Es ist niemals vorbei / Karin Schaeffer Bd.2
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Schon einmal hat Karin alles verloren. Als nun ihre Schwiegereltern ermordet werden und kurz darauf ihr zweiter Mann verschwindet, tippt die Polizei auf Selbstmord wegen Depressionen. Aber Karin will nicht glauben, dass Mac tot ist und stellt eigene Nachforschungen an.
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Produktinformationen zu „Es ist niemals vorbei / Karin Schaeffer Bd.2 “
Schon einmal hat Karin alles verloren. Als nun ihre Schwiegereltern ermordet werden und kurz darauf ihr zweiter Mann verschwindet, tippt die Polizei auf Selbstmord wegen Depressionen. Aber Karin will nicht glauben, dass Mac tot ist und stellt eigene Nachforschungen an.
Klappentext zu „Es ist niemals vorbei / Karin Schaeffer Bd.2 “
Nichts ist schlimmer als die Wahrheit.Drei Jahre sind vergangen, seit der gefürchtete "Domino-Killer" Karin das Liebste genommen hat: ihren Mann und ihre Tochter. Inzwischen hat die ehemalige Polizistin sich ein neues Leben aufgebaut. Sie ist mit ihrem Expartner Mac verheiratet und hat einen Sohn bekommen.
Doch dann werden Macs Eltern brutal ermordet. Kurz darauf ist Mac spurlos verschwunden. Die Polizei ist überzeugt: Es war Selbstmord. Nur Karin spürt, dass er noch lebt. Sie will ihre Familie retten - doch die ganze, grausame Wahrheit rollt unaufhaltsam auf sie zu ...
Lese-Probe zu „Es ist niemals vorbei / Karin Schaeffer Bd.2 “
Es ist niemals vorbei von Kate Pepper Teil eins
Eins
Ich öffnete die Augen, und prompt fing Ben an zu weinen. So
war es jeden Morgen, als hätten wir beide eine innere Uhr, die
genau gleich tickte. Ich wurde wach und sah den ersten Streifen
Tageslicht an den Rändern der schwarzen Jalousien unserer
Schlafzimmerfenster aufschimmern. Das Grau der Wände
verblasste zu Weiß. Ich erkannte das goldene Fahrrad und den
silbernen Mond auf dem gerahmten Poster an der Wand gegenüber.
Dann begann das Weinen. Zuerst stimmte er ein paar
zaghafte Probelaute an, die in leises Wimmern übergingen.
Dann konnte man meinen Namen heraushören. Nicht meinen
Vornamen - nicht Karin -, sondern Mommy. Vor etwa einem
halben Jahr hatte Ben mich zum ersten Mal so gerufen. Ich
war in Tränen ausgebrochen. Ich hatte noch im Halbschlaf vor
mich hin gedämmert und einen Moment lang geglaubt, Cece
verlange nach mir. Aber dann wusste ich wieder, dass es sie seit
gut drei Jahren nicht mehr gab, und die Erinnerung an ihren
kleinen toten Körper und die blutbespritzten Wände blitzte vor
mir auf. Ich musste heftig den Kopf schütteln, um die Erinnerung
zu verjagen.
Langsam richtete ich mich auf, um zu Ben zu gehen. Mac
strich mir mit den Fingerspitzen so sacht über den Rücken, dass
ich zusammenzuckte. Ich dachte, er schliefe noch.
«Ich gehe», sagte er.
«Nein, ist schon gut.»
«Doch, lass mich das machen.»
... mehr
Ich legte mich zurück, schloss die Augen und hörte, wie mein
Mann das Schlafzimmer durchquerte und in den Flur trat. Hörte
die Spülung der Toilette und dass er in Bens Zimmer auf der anderen
Flurseite ging. Aus dem klagenden «Mommy?» wurde ein
gejauchztes «Daddy!». Dann Stille: Offenbar wechselte er Bens
Windeln. Dann kehrte Mac mit Ben auf dem Arm zurück und
sagte: «Hier habe ich ein Geschenk für dich.» Ben kuschelte sich
an mich. Ich atmete seinen süßen, frischen Morgenduft ein und
strich ihm sanft über den Kopf. Seine Haare waren dunkel wie
die seines Vaters, bevor er graue Strähnen bekommen hatte. Ich
schmuste mit meinem kleinen Sohn, bis Mac mit zwei Tassen
Kaffee und der Morgenzeitung zurückkam. Ehe er zum Duschen
und Rasieren ins Badezimmer ging, stellte er den Fernseher
an. Ben krabbelte zum Fußende des Betts. Als er sah, dass die
Sesamstraße lief, setzte er sich kerzengerade auf.
Mac, der zur Haustür gegangen war, um die Zeitung von
der Eingangstreppe hereinzuholen, rief: «Es ist jetzt schon heiß
draußen. Soll ich die Klimaanlage einschalten?»
«Noch nicht.» Die Klimaanlage war zwar wunderbar,um die
feuchte Hitze der letzten Augusttage zu vertreiben, aber mich
störte ihr Summen. Ohnehin würde es nicht mehr lange dauern,
bis der Herbst begann und uns den ersten frischen Wind
sandte. Ich hievte mich hoch, trank ein paar Schlückchen Kaffee
und schlug die Zeitung auf. Die ersten Nachrichtenseiten
überflog ich. Dann kam ich zum Wirtschaftsteil, und Macs Gesicht
sprang mir entgegen. Mir fiel wieder ein, dass ihn vor kurzem
ein Reporter zu seiner neuen Position interviewt hatte.
«Mac!»
«Was ist?»
«Der Artikel ist erschienen.»
Mit der Zeitung in der Hand stieg ich aus dem Bett und
klopfte an die Badezimmertür. «Ich bin's. Mach auf.» Mac verschloss
immer die Tür, weil wir nicht wollten, dass Ben sie überraschend
aufstieß und Mac nackt sah - mit all den Narben auf
seinem Körper, diesen allzu sichtbaren Beweisen unseres früheren
Lebens bei der Polizei. Eines Tages würden wir unserem
Sohn von den beiden Serienmördern erzählen. Mac und ich
nannten sie JPPs. Es stand für «just plain psycho», «einfach nur
krank». So fiel es uns leichter, mit der Erinnerung an die beiden
Wahnsinnigen umzugehen, die meinen ersten Mann und mein
erstes Kind auf dem Gewissen hatten. Auch Mac hätten die beiden
beinah das Leben gekostet. Aber das durfte Ben noch nicht
erfahren. Er war noch ein unschuldiges kleines Wesen in der
niedlichsten Phase seines jungen Lebens. So niedlich war auch
meine Tochter gewesen, ehe das mörderische Duo zuschlug.
Ihren dritten Geburtstag hatte Cece nie erlebt. Nach und nach
würde die Welt Ben seiner Unschuld berauben. Dann, wenn die
Zeit reif war, würden wir ihm alles erzählen.
Die Badezimmertür schwang auf. Mac war nackt, bis auf
das Badetuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte.
Brust und Rücken waren von kleinen weißlichen Narben gesprenkelt,
die einfach nicht verschwinden wollten. Gleich unter
seinem linken Schlüsselbein war er tätowiert - ein Anfall
jugendlicher Rebellion. Das Tattoo zeigte eine münzgroße lavendelblaue
Dahlie. Mac hatte sich damals gegen seinen Vater
gewehrt, der ihn zum Studium drängte, weil er nicht wollte,
dass sein Sohn im Eisenwarengeschäft der Familie endete. Mac
hatte schließlich eingesehen, dass sein Vater recht hatte, und
nachgegeben. Die Tätowierung hingegen war geblieben. Mac
hatte einmal gewitzelt, wenigstens müsse er niemandem sein
Leben erklären, sondern nur das Hemd hochziehen - das Tattoo
und die Narben würden seine Geschichte schon erzählen.
Macs eine Wange, einschließlich des Grübchens im Kinn,
war noch voller Rasierschaum, die andere schon frisch rasiert.
Ich hielt ihm die Zeitung hin und deutete auf das Foto, das ihn
an seinem Schreibtisch in der Unternehmenszentrale von Quest
Security sitzend zeigte. Die Bildunterschrift lautete: «Seamus
‹Mac› MacLeary, neuernannter Direktor der Forensik». Das
Foto gehörte zu einem Artikel mit der Überschrift «MacLeary
übernimmt überraschend Nachfolge von Stein».
Mac runzelte die Stirn. «Ich dachte, das würde erst in ein
paar Tagen kommen. Der Typ hatte mich vorher benachrichtigen
wollen.»
«Das hat er offenbar nicht.»
«Wer weiß? Am Wochenende habe ich meine E-Mails nicht
gelesen.» Mac betrachtete nachdenklich das Foto. «Vielleicht
hätte ich doch kein Interview geben sollen.»
«Inzwischen arbeitest du in der freien Wirtschaft», erinnerte
ich ihn. «Da ist man ungeschützt. Außerdem hat deine Beförderung
Aufsehen erregt, denn Deidre war allseits beliebt.»
Mac seufzte und zuckte mit den Schultern. «Hast du den
Artikel gelesen? Weißt du, was man über sie schreibt?»
Ich überflog den Artikel auf der Suche nach ihrem Namen.
«Hier steht, dass sie von einem Tag auf den anderen gehen
musste. Von einem mutmaßlichen ‹Korruptionsskandal› ist die
Rede. Es heißt, angeblich habe sie in einem hochkarätigen Fall
gegen Geld Beweise unterschlagen.»
«Mutmaßlich und angeblich», sagte Mac. «Das ist doch gar
nichts. Den Betrug muss man ihr erst einmal nachweisen können.
Jedenfalls stört es mich unendlich, auf dem Weg zu ihrem
Job gekommen zu sein.» Den letzten Satz hatte Mac in der
Woche seit Deidres Entlassung wie ein Mantra ständig wiederholt.
Und wenn er damit fertig war, hatte er mit seinem zwei-
ten Mantra begonnen: «Ich hoffe, sie strengt eine Gegenklage
an. Wegen Rassendiskriminierung oder sexueller Diskriminierung
oder beidem.»
Ich kannte Deidre von ein paar flüchtigen Begegnungen.
Sie war eine hellhäutige Afroamerikanerin Mitte dreißig. Ich
wusste, dass sie eine hervorragende Ausbildung hatte und als
effektive und kompromisslose Managerin bekannt war. Über
ein Jahr hatte Mac mit ihr zusammengearbeitet und immer nur
gut über sie gesprochen. Dann sägte man sie ab und bot Mac ihren
Posten an. Ihn anzunehmen, war ihm schwergefallen, aber
er kannte seine Pflichten. Nach zwei Jahrzehnten im Polizeidienst
von New Jersey war er kein Mann, der viel Trara machte
oder jammerte.
«Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht», hatte er
mich vor einer Woche abends begrüßt. «Welche willst du zuerst
hören?»
Ich sah ihn schweigend an. Mac wusste, dass ich überhaupt
keine schlechten Nachrichten hören wollte.
«Na schön», fuhr er fort. «Dann zuerst die gute. Ich habe
eine saftige Gehaltserhöhung bekommen. Die schlechte lautet,
dass sie die Sache durchgezogen haben. Deidre ist draußen,
und ich bin jetzt der Chef.»
Ich sagte, eine Beförderung dieses Kalibers sei doch eine
Ehre, ganz zu schweigen von dem höheren Einkommen. Das
Geld sei eine Wohltat, denn schließlich bekäme ich zurzeit nur
meine Berufsunfähigkeitsrente. Diese Schecks waren eine weitere
unschöne Erinnerung daran, dass mein Leben und meine
Arbeit auf grauenhafte Weise kollidiert waren. Und natürlich
hatte die Mutterschaft mein Studium verlangsamt. Ich hatte es
zwar nicht aufgegeben und belegte am John Jay College of Criminal
Justice Kurse in forensischer Psychologie, aber die Vorbe-
reitung auf meine zweite Karriere zog sich hin. Am Wochenende,
nach ein paar Margaritas bei unserem Mexikaner, hatte
Mac scherzhaft vorgeschlagen, wir sollten unsere Nachnamen
ändern und uns einfach Mr und Mrs Forensik nennen. Ich hatte
gelacht, aber dann war mir der Gedanke gekommen, dass diese
Bemerkung womöglich seine Enttäuschung darüber verriet,
dass ich als Karin Schaeffer noch immer an dem Nachnamen
meines ersten Mannes festhielt. Val, Macs erste Frau, hatte den
Namen MacLeary schließlich gleich nach ihrer Wiederverheiratung
in Ng ändern lassen.
Mac tupfte sich den Rasierschaum mit einem Handtuch
ab und gab mir einen Kuss. Seine Haut roch nach dem würzigen
Duft, den ich ihm am Vatertag mehr als Scherz überreicht
hatte. Vielleicht würde ich ihm im nächsten Jahr eine Krawatte
aussuchen? Und im Jahr darauf einen Golfball als Briefbeschwerer.
Mac dagegen hatte den Muttertag ernst genommen. Statt
irgendeiner Albernheit hatte er mir wundervolle Ohrringe und
einen duftigen Seidenschal geschenkt.
«Hast du noch Zeit zu frühstücken?», fragte ich.
«Habe ich.»
Das Telefon klingelte. Auf dem Weg zum Kleiderschrank
im Schlafzimmer nahm Mac den Hörer ab. Zweimal sagte er
«Hallo?». Dann legte er wieder auf.
«Wer war das?»
«Unbekannt.»
«Den kann ich nicht leiden.»
Wir lachten.
Eine Minute später ging das Telefon erneut. Auf dem Display
stand NYPD - New York Police Department. Ich ging ran.
«Hallo, Karin, hier ist Billy. Mac ist berühmt geworden, ich
habe es eben gelesen.» Detective Billy Staples gehörte zu un-
serem alten Revier, dem 84. von Brooklyn. Inzwischen war er
Macs engster Freund geworden. Billy hatte miterlebt, wie Mac
die Polizei von Mapleton verließ, hierherzog, mich heiratete
und ein neues Leben begann. «Wie fühlt man sich denn, wenn
man mit einem Obermufti zusammenlebt?»
«Mach du ihm erst mal klar, dass er das ist.» Ich reichte Mac
den Hörer. Er klemmte sich ihn zwischen Schulter und Ohr
und schnallte dabei seinen Gürtel zu.
Sesamstraße war inzwischen zu Ende, und ein Zeichentrickfilm
lief. Ich stellte den Fernseher aus und machte Ben zum
Frühstück fertig.
«Heute Abend kann ich nicht», hörte ich Mac sagen. «Karin
hat einen Kurs.» Er lauschte, warf mir einen Blick zu und
fragte: «Kannst du Freitag? An allen anderen Abenden hat er etwas
vor.»
«Für Freitag haben wir doch unser Dinner im Union Square
Café geplant!» Der Termin war mir wichtig, und das hörte man
an meinem Tonfall. Unser zweiter Hochzeitstag würde zwar
erst Samstag sein, aber für den Tag hatten wir keinen Tisch
mehr bekommen und unser Dinner stattdessen auf Freitag vorgezogen.
Solche Verschiebungen waren wir zwar gewohnt,
schließlich hatten wir erst geheiratet, als ich im fünften Monat
schwanger war, aber diesen Tisch hatten wir nun schon vor
über einem Monat gebucht.
Mac hatte das offenbar vergessen, und es war ihm sichtlich
unangenehm. «Billy möchte mich zu einem Drink einladen»,
flüsterte er. «Um auf die Beförderung anzustoßen.»
«Geh heute Abend», erwiderte ich. «Ich werde Mom bitten,
auf Ben aufzupassen.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher.»
Mac und Billy verabredeten, sich nach der Arbeit in einer
Bar namens Boat an der Smith Street zu treffen.
Ich reichte Ben an Mac weiter. Mac sah jetzt aus wie aus
dem Ei gepellt, in flottem grauem Anzug, weißem Hemd und
blauem Schlips mit Paisleymuster. Er nahm Ben hoch und trug
ihn nach oben. Ich zog die Jalousien hoch. Helles Sonnenlicht
durchflutete das Schlafzimmer.
Ich hatte in der Armee gedient, war Polizistin und anschließend
Detective gewesen. Ein Wahnsinniger und seine Muse
hatten mir Leben, Herz, Seele und Geist zerstört. Und jetzt
stand ich da, an einem hellen Sommermorgen, lebte und fühlte
mich gut. Wenn man nach alldem glücklich sein konnte, dann
war ich es in diesem Augenblick.
Es war schon nach elf Uhr abends, als ich aus der U-Bahn stieg.
Hinter mir lagen die ersten Stunden des neuen Seminars zum
Thema Der Psychopath in Kriminologie und Kunst. Der Kurs gehörte
zu einem interdisziplinären Studienprogramm, das sich
Psychologie-ISP nannte. Ich fand es etwas merkwürdig, die
Psychopathologie im Kontext von Fernsehserien und Filmen
zu studieren, denn darum ging es vorrangig. Meistens lagen
die Macher dieser Produktionen doch daneben. Ich konnte es
kaum fassen, wie man die Fälle dermaßen schlampig darstellen
und sogar verklären konnte, denn im wahren Leben waren sie
nie etwas anderes als schrecklich und kannten keinerlei Erlösung,
weder für die Aufklärer noch für die Opfer. Die Idee einer
höheren Gerechtigkeit war doch ein Witz! Trotzdem musste
ich zugeben, dass der Professor seine Sache gut machte. Abgesehen
davon war es ein Pflichtkurs.
Ich gähnte, als ich in unsere Straße einbog. Hoffentlich
hatte sich meine Mutter schon ins Gästezimmer zurückgezo-
gen und wartete nicht mehr auf mich. Elf Uhr abends war spät
für sie; daran hatte ich nicht gedacht, als ich sie bat, auf Ben
aufzupassen. Der Kleine lag wahrscheinlich schon seit Stunden
in seinem Bettchen und schlief. In unserer Straße war es dunkel
und ruhig. Nur wenige Fußgänger waren noch unterwegs,
aber das gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Inzwischen lebte ich
seit mehreren Jahren in Brooklyn und fürchtete mich eher vor
der einsamen Stille in Vororten und auf dem Land als vor den
vielen Menschen in der Stadt. In der Not, da war ich mir sicher,
würden einem die meisten Fremden helfen.
Vor unserem Haus kramte ich die Schlüssel aus meiner
Handtasche hervor. Darin lag auch mein Handy, und ich sah,
dass ich es auf stumm geschaltet hatte. Also stellte ich es wieder
laut. Sofort fing es an zu piepsen. Offenbar hatte meine Mutter
sieben Mal versucht, mich zu erreichen. Mein Puls galoppierte.
All die Dinge, die Ben zugestoßen sein konnten! Vielleicht war
er die Treppe hinuntergefallen, an einem Brocken seiner Mahlzeit
erstickt oder in der Badewanne ertrunken . . .
Ich stürmte die Treppe hoch und schloss hastig die Haustür
auf. Sie öffnete sich direkt in unseren Wohnbereich mit Diele,
Wohnzimmer, Esszimmer und Küche, die ineinander übergingen.
Der Stuck an den hohen Decken war in den vergangenen
hundert Jahren mehrfach übertüncht worden, aber wir hatten
ihn wieder freigelegt. Überall brannte Licht, doch meine Mutter
war nirgends zu sehen.
«Mom?»
Da kam meine Mutter die Treppe hochgelaufen. Sie hatte
gelegen, denn ihr kurzes rostrotes Haar war auf einer Seite
platt gedrückt. Geschlafen hatte sie offenbar nicht, denn ihre
Augen wirkten hellwach, wenn auch gerötet.
«Ist mit Ben alles in Ordnung?»
«Ihm geht es gut. Er schläft.» Meine Mutter brach in Tränen
aus, trat zu mir und drückte mich an sich.
«Was ist denn passiert? Warum hast du so oft angerufen?»
«Warum bist du nicht drangegangen?»
«Ich hatte auf stumm geschaltet, um die anderen im Kurs
nicht zu stören. Was ist denn los?»
«Mac habe ich auch versucht zu erreichen. Aber der hat sein
Handy hier liegenlassen, als er kam, um sich umzuziehen. Als
ich ihn angerufen habe, hat es hier geklingelt. Wie könnt ihr
denn unerreichbar sein, wenn ich hier mit Ben allein bin?»
«Was hast du denn früher gemacht, wenn du mit Dad aus
warst? Da hattet ihr doch auch noch kein Handy.»
«Wir haben dem Babysitter genau gesagt, wo wir waren,
und die Telefonnummern des Restaurants, des Kinos oder der
Freunde, die wir besucht haben, hinterlassen.»
«Du hättest im College anrufen können.»
«Das habe ich. Aber da war nur die Mailbox der Zentrale
dran. Um weiterzukommen, brauchte man eine Durchwahl,
und die hatte ich nicht.» Meine Mutter klang ungehalten.
Jetzt weinte sie wieder. Mein Vater war schon vor einiger
Zeit gestorben. Jon, mein einziger Bruder, war mit seiner Familie
ans andere Ende des Landes nach Los Angeles gezogen. Seitdem
war meine Mutter einsam und empfindlicher als früher.
Aber diese Aufregung fand ich jetzt doch übertrieben.
«Gut, aber was ist denn nun los?»
«Die Polizei von Bronxville hat angerufen.»
Bronxville lag in Westchester. Mac war dort aufgewachsen.
«Und weshalb?»
«Sie haben Hugh und Aileen» - das waren Macs Eltern -
«im Haus gefunden.»
«Gefunden? Was soll das heißen?»
«Sie wurden ermordet», flüsterte meine Mutter, als befürchte
sie, die Worte könnten sonst nach unten dringen und
Ben erreichen. «Es war ein Raubüberfall, der aus dem Ruder
gelaufen ist. So haben sie es jedenfalls ausgedrückt.»
Die Worte klangen so irreal, dass sie kaum zu mir durchdrangen.
«Sie sind beide tot?»
Meine Mutter starrte mich an und nickte. Ihre Augen waren
blutunterlaufen. Sie musste viel geweint haben.
«Das glaube ich nicht.» Benommen ging ich zum Sofa und
ließ mich hineinfallen.
«Das kann ich mir denken. Ich weiß, wie das ist.» Meine
Mutter setzte sich neben mich.
«Hugh und Aileen? Beide tot?»
«Die Polizei nimmt an, dass es am späten Nachmittag geschehen
ist. Aber wieso waren sie da zu Hause? Das begreife
ich einfach nicht. Sie arbeiten doch den ganzen Tag in ihrem
Laden.»
«Nicht am Montag. Da ist er geschlossen.»
«Ja, aber wieso denn? Weshalb machen sie denn montags
zu?»
«Es war ihr freier Tag. So haben sie es immer gehalten. Eine
Tradition aus ihrem alten Leben in Europa. Ausnahmen haben
sie nie gemacht.»
«Die Diebe müssen gedacht haben, es sei niemand im
Haus.»
«Wahrscheinlich. Ich kann es einfach nicht glauben. Hugh
und Aileen?»
«Der arme Mac», sagte meine Mutter, und mir wurde
schlagartig klar, dass ich ihm die schlimme Nachricht überbringen
musste.
Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.
Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Ich legte mich zurück, schloss die Augen und hörte, wie mein
Mann das Schlafzimmer durchquerte und in den Flur trat. Hörte
die Spülung der Toilette und dass er in Bens Zimmer auf der anderen
Flurseite ging. Aus dem klagenden «Mommy?» wurde ein
gejauchztes «Daddy!». Dann Stille: Offenbar wechselte er Bens
Windeln. Dann kehrte Mac mit Ben auf dem Arm zurück und
sagte: «Hier habe ich ein Geschenk für dich.» Ben kuschelte sich
an mich. Ich atmete seinen süßen, frischen Morgenduft ein und
strich ihm sanft über den Kopf. Seine Haare waren dunkel wie
die seines Vaters, bevor er graue Strähnen bekommen hatte. Ich
schmuste mit meinem kleinen Sohn, bis Mac mit zwei Tassen
Kaffee und der Morgenzeitung zurückkam. Ehe er zum Duschen
und Rasieren ins Badezimmer ging, stellte er den Fernseher
an. Ben krabbelte zum Fußende des Betts. Als er sah, dass die
Sesamstraße lief, setzte er sich kerzengerade auf.
Mac, der zur Haustür gegangen war, um die Zeitung von
der Eingangstreppe hereinzuholen, rief: «Es ist jetzt schon heiß
draußen. Soll ich die Klimaanlage einschalten?»
«Noch nicht.» Die Klimaanlage war zwar wunderbar,um die
feuchte Hitze der letzten Augusttage zu vertreiben, aber mich
störte ihr Summen. Ohnehin würde es nicht mehr lange dauern,
bis der Herbst begann und uns den ersten frischen Wind
sandte. Ich hievte mich hoch, trank ein paar Schlückchen Kaffee
und schlug die Zeitung auf. Die ersten Nachrichtenseiten
überflog ich. Dann kam ich zum Wirtschaftsteil, und Macs Gesicht
sprang mir entgegen. Mir fiel wieder ein, dass ihn vor kurzem
ein Reporter zu seiner neuen Position interviewt hatte.
«Mac!»
«Was ist?»
«Der Artikel ist erschienen.»
Mit der Zeitung in der Hand stieg ich aus dem Bett und
klopfte an die Badezimmertür. «Ich bin's. Mach auf.» Mac verschloss
immer die Tür, weil wir nicht wollten, dass Ben sie überraschend
aufstieß und Mac nackt sah - mit all den Narben auf
seinem Körper, diesen allzu sichtbaren Beweisen unseres früheren
Lebens bei der Polizei. Eines Tages würden wir unserem
Sohn von den beiden Serienmördern erzählen. Mac und ich
nannten sie JPPs. Es stand für «just plain psycho», «einfach nur
krank». So fiel es uns leichter, mit der Erinnerung an die beiden
Wahnsinnigen umzugehen, die meinen ersten Mann und mein
erstes Kind auf dem Gewissen hatten. Auch Mac hätten die beiden
beinah das Leben gekostet. Aber das durfte Ben noch nicht
erfahren. Er war noch ein unschuldiges kleines Wesen in der
niedlichsten Phase seines jungen Lebens. So niedlich war auch
meine Tochter gewesen, ehe das mörderische Duo zuschlug.
Ihren dritten Geburtstag hatte Cece nie erlebt. Nach und nach
würde die Welt Ben seiner Unschuld berauben. Dann, wenn die
Zeit reif war, würden wir ihm alles erzählen.
Die Badezimmertür schwang auf. Mac war nackt, bis auf
das Badetuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte.
Brust und Rücken waren von kleinen weißlichen Narben gesprenkelt,
die einfach nicht verschwinden wollten. Gleich unter
seinem linken Schlüsselbein war er tätowiert - ein Anfall
jugendlicher Rebellion. Das Tattoo zeigte eine münzgroße lavendelblaue
Dahlie. Mac hatte sich damals gegen seinen Vater
gewehrt, der ihn zum Studium drängte, weil er nicht wollte,
dass sein Sohn im Eisenwarengeschäft der Familie endete. Mac
hatte schließlich eingesehen, dass sein Vater recht hatte, und
nachgegeben. Die Tätowierung hingegen war geblieben. Mac
hatte einmal gewitzelt, wenigstens müsse er niemandem sein
Leben erklären, sondern nur das Hemd hochziehen - das Tattoo
und die Narben würden seine Geschichte schon erzählen.
Macs eine Wange, einschließlich des Grübchens im Kinn,
war noch voller Rasierschaum, die andere schon frisch rasiert.
Ich hielt ihm die Zeitung hin und deutete auf das Foto, das ihn
an seinem Schreibtisch in der Unternehmenszentrale von Quest
Security sitzend zeigte. Die Bildunterschrift lautete: «Seamus
‹Mac› MacLeary, neuernannter Direktor der Forensik». Das
Foto gehörte zu einem Artikel mit der Überschrift «MacLeary
übernimmt überraschend Nachfolge von Stein».
Mac runzelte die Stirn. «Ich dachte, das würde erst in ein
paar Tagen kommen. Der Typ hatte mich vorher benachrichtigen
wollen.»
«Das hat er offenbar nicht.»
«Wer weiß? Am Wochenende habe ich meine E-Mails nicht
gelesen.» Mac betrachtete nachdenklich das Foto. «Vielleicht
hätte ich doch kein Interview geben sollen.»
«Inzwischen arbeitest du in der freien Wirtschaft», erinnerte
ich ihn. «Da ist man ungeschützt. Außerdem hat deine Beförderung
Aufsehen erregt, denn Deidre war allseits beliebt.»
Mac seufzte und zuckte mit den Schultern. «Hast du den
Artikel gelesen? Weißt du, was man über sie schreibt?»
Ich überflog den Artikel auf der Suche nach ihrem Namen.
«Hier steht, dass sie von einem Tag auf den anderen gehen
musste. Von einem mutmaßlichen ‹Korruptionsskandal› ist die
Rede. Es heißt, angeblich habe sie in einem hochkarätigen Fall
gegen Geld Beweise unterschlagen.»
«Mutmaßlich und angeblich», sagte Mac. «Das ist doch gar
nichts. Den Betrug muss man ihr erst einmal nachweisen können.
Jedenfalls stört es mich unendlich, auf dem Weg zu ihrem
Job gekommen zu sein.» Den letzten Satz hatte Mac in der
Woche seit Deidres Entlassung wie ein Mantra ständig wiederholt.
Und wenn er damit fertig war, hatte er mit seinem zwei-
ten Mantra begonnen: «Ich hoffe, sie strengt eine Gegenklage
an. Wegen Rassendiskriminierung oder sexueller Diskriminierung
oder beidem.»
Ich kannte Deidre von ein paar flüchtigen Begegnungen.
Sie war eine hellhäutige Afroamerikanerin Mitte dreißig. Ich
wusste, dass sie eine hervorragende Ausbildung hatte und als
effektive und kompromisslose Managerin bekannt war. Über
ein Jahr hatte Mac mit ihr zusammengearbeitet und immer nur
gut über sie gesprochen. Dann sägte man sie ab und bot Mac ihren
Posten an. Ihn anzunehmen, war ihm schwergefallen, aber
er kannte seine Pflichten. Nach zwei Jahrzehnten im Polizeidienst
von New Jersey war er kein Mann, der viel Trara machte
oder jammerte.
«Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht», hatte er
mich vor einer Woche abends begrüßt. «Welche willst du zuerst
hören?»
Ich sah ihn schweigend an. Mac wusste, dass ich überhaupt
keine schlechten Nachrichten hören wollte.
«Na schön», fuhr er fort. «Dann zuerst die gute. Ich habe
eine saftige Gehaltserhöhung bekommen. Die schlechte lautet,
dass sie die Sache durchgezogen haben. Deidre ist draußen,
und ich bin jetzt der Chef.»
Ich sagte, eine Beförderung dieses Kalibers sei doch eine
Ehre, ganz zu schweigen von dem höheren Einkommen. Das
Geld sei eine Wohltat, denn schließlich bekäme ich zurzeit nur
meine Berufsunfähigkeitsrente. Diese Schecks waren eine weitere
unschöne Erinnerung daran, dass mein Leben und meine
Arbeit auf grauenhafte Weise kollidiert waren. Und natürlich
hatte die Mutterschaft mein Studium verlangsamt. Ich hatte es
zwar nicht aufgegeben und belegte am John Jay College of Criminal
Justice Kurse in forensischer Psychologie, aber die Vorbe-
reitung auf meine zweite Karriere zog sich hin. Am Wochenende,
nach ein paar Margaritas bei unserem Mexikaner, hatte
Mac scherzhaft vorgeschlagen, wir sollten unsere Nachnamen
ändern und uns einfach Mr und Mrs Forensik nennen. Ich hatte
gelacht, aber dann war mir der Gedanke gekommen, dass diese
Bemerkung womöglich seine Enttäuschung darüber verriet,
dass ich als Karin Schaeffer noch immer an dem Nachnamen
meines ersten Mannes festhielt. Val, Macs erste Frau, hatte den
Namen MacLeary schließlich gleich nach ihrer Wiederverheiratung
in Ng ändern lassen.
Mac tupfte sich den Rasierschaum mit einem Handtuch
ab und gab mir einen Kuss. Seine Haut roch nach dem würzigen
Duft, den ich ihm am Vatertag mehr als Scherz überreicht
hatte. Vielleicht würde ich ihm im nächsten Jahr eine Krawatte
aussuchen? Und im Jahr darauf einen Golfball als Briefbeschwerer.
Mac dagegen hatte den Muttertag ernst genommen. Statt
irgendeiner Albernheit hatte er mir wundervolle Ohrringe und
einen duftigen Seidenschal geschenkt.
«Hast du noch Zeit zu frühstücken?», fragte ich.
«Habe ich.»
Das Telefon klingelte. Auf dem Weg zum Kleiderschrank
im Schlafzimmer nahm Mac den Hörer ab. Zweimal sagte er
«Hallo?». Dann legte er wieder auf.
«Wer war das?»
«Unbekannt.»
«Den kann ich nicht leiden.»
Wir lachten.
Eine Minute später ging das Telefon erneut. Auf dem Display
stand NYPD - New York Police Department. Ich ging ran.
«Hallo, Karin, hier ist Billy. Mac ist berühmt geworden, ich
habe es eben gelesen.» Detective Billy Staples gehörte zu un-
serem alten Revier, dem 84. von Brooklyn. Inzwischen war er
Macs engster Freund geworden. Billy hatte miterlebt, wie Mac
die Polizei von Mapleton verließ, hierherzog, mich heiratete
und ein neues Leben begann. «Wie fühlt man sich denn, wenn
man mit einem Obermufti zusammenlebt?»
«Mach du ihm erst mal klar, dass er das ist.» Ich reichte Mac
den Hörer. Er klemmte sich ihn zwischen Schulter und Ohr
und schnallte dabei seinen Gürtel zu.
Sesamstraße war inzwischen zu Ende, und ein Zeichentrickfilm
lief. Ich stellte den Fernseher aus und machte Ben zum
Frühstück fertig.
«Heute Abend kann ich nicht», hörte ich Mac sagen. «Karin
hat einen Kurs.» Er lauschte, warf mir einen Blick zu und
fragte: «Kannst du Freitag? An allen anderen Abenden hat er etwas
vor.»
«Für Freitag haben wir doch unser Dinner im Union Square
Café geplant!» Der Termin war mir wichtig, und das hörte man
an meinem Tonfall. Unser zweiter Hochzeitstag würde zwar
erst Samstag sein, aber für den Tag hatten wir keinen Tisch
mehr bekommen und unser Dinner stattdessen auf Freitag vorgezogen.
Solche Verschiebungen waren wir zwar gewohnt,
schließlich hatten wir erst geheiratet, als ich im fünften Monat
schwanger war, aber diesen Tisch hatten wir nun schon vor
über einem Monat gebucht.
Mac hatte das offenbar vergessen, und es war ihm sichtlich
unangenehm. «Billy möchte mich zu einem Drink einladen»,
flüsterte er. «Um auf die Beförderung anzustoßen.»
«Geh heute Abend», erwiderte ich. «Ich werde Mom bitten,
auf Ben aufzupassen.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher.»
Mac und Billy verabredeten, sich nach der Arbeit in einer
Bar namens Boat an der Smith Street zu treffen.
Ich reichte Ben an Mac weiter. Mac sah jetzt aus wie aus
dem Ei gepellt, in flottem grauem Anzug, weißem Hemd und
blauem Schlips mit Paisleymuster. Er nahm Ben hoch und trug
ihn nach oben. Ich zog die Jalousien hoch. Helles Sonnenlicht
durchflutete das Schlafzimmer.
Ich hatte in der Armee gedient, war Polizistin und anschließend
Detective gewesen. Ein Wahnsinniger und seine Muse
hatten mir Leben, Herz, Seele und Geist zerstört. Und jetzt
stand ich da, an einem hellen Sommermorgen, lebte und fühlte
mich gut. Wenn man nach alldem glücklich sein konnte, dann
war ich es in diesem Augenblick.
Es war schon nach elf Uhr abends, als ich aus der U-Bahn stieg.
Hinter mir lagen die ersten Stunden des neuen Seminars zum
Thema Der Psychopath in Kriminologie und Kunst. Der Kurs gehörte
zu einem interdisziplinären Studienprogramm, das sich
Psychologie-ISP nannte. Ich fand es etwas merkwürdig, die
Psychopathologie im Kontext von Fernsehserien und Filmen
zu studieren, denn darum ging es vorrangig. Meistens lagen
die Macher dieser Produktionen doch daneben. Ich konnte es
kaum fassen, wie man die Fälle dermaßen schlampig darstellen
und sogar verklären konnte, denn im wahren Leben waren sie
nie etwas anderes als schrecklich und kannten keinerlei Erlösung,
weder für die Aufklärer noch für die Opfer. Die Idee einer
höheren Gerechtigkeit war doch ein Witz! Trotzdem musste
ich zugeben, dass der Professor seine Sache gut machte. Abgesehen
davon war es ein Pflichtkurs.
Ich gähnte, als ich in unsere Straße einbog. Hoffentlich
hatte sich meine Mutter schon ins Gästezimmer zurückgezo-
gen und wartete nicht mehr auf mich. Elf Uhr abends war spät
für sie; daran hatte ich nicht gedacht, als ich sie bat, auf Ben
aufzupassen. Der Kleine lag wahrscheinlich schon seit Stunden
in seinem Bettchen und schlief. In unserer Straße war es dunkel
und ruhig. Nur wenige Fußgänger waren noch unterwegs,
aber das gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Inzwischen lebte ich
seit mehreren Jahren in Brooklyn und fürchtete mich eher vor
der einsamen Stille in Vororten und auf dem Land als vor den
vielen Menschen in der Stadt. In der Not, da war ich mir sicher,
würden einem die meisten Fremden helfen.
Vor unserem Haus kramte ich die Schlüssel aus meiner
Handtasche hervor. Darin lag auch mein Handy, und ich sah,
dass ich es auf stumm geschaltet hatte. Also stellte ich es wieder
laut. Sofort fing es an zu piepsen. Offenbar hatte meine Mutter
sieben Mal versucht, mich zu erreichen. Mein Puls galoppierte.
All die Dinge, die Ben zugestoßen sein konnten! Vielleicht war
er die Treppe hinuntergefallen, an einem Brocken seiner Mahlzeit
erstickt oder in der Badewanne ertrunken . . .
Ich stürmte die Treppe hoch und schloss hastig die Haustür
auf. Sie öffnete sich direkt in unseren Wohnbereich mit Diele,
Wohnzimmer, Esszimmer und Küche, die ineinander übergingen.
Der Stuck an den hohen Decken war in den vergangenen
hundert Jahren mehrfach übertüncht worden, aber wir hatten
ihn wieder freigelegt. Überall brannte Licht, doch meine Mutter
war nirgends zu sehen.
«Mom?»
Da kam meine Mutter die Treppe hochgelaufen. Sie hatte
gelegen, denn ihr kurzes rostrotes Haar war auf einer Seite
platt gedrückt. Geschlafen hatte sie offenbar nicht, denn ihre
Augen wirkten hellwach, wenn auch gerötet.
«Ist mit Ben alles in Ordnung?»
«Ihm geht es gut. Er schläft.» Meine Mutter brach in Tränen
aus, trat zu mir und drückte mich an sich.
«Was ist denn passiert? Warum hast du so oft angerufen?»
«Warum bist du nicht drangegangen?»
«Ich hatte auf stumm geschaltet, um die anderen im Kurs
nicht zu stören. Was ist denn los?»
«Mac habe ich auch versucht zu erreichen. Aber der hat sein
Handy hier liegenlassen, als er kam, um sich umzuziehen. Als
ich ihn angerufen habe, hat es hier geklingelt. Wie könnt ihr
denn unerreichbar sein, wenn ich hier mit Ben allein bin?»
«Was hast du denn früher gemacht, wenn du mit Dad aus
warst? Da hattet ihr doch auch noch kein Handy.»
«Wir haben dem Babysitter genau gesagt, wo wir waren,
und die Telefonnummern des Restaurants, des Kinos oder der
Freunde, die wir besucht haben, hinterlassen.»
«Du hättest im College anrufen können.»
«Das habe ich. Aber da war nur die Mailbox der Zentrale
dran. Um weiterzukommen, brauchte man eine Durchwahl,
und die hatte ich nicht.» Meine Mutter klang ungehalten.
Jetzt weinte sie wieder. Mein Vater war schon vor einiger
Zeit gestorben. Jon, mein einziger Bruder, war mit seiner Familie
ans andere Ende des Landes nach Los Angeles gezogen. Seitdem
war meine Mutter einsam und empfindlicher als früher.
Aber diese Aufregung fand ich jetzt doch übertrieben.
«Gut, aber was ist denn nun los?»
«Die Polizei von Bronxville hat angerufen.»
Bronxville lag in Westchester. Mac war dort aufgewachsen.
«Und weshalb?»
«Sie haben Hugh und Aileen» - das waren Macs Eltern -
«im Haus gefunden.»
«Gefunden? Was soll das heißen?»
«Sie wurden ermordet», flüsterte meine Mutter, als befürchte
sie, die Worte könnten sonst nach unten dringen und
Ben erreichen. «Es war ein Raubüberfall, der aus dem Ruder
gelaufen ist. So haben sie es jedenfalls ausgedrückt.»
Die Worte klangen so irreal, dass sie kaum zu mir durchdrangen.
«Sie sind beide tot?»
Meine Mutter starrte mich an und nickte. Ihre Augen waren
blutunterlaufen. Sie musste viel geweint haben.
«Das glaube ich nicht.» Benommen ging ich zum Sofa und
ließ mich hineinfallen.
«Das kann ich mir denken. Ich weiß, wie das ist.» Meine
Mutter setzte sich neben mich.
«Hugh und Aileen? Beide tot?»
«Die Polizei nimmt an, dass es am späten Nachmittag geschehen
ist. Aber wieso waren sie da zu Hause? Das begreife
ich einfach nicht. Sie arbeiten doch den ganzen Tag in ihrem
Laden.»
«Nicht am Montag. Da ist er geschlossen.»
«Ja, aber wieso denn? Weshalb machen sie denn montags
zu?»
«Es war ihr freier Tag. So haben sie es immer gehalten. Eine
Tradition aus ihrem alten Leben in Europa. Ausnahmen haben
sie nie gemacht.»
«Die Diebe müssen gedacht haben, es sei niemand im
Haus.»
«Wahrscheinlich. Ich kann es einfach nicht glauben. Hugh
und Aileen?»
«Der arme Mac», sagte meine Mutter, und mir wurde
schlagartig klar, dass ich ihm die schlimme Nachricht überbringen
musste.
Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.
Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Kate Pepper
Autoren-Porträt von Kate PepperEs gab jemanden in Kate Peppers Leben, der schon sehr früh an ihr Talent als Schriftstellerin glaubte: ihre Lehrerin. Sie machte Kates Eltern darauf aufmerksam, nachdem Kate eine phantastische Geschichte als Aufsatz geschrieben hatte. Und die Lehrerin hatte recht. Kate Pepper, geboren 1959, brauchte zwar einige Umwege, während derer sie sich mit den unterschiedlichsten Jobs über Wasser hielt, ihren Magister in Literatur und Kreativem Schreiben machte, an einem College sogar Kreatives Schreiben unterrichtete - doch das Schreiben kam zu Kate, und sie nahm es an.
Geboren wurde Kate als Tochter amerikanischer Eltern in Frankreich und wuchs in Massachusetts und New York auf. Dort lebt sie heute auch mit ihrem Mann, einem Filmproduzenten, und ihren beiden Kindern. Familienidylle also - doch in ihren Büchern ist es vorbei mit der Idylle. Die mittlerweile zahlreichen Thriller drehen sich z. B. um den Domino-Killer, den die Detectives nur JPP (Just Plain Psycho) - „einfach nur krank" - genannt haben, irre Stalker oder Mädchenmörder. Und Kate Pepper ist damit höchst erfolgreich. Abgehoben ist sie deswegen nicht: Wenn sie noch Zeit neben ihren Jobs als Ehefrau, Mutter und Autorin findet, unterrichtet sie ab und an noch Kreatives Schreiben an einer Universität. Sehr zur Freude ihrer Studenten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Pepper
- 2011, 2. Aufl., 332 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Weber-Jaric, Gabriele
- Übersetzer: Gabriele Weber-Jaric
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499255308
- ISBN-13: 9783499255304
- Erscheinungsdatum: 01.04.2011
Kommentare zu "Es ist niemals vorbei / Karin Schaeffer Bd.2"
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