Erinnerung an einen schmutzigen Engel
Roman
Ein neuer Roman auf Basis einer wahren Geschichte vom schwedischen Bestsellerautor, der sowohl für seine Krimis als auch für seine großartigen Romane geliebt wird.
Schweden, Anfang des 20. Jahrhunderts: Das Leben der...
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Produktinformationen zu „Erinnerung an einen schmutzigen Engel “
Ein neuer Roman auf Basis einer wahren Geschichte vom schwedischen Bestsellerautor, der sowohl für seine Krimis als auch für seine großartigen Romane geliebt wird.
Schweden, Anfang des 20. Jahrhunderts: Das Leben der jungen Schwedin Hanna ist geprägt von Armut, Hunger und Kälte. Das Schicksal führt sie in die portugiesische Kolonie Mosambik. Dort kommt sie im Hotel O Paradiso unter - das sich als Bordell entpuppt. Hanna erbt völlig unerwartet ein großes Vermögen und schafft es, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Schließlich wird sie zur Leiterin des Bordells und ergreift immer wieder Partei für die schwarzen Prostituierten. Doch das wird nicht gerne gesehen. Und eines Tages verschwindet sie spurlos.
Henning Mankell ist den wenigen überlieferten Dokumenten nachgegangen, die die Lebensgeschichte dieser besonderen und außergewöhnlichen Frau belegen.
Klappentext zu „Erinnerung an einen schmutzigen Engel “
Schweden, Anfang 20. Jahrhundert: Die junge mittellose Hanna muss als älteste von fünf Geschwistern ihr Heimatland verlassen und kommt in die portugiesische Kolonie Mocambique. Sie wird dort ein Vermögen erben, ein Bordell leiten und einige Jahre später spurlos wieder verschwinden. Auf der Grundlage weniger überlieferter Dokumente hat Bestsellerautor Henning Mankell einen spannenden, farbenprächtigen Roman über eine außergewöhnliche Frau geschrieben, die ihren eigenen Weg zwischen den weißen Rassisten und der schwarzen Bevölkerung in Afrika finden muss.
Lese-Probe zu „Erinnerung an einen schmutzigen Engel “
Erinnerung an einen schmutzigen Engel von Henning Mankell ... mehr
Neun Stunden später, am 23. April 1904, verließ die Lovisa mit dem Ziel Perth den Kai.
Mit dem Nebelhorn tutete das Schiff seinen Abschied. Hanna stand an der Reling am Heck und hatte das Gefühl, da unten am Kai zurückgeblieben zu sein.
Einen Teil von sich selbst hatte sie bestimmt zurückgelassen. Wer sie jetzt war, wusste sie nicht. Das würde die Zukunft, ungewiss, unbekannt, erweisen.
Sie stellte sich an die Kombüse, unter ein hervorspringendes Dach, und schaute auf den wirbelnden Schaum der Schiffsschraube. Schneetreiben, dachte sie. Jetzt bin ich unterwegs in eine Welt, in der es nie schneit, wo es eine Wüste gibt, in der trockener Sand in einer Hitze wirbelt, die ich mir nicht vorstellen kann.
Plötzlich stand der Steuermann neben ihr. Später würde sie sich daran erinnern, dass sie gleich seine Nägel bemerkt hatte. Sie waren sorgfältig geschnitten und sauber, und sie dachte daran, wie Elin sich über die Nägel ihres Vaters gebeugt hatte und sie mit unendlicher Zärtlichkeit und Mühe gleichmäßig geschnitten und gesäubert hatte.
Sie fragte sich flüchtig, wer die Nägel des Steuermanns Lundmark geschnitten hatte. Svartman hatte etwas gesagt, woraus sie geschlossen hatte, Steuermann Lundmark sei unverheiratet. Svartman hatte sie auch gefragt, ob sie einen Verlobten habe, der sie erwarte. Als sie das verneinte, wirkte er zufrieden. Er hatte gemurmelt, es sei besser, wenn nicht allzu viele aus der Besatzung Familie hatten.
»Wenn etwas geschieht«, hatte er hinzugefügt. »Das Meer verspricht uns nichts anderes als das Unerwartete.«
Lundmark sah sie lächelnd an. »Willkommen an Bord«, sagte er. Sie betrachtete ihn verdutzt. Es war Forsman, der da redete. Lundmark imitierte seine Stimme mit großer Treffsicherheit. »Du klingst wie er«, sagte sie. »Ich kann, wenn ich will«, sagte Lundmark. »Auch in einem dritten Steuermann kann sich eine Reederstimme verbergen.«
Ein ferner Ruf von der Brücke unterbrach das Gespräch. Der schwarze Rauch aus den Schornsteinen senkte sich auf das Deck. Sie musste sich umdrehen, damit er nicht in den Augen brannte.
Als Küchenhilfe hatte sie einen fünfzehnjährigen Jungen, der Lars hieß. Auch für ihn war es die erste Reise. Er war elternlos und ängstlich. Als er ihr die Hand gab, spürte sie, dass er sie wegziehen würde, falls sie zu fest drückte.
Kapitän Svartman hatte braune Bohnen mit Speck für diesen ersten Tag bestellt. »Ich bin nicht abergläubisch«, hatte er gesagt. »Aber meine besten Reisen haben immer damit angefangen, dass die Mannschaft am ersten Tag braune Bohnen mit Speck bekommen hat.«
Abends, als sie alles für das morgige Frühstück vorbereitet hatte, ging sie hinaus an Deck. Die Schären lagen jetzt hinter ihnen, und sie steuerten nach Süden. Die Sonne ging hinter den Hügelketten an Steuerbord unter.
Plötzlich befand sich Lundmark wieder an ihrer Seite. Zusammen betrachteten sie schweigend die Sonne, die langsam verschwand.
»Steuerbord«, sagte er unvermittelt. »Alles hat eine Erklärung. Ein komisches Wort, das doch etwas bedeutet. Früher stand man mit einem Steuerruder hinten am Heck. Das hielt man auf der rechten Seite, weil man dann die Kraft des rechten Arms einsetzen konnte, die meist größer ist als die des linken. So entstand das Wort Steuerbord.« »Und Backbord?«, fragte sie.
Lundmark schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber ich werde es herausfinden.«
Es wurde bald zu einer Gewohnheit. Jeden Abend standen Hanna und der Steuermann an Deck und sprachen miteinander. Wenn es regnete oder zu stark stürmte, suchten sie Schutz unter dem Vorsprung an der Kombüse.
Warum es Backbord hieß, darauf würde sie jedoch niemals eine Antwort bekommen.
Das ist das Bemerkenswerteste, dachte sie: Jeden Morgen, wenn ich in meiner Koje aufwache, bin ich weitergereist. Ich befinde mich nicht mehr dort, wo ich eingeschlafen bin.
Aber noch etwas hatte sich für sie verändert. Sie hatte begonnen, eine gewisse Erwartung vor den Treffen mit Lundmark zu empfinden. Nach und nach erzählten sie einander, wer sie waren, woher sie kamen, und an dem Abend, an dem er seinen Arm um sie legte, zuckte sie nicht zurück.
Da befanden sie sich im Ärmelkanal und tasteten sich durch einen Nebel, der wie eine Wand vor ihnen stand. Nebelhörner brüllten aus verschiedenen Richtungen. Sie stellte sich Tiere vor, die sich verirrt hatten und jetzt versuchten, wieder zur Herde zu finden. Kapitän Svartman stand während der Zeit des Nebels stets auf der Kommandobrücke und hatte einen zusätzlichen Ausguck beordert. Hin und wieder tauchten schwarze Schiffe mit schlaffen Segeln oder mit rauchenden Schornsteinen aus all dem Weißen auf und glitten vorbei, manchmal viel zu nah, das konnte sie Svartman ansehen, der den Kopf schüttelte und befahl, die Geschwindigkeit noch weiter zu drosseln.
Zwei Tage und zwei Nächte kamen sie kaum vorwärts. Alle vorhandenen Laternen und Leuchten wurden an Deck entzündet. Hanna fiel es schwer zu schlafen, und oft verließ sie ihre Kabine. Aber sie achtete immer darauf, nicht im Weg zu sein.
Kapitän Svartman bat sie am zweiten Tag, nach dem Schiffsjungen zu suchen, der verschwunden war. Sie fand ihn in der Vorratskammer, wo er sich versteckt hatte und vor Angst zitterte. Sie tröstete ihn und nahm ihn mit an Deck, wo Svartman ihm eine Laterne in die Hand drückte.
»Arbeit heilt«, sagte er.
Nach ein paar Tagen löste sich der Nebel auf. Sie nahmen wieder Fahrt auf. Hanna hörte von etwas, das Golf von Biskaya hieß und das sie bald passieren würden.
Lundmark begann eines Abends, von seinen Eltern zu erzählen. Er war das einzige Kind eines Kaufmanns in Timrå, der in Zahlungsschwierigkeiten geraten war und die Armut und die Not kaum von den Wänden des Hauses hatte fernhalten können. Seine Mutter war eine schweigsame Frau, die sich nie mit der Tatsache abgefunden hatte, dass sie nur ein einziges Kind zur Welt gebracht hatte. Das war für sie eine Enttäuschung, aber fast auch eine Schande.
Er selbst hatte sich immer nach dem Meer gesehnt. War ständig an den Stränden entlanggelaufen, um die Schiffe am Horizont zu beobachten. Als Dreizehnjähriger hatte er sich als Jungmann auf einem Segelfrachtschiff verdingt, das in Linienfahrt zwischen Sundsvall und Söderhamn verkehrte. Sein Vater und seine Mutter hatten es ihm auszureden versucht. Sie hatten sogar damit gedroht, ihm den Landpolizeikommissar nachzuschicken, wenn er sich davonmachte. Aber als er es dann doch tat, war es, als hätten sie resigniert, und sie ließen ihn dem Weg folgen, für den er sich entschieden hatte.
Ehe Hanna an diesem Abend einschlief, dachte sie an das, was der Steuermann erzählt hatte. Es war etwas Vertrauliches, wie es bisher nur Berta mitzuteilen bereit gewesen war.
Am folgenden Tag fuhr er fort zu erzählen. Aber er fragte auch nach dem Leben, das sie geführt hatte, ehe sie in Forsmans Haus und dann zur Lovisa gekommen war. Sie meinte, sie habe nichts zu sagen. Aber er hörte sich an, was sie trotzdem erzählte, und schien aufrichtig interessiert.
So setzten sie ihre Gespräche fort, Abend für Abend, wenn der Sturm nicht zu stark war und Kapitän Svartman Lundmark nicht beauftragte, Aufgaben außerhalb des üblichen Arbeitsablaufs zu übernehmen.
Hanna merkte, dass sie etwas für Lundmark empfand, was sie noch nicht kannte. Es war nicht mit dem zu vergleichen, was sie mit Elin und den Geschwistern verbunden hatte. Auch nicht mit der Nähe, die sie mit Berta geteilt hatte. Das, was sie jetzt fühlte, ging tiefer. Jeder Augenblick, der in der Erwartung verging, dass er hinter der Kombüse auftauchte, wurde zu einer immer stärkeren Sehnsucht. Eines Abends gab er ihr eine kleine Holzskulptur, die eine Seejungfrau darstellte. Er hatte sie auf einer früheren Reise in einer italienischen Hafenstadt gekauft und sie auf alle Schiffe mitgenommen, auf denen er angeheuert hatte.
»Ich kann sie nicht annehmen«, sagte sie.
»Ich will, dass sie dir gehört«, sagte Lundmark. »Genau jetzt möchte ich das unbedingt.« Sie blickten verlegen in die Dunkelheit. Schließlich wünschte Hanna ihm gute Nacht und ging in ihre Kajüte. Als sie später die Tür einen Spalt weit aufmachte, sah sie ihn noch immer an der Reling stehen. Breitbeinig, die Uniformmütze in der Hand.
Am nächsten Morgen schuppte sie den frisch gefangenen Fisch, den die Besatzung zum Abendessen bekommen sollte, als ein Schatten über sie fiel. Als sie aufsah, war es Lundmark. Er kniete sich hin, nahm ihre Hand, die voll glänzender Schuppen war, und fragte, ob sie ihn heiraten wolle.
Bis zu diesem Augenblick hatten sie nichts anderes getan, als miteinander zu sprechen. Aber alle an Bord hatten es so aufgefasst, dass sie ein Paar waren, das hatte sie verstanden, da keiner von all den anderen Männern sich ihr genähert hatte.
Hatte sie darauf gewartet? Hatte sie es erhofft? Für einen kurzen Moment war ihr wohl der Gedanke gekommen, dass er es war, mit dem sie reiste, nicht das Schiff mit seiner Ladung von Brettern.
Sie sagte sofort ja. Ihr Entschluss war in einem Augenblick gefasst. Er hockte vor ihr, küsste ihr Gesicht und stand dann auf, um zur Besprechung der Steuermänner mit dem Kapitän zu gehen.
In Alger legten sie am Kai an, um zu bunkern. Der schwedische Konsul, ein Franzose, der in seiner Jugend Stockholm besucht und sich in die Stadt verliebt hatte, trieb einen englischen Methodistenpfarrer auf, der bereit war, sie zu trauen. Kapitän Svartman stellte die notwendigen Dokumente aus und war selbst Trauzeuge, zusammen mit dem Konsul und seiner Frau, die während der Zeremonie vor Rührung weinte. Danach nahm sie der Kapitän mit zu einem Fotografen und bezahlte das Hochzeitsbild aus eigener Tasche.
Am gleichen Abend zog sie in Lundmarks Kabine. Der zweite Steuermann, Björnsson, siedelte in die enge Krankenkabine des Schiffs um. Hanna würde ihren eigenen Raum behalten, den wollte ihr Kapitän Svartman nicht nehmen. Aber sollte jemand ernstlich krank werden, würde er mit Beschlag belegt. Kapitän Svartman betrachtete ihre Ehe mit Wohlwollen. Aber da sie Alger spät am selben Abend verließen, wurde ihre Hochzeitsnacht zerrissen. Es wurden Schiffswächter eingesetzt, und Lundmark musste seine Schicht antreten. Für Kapitän Svartman wäre es nie in Frage gekommen, ihm in dieser Nacht freizugeben. So weit reichte sein Wohlwollen nicht. Lundmark hätte sich auch nie vorstellen können, darum zu bitten.
So war Hanna eine Ehefrau. Frau Lundmark. Beide waren schüchtern und unsicher. Der hochgewachsene Steuermann verwandelte sich in ein Kind, ängstlich darauf bedacht, nicht zu schaden oder zu verletzen. Sie näherten sich einander vorsichtig, da sie sich noch kaum kannten. Die Liebe war leise, noch keine offene Leidenschaft.
Als sie durch den Suezkanal fuhren, hatten sie eine der wenigen gemeinsamen Freiwachen. Sie standen nebeneinander und betrachteten die Ufer, die hohen Palmen, die Kamele, die langsam dahinschaukelten, die nackten Kinder, die in das Wasser des Kanals tauchten.
Hanna gewöhnte sich nur schwer daran, mit ihm an ihrer Seite zu schlafen. Die Geschwister oder Berta um sich zu haben, das war eine Sache. Jetzt lag da ein großer, schwerer Mann, der sich oft bewegte und sie dadurch weckte.
Sie empfand sowohl Geborgenheit wie Unruhe darüber, dort zu sein, wo sie war, mit ihm, aber gleichzeitig war da eine heftige Sehnsucht zurück zu dem Leben, das sie im fernen Flusstal geführt hatte. In den Nächten, nach der Liebe, sprachen sie in der Dunkelheit miteinander, immer leise, da die Trennwände dünn waren.
Jetzt bekannte er ihr in der Dunkelheit und Wärme, dass er eines Tages versuchen wollte, Kapitän auf seinem eigenen Schiff zu werden. »Ich werde das erreichen, wenn du mir hilfst«, sagte er. »Jetzt, wo es dich gibt, glaube ich, dass alles möglich ist.«
Sie nahm seine Hand. Dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Und verspürte plötzlich Lust und Sehnsucht, Elin von all dem zu erzählen, was jetzt in ihrem Leben geschah.
Damals, als Elin sagte, Hanna müsse zur Küste fahren, hatte sie recht gehabt. Aber was würde sie über die Reise denken, auf der Hanna sich jetzt befand?
Ich muss schreiben, dachte Hanna. Eines Tages wird Elin ein Brief erreichen. Ich werde unser Hochzeitsbild beilegen. Sie muss den Mann sehen, den ich geheiratet habe.
Sie wurde von einer Frage aus ihren Erinnerungen gerissen, die wie eine Brücke zwischen dem Vergangenen und dem Jetzt stand: Wusste sie denn, wer sie heute war? Zwei Monate waren vergangen, seit sie Sundsvall verlassen hatte, Lundmarks Frau geworden war und nun auf seine Bestattung wartete.
Sie hatte keine Antwort darauf, wer sie war oder wer sie geworden war. Das Schiff lag regungslos in der dampfenden Hitze. Der Druck in den Kesseln wurde niedrig gehalten, in Erwartung der Seebestattung. Danach würde wieder volle Fahrt voraus angeordnet werden, und die Heizer würden erneut Kohlen in die Feuerbuchsen schaufeln.
Aber jetzt hatten sich die verrußten Männer aus dem Maschinenraum an Deck begeben und den schlimmsten Schmutz abgewaschen. Nur ein Mann war da unten in der Hitze geblieben, um aufzupassen, dass kein Feuer ausbrach und keiner der Kessel erlosch.
Kapitän Svartman kam selbst, um Hanna abzuholen. Er klopfte vorsichtig an die Tür der Kabine, die sie mit ihrem toten Mann geteilt hatte. Jetzt würde sie allein dort schlafen, dachte Svartman. Was soll ich tun, wenn sie sich vor der Einsamkeit fürchtet? Was mache ich mit einer Witwe an Bord?
Er öffnete die Tür. Sie saß auf dem Rand der Koje und starrte auf ihre Hände. Gerade hatte sie sich die lange Reise ins Gedächtnis gerufen, die in einem fernen Flusstal begonnen hatte. Sie hatte einen Mann getroffen, sie waren ein Paar geworden. Und jetzt gab es ihn nicht mehr.
Zwei Monate hatten sie miteinander gehabt. Dann war das plötzliche Fieber, das ihn nach dem Landgang im Sudan befallen hatte, sein Tod geworden. Aber sie war noch da. Und jetzt sollte er bestattet werden.
Als sie sich von der Koje erhob, fühlte sie sich, als wäre sie zu ihrer eigenen Bestattung unterwegs. Oder zu ihrer Hinrichtung. Abermals war sie allein geblieben, diesmal in einer schmerzlicheren Situation als je zuvor. Warum sollte sie zur anderen Seite der Welt fahren, wenn ihr Mann nicht mehr da war? Kapitän Svartman ging zur Steuerbordseite des Schiffs, die jetzt zum Land hin lag, der afrikanischen Küste, drüben im Sonnendunst. Nicht einmal mit dem Fernglas hätte sie Einzelheiten wahrnehmen können.
Auf der Brücke hatte ein Ausguck Dienst, einer der jüngeren Matrosen. Alle übrigen hatten sich an dem Sarg aus Segeltuch versammelt, der auf zwei Böcken an der Reling stand. Das graue Tuch war in eine schwedische Flagge gehüllt. Sie war fleckig und zerfranst. Hanna dachte, dass es wohl die einzige Flagge an Bord war. Kapitän Svartman war kein Mann, der im voraus einplante, dass seine Besatzungsleute sterben könnten. Aber denjenigen, die sich unvorsichtig benahmen oder gegen seine Regeln verstießen, konnte es übel ergehen. Wie dem Steuermann, der jetzt da auf den Böcken lag und bald im Meer versenkt werden sollte.
Hanna sah die Männer an, die in einem Halbkreis versammelt waren. Keiner von ihnen vermochte ihrem Blick zu begegnen. Der Tod machte sie verlegen und unsicher.
Sie sah zum Himmel und zur Sonne hinauf, die brannte, obwohl es noch früh am Morgen war. In Gedanken meinte sie plötzlich wieder in dem Schlitten zu sitzen, hinter Forsmans breitem Rücken.
Damals die Kälte, dachte sie. Jetzt die Hitze. Was ist schlimmer?
Auch die Bewegung: Damals ein Schlitten, jetzt ein Schiff, das sich kaum merklich auf der Dünung hob und senkte. Kapitän Svartman trug seine Uniform und hatte das Buch mit den Anweisungen für eine Seebestattungszeremonie in der Hand. Er las mit eintöniger, aber kräftiger Stimme. Es gab bei ihm keinen Zweifel angesichts seiner Aufgabe als Kapitän.
Hanna dachte, Svartman sei wohl vor allem zornig darüber, dass jemand gegen seine Ermahnungen verstoßen hatte und an Land gegangen war, obwohl er hätte wissen müssen, welcher Gefahr er sich aussetzte. Der Mann, der jetzt bestattet werden sollte, hätte nicht sterben müssen. Er war unvernünftig gewesen und hatte nicht darauf gehört, was Kapitän Svartman ihm gesagt hatte.
Hanna ahnte, dass Kapitän Svartman nicht nur um seinen Steuermann trauerte. Er fühlte sich auch verraten. Die Zeremonie war kurz. Kapitän Svartman schweifte nicht ab, sagte nichts Persönliches. Er verstummte, als er laut der Instruktion fertig gesprochen hatte, und nickte seinem zweiten Steuermann zu, der eine gute Singstimme hatte und einen Choral anstimmte. Eigenartigerweise hatte er einen Weihnachtschoral gewählt.
Glänz über Meer und Strand, Stern in der Ferne. Die Männer fielen ein, unsicher, hier und da ein krächzender Ton. Hanna betrachtete sie verstohlen. Einige blieben auch stumm.
Wer von ihnen dachte an den Mann, der tot war? Einige taten es gewiss. Andere, vielleicht die meisten, verspürten Dankbarkeit dafür, dass sie selbst noch am Leben waren.
Als der Choral zu Ende war, nickte Kapitän Svartman ihr zu, vorzutreten. Er hatte ihr erklärt, dass es kaum Regeln oder Traditionen gab, wie eine Witwe in einer Besatzung bei einer Seebestattung den letzten Abschied von ihrem Mann nehmen sollte. »Leg die Hand auf das Segeltuch«, hatte er vorgeschlagen. »Da es hier an Bord keine Blumen gibt, muss die Hand das Zeichen für den letzten Abschied sein.«
Er hätte eine seiner Topfpflanzen opfern können, dachte sie. Eine von den Blumen abpflücken und sie mir geben. Aber das hatte er nicht gewollt. Sie tat, was er ihr gesagt hatte, legte ihre Hand auf die Flagge. Versuchte, Lundmark vor sich zu sehen. Aber obwohl er erst seit so kurzer Zeit tot war, fiel es ihr bereits schwer, sein Gesicht heraufzubeschwören.
Der Tod ist wie ein Nebel, dachte sie, der sacht denjenigen einhüllt, der uns verlässt.
Sie trat einen Schritt zurück, Kapitän Svartman nickte aufs neue, vier Matrosen kamen nach vorn, hoben das Brett und kippten den Toten über Bord. Kapitän Svartman hatte seine stärksten Matrosen ausgewählt, da das Segeltuch nicht nur einen toten Körper barg, sondern auch viele Kilo Senker, die dafür sorgen sollten, dass der Sarg aus Segeltuch wirklich zum Meeresboden sank.
1935 Meter. Ihr Mann bekam ein unendlich viel tieferes Grab, als man es je an Land schaufeln könnte. Fast dreißig Minuten würden vergehen, ehe der tote Körper den Boden erreichte. Halvorsen hatte ihr erzählt, dass Gegenstände in großen Tiefen sehr langsam sanken.
Die Seebestattung war vorüber, die Besatzung kehrte zu ihren Aufgaben zurück. Nur wenige Minuten darauf bebte es im Maschinenraum. Das Schiff bewegte sich, der Aufenthalt war beendet.
Hanna stand an der Reling. Nichts war mehr im Wasser zu sehen. Sie drehte sich um und ging direkt zur Kombüse, wo der Schiffsjunge angefangen hatte, das Mittagessen vorzubereiten. Sie band ihre Schürze um. Da bemerkte sie, dass ein Jungmann abkommandiert worden war, um in der Küche zu helfen. »Auch wenn mein Mann tot ist, tue ich meine Pflicht«, sagte sie.
Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern stieg das Fallreep hinunter zur Vorratskammer, um Kartoffeln für die Mahlzeiten zu holen, die noch an diesem Tag serviert werden sollten.
Die Kartoffeln waren geschält. Sie kippte die Schalen über Bord und ging zurück in die Kombüse. Halvorsen war dabei, einen Schrank mit Regalen für Töpfe und Bratpfannen zu reparieren. Der beste Freund ihres Mannes an Bord. Auch er ist einsam geworden, dachte sie. Auch er fragt sich, warum der Steuermann bei dieser unglückseligen Gelegenheit an Land gehen musste.
Zusammen mit dem Schiffsjungen und dem Jungmann setzte sie ihre Arbeit fort. Doch als Halvorsen seine Reparatur beendet hatte, berührte er sie leicht an der Schulter und gab ihr ein Zeichen, mit ihm nach draußen zu kommen. Sie bat den Schiffsjungen, ein Auge auf ihre Töpfe zu haben, und folgte ihm. Er schaute auf die Planken, als er mit ihr sprach, und sah ihr nicht in die Augen. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte er.
Übersetzung: Verena Reichel
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
Neun Stunden später, am 23. April 1904, verließ die Lovisa mit dem Ziel Perth den Kai.
Mit dem Nebelhorn tutete das Schiff seinen Abschied. Hanna stand an der Reling am Heck und hatte das Gefühl, da unten am Kai zurückgeblieben zu sein.
Einen Teil von sich selbst hatte sie bestimmt zurückgelassen. Wer sie jetzt war, wusste sie nicht. Das würde die Zukunft, ungewiss, unbekannt, erweisen.
Sie stellte sich an die Kombüse, unter ein hervorspringendes Dach, und schaute auf den wirbelnden Schaum der Schiffsschraube. Schneetreiben, dachte sie. Jetzt bin ich unterwegs in eine Welt, in der es nie schneit, wo es eine Wüste gibt, in der trockener Sand in einer Hitze wirbelt, die ich mir nicht vorstellen kann.
Plötzlich stand der Steuermann neben ihr. Später würde sie sich daran erinnern, dass sie gleich seine Nägel bemerkt hatte. Sie waren sorgfältig geschnitten und sauber, und sie dachte daran, wie Elin sich über die Nägel ihres Vaters gebeugt hatte und sie mit unendlicher Zärtlichkeit und Mühe gleichmäßig geschnitten und gesäubert hatte.
Sie fragte sich flüchtig, wer die Nägel des Steuermanns Lundmark geschnitten hatte. Svartman hatte etwas gesagt, woraus sie geschlossen hatte, Steuermann Lundmark sei unverheiratet. Svartman hatte sie auch gefragt, ob sie einen Verlobten habe, der sie erwarte. Als sie das verneinte, wirkte er zufrieden. Er hatte gemurmelt, es sei besser, wenn nicht allzu viele aus der Besatzung Familie hatten.
»Wenn etwas geschieht«, hatte er hinzugefügt. »Das Meer verspricht uns nichts anderes als das Unerwartete.«
Lundmark sah sie lächelnd an. »Willkommen an Bord«, sagte er. Sie betrachtete ihn verdutzt. Es war Forsman, der da redete. Lundmark imitierte seine Stimme mit großer Treffsicherheit. »Du klingst wie er«, sagte sie. »Ich kann, wenn ich will«, sagte Lundmark. »Auch in einem dritten Steuermann kann sich eine Reederstimme verbergen.«
Ein ferner Ruf von der Brücke unterbrach das Gespräch. Der schwarze Rauch aus den Schornsteinen senkte sich auf das Deck. Sie musste sich umdrehen, damit er nicht in den Augen brannte.
Als Küchenhilfe hatte sie einen fünfzehnjährigen Jungen, der Lars hieß. Auch für ihn war es die erste Reise. Er war elternlos und ängstlich. Als er ihr die Hand gab, spürte sie, dass er sie wegziehen würde, falls sie zu fest drückte.
Kapitän Svartman hatte braune Bohnen mit Speck für diesen ersten Tag bestellt. »Ich bin nicht abergläubisch«, hatte er gesagt. »Aber meine besten Reisen haben immer damit angefangen, dass die Mannschaft am ersten Tag braune Bohnen mit Speck bekommen hat.«
Abends, als sie alles für das morgige Frühstück vorbereitet hatte, ging sie hinaus an Deck. Die Schären lagen jetzt hinter ihnen, und sie steuerten nach Süden. Die Sonne ging hinter den Hügelketten an Steuerbord unter.
Plötzlich befand sich Lundmark wieder an ihrer Seite. Zusammen betrachteten sie schweigend die Sonne, die langsam verschwand.
»Steuerbord«, sagte er unvermittelt. »Alles hat eine Erklärung. Ein komisches Wort, das doch etwas bedeutet. Früher stand man mit einem Steuerruder hinten am Heck. Das hielt man auf der rechten Seite, weil man dann die Kraft des rechten Arms einsetzen konnte, die meist größer ist als die des linken. So entstand das Wort Steuerbord.« »Und Backbord?«, fragte sie.
Lundmark schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber ich werde es herausfinden.«
Es wurde bald zu einer Gewohnheit. Jeden Abend standen Hanna und der Steuermann an Deck und sprachen miteinander. Wenn es regnete oder zu stark stürmte, suchten sie Schutz unter dem Vorsprung an der Kombüse.
Warum es Backbord hieß, darauf würde sie jedoch niemals eine Antwort bekommen.
Das ist das Bemerkenswerteste, dachte sie: Jeden Morgen, wenn ich in meiner Koje aufwache, bin ich weitergereist. Ich befinde mich nicht mehr dort, wo ich eingeschlafen bin.
Aber noch etwas hatte sich für sie verändert. Sie hatte begonnen, eine gewisse Erwartung vor den Treffen mit Lundmark zu empfinden. Nach und nach erzählten sie einander, wer sie waren, woher sie kamen, und an dem Abend, an dem er seinen Arm um sie legte, zuckte sie nicht zurück.
Da befanden sie sich im Ärmelkanal und tasteten sich durch einen Nebel, der wie eine Wand vor ihnen stand. Nebelhörner brüllten aus verschiedenen Richtungen. Sie stellte sich Tiere vor, die sich verirrt hatten und jetzt versuchten, wieder zur Herde zu finden. Kapitän Svartman stand während der Zeit des Nebels stets auf der Kommandobrücke und hatte einen zusätzlichen Ausguck beordert. Hin und wieder tauchten schwarze Schiffe mit schlaffen Segeln oder mit rauchenden Schornsteinen aus all dem Weißen auf und glitten vorbei, manchmal viel zu nah, das konnte sie Svartman ansehen, der den Kopf schüttelte und befahl, die Geschwindigkeit noch weiter zu drosseln.
Zwei Tage und zwei Nächte kamen sie kaum vorwärts. Alle vorhandenen Laternen und Leuchten wurden an Deck entzündet. Hanna fiel es schwer zu schlafen, und oft verließ sie ihre Kabine. Aber sie achtete immer darauf, nicht im Weg zu sein.
Kapitän Svartman bat sie am zweiten Tag, nach dem Schiffsjungen zu suchen, der verschwunden war. Sie fand ihn in der Vorratskammer, wo er sich versteckt hatte und vor Angst zitterte. Sie tröstete ihn und nahm ihn mit an Deck, wo Svartman ihm eine Laterne in die Hand drückte.
»Arbeit heilt«, sagte er.
Nach ein paar Tagen löste sich der Nebel auf. Sie nahmen wieder Fahrt auf. Hanna hörte von etwas, das Golf von Biskaya hieß und das sie bald passieren würden.
Lundmark begann eines Abends, von seinen Eltern zu erzählen. Er war das einzige Kind eines Kaufmanns in Timrå, der in Zahlungsschwierigkeiten geraten war und die Armut und die Not kaum von den Wänden des Hauses hatte fernhalten können. Seine Mutter war eine schweigsame Frau, die sich nie mit der Tatsache abgefunden hatte, dass sie nur ein einziges Kind zur Welt gebracht hatte. Das war für sie eine Enttäuschung, aber fast auch eine Schande.
Er selbst hatte sich immer nach dem Meer gesehnt. War ständig an den Stränden entlanggelaufen, um die Schiffe am Horizont zu beobachten. Als Dreizehnjähriger hatte er sich als Jungmann auf einem Segelfrachtschiff verdingt, das in Linienfahrt zwischen Sundsvall und Söderhamn verkehrte. Sein Vater und seine Mutter hatten es ihm auszureden versucht. Sie hatten sogar damit gedroht, ihm den Landpolizeikommissar nachzuschicken, wenn er sich davonmachte. Aber als er es dann doch tat, war es, als hätten sie resigniert, und sie ließen ihn dem Weg folgen, für den er sich entschieden hatte.
Ehe Hanna an diesem Abend einschlief, dachte sie an das, was der Steuermann erzählt hatte. Es war etwas Vertrauliches, wie es bisher nur Berta mitzuteilen bereit gewesen war.
Am folgenden Tag fuhr er fort zu erzählen. Aber er fragte auch nach dem Leben, das sie geführt hatte, ehe sie in Forsmans Haus und dann zur Lovisa gekommen war. Sie meinte, sie habe nichts zu sagen. Aber er hörte sich an, was sie trotzdem erzählte, und schien aufrichtig interessiert.
So setzten sie ihre Gespräche fort, Abend für Abend, wenn der Sturm nicht zu stark war und Kapitän Svartman Lundmark nicht beauftragte, Aufgaben außerhalb des üblichen Arbeitsablaufs zu übernehmen.
Hanna merkte, dass sie etwas für Lundmark empfand, was sie noch nicht kannte. Es war nicht mit dem zu vergleichen, was sie mit Elin und den Geschwistern verbunden hatte. Auch nicht mit der Nähe, die sie mit Berta geteilt hatte. Das, was sie jetzt fühlte, ging tiefer. Jeder Augenblick, der in der Erwartung verging, dass er hinter der Kombüse auftauchte, wurde zu einer immer stärkeren Sehnsucht. Eines Abends gab er ihr eine kleine Holzskulptur, die eine Seejungfrau darstellte. Er hatte sie auf einer früheren Reise in einer italienischen Hafenstadt gekauft und sie auf alle Schiffe mitgenommen, auf denen er angeheuert hatte.
»Ich kann sie nicht annehmen«, sagte sie.
»Ich will, dass sie dir gehört«, sagte Lundmark. »Genau jetzt möchte ich das unbedingt.« Sie blickten verlegen in die Dunkelheit. Schließlich wünschte Hanna ihm gute Nacht und ging in ihre Kajüte. Als sie später die Tür einen Spalt weit aufmachte, sah sie ihn noch immer an der Reling stehen. Breitbeinig, die Uniformmütze in der Hand.
Am nächsten Morgen schuppte sie den frisch gefangenen Fisch, den die Besatzung zum Abendessen bekommen sollte, als ein Schatten über sie fiel. Als sie aufsah, war es Lundmark. Er kniete sich hin, nahm ihre Hand, die voll glänzender Schuppen war, und fragte, ob sie ihn heiraten wolle.
Bis zu diesem Augenblick hatten sie nichts anderes getan, als miteinander zu sprechen. Aber alle an Bord hatten es so aufgefasst, dass sie ein Paar waren, das hatte sie verstanden, da keiner von all den anderen Männern sich ihr genähert hatte.
Hatte sie darauf gewartet? Hatte sie es erhofft? Für einen kurzen Moment war ihr wohl der Gedanke gekommen, dass er es war, mit dem sie reiste, nicht das Schiff mit seiner Ladung von Brettern.
Sie sagte sofort ja. Ihr Entschluss war in einem Augenblick gefasst. Er hockte vor ihr, küsste ihr Gesicht und stand dann auf, um zur Besprechung der Steuermänner mit dem Kapitän zu gehen.
In Alger legten sie am Kai an, um zu bunkern. Der schwedische Konsul, ein Franzose, der in seiner Jugend Stockholm besucht und sich in die Stadt verliebt hatte, trieb einen englischen Methodistenpfarrer auf, der bereit war, sie zu trauen. Kapitän Svartman stellte die notwendigen Dokumente aus und war selbst Trauzeuge, zusammen mit dem Konsul und seiner Frau, die während der Zeremonie vor Rührung weinte. Danach nahm sie der Kapitän mit zu einem Fotografen und bezahlte das Hochzeitsbild aus eigener Tasche.
Am gleichen Abend zog sie in Lundmarks Kabine. Der zweite Steuermann, Björnsson, siedelte in die enge Krankenkabine des Schiffs um. Hanna würde ihren eigenen Raum behalten, den wollte ihr Kapitän Svartman nicht nehmen. Aber sollte jemand ernstlich krank werden, würde er mit Beschlag belegt. Kapitän Svartman betrachtete ihre Ehe mit Wohlwollen. Aber da sie Alger spät am selben Abend verließen, wurde ihre Hochzeitsnacht zerrissen. Es wurden Schiffswächter eingesetzt, und Lundmark musste seine Schicht antreten. Für Kapitän Svartman wäre es nie in Frage gekommen, ihm in dieser Nacht freizugeben. So weit reichte sein Wohlwollen nicht. Lundmark hätte sich auch nie vorstellen können, darum zu bitten.
So war Hanna eine Ehefrau. Frau Lundmark. Beide waren schüchtern und unsicher. Der hochgewachsene Steuermann verwandelte sich in ein Kind, ängstlich darauf bedacht, nicht zu schaden oder zu verletzen. Sie näherten sich einander vorsichtig, da sie sich noch kaum kannten. Die Liebe war leise, noch keine offene Leidenschaft.
Als sie durch den Suezkanal fuhren, hatten sie eine der wenigen gemeinsamen Freiwachen. Sie standen nebeneinander und betrachteten die Ufer, die hohen Palmen, die Kamele, die langsam dahinschaukelten, die nackten Kinder, die in das Wasser des Kanals tauchten.
Hanna gewöhnte sich nur schwer daran, mit ihm an ihrer Seite zu schlafen. Die Geschwister oder Berta um sich zu haben, das war eine Sache. Jetzt lag da ein großer, schwerer Mann, der sich oft bewegte und sie dadurch weckte.
Sie empfand sowohl Geborgenheit wie Unruhe darüber, dort zu sein, wo sie war, mit ihm, aber gleichzeitig war da eine heftige Sehnsucht zurück zu dem Leben, das sie im fernen Flusstal geführt hatte. In den Nächten, nach der Liebe, sprachen sie in der Dunkelheit miteinander, immer leise, da die Trennwände dünn waren.
Jetzt bekannte er ihr in der Dunkelheit und Wärme, dass er eines Tages versuchen wollte, Kapitän auf seinem eigenen Schiff zu werden. »Ich werde das erreichen, wenn du mir hilfst«, sagte er. »Jetzt, wo es dich gibt, glaube ich, dass alles möglich ist.«
Sie nahm seine Hand. Dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Und verspürte plötzlich Lust und Sehnsucht, Elin von all dem zu erzählen, was jetzt in ihrem Leben geschah.
Damals, als Elin sagte, Hanna müsse zur Küste fahren, hatte sie recht gehabt. Aber was würde sie über die Reise denken, auf der Hanna sich jetzt befand?
Ich muss schreiben, dachte Hanna. Eines Tages wird Elin ein Brief erreichen. Ich werde unser Hochzeitsbild beilegen. Sie muss den Mann sehen, den ich geheiratet habe.
Sie wurde von einer Frage aus ihren Erinnerungen gerissen, die wie eine Brücke zwischen dem Vergangenen und dem Jetzt stand: Wusste sie denn, wer sie heute war? Zwei Monate waren vergangen, seit sie Sundsvall verlassen hatte, Lundmarks Frau geworden war und nun auf seine Bestattung wartete.
Sie hatte keine Antwort darauf, wer sie war oder wer sie geworden war. Das Schiff lag regungslos in der dampfenden Hitze. Der Druck in den Kesseln wurde niedrig gehalten, in Erwartung der Seebestattung. Danach würde wieder volle Fahrt voraus angeordnet werden, und die Heizer würden erneut Kohlen in die Feuerbuchsen schaufeln.
Aber jetzt hatten sich die verrußten Männer aus dem Maschinenraum an Deck begeben und den schlimmsten Schmutz abgewaschen. Nur ein Mann war da unten in der Hitze geblieben, um aufzupassen, dass kein Feuer ausbrach und keiner der Kessel erlosch.
Kapitän Svartman kam selbst, um Hanna abzuholen. Er klopfte vorsichtig an die Tür der Kabine, die sie mit ihrem toten Mann geteilt hatte. Jetzt würde sie allein dort schlafen, dachte Svartman. Was soll ich tun, wenn sie sich vor der Einsamkeit fürchtet? Was mache ich mit einer Witwe an Bord?
Er öffnete die Tür. Sie saß auf dem Rand der Koje und starrte auf ihre Hände. Gerade hatte sie sich die lange Reise ins Gedächtnis gerufen, die in einem fernen Flusstal begonnen hatte. Sie hatte einen Mann getroffen, sie waren ein Paar geworden. Und jetzt gab es ihn nicht mehr.
Zwei Monate hatten sie miteinander gehabt. Dann war das plötzliche Fieber, das ihn nach dem Landgang im Sudan befallen hatte, sein Tod geworden. Aber sie war noch da. Und jetzt sollte er bestattet werden.
Als sie sich von der Koje erhob, fühlte sie sich, als wäre sie zu ihrer eigenen Bestattung unterwegs. Oder zu ihrer Hinrichtung. Abermals war sie allein geblieben, diesmal in einer schmerzlicheren Situation als je zuvor. Warum sollte sie zur anderen Seite der Welt fahren, wenn ihr Mann nicht mehr da war? Kapitän Svartman ging zur Steuerbordseite des Schiffs, die jetzt zum Land hin lag, der afrikanischen Küste, drüben im Sonnendunst. Nicht einmal mit dem Fernglas hätte sie Einzelheiten wahrnehmen können.
Auf der Brücke hatte ein Ausguck Dienst, einer der jüngeren Matrosen. Alle übrigen hatten sich an dem Sarg aus Segeltuch versammelt, der auf zwei Böcken an der Reling stand. Das graue Tuch war in eine schwedische Flagge gehüllt. Sie war fleckig und zerfranst. Hanna dachte, dass es wohl die einzige Flagge an Bord war. Kapitän Svartman war kein Mann, der im voraus einplante, dass seine Besatzungsleute sterben könnten. Aber denjenigen, die sich unvorsichtig benahmen oder gegen seine Regeln verstießen, konnte es übel ergehen. Wie dem Steuermann, der jetzt da auf den Böcken lag und bald im Meer versenkt werden sollte.
Hanna sah die Männer an, die in einem Halbkreis versammelt waren. Keiner von ihnen vermochte ihrem Blick zu begegnen. Der Tod machte sie verlegen und unsicher.
Sie sah zum Himmel und zur Sonne hinauf, die brannte, obwohl es noch früh am Morgen war. In Gedanken meinte sie plötzlich wieder in dem Schlitten zu sitzen, hinter Forsmans breitem Rücken.
Damals die Kälte, dachte sie. Jetzt die Hitze. Was ist schlimmer?
Auch die Bewegung: Damals ein Schlitten, jetzt ein Schiff, das sich kaum merklich auf der Dünung hob und senkte. Kapitän Svartman trug seine Uniform und hatte das Buch mit den Anweisungen für eine Seebestattungszeremonie in der Hand. Er las mit eintöniger, aber kräftiger Stimme. Es gab bei ihm keinen Zweifel angesichts seiner Aufgabe als Kapitän.
Hanna dachte, Svartman sei wohl vor allem zornig darüber, dass jemand gegen seine Ermahnungen verstoßen hatte und an Land gegangen war, obwohl er hätte wissen müssen, welcher Gefahr er sich aussetzte. Der Mann, der jetzt bestattet werden sollte, hätte nicht sterben müssen. Er war unvernünftig gewesen und hatte nicht darauf gehört, was Kapitän Svartman ihm gesagt hatte.
Hanna ahnte, dass Kapitän Svartman nicht nur um seinen Steuermann trauerte. Er fühlte sich auch verraten. Die Zeremonie war kurz. Kapitän Svartman schweifte nicht ab, sagte nichts Persönliches. Er verstummte, als er laut der Instruktion fertig gesprochen hatte, und nickte seinem zweiten Steuermann zu, der eine gute Singstimme hatte und einen Choral anstimmte. Eigenartigerweise hatte er einen Weihnachtschoral gewählt.
Glänz über Meer und Strand, Stern in der Ferne. Die Männer fielen ein, unsicher, hier und da ein krächzender Ton. Hanna betrachtete sie verstohlen. Einige blieben auch stumm.
Wer von ihnen dachte an den Mann, der tot war? Einige taten es gewiss. Andere, vielleicht die meisten, verspürten Dankbarkeit dafür, dass sie selbst noch am Leben waren.
Als der Choral zu Ende war, nickte Kapitän Svartman ihr zu, vorzutreten. Er hatte ihr erklärt, dass es kaum Regeln oder Traditionen gab, wie eine Witwe in einer Besatzung bei einer Seebestattung den letzten Abschied von ihrem Mann nehmen sollte. »Leg die Hand auf das Segeltuch«, hatte er vorgeschlagen. »Da es hier an Bord keine Blumen gibt, muss die Hand das Zeichen für den letzten Abschied sein.«
Er hätte eine seiner Topfpflanzen opfern können, dachte sie. Eine von den Blumen abpflücken und sie mir geben. Aber das hatte er nicht gewollt. Sie tat, was er ihr gesagt hatte, legte ihre Hand auf die Flagge. Versuchte, Lundmark vor sich zu sehen. Aber obwohl er erst seit so kurzer Zeit tot war, fiel es ihr bereits schwer, sein Gesicht heraufzubeschwören.
Der Tod ist wie ein Nebel, dachte sie, der sacht denjenigen einhüllt, der uns verlässt.
Sie trat einen Schritt zurück, Kapitän Svartman nickte aufs neue, vier Matrosen kamen nach vorn, hoben das Brett und kippten den Toten über Bord. Kapitän Svartman hatte seine stärksten Matrosen ausgewählt, da das Segeltuch nicht nur einen toten Körper barg, sondern auch viele Kilo Senker, die dafür sorgen sollten, dass der Sarg aus Segeltuch wirklich zum Meeresboden sank.
1935 Meter. Ihr Mann bekam ein unendlich viel tieferes Grab, als man es je an Land schaufeln könnte. Fast dreißig Minuten würden vergehen, ehe der tote Körper den Boden erreichte. Halvorsen hatte ihr erzählt, dass Gegenstände in großen Tiefen sehr langsam sanken.
Die Seebestattung war vorüber, die Besatzung kehrte zu ihren Aufgaben zurück. Nur wenige Minuten darauf bebte es im Maschinenraum. Das Schiff bewegte sich, der Aufenthalt war beendet.
Hanna stand an der Reling. Nichts war mehr im Wasser zu sehen. Sie drehte sich um und ging direkt zur Kombüse, wo der Schiffsjunge angefangen hatte, das Mittagessen vorzubereiten. Sie band ihre Schürze um. Da bemerkte sie, dass ein Jungmann abkommandiert worden war, um in der Küche zu helfen. »Auch wenn mein Mann tot ist, tue ich meine Pflicht«, sagte sie.
Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern stieg das Fallreep hinunter zur Vorratskammer, um Kartoffeln für die Mahlzeiten zu holen, die noch an diesem Tag serviert werden sollten.
Die Kartoffeln waren geschält. Sie kippte die Schalen über Bord und ging zurück in die Kombüse. Halvorsen war dabei, einen Schrank mit Regalen für Töpfe und Bratpfannen zu reparieren. Der beste Freund ihres Mannes an Bord. Auch er ist einsam geworden, dachte sie. Auch er fragt sich, warum der Steuermann bei dieser unglückseligen Gelegenheit an Land gehen musste.
Zusammen mit dem Schiffsjungen und dem Jungmann setzte sie ihre Arbeit fort. Doch als Halvorsen seine Reparatur beendet hatte, berührte er sie leicht an der Schulter und gab ihr ein Zeichen, mit ihm nach draußen zu kommen. Sie bat den Schiffsjungen, ein Auge auf ihre Töpfe zu haben, und folgte ihm. Er schaute auf die Planken, als er mit ihr sprach, und sah ihr nicht in die Augen. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte er.
Übersetzung: Verena Reichel
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
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Autoren-Porträt von Henning Mankell
Henning Mankell (1948 - 2015) lebte als Schriftsteller und Theaterregisseur in Schweden und Maputo (Mosambik). Seine Romane um Kommissar Wallander sind internationale Bestseller. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Treibsand (Was es heißt, ein Mensch zu sein, 2015), die Neuausgabe von Die italienischen Schuhe (Roman, 2016), Die schwedischen Gummistiefel (Roman, 2016) und die frühen Romane Der Sandmaler (2017), Der Sprengmeister (2018) und Der Verrückte (2021).Verena Reichel, 1945 geboren, wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie übersetzte u.a. Ingmar Bergman, Katarina Frostensen, Lars Gustafsson, Henning Mankell, Anna-Karin Palm, Hjalmar Söderberg und Märta Tikkanen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Henning Mankell
- 2012, 352 Seiten, Maße: 12,6 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Reichel, Verena
- Übersetzer: Verena Reichel
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552055797
- ISBN-13: 9783552055797
Rezension zu „Erinnerung an einen schmutzigen Engel “
"Engagierter Lehrroman und Gesellschaftsanalyse als leicht konsumierbarer Mainstream: Das ist, in alter Frische, der neue Henning Mankell." Dorothee Frank, Ö1, 24.07.12"Mankell erweist sich als blendender Erzähler. Ob im eiskalten Norden oder in Afrika mit seiner Hitze, seinen Gerüchen, seinen Farben: Der Leser erlebt und fühlt in der Sinnlichkeit der Worte das Geschilderte." Arno Renggli, Neue Luzerner Zeitung, 26.07.12
"Mankell schafft unvergessliche Bilder. Zärtliche und brutale, heiße, staubige und eiskalte." Peter Pisa, Kurier, 28.07.12
"Mit nie gekannter und bisweilen verstörender Deutlichkeit schildert Mankell die tiefe Kluft im Denken von Schwarzen und Weißen. (...) Sein Roman ist ein brillantes Lehrstück in Sachen Intoleranz und europäischer Hybris." Petra Pluwatsch, Kölner Stadt-Anzeiger, 28.07.12
"Es ist Henning Mankell hoch anzurechnen, dass er seine Heldin nicht einfach glorifiziert, sondern das System gegenseitiger Vorurteile und Abhängigkeiten genau zu beleuchten sucht. Er vermeidet Schwarz-Weiß Malerei und lädt ein auf eine erschütternde, durchaus spannende Zeitreise nach Afrika." Katja Weise, NDR Kultur, 30.07.12
"Eine kluge Psychologie des Rassismus vom Afrika-Spezialisten." Angela Wittmann, Brigitte, 22.08.12
"Ein genialer Roman über die Fesseln des Schwarzweißdenkens: Henning Mankells Meisterwerk." Denis Scheck, Deutschlandfunk, 24.08.12
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