt kümmern und alles in unserer Macht Stehende unternehmen werden, damit Sie wieder auf freien Fuß kommen.«
Mycroft wandte sich um und warf einen Blick auf die Leiche. »Das könnte schwierig werden«, sagte er mit qualvoller Stimme. »Es gibt herzlich wenig Spuren. Und das bisschen, was es gibt, scheint mich zu belasten. «
»Du hast ihn nicht umgebracht«, sagte Sherlock in bestimmtem Ton. »Ich weiß nicht viel von dem, was hier passiert ist, aber so viel weiß ich doch.«
Mycroft lächelte zaghaft und klopfte ihm auf die Schulter. »Danke«, sagte er. »Das konnte ich jetzt gut gebrauchen.«
Ein Tumult draußen im Clubraum verriet ihnen, dass die Polizei im Anmarsch war.
»Ich schlage vor, Sie legen das Messer auf den Tisch«, ergriff Crowe das Wort. »Macht sich nie sehr gut, eine Waffe in der Hand zu haben, wenn die Polizei aufkreuzt. «
Mycroft trat an den Tisch und legte das Messer ab, gerade als die Tür aufflog und eine Gruppe blau uniformierter Männer hereinstürmte. Crowe trat ihnen entgegen und verdeckte so Mycrofts letzte Bewegung. »Es hat einen Mord gegeben«, sagte er. »Die Leiche ist drüben am Tisch, ebenso wie das Messer, mit dem das Verbrechen vermutlich verübt wurde.«
»Und wer sind Sie?«, fragte der leitende Constable.
»Mein Name ist Amyus Crowe. Und wie heißen Sie?«
»Ein ausländischer Gentleman also«, gab der Polizist nur zur Antwort und bedachte seine Begleiter mit einem vielsagenden Blick. »Waren Sie hier, als die Tat begangen wurde?«
»Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt«, sagte Crowe mit beherrschter Stimme.
»Ich bin Sergeant Coleman«, bequemte sich der Polizist jetzt zu antworten und drückte demonstrativ den Rücken durch. »Vielleicht könnten Sie dann jetzt auch auf meine Frage eingehen.« Er hielt kurz inne.
»Sir.«
»Ich war draußen vor der Tür«, erwiderte Crowe. »Zusammen mit diesem jungen Mann hier. Der Diener kann das bezeugen.«
»Und wie heißt der junge Mann?«
»Sherlock Holmes«, antwortete Sherlock.
»Und wer also war in diesem Raum?«, bohrte der Sergeant nach.
Crowe zögerte und zuckte kaum merklich zusammen. »Ich glaube, dieser Gentleman hier.« Er wies mit einem Nicken auf Mycroft.
Der Sergeant trat auf Mycroft zu. »Stimmt das, Sir?«, fragte er ihn.
Mycroft nickte. »Ich war im Raum«, erwiderte er mit fester Stimme.
»Und wie ist Ihr Name?«
»Mycroft Siger Holmes.«
»Und haben Sie diesen Mann getötet, Sir?«
»Nein, ich habe diesen Mann nicht getötet.«
Sherlock bemerkte, wie sich angesichts der Bestimmtheit in Mycrofts Stimme Crowes Lippen kaum merklich kräuselten. Der Sergeant sah erstaunt aus.
»Ich fürchte, Sir, dass ich Sie festnehmen muss. Sie werden zu Scotland Yard gebracht, wo man Sie unter Eid vernehmen wird.« Er sah zunächst noch einmal kurz zur Leiche hinüber und blickte dann einen der Constables an. »Na schön, lassen Sie nach dem Pathologen schicken. Der alte Murdoch hat heute Dienst. Sehen Sie zu, dass er herkommt und die Leiche abholt. Und stellt das Messer sicher. Das werden wir dann dem Richter präsentieren.«
Die Worte dröhnten wie eine riesige, misstönende Glocke in Sherlocks Ohren. Mit Entsetzen sah er zu, wie Mycroft an der Schulter gepackt und anschließend vom Tatort quer durch den Clubraum zur Eingangshalle geführt wurde. Einer der Constables packte das Messer behutsam am Griff und trug es davon.
»Mister Crowe ...«, begann Sherlock.
»Keine Zeit!«, blaffte Crowe. »Ich verstehe, dass du jetzt aufgewühlt bist. Das ist verständlich. Das Problem ist nur, dass, wenn wir den Namen deines Bruders wieder reinwaschen und ihn vor dem Gefängnis bewahren wollen, wir jetzt schnell handeln müssen. Schnell und mit absoluter Präzision. Emotionen werden uns daran nur hindern und unser Urteilsvermögen trüben. Verstehst du, was ich sage?«
»Ja«, keuchte Sherlock.
»Versuche, Kummer und Angst zu unterdrücken. Stell dir vor, du wickelst deine Gefühle in eine Decke ein, die du dann zubindest und irgendwo in einem fernen Winkel deines Geistes verstaust. Ich verlange nicht von dir, dass du sie für immer vergisst, sondern nur jetzt für den Moment. Du kannst sie später wieder hervorholen, wenn alles vorbei ist, und dich in sie hüllen, solange du willst. Aber nicht jetzt.«
»Ja, in Ordnung.« Sherlock schloss die Augen und schickte sich an, Crowes Ratschlag in die Tat umzusetzen. Er versuchte, sich den in ihm tosenden Wirbel der Gefühle als feurigen Ball vorzustellen, der in seinem Kopf schwebte. Dann malte er sich einen feuerfesten Stoff aus - so schwarz wie die Nacht -, der sich um den Feuerball wickelte. Im nächsten Moment tauchten plötzlich Seile und Ketten aus der Dunkelheit auf und legten sich um den Stoff. Wie von Geisterhand wurden sie immer straffer gezogen, bis der Ball komplett eingewickelt und fest verschnürt war. Anschließend stellte er sich vor, wie der Ball in die schattenerfüllte Finsternis hinabschwebte, bis er in einem staubigen Schrank landete, der sich im hintersten Winkel seines Geistes befand. Dann verschloss Sherlock die Tür.
Er schlug die Augen auf und machte einen tiefen Atemzug. Er fühlte sich besser. Die Panik war fast verschwunden. Er wusste, dass all diese Gefühle noch da waren, verborgen in diesem Schrank. Doch im Moment empfand er sie nicht mehr. Er konnte sie wieder hervorholen, wann immer er wollte. Aber jetzt gerade war er sich gar nicht so sicher, ob er das jemals tun würde.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Was sollen wir jetzt machen?«
»Wir müssen die Leiche untersuchen und den Raum.
Ich übernehme das Erste, du das Zweite.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ganz im Gegensatz vermutlich zu Rufus Stone. Der Gedanke ließ ihn in unbehagliches Schweigen versinken. Draußen vor dem Bahnhof rief Crowe eine Droschke herbei. Da sie nur einen Tag in London waren, hatten sie kein Gepäck. Also stiegen sie einfach ein und waren zur Abfahrt bereit.
Bei der Droschke handelte es sich um kaum mehr als eine in Fahrtrichtung offene Box auf zwei Rädern. Eine Box, bei der der Kutscher erhöht hinter dem Verdeck saß und die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, das durch Ledergeschirr und Zügel mit dem Gefährt verbunden war.
»Zum Diogenes Club«, rief Crowe zum Kutscher hinauf.
»Wo ist das, Mister?«, rief der Mann zurück.
»Fahren Sie zuerst zur Admiralität«, antwortete Crowe mit lauter Stimme. »Von da an werde ich Sie lotsen.«
Crowe ließ sich auf seinen Sitz sinken, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. »Der Club existiert erst ungefähr ein Jahr«, sagte er im Plauderton. »Dein Bruder ist wohl so was wie einer der Gründer, wie er mir erzählt hat. Der Club ist nach dem griechischen Philosophen Diogenes von Sinope benannt. Diogenes war einer der Begründer der kynischen Philosophie oder des Kynismus, wie die dafür gängige Bezeichnung lautet.« »Den Begriff habe ich schon mal gehört«, sagte Sherlock. »Aber ich weiß nicht genau, was er bedeutet.«
»Der Kynismus basiert darauf, dass der Sinn des Lebens darin besteht, ein tugendhaftes Leben in Einklang mit der Natur zu führen. Was in der Praxis bedeutet, dass jedes konventionelle Verlangen nach Reichtum, Macht und Ruhm abzulehnen und ein einfaches Leben ohne jedwede Besitztümer anzustreben ist. Da ist eigentlich nichts Schlechtes dran, auch wenn es natürlich mehr oder weniger jeglichen industriellen Fortschritt in einer Gesellschaft ausschließt. Die Kyniker glaubten auch, dass die Welt gleichermaßen allen Menschen gehört. Und dass Leid zum einen durch falsche Beurteilungen dessen entsteht, was wichtig und wertvoll ist, und zum anderen durch die wertlosen Sitten und Konventionen, mit denen sich eine Gesellschaft umgibt.« Er schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht genau, inwieweit diese Prinzipien für deinen Bruder oder den Club gelten. Aber du solltest wissen, dass der Diogenes Club eine sehr strenge Regel hat: Niemand darf dort sprechen. Nicht ein Wort. Die einzige Ausnahme bildet der Besucherraum, wo sich meiner Vermutung nach dein Bruder mit uns treffen wird. Wenn nicht, haben wir einen ungemütlichen Tag vor uns.«
Die Droschke ratterte über die Westminster-Bridge und Sherlocks Aufmerksamkeit wurde von den diversen Typen von Ruderbooten in Anspruch genommen, die auf dem dreckig braunen Wasser der Themse unterwegs waren. »Haben Diogenes und Platon eigentlich zur gleichen Zeit gelebt?«, fragte er, als ihm plötzlich Platons Buch Der Staat einfiel, das ihm sein Bruder vor seiner Fahrt nach Amerika geschenkt hatte.
»Haben sie«, antwortete Crowe. »Und sie sind nicht sehr gut miteinander ausgekommen. Aber das erzähle ich dir ein andermal.«
Am Nordufer der Themse bog die Droschke erst nach links und dann gleich wieder nach rechts auf eine breite, dreispurige Straße ab. Vor ihnen am Ende der Straße erkannte Sherlock Trafalgar Square mit dem Denkmal von Lord Nelson, das er gesehen hatte, als er das letzte Mal in London gewesen war.
Ein paar Sekunden später kam die Droschke zum Halten. Die beiden stiegen auf den Bürgersteig hinab, und Crowe entlohnte den Kutscher mit ein paar Pence.
Sie befanden sich nun am Ende der breiten, dreispurigen Prachtstraße, wo diese eine Kurve beschrieb und dann in eine andere Straße überging. In eine Hauswand vor ihnen war eine kleine Tür eingelassen. Neben dem Eingang hing eine Messingtafel. The Diogenes Club war dort in eingravierten Buchstaben zu lesen.
Crowe klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür. Wenige Augenblicke später schwang sie nach innen auf. Crowe ging voran und zog dabei den Kopf ein, um dem niedrigen Türsturz auszuweichen. Sherlock folgte.
Sie gelangten in eine schmale, mit Eichenholz getäfelte Eingangshalle, deren Fußboden aus Marmor bestand. Vor ihnen führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf. Durch eine offene Tür an der Seite bot sich ein Blick in einen großen Raum, der dicht mit grünen Ledersesseln möbliert war. Die Stille war so erdrückend, dass Sherlock fast das Gefühl überkam, als würde sich ein Schraubstock um seine Ohren legen. Unterstrichen wurde die Atmosphäre noch vom Ticken einer irgendwo im Schatten stehenden Uhr, das durch den Raum hallte.
Der Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte, war klein und hatte etwas Wieselhaftes an sich. Er trug eine tadellose blaue Dienerlivree und wirkte wie ein ehemaliger Soldat. Sherlock war kein Experte, aber der Mann hielt sich gerade wie ein Ladestock, und seine Stiefel waren so blankpoliert, dass Sherlock vermutlich sein Gesicht darin hätte betrachten können. Crowe händigte dem Mann eine Visitenkarte aus. Der Diener warf einen Blick darauf, nickte und bedeutete ihnen dann, ihm durch den großen Raum voller grüner Ledersessel zu folgen. Die Sessel waren von Zeitung lesenden Männern belegt. Der Diener führte sie im Zickzackkurs zu einer Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes und klopfte.
Eine paar Leute erhoben den Kopf von ihrer Zeitungslektüre, um den Blick auf die Quelle des Lärms zu richten.
Sherlock lauschte, konnte allerdings keine Antwort hören. In Gedanken versetzte er sich gleich darauf einen Tritt in den Hintern: Wenn niemand im Club sprechen durfte, dann konnte er auch kaum erwarten, dass jemand laut »Herein!« rief. Offensichtlich wartete der Diener darauf, dass die Tür geöffnet wurde.
Nichts passierte. Wieder klopfte der Diener.
Dann stieß plötzlich etwas mit dumpfem Geräusch gegen die Tür. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, und sie ging auf.
Mycroft Holmes stand im Türrahmen. Er versperrte mit seinem massigen Körper die Sicht auf den Raum dahinter und sah ziemlich verwirrt aus.
Er bewegte seine Hand nach oben, wie um sich an die Stirn zu fassen, und schien ebenso wie Sherlock, Crowe und der Diener von der Tatsache überrascht zu sein, dass sie ein Messer hielt.
Mycroft starrte auf das Messer, als hätte er es nie zuvor gesehen. Dann wandte er den Kopf, um in den Raum zurückzublicken. Dabei machte er einen Schritt zur Seite, so dass Sherlock an ihm vorbeisehen konnte.
Ebenso wie die anderen Räumlichkeiten des Clubs waren die Wände mit Holz getäfelt. Allerdings gab es keine Fenster. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch, um den herum gepolsterte Stühle symmetrisch angeordnet waren.
Auf einem der Stühle saß ein Mann. Dem sich ausbreitenden Blutfleck und der Art nach zu schließen, wie seine ausdruckslosen Augen den von der Decke hängenden Kronleuchter anstarrten, war er tot.
»Mycroft«, brachte Sherlock hervor.
Überraschung breitete sich im Clubraum aus wie eine leise sich kräuselnde Welle, gefolgt von missbilligendem Gezische angesichts seines eklatanten Regelverstoßes. Aber er kümmerte sich nicht darum. Er wollte einfach nur wissen, was geschehen war.
Der Diener wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Crowe schnalzte einmal mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, und blies in einer pantomimischen Geste in eine imaginäre Trillerpfeife. Der Diener nickte, drehte sich um und lief davon. Crowe packte Sherlock am Arm, zog ihn in das Besucherzimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Sherlock registrierte, dass die Rückseite der Tür schwer gepolstert war, vermutlich um zu verhindern, dass Gesprächsgeräusche in den Clubraum drangen. Mit noch immer verwirrtem Blick und dem Messer in der Hand wich Mycroft zurück.
»Ich ... verstehe nicht«, sagte er zögernd.
»Mister Holmes«, blaffte Crowe. »Sie müssen sich konzentrieren. Was ist passiert? Erzählen Sie uns alles!«
»Ich ... habe auf Sie gewartet«, erwiderte Mycroft. Seine Stimme gewann an Kraft, während er redete. »Mit Hilfe der Zugfahrpläne und unter Berücksichtigung des zu dieser Tageszeit üblichen Verkehrs zwischen Waterloo Station und dem Club hatte ich Ihrer beiden Ankunft vorausberechnet. Dann ertönte ein Klopfen an der Tür. Der Diener - Brinnell - brachte mir eine Karte auf einem Tablett. Offensichtlich wollte ein Mann mich sprechen. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, und wollte ihn schon wegschicken, als mein Blick auf ein paar Worte fiel, die auf die Rückseite der Karte gekritzelt waren. Es waren Worte, die ... mit denen ich im Laufe meiner Tätigkeit im Außenministerium schon einmal zu tun hatte. Worte von großer Bedeutung. Also habe ich Brinnell angewiesen, den Mann hierherzubringen, in den Besucherraum.«
Er hielt inne und runzelte die Stirn, als würde er versuchen, sich an eine überaus verzwickte Sache zu erinnern.
»Ich habe hier gewartet«, fuhr er schließlich fort. »Dann hörte ich ein Klopfen an der Tür. Anstatt den Besuch hereinzurufen, ging ich zur Tür, um sie persönlich zu öffnen. Das ist hier im Diogenes Club so üblich. Dadurch wird unerwünschtes Reden vermieden, eine Sache, die die meisten Mitglieder als unerfreulich empfinden. Draußen stand ein Mann.«
»Dieser Mann?«, hakte Crowe nach und zeigte auf den Körper, der auf dem Stuhl zusammengesunken war.
»Ja«, sagte Mycroft und zuckte bei dem Anblick zusammen. »Das ist er. Ich habe ihm bedeutet hereinzukommen, was er dann auch machte. Danach schloss ich die Tür hinter ihm und ...«
Seine Stimme brach ab. Seine Hand - diejenige, die nicht das Messer hielt - hob sich, als wollte er etwas an seiner Stirn betasten. »Das ist alles, woran ich mich erinnere. Jedenfalls, bis ich wieder ein Klopfen an der Tür hörte. Ich dachte, ich hätte es mit einem von jenen Momenten zu tun, die die Franzosen als Déjà-vu bezeichnen und bei denen man glaubt, dass etwas passiert, was sich zuvor schon einmal haargenau so ereignet hat. Ich öffnete also die Tür und sah Brinnell und erneut Besucher vor mir. Nur dass Sie es waren, also Sie und Sherlock. Ich war verwirrt und drehte mich um. In der Erwartung, den ersten Besucher hinter mir zu sehen.« Mycroft wies auf die Leiche im Stuhl. »Und das tat ich auch«, fuhr er fort. Eine Spur des trocken nüchternen Tons, den Sherlock von seinem Bruder sonst gewohnt war, schlich sich langsam wieder in Mycrofts Stimme. »Allerdings nicht so, wie ich erwartet hatte.«
»Mister Holmes«, sagte Crowe. »Nur der Vollständigkeit halber und weil die Polizei zweifellos gleich dieselbe Frage stellen wird: Haben Sie den Mann umgebracht? «
»Ich kann mich nicht erinnern, den Mann umgebracht zu haben«, antwortete Mycroft vorsichtig.
»Ich würde vorschlagen, dass Sie auf diese Frage das nächste Mal besser mit einem einfachen Nein antworten. Auch wenn das wohl zunächst nicht allzu viel bringen wird.« Crowe seufzte. »Kennen Sie einen guten Anwalt?«
»Der Diogenes Club hat einen in seinen Diensten«, erwiderte Mycroft. »Brinnell kann Ihnen Namen und Adresse geben.«
»Dann seien Sie, was immer auch in nächster Zukunft passieren mag, versichert, dass wir uns um den Diogenes- Anwalt kümmern und alles in unserer Macht Stehende unternehmen werden, damit Sie wieder auf freien Fuß kommen.«
Mycroft wandte sich um und warf einen Blick auf die Leiche. »Das könnte schwierig werden«, sagte er mit qualvoller Stimme. »Es gibt herzlich wenig Spuren. Und das bisschen, was es gibt, scheint mich zu belasten. «
»Du hast ihn nicht umgebracht«, sagte Sherlock in bestimmtem Ton. »Ich weiß nicht viel von dem, was hier passiert ist, aber so viel weiß ich doch.«
Mycroft lächelte zaghaft und klopfte ihm auf die Schulter. »Danke«, sagte er. »Das konnte ich jetzt gut gebrauchen.«
Ein Tumult draußen im Clubraum verriet ihnen, dass die Polizei im Anmarsch war.
»Ich schlage vor, Sie legen das Messer auf den Tisch«, ergriff Crowe das Wort. »Macht sich nie sehr gut, eine Waffe in der Hand zu haben, wenn die Polizei aufkreuzt. «
Mycroft trat an den Tisch und legte das Messer ab, gerade als die Tür aufflog und eine Gruppe blau uniformierter Männer hereinstürmte. Crowe trat ihnen entgegen und verdeckte so Mycrofts letzte Bewegung. »Es hat einen Mord gegeben«, sagte er. »Die Leiche ist drüben am Tisch, ebenso wie das Messer, mit dem das Verbrechen vermutlich verübt wurde.«
»Und wer sind Sie?«, fragte der leitende Constable.
»Mein Name ist Amyus Crowe. Und wie heißen Sie?«
»Ein ausländischer Gentleman also«, gab der Polizist nur zur Antwort und bedachte seine Begleiter mit einem vielsagenden Blick. »Waren Sie hier, als die Tat begangen wurde?«
»Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt«, sagte Crowe mit beherrschter Stimme.
»Ich bin Sergeant Coleman«, bequemte sich der Polizist jetzt zu antworten und drückte demonstrativ den Rücken durch. »Vielleicht könnten Sie dann jetzt auch auf meine Frage eingehen.« Er hielt kurz inne.
»Sir.«
»Ich war draußen vor der Tür«, erwiderte Crowe. »Zusammen mit diesem jungen Mann hier. Der Diener kann das bezeugen.«
»Und wie heißt der junge Mann?«
»Sherlock Holmes«, antwortete Sherlock.
»Und wer also war in diesem Raum?«, bohrte der Sergeant nach.
Crowe zögerte und zuckte kaum merklich zusammen. »Ich glaube, dieser Gentleman hier.« Er wies mit einem Nicken auf Mycroft.
Der Sergeant trat auf Mycroft zu. »Stimmt das, Sir?«, fragte er ihn.
Mycroft nickte. »Ich war im Raum«, erwiderte er mit fester Stimme.
»Und wie ist Ihr Name?«
»Mycroft Siger Holmes.«
»Und haben Sie diesen Mann getötet, Sir?«
»Nein, ich habe diesen Mann nicht getötet.«
Sherlock bemerkte, wie sich angesichts der Bestimmtheit in Mycrofts Stimme Crowes Lippen kaum merklich kräuselten. Der Sergeant sah erstaunt aus.
»Ich fürchte, Sir, dass ich Sie festnehmen muss. Sie werden zu Scotland Yard gebracht, wo man Sie unter Eid vernehmen wird.« Er sah zunächst noch einmal kurz zur Leiche hinüber und blickte dann einen der Constables an. »Na schön, lassen Sie nach dem Pathologen schicken. Der alte Murdoch hat heute Dienst. Sehen Sie zu, dass er herkommt und die Leiche abholt. Und stellt das Messer sicher. Das werden wir dann dem Richter präsentieren.«
Die Worte dröhnten wie eine riesige, misstönende Glocke in Sherlocks Ohren. Mit Entsetzen sah er zu, wie Mycroft an der Schulter gepackt und anschließend vom Tatort quer durch den Clubraum zur Eingangshalle geführt wurde. Einer der Constables packte das Messer behutsam am Griff und trug es davon.
»Mister Crowe ...«, begann Sherlock.
»Keine Zeit!«, blaffte Crowe. »Ich verstehe, dass du jetzt aufgewühlt bist. Das ist verständlich. Das Problem ist nur, dass, wenn wir den Namen deines Bruders wieder reinwaschen und ihn vor dem Gefängnis bewahren wollen, wir jetzt schnell handeln müssen. Schnell und mit absoluter Präzision. Emotionen werden uns daran nur hindern und unser Urteilsvermögen trüben. Verstehst du, was ich sage?«
»Ja«, keuchte Sherlock.
»Versuche, Kummer und Angst zu unterdrücken. Stell dir vor, du wickelst deine Gefühle in eine Decke ein, die du dann zubindest und irgendwo in einem fernen Winkel deines Geistes verstaust. Ich verlange nicht von dir, dass du sie für immer vergisst, sondern nur jetzt für den Moment. Du kannst sie später wieder hervorholen, wenn alles vorbei ist, und dich in sie hüllen, solange du willst. Aber nicht jetzt.«
»Ja, in Ordnung.« Sherlock schloss die Augen und schickte sich an, Crowes Ratschlag in die Tat umzusetzen. Er versuchte, sich den in ihm tosenden Wirbel der Gefühle als feurigen Ball vorzustellen, der in seinem Kopf schwebte. Dann malte er sich einen feuerfesten Stoff aus - so schwarz wie die Nacht -, der sich um den Feuerball wickelte. Im nächsten Moment tauchten plötzlich Seile und Ketten aus der Dunkelheit auf und legten sich um den Stoff. Wie von Geisterhand wurden sie immer straffer gezogen, bis der Ball komplett eingewickelt und fest verschnürt war. Anschließend stellte er sich vor, wie der Ball in die schattenerfüllte Finsternis hinabschwebte, bis er in einem staubigen Schrank landete, der sich im hintersten Winkel seines Geistes befand. Dann verschloss Sherlock die Tür.
Er schlug die Augen auf und machte einen tiefen Atemzug. Er fühlte sich besser. Die Panik war fast verschwunden. Er wusste, dass all diese Gefühle noch da waren, verborgen in diesem Schrank. Doch im Moment empfand er sie nicht mehr. Er konnte sie wieder hervorholen, wann immer er wollte. Aber jetzt gerade war er sich gar nicht so sicher, ob er das jemals tun würde.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Was sollen wir jetzt machen?«
»Wir müssen die Leiche untersuchen und den Raum.
Ich übernehme das Erste, du das Zweite.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Andrew Lane
Andrew Lane ist der Autor von mehr als zwanzig Büchern, unter anderem Romanen zu bekannten TV-Serien wie 'Doctor Who' und 'Torchwood'. Einige davon hat er unter Pseudonym veröffentlicht. Andrew Lane lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und einer riesigen Sammlung von Sherlock-Holmes-Büchern in Dorset. Christian Dreller, geboren 1963 in Neumünster, studierte Slawistik und Geschichte. Er arbeitete in Kinder- und Comicbuchverlagen und ist unter anderem als Übersetzer, Autor und Lektor tätig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrew Lane
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2016, 7. Aufl., 352 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christian Dreller
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596196809
- ISBN-13: 9783596196807
- Erscheinungsdatum: 22.04.2013
Kommentar zu "Eiskalter Tod / Young Sherlock Holmes Bd.3"