Ernestam, M: Der geheime Brief
Ein Haus, das sein Geheimnis preisgibt. Eine Frau, die zurück ins Leben findet.Die Welt scheint stillzustehen, als die vierzigjährige Fotografin Inga ihren Mann bei einem Autounfall verliert. Um wieder zu sich zu kommen, zieht sie sich auf die...
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Produktinformationen zu „Ernestam, M: Der geheime Brief “
Ein Haus, das sein Geheimnis preisgibt. Eine Frau, die zurück ins Leben findet.Die Welt scheint stillzustehen, als die vierzigjährige Fotografin Inga ihren Mann bei einem Autounfall verliert. Um wieder zu sich zu kommen, zieht sie sich auf die Insel Marstrand zurück, auf der ihre Familie seit Generationen ein Sommerhäuschen besitzt.
Beim Aufräumen findet sie eine rätselhafte Kiste mit Briefen - adressiert an ihre Großmutter Rakel. Verfasserin ist eine Frau in Afrika, die sich dort offenbar während des ersten Weltkriegs als Missionarin aufhielt. Und je mehr Inga über die Briefeschreiberin und deren Beziehung zu ihrer Familie erfährt, desto entscheidender verändert sich auch ihr eigenes Leben.
Beim Aufräumen findet sie eine rätselhafte Kiste mit Briefen - adressiert an ihre Großmutter Rakel. Verfasserin ist eine Frau in Afrika, die sich dort offenbar während des ersten Weltkriegs als Missionarin aufhielt. Und je mehr Inga über die Briefeschreiberin und deren Beziehung zu ihrer Familie erfährt, desto entscheidender verändert sich auch ihr eigenes Leben.
Klappentext zu „Ernestam, M: Der geheime Brief “
Ein Haus, das sein Geheimnis preisgibt. Eine Frau, die zurück ins Leben findet.Die Welt scheint stillzustehen, als die vierzigjährige Fotografin Inga ihren Mann bei einem Autounfall verliert. Um wieder zu sich zu kommen, zieht sie sich auf die Insel Marstrand zurück, auf der ihre Familie seit Generationen ein Sommerhäuschen besitzt. Beim Aufräumen findet sie eine rätselhafte Kiste mit Briefen - adressiert an ihre Großmutter Rakel. Verfasserin ist eine Frau in Afrika, die sich dort offenbar während des ersten Weltkriegs als Missionarin aufhielt. Und je mehr Inga über die Briefeschreiberin und deren Beziehung zu ihrer Familie erfährt, desto entscheidender verändert sich auch ihr eigenes Leben ...
Lese-Probe zu „Ernestam, M: Der geheime Brief “
Der geheime Brief von Maria ErnestamProlog
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Der Mond wandert droben am Himmel so blau, sang Vater für mich. Jetzt sehe ich den Mond durch den Vorhangspalt, aber der Mond wandert nicht mehr, er starrt mich an und teilt mir mit, dass Nacht ist. Ich höre in Gedanken Vaters Stimme und spüre seine Hand in meiner. Ich bin immer bei dir. Wenn du mich lässt.
Meine Gedanken wirbeln umher, und ich weiß nicht mehr, was Wirklichkeit ist und was Traum.
Aber der Mond zieht das Wasser an, und ich sehe vor meinem inneren Auge, wie das Meer sich hin und her bewegt, wie es die Felsen streichelt, wie die Frau den Mann streichelt und der Mann die Frau. Plötzlich ist er da, er, der wartet und den ich niemals vergessen habe, auch wenn ich das vortäuschte. Ich spüre die Wärme in meinem Körper, dem Körper, der einst ich war, was unbegreiflich ist, wenn ich sehe, was noch übrig ist.
Ich ahne seine Hände um meine Taille, und da ist wieder die Musik, und ein Tanz, obwohl ich das alles nicht darf. Jetztführt er mich herum, eins, zwei, drei, alles dreht sich, und ich bekomme keine Luft mehr und habe keinen Boden mehr unter den Füßen, und er küsst mich ...
Wasser. Ich brauche Wasser.
Ich wirbele zwischen meinen Gedanken umher. Jetzt bin ich in dem Zimmer, in dem ich ihr damals zum ersten Mal begegnet bin. Ihr, die aussieht wie ich, die jedoch ein Muttermal hat, als habe die Natur sich mit ihr einen Scherz erlaubt. Bald kommt sie, ich weiß, dass sie kommt, und sie wird meine Hand halten, so, wie ich Vaters Hand gehalten habe, wenn das Licht gelöscht wurde.
Ich friere, und es tut ein wenig weh, ich muss mich umdrehen, ich ziehe die Decke fest um mich. Dann höre ich ein Lachen, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich habe geliebt. Das kann niemand mir wegnehmen.
Nicht einmal das Meer, das das verbarg und auswarf, was die Menschen vernichtet hatten, dessen Wellen das nahmen, was ich am meisten liebte. Ich spüre, wie die Wellen sich um mich schließen, und ich will und will nicht, sehe aber ein, dass alles bald vorbei sein wird.
Die Zeit ist gekommen. Die Sünden der Väter werden dich heimsuchen, heißt es, aber das glaube ich nicht.
Wenn uns irgendwelche Sünden heimsuchen, dann unsere eigenen.
Kapitel 1
2005
Die Fotos, die vor ihr auf dem Tisch verteilt waren, hätten gute Besprechungen verdient. Sie hatte viel Zeit in sie investiert und sich alle Mühe gegeben, die Motive zu finden, die zum Motto der Ausstellung passten. Veränderung.
Es war eigentlich ein banales Thema, aber gerade deshalb eine Herausforderung. Sie mochte Herausforderungen, wenn sie ihnen gewachsen war. Anfangs konnten sie sich in Schultern oder Bauch als Spannung festsetzen. Aber Ablehnen kam für sie nicht in Frage. Im tiefsten Inneren wusste sie, dass sie die Fähigkeit besaß, das Einzigartige zu finden, das, was die Menschen berührte und sie im besten Fall mehr empfinden ließ als sonst.
Wie viele Tage hatte sie beim Zirkus verbracht? Viele, aber Zeit war nicht von Bedeutung, wenn es darum ging, die Wirklichkeit einzufangen, die sie im Sucher sah. Diese Vorstellung war für sie beruhigend und gab ihr stets das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Sie ergriff das oberste Foto. Die Akrobatin hatte sich einen klangvollen Künstlernamen gegeben, hieß aber eigentlich Barbara und kam aus Ostdeutschland. Jung und kräftig hatte sie ausgesehen, als sie über ein Seil balancierte, das unter dem Zeltdach gespannt war, doch die Kamera hatte eine andere Wahrheit eingefangen. Das Foto zeigte ein Gesicht, in dessen Falten sich die Schminke sammelte und sie dadurch noch tiefer wirken ließ. Der Lippenstift verschmiert, die Wimpern verklumpt. Nach einigen Wochen und vielen Gläsern Wein hatte Barbara gestanden, dass alles mit den Jahren nur noch schlimmer werde. Sie hatte von der grenzenlosen Panik berichtet, die sie vor jeder Vorstellung überkam, und dass die Angst vor dem Sturz fast zu einem Wunsch geworden war.
»Damit es einmal ein Ende hat. Verstehst du, Inga? Dieses verdammte Leben.«
Inga hatte sich um professionelle Vorsicht bemüht und den richtigen Augenblick abgewartet. Und dann endlich abgedrückt. Wenn Barbara jemals vom Seil fiele, wäre es für alle auf dem Foto erkennbar, welche Angst die scheinbar so mutige Akrobatin davor gehabt hatte. Davor, die Kontrolle zu verlieren.
Wäre es möglich gewesen, die Verzweiflung in ihren Augen zu mildern? Die Schatten über den plump gepuderten Wangen zu vertiefen? Sicher, aber das hier war absolut akzeptabel. Ihre Leica zeigte ihr das Motiv im Sucher auch in dem Bruchteil jener Sekunde, in dem das Bild belichtet wurde. Sie hatte geliefert, was sie gewollt hatte: Nähe und Präzision in perfekter Vereinigung. Die lichtstarke Optik mit dem kristallklaren Glas ohne Verunreinigungen. Sie musste die Verkrümmungen am Bildrand eben wie das Ergebnis einer bewussten Entscheidung akzeptieren. Jedenfalls hatte sie das gewünschte Resultat.
Geduld und Erfahrung hatten das Ihre bewirkt: Genauigkeit. Sie versuchte immer, mehr zu liefern als erwartet, und das verlangte sehr viel Kraft. Aber es war schwer zu akzeptieren, was »gut genug« war, und aus »ausreichend« eine Tugend zu machen. Obwohl sie wusste, dass sie das ab und zu tun müsste, um sich zu schonen.
»Möchtest du etwas trinken?« Izabella, die Besitzerin der Galerie, war aufgestanden. Ihre eng sitzenden Hosen machten es unmöglich, sich vorzustellen, dass sie schon fast siebzig war. Inga musterte die Furchen in Izabellas Gesicht. Die waren ganz anders als Barbaras. Izabellas Furchen zeugten von Lachen und Selbstvertrauen, Barbaras dagegen von Verzweiflung und Kummer.
»Ja, danke.«
Die hochmoderne Espressomaschine war noch ein Grund, warum sie so gerne in Izabellas Galerie ausstellte. Wenn ihr ein dampfendes Glas Kaffee serviert wurde, ließ die Spannung im Nacken ein wenig nach. Sie stellte das Glas vorsichtig ab, um den Fotos nicht zu schaden, und suchte das Bild, mit dem sie vielleicht am zufriedensten war. Von einem Hügel aus hatte sie eingefangen, wie die letzte Vorstellung sich dem Finale näherte, während die Zirkusleute hinter den Kulissen bereits zusammenpackten. Als die letzte Lampe gelöscht wurde und das Publikum durch den Vorderausgang das Zelt verließ, stand der Hinterausgang schon nicht mehr.
Sie wandte sich Izabella zu.
»Das hier ist Veränderung. Und dann doch wieder nicht. Ein Zirkus wird aufgebaut und abmontiert. Er zieht weiter. Aber er sieht fast genauso aus wie vor hundert Jahren. Also lebt er von Veränderung, verändert sich aber nie. Deshalb dachte ich, dieses Bild wäre für die Einladung zur Vernissage geeignet. Wenn du mir zustimmst. Barbara, die Seiltänzerin, könnte an der langen Wand hängen. Ich kann die Bilder so vergrößern, wie du sie haben willst.«
Izabella beugte sich vor und begutachtete die Fotos. Sie entschied sich immer rasch, und Inga rechnete damit, in ungefähr einer Stunde fertig zu sein. Danach wollte sie nach Hause fahren und für den Rest des Nachmittags und Abends arbeiten. Mårten würde doch erst in zwei Tagen nach Hause kommen, und sie könnte auch gleich einige Stapel aussortieren, um mehr Zeit zu haben, wenn er wieder da war. Sie sehnte sich danach, ihm die fertigen Bilder zu zeigen. Niemand konnte so gute Ratschläge geben wie er, mit dem aufrichtigen Wunsch, dass sie Erfolg haben würde. Deshalb war seine Kritik immer konstruktiv, niemals verletzend.
Sie schüttelte den Kopf, denn plötzlich ging ihr auf, dass Izabella etwas gesagt hatte.
»Verzeihung, ich hab nicht zugehört. Was ...?«
»Also, ich habe gesagt, dass du ungeheuer tüchtig bist, Inga. Du hast eine unglaubliche Fähigkeit, Menschen und ihre Gefühle einzufangen. Ganz zu schweigen von deinen technischen Kenntnissen. Du bist perfekt. Und vielleicht liegt es daran, dass diese Bilder hier ... dass sie mir nichts sagen.«
»Ach.«
Die Antwort kam wie ein Reflex, und sie merkte, wie eine unangenehme Ruhe sich in ihrem Körper ausbreitete.
»Das kann mehrere Ursachen haben. Die Bilder sind, wie gesagt, perfekt. Die Angst ist deutlich, und die Idee, dir einen Zirkus vorzunehmen, war natürlich großartig. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir die Menschen, die wir hier ansehen, nicht wirklich kennenlernen. Es sind Abbildungen von Körpern, die ihren Zweck hervorragend erfüllen, aber sie berühren mich nicht richtig.«
Izabella streckte die Hand aus und versuchte, sie auf ihren Arm zu legen. Inga wich zurück und suchte Schutz in ihrem Kaffeeglas. Sie trank, um die roten Flecken in ihrem Gesicht zu verbergen. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie spürte sie. Meinte Izabella, sie nutze die Menschen aus, die sie fotogra- fierte?
»Das sollte nicht negativ klingen. Ich denke an dein Können und deine Energie. Nicht an das Mitmenschliche. Ich kenne nur wenige, die so herzensgut sind wie du.«
»Aber du meinst nicht, dass die Fotos zu gebrauchen sind? Oder soll ich einfach nur etwas ändern?«
Izabella gab keine Antwort, sondern erhob sich und verschwand im Hinterzimmer. Als sie zurückkam, brachte sie einen anderen Stapel Fotografien mit. Vorsichtig nahm sie die Bilder vom Tisch. Dann verteilte sie die anderen.
Das musste ein Witz sein. Die Fotos waren so schlicht, dass sie von jemandem stammen könnten, der soeben seine erste Kamera bekommen hatte. Sie stellten lachende und weinende Menschen dar, Erwachsene und Kinder, manchmal verschwommen, manchmal angeschnitten, in planlos eingefangenen Augenblicken. Fragmente von Taufen, Schulabschlüssen. Hochzeiten und Beerdigungen. Ein Baby, das in die Arme einer alten Frau gelegt wurde. Ein Mann, der auf einem Grab eine Kerze anzündete.
»Was sagst du?« Izabella klang ehrlich interessiert. Nicht kritisieren, als Rache für die Enttäuschung.
»Die sind gut. Richtig gut. Und ich will nicht neidisch klingen, wenn ich sage, sie hätten noch besser werden können, wenn man sich damit mehr Zeit gelassen hätte. Für die Belichtung, zum Beispiel. Aber die Motive sind spannend. Schul- abschlüsse und Hochzeiten bedeuten wirklich Veränderungen. Wer immer diese Fotos gemacht hat, ist tüchtig und origi- nell.«
Izabella schloss die Hand um den Stein, der um ihren Hals hing.
»Der diese Fotos gemacht hat, ist nicht halb so tüchtig wie du. Du bist phantastisch gut, wie ich gesagt habe, und ich bezweifle keinen Moment, dass du eines Tages als eine der besten Fotografinnen Schwedens gelten wirst. Aber manchmal kann Perfektionismus ein wenig langweilig sein. Hast du dir das schon mal überlegt? Das Vollkommene ist fast immer vollkommen, eben weil es nicht perfekt ist. Diese Bilder hier stellen nicht den Anspruch, die einzige Wahrheit zu enthalten. Sie fangen einfach ein Gefühl ein. Der Fotograf ist erst vierundzwanzig Jahre alt. Er hat nicht einmal daran gedacht, dass seine Werke auf der Einladung erwähnt werden könnten oder wo dieses oder jenes Bild hängen sollte. Aber er hat sicher ebenso lange an diesen Bildern gearbeitet wie du an deinen. Ich würde niemals eine ganze Ausstellung nur mit seinen Bildern bestücken können. Aber ich will sie haben.«
Izabella trug elegante Schuhe mit orangen Riemen. Inga betrachtete das komplizierte Handwerk, um ihrer Röte Zeit zum Verschwinden zu geben. Trotz ihrer Enttäuschung freute sie sich ehrlich darüber, dass gerade diese Schuhe Izabellas Füße schmückten. Izabella war eine gütige und kluge Frau. Ihre Aufrichtigkeit konnte nichts daran ändern. Aber jetzt sehnte Inga sich nach Mårten. Nach diesem Gespräch würde sie ihn sofort anrufen.
»Ich will auch deine Fotos dabeihaben.« Bei Izabella hörte sich das ganz selbstverständlich an. »Viele meiner Besucher würden nicht herkommen, wenn sie nicht wüssten, dass auch du hier ausstellst. Ich bekomme noch immer Anfragen nach deinen Bootsbildern. Den alten Bootsskeletten, wie du sie genannt hast. Davon hättest du unbegrenzte Mengen verkaufen können.«
Die Bootsskelette. Das war einige Jahre her. Sie war nach einer hektischen Periode voller Arbeit unten auf Marstrand gewesen. Eines Morgens wurde ihr angeboten, mit einigen Nachbarn aufs Meer hinauszufahren. Sie hatte sofort dankend angenommen, froh darüber, zu den abgelegenen kleinen Inseln zu gelangen, wo man ab und zu Wrackreste fand.
Sie griff nach ihrer zwanzig Jahre alten Canon, die sie nur wenige Monate vor ihrer ersten Begegnung mit Mårten gekauft hatte. Sie konnten noch immer darüber Witze machen, dass sie sich deshalb ineinander verliebt, geheiratet und ein Kind bekommen hatten. Mårten war damals ebenfalls stolzer Besitzer einer Canon gewesen. Nur hatte er ein Teleobjektiv von 350 Millimetern gekauft, das sie beide nicht hatten benutzen können, da sie sich nicht für das Verhalten von Vögeln interessierten. Sie hatte sich für einen 18-Millimeter-Weitwinkel entschieden, der eine Schlossfassade oder einen breiten Boulevard einfangen konnte. Zwei extreme Objektive, die sie gemeinsam durch 35- und 150-Millimeter-Objektive ergänzten, die weit mehr Anwendungsmöglichkeiten boten. So ein Zusammentreffen muss etwas bedeuten, hatten sie sich damals gesagt.
Sie nahm die Kamera und das 35-Millimeter-Objektiv, ging zum Anleger und wurde von einem viel benutzten Holzboot aufgelesen. Das Meer war still und das Licht einzigartig. Es wäre eine berufliche Sünde gewesen, wenn sie nicht versucht hätte, das einzufangen.
Draußen bei der Schäre legten die Nachbarn ihre Fischernetze aus. Inga selbst wurde auf einer der Inseln an Land gesetzt, wanderte am Wasser entlang, fand mehrere verkrümmte Holzskelette und machte ein Bild nach dem anderen. Sie dachte nicht weiter darüber nach, was sie hier tat, sondern fotografierte in einer seltsamen Mischung aus Freude über diesen Tag und Trauer beim Gedanken an alle, die ihr Leben auf See verloren hatten. Wie viele waren es wohl im Laufe der Jahre gewesen, die über Bord geschleudert worden waren, schreiend vor Panik oder in stummer Hinnahme des Todes in den Wellen? War es ein Witz oder stimmte es, dass viele Seeleute nicht schwimmen lernten, damit der Tod sich beim Ertrinken so schnell und schonend wie möglich einstellte? Sie wusste es nicht. Aber die Bilder der aufgelassenen Schiffsteile, des grauen Holzes, stellenweise überwuchert von Seegras oder Schnecken, erwiesen sich als emotionaler als gedacht. Izabella verkaufte alle Bilder einige Monate später auf einer Ausstellung.
»Waren die besser als die Zirkusbilder, was meinst du?« Izabella seufzte ein wenig. Ihr Schlüsselbein zeichnete sich unter dem Stoff ihrer Bluse deutlicher ab als sonst.
»Du brauchst dich mit niemandem zu vergleichen. Schon gar nicht mit dir selbst. Ich sage nur, dass du zugänglicher wirst, wenn du ein wenig spontan bist. Die Bootsbilder waren von seltener Schönheit. Sie hatten eine Unschuld des Augenblicks an sich, wenn du verstehst, was ich meine. Das merken die Leute. Einige glaubten sicher, sie hätten sie auch selbst machen können, was natürlich rührend ist. Trotzdem darf man dieses Gefühl nicht unterschätzen, wenn Menschen Kunst sehen. Tänzer sind ein anderes Beispiel. Es sieht so leicht aus, dass man glaubt, es selbst zu können, wenn man nur will.«
Wie Barbara, die auf dem Seil ein Gefühl von Schwerelosigkeit vermittelte.
»Eigentlich möchte ich dir einen Rat geben. Wie wäre es, eine kreative Pause von einigen Monaten einzulegen? Um Inspiration zu sammeln oder um nichts zu tun. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du nie ausspannst. Du arbeitest vermutlich sogar dann, wenn du ein Glas Wein trinkst.«
Die verdammte Izabella. Die ahnte, dass sie manchmal, wenn sie zum Prosten das Glas hob, daran dachte, welche Farbe der Wein hatte und welcher Film sie am besten wiedergeben würde. Die sicher der Frau zustimmen würde, die an einem sonnigen Strand in Asien ihre Schultern massiert und dabei gemurmelt hatte: Your mind is always active.
Sie stand auf. Musste einfach mit Mårten sprechen. Ihn sagen hören, dass es nicht so ernst sei, wie es wirke. Dass es eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung gebe, solange sie, er und Peter gesund seien. Dass sie, wenn alles zum Teufel ginge, doch die Wohnung verkaufen und in ein Land übersiedeln könnten, wo die Apfelsinen billiger wären als hier. Sie würde ihm zustimmen und lachen. Und alles würde wieder seine richtigen Proportionen annehmen.
»Dann lasse ich die Bilder bei dir. Du kannst dich ja melden und sagen, wie du dich entschieden hast. Danke, Izabella. Du weißt, wie froh ich bin, dass ich dich habe.«
»Und ich bin ebenso froh darüber, dass ich mit dir arbeiten kann.« Izabella brachte sie zur Tür und umarmte sie. Und Inga bemerkte wieder das, was sie nicht hatte bemerken wollen. Izabella war magerer geworden.
Sie ging durch die Tür der Galerie und hörte, wie Izabella sie hinter ihr schloss. Die Sonne stach ihr in die Augen. Sie hielt die Hand vor ihr Gesicht und dachte, dass müsse ein rebellischer Herbst sein, der sich Kälte und Dunkelheit einfach nicht ergeben wollte. Vielleicht hätte sie versuchen sollen, diesen Altweibersommer einzufangen, statt mit einem Zirkus umherzureisen, den sie offenbar nicht so hatte fotografieren können, dass die Bilder berührten. Es war ihr eindeutig nicht gelungen. Die Selbstkritik hämmerte mit ihrem Herzen im Takt. Sie ließ keinen Platz für den Gedanken, dass möglicherweise Izabella einen Tag hatte, an dem sie künstlerisch weniger empfänglich war, und dass Izabellas Meinung sich nicht notwendigerweise mit der anderer deckte.
Sie suchte in ihrer Tasche nach ihrem Telefon und wählte Mårtens Nummer. Sie hörte das Klingeln, aber als nach einer Weile Mårtens Stimme erklang, war es die von seinem Anrufbeantworter.
Das überraschte sie, normalerweise meldete er sich fast immer selbst. Enttäuscht blieb sie an einer Straßenkreuzung stehen und fragte sich, was sie jetzt machen sollte. Ihr Vorhaben, noch zu arbeiten, kam ihr sinnlos vor. Sie würde an diesem Tag nichts mehr tun können, was nicht von Unsicherheit durchsetzt sein würde. Natürlich ließ sie sich von so etwas niemals daran hindern, etwas Nützliches zu versuchen. Sie musste Mails beantworten und Rechnungen schreiben. Und doch kam ihr die Vorstellung, allein in ihrem Arbeitszimmer zu sein, unerträglich vor.
Sie wanderte ein wenig unschlüssig die Straße entlang. Was Izabella über ihre Fotos gesagt hatte, fraß sich in ihr fest, auch wenn sie wusste, dass Izabella sie nicht hatte verletzen wollen. Das Beste braucht kleine Mängel, um geschätzt zu werden, war es nicht so? Mach eine kreative Pause von einigen Monaten. Aber Pausen lagen ihr nicht, wenn Mårten nicht mitmachte. Und hatte sie das nicht dahin gebracht, wo sie sich heute befand? Sie hatte trotz allem als freischaffende Fotografin auf einem unbeständigen Markt Erfolg gehabt.
Gleichgültig schaute sie in Schaufenster. Nichts konnte ihr Interesse erwecken, außer einem Paar Schuhe, und das eher wegen der Farbe als wegen der Form. Aber die Vorstellung, in den Laden zu gehen und die Verkäuferin zu bitten, die Schuhe anprobieren zu dürfen, verlockte sie nicht. Sie ging zum Auto, warf die Kameratasche auf den Rücksitz und fuhr nach Hause.
Dort stellte sie die Tasche auf den Dielenboden, hängte ihren Mantel auf und ließ den vertrauen Geruch in sich einsinken. In der Küche stellte sie Teewasser auf, nahm eine Apfelsine und entfernte die Schale, obwohl sie eigentlich nicht gern Apfelsinen schälte. Der Saft sickerte durch ihre Finger und sie leckte ihn ab, schmeckte die Mischung aus Süße und Sprühmittel, als die Türklingel ertönte.
Sie schaute auf die Uhr. Es konnte nicht Mårten sein, falls er sie nicht überraschen wollte. Vielleicht ein Paket. Irgendeine Sendung, die mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Sie warf einen Blick in den Spiegel in der Diele. Blonde Haare, schulterlang. Braune Augen, dunkle Wimpern und Brauen. Eine Oberlippe, die wie ein Entenschnabel vorwärts und aufwärts strebte. Ihrer Meinung nach. Andere sprachen von einem Kussmund.
Der Mann, der vor der Tür stand, trug einen so weit offenstehenden Mantel, dass sie den Halskragen sehen konnte. Sein Blick war mitfühlend, als er die Hand ausstreckte und sich mit seinem Namen vorstellte, an den sie sich erst viel später würde erinnern können. Freundlich teilte er mit, er sei Pastor der lokalen Gemeinde, und bat, ins Haus kommen zu dürfen. In der Diele hängte er seinen Mantel neben ihren und folgte ihr ins Wohnzimmer. Sie dachte nur, dass der Apfelsinensaft um ihre Handgelenke zu Eis gefroren sein musste. Die Frage, was geschehen sei, versiegte irgendwo auf dem Weg aus ihrem Mund.
Später würde sie sich nur an Bruchstücke des Gesprächs erinnern können, daran, wie Wörter und Satzteile durch ihren Kopf gewirbelt waren. Spaziergang. Zusammengebrochen. Krankenwagen. Jemand hat angerufen.
Der letzte Satz bohrte sich wie glühendes Eisen in ihre Haut. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann tot ist.«
...
Übersetzung: Gabriele Haefs
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2011,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Der Mond wandert droben am Himmel so blau, sang Vater für mich. Jetzt sehe ich den Mond durch den Vorhangspalt, aber der Mond wandert nicht mehr, er starrt mich an und teilt mir mit, dass Nacht ist. Ich höre in Gedanken Vaters Stimme und spüre seine Hand in meiner. Ich bin immer bei dir. Wenn du mich lässt.
Meine Gedanken wirbeln umher, und ich weiß nicht mehr, was Wirklichkeit ist und was Traum.
Aber der Mond zieht das Wasser an, und ich sehe vor meinem inneren Auge, wie das Meer sich hin und her bewegt, wie es die Felsen streichelt, wie die Frau den Mann streichelt und der Mann die Frau. Plötzlich ist er da, er, der wartet und den ich niemals vergessen habe, auch wenn ich das vortäuschte. Ich spüre die Wärme in meinem Körper, dem Körper, der einst ich war, was unbegreiflich ist, wenn ich sehe, was noch übrig ist.
Ich ahne seine Hände um meine Taille, und da ist wieder die Musik, und ein Tanz, obwohl ich das alles nicht darf. Jetztführt er mich herum, eins, zwei, drei, alles dreht sich, und ich bekomme keine Luft mehr und habe keinen Boden mehr unter den Füßen, und er küsst mich ...
Wasser. Ich brauche Wasser.
Ich wirbele zwischen meinen Gedanken umher. Jetzt bin ich in dem Zimmer, in dem ich ihr damals zum ersten Mal begegnet bin. Ihr, die aussieht wie ich, die jedoch ein Muttermal hat, als habe die Natur sich mit ihr einen Scherz erlaubt. Bald kommt sie, ich weiß, dass sie kommt, und sie wird meine Hand halten, so, wie ich Vaters Hand gehalten habe, wenn das Licht gelöscht wurde.
Ich friere, und es tut ein wenig weh, ich muss mich umdrehen, ich ziehe die Decke fest um mich. Dann höre ich ein Lachen, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich habe geliebt. Das kann niemand mir wegnehmen.
Nicht einmal das Meer, das das verbarg und auswarf, was die Menschen vernichtet hatten, dessen Wellen das nahmen, was ich am meisten liebte. Ich spüre, wie die Wellen sich um mich schließen, und ich will und will nicht, sehe aber ein, dass alles bald vorbei sein wird.
Die Zeit ist gekommen. Die Sünden der Väter werden dich heimsuchen, heißt es, aber das glaube ich nicht.
Wenn uns irgendwelche Sünden heimsuchen, dann unsere eigenen.
Kapitel 1
2005
Die Fotos, die vor ihr auf dem Tisch verteilt waren, hätten gute Besprechungen verdient. Sie hatte viel Zeit in sie investiert und sich alle Mühe gegeben, die Motive zu finden, die zum Motto der Ausstellung passten. Veränderung.
Es war eigentlich ein banales Thema, aber gerade deshalb eine Herausforderung. Sie mochte Herausforderungen, wenn sie ihnen gewachsen war. Anfangs konnten sie sich in Schultern oder Bauch als Spannung festsetzen. Aber Ablehnen kam für sie nicht in Frage. Im tiefsten Inneren wusste sie, dass sie die Fähigkeit besaß, das Einzigartige zu finden, das, was die Menschen berührte und sie im besten Fall mehr empfinden ließ als sonst.
Wie viele Tage hatte sie beim Zirkus verbracht? Viele, aber Zeit war nicht von Bedeutung, wenn es darum ging, die Wirklichkeit einzufangen, die sie im Sucher sah. Diese Vorstellung war für sie beruhigend und gab ihr stets das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Sie ergriff das oberste Foto. Die Akrobatin hatte sich einen klangvollen Künstlernamen gegeben, hieß aber eigentlich Barbara und kam aus Ostdeutschland. Jung und kräftig hatte sie ausgesehen, als sie über ein Seil balancierte, das unter dem Zeltdach gespannt war, doch die Kamera hatte eine andere Wahrheit eingefangen. Das Foto zeigte ein Gesicht, in dessen Falten sich die Schminke sammelte und sie dadurch noch tiefer wirken ließ. Der Lippenstift verschmiert, die Wimpern verklumpt. Nach einigen Wochen und vielen Gläsern Wein hatte Barbara gestanden, dass alles mit den Jahren nur noch schlimmer werde. Sie hatte von der grenzenlosen Panik berichtet, die sie vor jeder Vorstellung überkam, und dass die Angst vor dem Sturz fast zu einem Wunsch geworden war.
»Damit es einmal ein Ende hat. Verstehst du, Inga? Dieses verdammte Leben.«
Inga hatte sich um professionelle Vorsicht bemüht und den richtigen Augenblick abgewartet. Und dann endlich abgedrückt. Wenn Barbara jemals vom Seil fiele, wäre es für alle auf dem Foto erkennbar, welche Angst die scheinbar so mutige Akrobatin davor gehabt hatte. Davor, die Kontrolle zu verlieren.
Wäre es möglich gewesen, die Verzweiflung in ihren Augen zu mildern? Die Schatten über den plump gepuderten Wangen zu vertiefen? Sicher, aber das hier war absolut akzeptabel. Ihre Leica zeigte ihr das Motiv im Sucher auch in dem Bruchteil jener Sekunde, in dem das Bild belichtet wurde. Sie hatte geliefert, was sie gewollt hatte: Nähe und Präzision in perfekter Vereinigung. Die lichtstarke Optik mit dem kristallklaren Glas ohne Verunreinigungen. Sie musste die Verkrümmungen am Bildrand eben wie das Ergebnis einer bewussten Entscheidung akzeptieren. Jedenfalls hatte sie das gewünschte Resultat.
Geduld und Erfahrung hatten das Ihre bewirkt: Genauigkeit. Sie versuchte immer, mehr zu liefern als erwartet, und das verlangte sehr viel Kraft. Aber es war schwer zu akzeptieren, was »gut genug« war, und aus »ausreichend« eine Tugend zu machen. Obwohl sie wusste, dass sie das ab und zu tun müsste, um sich zu schonen.
»Möchtest du etwas trinken?« Izabella, die Besitzerin der Galerie, war aufgestanden. Ihre eng sitzenden Hosen machten es unmöglich, sich vorzustellen, dass sie schon fast siebzig war. Inga musterte die Furchen in Izabellas Gesicht. Die waren ganz anders als Barbaras. Izabellas Furchen zeugten von Lachen und Selbstvertrauen, Barbaras dagegen von Verzweiflung und Kummer.
»Ja, danke.«
Die hochmoderne Espressomaschine war noch ein Grund, warum sie so gerne in Izabellas Galerie ausstellte. Wenn ihr ein dampfendes Glas Kaffee serviert wurde, ließ die Spannung im Nacken ein wenig nach. Sie stellte das Glas vorsichtig ab, um den Fotos nicht zu schaden, und suchte das Bild, mit dem sie vielleicht am zufriedensten war. Von einem Hügel aus hatte sie eingefangen, wie die letzte Vorstellung sich dem Finale näherte, während die Zirkusleute hinter den Kulissen bereits zusammenpackten. Als die letzte Lampe gelöscht wurde und das Publikum durch den Vorderausgang das Zelt verließ, stand der Hinterausgang schon nicht mehr.
Sie wandte sich Izabella zu.
»Das hier ist Veränderung. Und dann doch wieder nicht. Ein Zirkus wird aufgebaut und abmontiert. Er zieht weiter. Aber er sieht fast genauso aus wie vor hundert Jahren. Also lebt er von Veränderung, verändert sich aber nie. Deshalb dachte ich, dieses Bild wäre für die Einladung zur Vernissage geeignet. Wenn du mir zustimmst. Barbara, die Seiltänzerin, könnte an der langen Wand hängen. Ich kann die Bilder so vergrößern, wie du sie haben willst.«
Izabella beugte sich vor und begutachtete die Fotos. Sie entschied sich immer rasch, und Inga rechnete damit, in ungefähr einer Stunde fertig zu sein. Danach wollte sie nach Hause fahren und für den Rest des Nachmittags und Abends arbeiten. Mårten würde doch erst in zwei Tagen nach Hause kommen, und sie könnte auch gleich einige Stapel aussortieren, um mehr Zeit zu haben, wenn er wieder da war. Sie sehnte sich danach, ihm die fertigen Bilder zu zeigen. Niemand konnte so gute Ratschläge geben wie er, mit dem aufrichtigen Wunsch, dass sie Erfolg haben würde. Deshalb war seine Kritik immer konstruktiv, niemals verletzend.
Sie schüttelte den Kopf, denn plötzlich ging ihr auf, dass Izabella etwas gesagt hatte.
»Verzeihung, ich hab nicht zugehört. Was ...?«
»Also, ich habe gesagt, dass du ungeheuer tüchtig bist, Inga. Du hast eine unglaubliche Fähigkeit, Menschen und ihre Gefühle einzufangen. Ganz zu schweigen von deinen technischen Kenntnissen. Du bist perfekt. Und vielleicht liegt es daran, dass diese Bilder hier ... dass sie mir nichts sagen.«
»Ach.«
Die Antwort kam wie ein Reflex, und sie merkte, wie eine unangenehme Ruhe sich in ihrem Körper ausbreitete.
»Das kann mehrere Ursachen haben. Die Bilder sind, wie gesagt, perfekt. Die Angst ist deutlich, und die Idee, dir einen Zirkus vorzunehmen, war natürlich großartig. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir die Menschen, die wir hier ansehen, nicht wirklich kennenlernen. Es sind Abbildungen von Körpern, die ihren Zweck hervorragend erfüllen, aber sie berühren mich nicht richtig.«
Izabella streckte die Hand aus und versuchte, sie auf ihren Arm zu legen. Inga wich zurück und suchte Schutz in ihrem Kaffeeglas. Sie trank, um die roten Flecken in ihrem Gesicht zu verbergen. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie spürte sie. Meinte Izabella, sie nutze die Menschen aus, die sie fotogra- fierte?
»Das sollte nicht negativ klingen. Ich denke an dein Können und deine Energie. Nicht an das Mitmenschliche. Ich kenne nur wenige, die so herzensgut sind wie du.«
»Aber du meinst nicht, dass die Fotos zu gebrauchen sind? Oder soll ich einfach nur etwas ändern?«
Izabella gab keine Antwort, sondern erhob sich und verschwand im Hinterzimmer. Als sie zurückkam, brachte sie einen anderen Stapel Fotografien mit. Vorsichtig nahm sie die Bilder vom Tisch. Dann verteilte sie die anderen.
Das musste ein Witz sein. Die Fotos waren so schlicht, dass sie von jemandem stammen könnten, der soeben seine erste Kamera bekommen hatte. Sie stellten lachende und weinende Menschen dar, Erwachsene und Kinder, manchmal verschwommen, manchmal angeschnitten, in planlos eingefangenen Augenblicken. Fragmente von Taufen, Schulabschlüssen. Hochzeiten und Beerdigungen. Ein Baby, das in die Arme einer alten Frau gelegt wurde. Ein Mann, der auf einem Grab eine Kerze anzündete.
»Was sagst du?« Izabella klang ehrlich interessiert. Nicht kritisieren, als Rache für die Enttäuschung.
»Die sind gut. Richtig gut. Und ich will nicht neidisch klingen, wenn ich sage, sie hätten noch besser werden können, wenn man sich damit mehr Zeit gelassen hätte. Für die Belichtung, zum Beispiel. Aber die Motive sind spannend. Schul- abschlüsse und Hochzeiten bedeuten wirklich Veränderungen. Wer immer diese Fotos gemacht hat, ist tüchtig und origi- nell.«
Izabella schloss die Hand um den Stein, der um ihren Hals hing.
»Der diese Fotos gemacht hat, ist nicht halb so tüchtig wie du. Du bist phantastisch gut, wie ich gesagt habe, und ich bezweifle keinen Moment, dass du eines Tages als eine der besten Fotografinnen Schwedens gelten wirst. Aber manchmal kann Perfektionismus ein wenig langweilig sein. Hast du dir das schon mal überlegt? Das Vollkommene ist fast immer vollkommen, eben weil es nicht perfekt ist. Diese Bilder hier stellen nicht den Anspruch, die einzige Wahrheit zu enthalten. Sie fangen einfach ein Gefühl ein. Der Fotograf ist erst vierundzwanzig Jahre alt. Er hat nicht einmal daran gedacht, dass seine Werke auf der Einladung erwähnt werden könnten oder wo dieses oder jenes Bild hängen sollte. Aber er hat sicher ebenso lange an diesen Bildern gearbeitet wie du an deinen. Ich würde niemals eine ganze Ausstellung nur mit seinen Bildern bestücken können. Aber ich will sie haben.«
Izabella trug elegante Schuhe mit orangen Riemen. Inga betrachtete das komplizierte Handwerk, um ihrer Röte Zeit zum Verschwinden zu geben. Trotz ihrer Enttäuschung freute sie sich ehrlich darüber, dass gerade diese Schuhe Izabellas Füße schmückten. Izabella war eine gütige und kluge Frau. Ihre Aufrichtigkeit konnte nichts daran ändern. Aber jetzt sehnte Inga sich nach Mårten. Nach diesem Gespräch würde sie ihn sofort anrufen.
»Ich will auch deine Fotos dabeihaben.« Bei Izabella hörte sich das ganz selbstverständlich an. »Viele meiner Besucher würden nicht herkommen, wenn sie nicht wüssten, dass auch du hier ausstellst. Ich bekomme noch immer Anfragen nach deinen Bootsbildern. Den alten Bootsskeletten, wie du sie genannt hast. Davon hättest du unbegrenzte Mengen verkaufen können.«
Die Bootsskelette. Das war einige Jahre her. Sie war nach einer hektischen Periode voller Arbeit unten auf Marstrand gewesen. Eines Morgens wurde ihr angeboten, mit einigen Nachbarn aufs Meer hinauszufahren. Sie hatte sofort dankend angenommen, froh darüber, zu den abgelegenen kleinen Inseln zu gelangen, wo man ab und zu Wrackreste fand.
Sie griff nach ihrer zwanzig Jahre alten Canon, die sie nur wenige Monate vor ihrer ersten Begegnung mit Mårten gekauft hatte. Sie konnten noch immer darüber Witze machen, dass sie sich deshalb ineinander verliebt, geheiratet und ein Kind bekommen hatten. Mårten war damals ebenfalls stolzer Besitzer einer Canon gewesen. Nur hatte er ein Teleobjektiv von 350 Millimetern gekauft, das sie beide nicht hatten benutzen können, da sie sich nicht für das Verhalten von Vögeln interessierten. Sie hatte sich für einen 18-Millimeter-Weitwinkel entschieden, der eine Schlossfassade oder einen breiten Boulevard einfangen konnte. Zwei extreme Objektive, die sie gemeinsam durch 35- und 150-Millimeter-Objektive ergänzten, die weit mehr Anwendungsmöglichkeiten boten. So ein Zusammentreffen muss etwas bedeuten, hatten sie sich damals gesagt.
Sie nahm die Kamera und das 35-Millimeter-Objektiv, ging zum Anleger und wurde von einem viel benutzten Holzboot aufgelesen. Das Meer war still und das Licht einzigartig. Es wäre eine berufliche Sünde gewesen, wenn sie nicht versucht hätte, das einzufangen.
Draußen bei der Schäre legten die Nachbarn ihre Fischernetze aus. Inga selbst wurde auf einer der Inseln an Land gesetzt, wanderte am Wasser entlang, fand mehrere verkrümmte Holzskelette und machte ein Bild nach dem anderen. Sie dachte nicht weiter darüber nach, was sie hier tat, sondern fotografierte in einer seltsamen Mischung aus Freude über diesen Tag und Trauer beim Gedanken an alle, die ihr Leben auf See verloren hatten. Wie viele waren es wohl im Laufe der Jahre gewesen, die über Bord geschleudert worden waren, schreiend vor Panik oder in stummer Hinnahme des Todes in den Wellen? War es ein Witz oder stimmte es, dass viele Seeleute nicht schwimmen lernten, damit der Tod sich beim Ertrinken so schnell und schonend wie möglich einstellte? Sie wusste es nicht. Aber die Bilder der aufgelassenen Schiffsteile, des grauen Holzes, stellenweise überwuchert von Seegras oder Schnecken, erwiesen sich als emotionaler als gedacht. Izabella verkaufte alle Bilder einige Monate später auf einer Ausstellung.
»Waren die besser als die Zirkusbilder, was meinst du?« Izabella seufzte ein wenig. Ihr Schlüsselbein zeichnete sich unter dem Stoff ihrer Bluse deutlicher ab als sonst.
»Du brauchst dich mit niemandem zu vergleichen. Schon gar nicht mit dir selbst. Ich sage nur, dass du zugänglicher wirst, wenn du ein wenig spontan bist. Die Bootsbilder waren von seltener Schönheit. Sie hatten eine Unschuld des Augenblicks an sich, wenn du verstehst, was ich meine. Das merken die Leute. Einige glaubten sicher, sie hätten sie auch selbst machen können, was natürlich rührend ist. Trotzdem darf man dieses Gefühl nicht unterschätzen, wenn Menschen Kunst sehen. Tänzer sind ein anderes Beispiel. Es sieht so leicht aus, dass man glaubt, es selbst zu können, wenn man nur will.«
Wie Barbara, die auf dem Seil ein Gefühl von Schwerelosigkeit vermittelte.
»Eigentlich möchte ich dir einen Rat geben. Wie wäre es, eine kreative Pause von einigen Monaten einzulegen? Um Inspiration zu sammeln oder um nichts zu tun. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du nie ausspannst. Du arbeitest vermutlich sogar dann, wenn du ein Glas Wein trinkst.«
Die verdammte Izabella. Die ahnte, dass sie manchmal, wenn sie zum Prosten das Glas hob, daran dachte, welche Farbe der Wein hatte und welcher Film sie am besten wiedergeben würde. Die sicher der Frau zustimmen würde, die an einem sonnigen Strand in Asien ihre Schultern massiert und dabei gemurmelt hatte: Your mind is always active.
Sie stand auf. Musste einfach mit Mårten sprechen. Ihn sagen hören, dass es nicht so ernst sei, wie es wirke. Dass es eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung gebe, solange sie, er und Peter gesund seien. Dass sie, wenn alles zum Teufel ginge, doch die Wohnung verkaufen und in ein Land übersiedeln könnten, wo die Apfelsinen billiger wären als hier. Sie würde ihm zustimmen und lachen. Und alles würde wieder seine richtigen Proportionen annehmen.
»Dann lasse ich die Bilder bei dir. Du kannst dich ja melden und sagen, wie du dich entschieden hast. Danke, Izabella. Du weißt, wie froh ich bin, dass ich dich habe.«
»Und ich bin ebenso froh darüber, dass ich mit dir arbeiten kann.« Izabella brachte sie zur Tür und umarmte sie. Und Inga bemerkte wieder das, was sie nicht hatte bemerken wollen. Izabella war magerer geworden.
Sie ging durch die Tür der Galerie und hörte, wie Izabella sie hinter ihr schloss. Die Sonne stach ihr in die Augen. Sie hielt die Hand vor ihr Gesicht und dachte, dass müsse ein rebellischer Herbst sein, der sich Kälte und Dunkelheit einfach nicht ergeben wollte. Vielleicht hätte sie versuchen sollen, diesen Altweibersommer einzufangen, statt mit einem Zirkus umherzureisen, den sie offenbar nicht so hatte fotografieren können, dass die Bilder berührten. Es war ihr eindeutig nicht gelungen. Die Selbstkritik hämmerte mit ihrem Herzen im Takt. Sie ließ keinen Platz für den Gedanken, dass möglicherweise Izabella einen Tag hatte, an dem sie künstlerisch weniger empfänglich war, und dass Izabellas Meinung sich nicht notwendigerweise mit der anderer deckte.
Sie suchte in ihrer Tasche nach ihrem Telefon und wählte Mårtens Nummer. Sie hörte das Klingeln, aber als nach einer Weile Mårtens Stimme erklang, war es die von seinem Anrufbeantworter.
Das überraschte sie, normalerweise meldete er sich fast immer selbst. Enttäuscht blieb sie an einer Straßenkreuzung stehen und fragte sich, was sie jetzt machen sollte. Ihr Vorhaben, noch zu arbeiten, kam ihr sinnlos vor. Sie würde an diesem Tag nichts mehr tun können, was nicht von Unsicherheit durchsetzt sein würde. Natürlich ließ sie sich von so etwas niemals daran hindern, etwas Nützliches zu versuchen. Sie musste Mails beantworten und Rechnungen schreiben. Und doch kam ihr die Vorstellung, allein in ihrem Arbeitszimmer zu sein, unerträglich vor.
Sie wanderte ein wenig unschlüssig die Straße entlang. Was Izabella über ihre Fotos gesagt hatte, fraß sich in ihr fest, auch wenn sie wusste, dass Izabella sie nicht hatte verletzen wollen. Das Beste braucht kleine Mängel, um geschätzt zu werden, war es nicht so? Mach eine kreative Pause von einigen Monaten. Aber Pausen lagen ihr nicht, wenn Mårten nicht mitmachte. Und hatte sie das nicht dahin gebracht, wo sie sich heute befand? Sie hatte trotz allem als freischaffende Fotografin auf einem unbeständigen Markt Erfolg gehabt.
Gleichgültig schaute sie in Schaufenster. Nichts konnte ihr Interesse erwecken, außer einem Paar Schuhe, und das eher wegen der Farbe als wegen der Form. Aber die Vorstellung, in den Laden zu gehen und die Verkäuferin zu bitten, die Schuhe anprobieren zu dürfen, verlockte sie nicht. Sie ging zum Auto, warf die Kameratasche auf den Rücksitz und fuhr nach Hause.
Dort stellte sie die Tasche auf den Dielenboden, hängte ihren Mantel auf und ließ den vertrauen Geruch in sich einsinken. In der Küche stellte sie Teewasser auf, nahm eine Apfelsine und entfernte die Schale, obwohl sie eigentlich nicht gern Apfelsinen schälte. Der Saft sickerte durch ihre Finger und sie leckte ihn ab, schmeckte die Mischung aus Süße und Sprühmittel, als die Türklingel ertönte.
Sie schaute auf die Uhr. Es konnte nicht Mårten sein, falls er sie nicht überraschen wollte. Vielleicht ein Paket. Irgendeine Sendung, die mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Sie warf einen Blick in den Spiegel in der Diele. Blonde Haare, schulterlang. Braune Augen, dunkle Wimpern und Brauen. Eine Oberlippe, die wie ein Entenschnabel vorwärts und aufwärts strebte. Ihrer Meinung nach. Andere sprachen von einem Kussmund.
Der Mann, der vor der Tür stand, trug einen so weit offenstehenden Mantel, dass sie den Halskragen sehen konnte. Sein Blick war mitfühlend, als er die Hand ausstreckte und sich mit seinem Namen vorstellte, an den sie sich erst viel später würde erinnern können. Freundlich teilte er mit, er sei Pastor der lokalen Gemeinde, und bat, ins Haus kommen zu dürfen. In der Diele hängte er seinen Mantel neben ihren und folgte ihr ins Wohnzimmer. Sie dachte nur, dass der Apfelsinensaft um ihre Handgelenke zu Eis gefroren sein musste. Die Frage, was geschehen sei, versiegte irgendwo auf dem Weg aus ihrem Mund.
Später würde sie sich nur an Bruchstücke des Gesprächs erinnern können, daran, wie Wörter und Satzteile durch ihren Kopf gewirbelt waren. Spaziergang. Zusammengebrochen. Krankenwagen. Jemand hat angerufen.
Der letzte Satz bohrte sich wie glühendes Eisen in ihre Haut. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann tot ist.«
...
Übersetzung: Gabriele Haefs
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2011,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Maria Ernestam
Maria Ernestam, geb. 1959, begann ihre Laufbahn als Journalistin. Sie hat lange Jahre als Auslandskorrespondentin für schwedische Zeitungen in Deutschland gelebt, daneben eine Ausbildung als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin absolviert. In Schweden sind mittlerweile drei hoch gelobte Romane von ihr erschienen. Maria Ernestam lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Stockholm.Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem Gustav- Heinemann-Friedenspreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. 2011 wurde Gabriele Haefs als Königlich Norwegische Ritterin des St.Olavs Ordens in der Norwegischen Botschaft in Berlin ausgezeichnet u.a. für ihre Übersetzungen, für die Vermittlung von norwegischen Büchern nach Deutschland sowie für das Knüpfen von Kontakten im Kulturbereich ganz allgemein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maria Ernestam
- 2011, 380 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Schwed. v. Gabriele Haefs
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442742269
- ISBN-13: 9783442742264
Rezension zu „Ernestam, M: Der geheime Brief “
"Brillant ... ein reicher und dicht gewebter Roman, Maria Ernestam beweist ihre Könnerschaft aufs Neue."
Kommentar zu "Ernestam, M: Der geheime Brief"
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