Es
Roman
Das Böse in Gestalt eines namenlosen Grauens kommt aus den Weiten des Weltalls. ES kennt die Ängste seiner Opfer und macht sie sich zunutze. Vor 27 Jahren traten sieben Freunde dem Grauen entgegen und schworen sich, ES zu bekämpfen. Jetzt...
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Produktinformationen zu „Es “
Das Böse in Gestalt eines namenlosen Grauens kommt aus den Weiten des Weltalls. ES kennt die Ängste seiner Opfer und macht sie sich zunutze. Vor 27 Jahren traten sieben Freunde dem Grauen entgegen und schworen sich, ES zu bekämpfen. Jetzt ist ES zurückgekehrt. Und ES will die sieben haben.
Klappentext zu „Es “
Das Böse in Gestalt eines namenlosen GrauensIn Derry, Maine, schlummert das Böse in der Kanalisation: Alle 28 Jahre wacht es auf und muss fressen. Jetzt taucht »Es« wieder empor. Sieben Freunde entschließen sich, dem Grauen entgegenzutreten und ein Ende zu setzen.
Stephen Kings Meisterwerk über die Mysterien der Kindheit und den Horror des Erwachsenseins.
»Ein Meilenstein der amerikanischen Literatur.« Chicago Sun-Times
Die Handlung spielt in der fiktiven Kleinstadt Derry in Maine. Die sieben Hauptfiguren Bill Denbrough, Mike Hanlon, Ben Hanscom, Beverly Marsh, Stan Uris, Richie Tozier und Eddie Kaspbrak lernen sich 1958 mit etwa 11 Jahren kennen. Sie verbindet, dass jeder von ihnen ein "Handicap" hat: Bill stottert, Mike ist schwarz, Ben ist übergewichtig, Beverly ist arm, Stan ist Jude, Richie ist vorlaut und Brillenträger und Eddie klein und kränklich. Sie nennen sich selbst "Der Club der Verlierer". Sie schließen sich zusammen, da sie von den anderen Kindern nicht akzeptiert werden. Probleme bereitet ihnen vor allem Henry Bowers, ein 12-jähriger Junge, der gerne kleine Kinder verprügelt - doch in letzter Zeit verliert Henry langsam den Verstand, und es bleibt nicht mehr nur bei Prügeleien.
Gleichzeitig werden in der Stadt Kinder ermordet oder verschwinden. Eines der Opfer war Bills jüngerer Bruder Georgie. Entsetzt stellen die Kinder fest, dass in einem Zyklus von etwa 27 Jahren immer etwas Schlimmes in Derry passiert. Sie stellen sich dem Grauen und Es begegnet ihnen in der Kanalisation von Derry. Dort, so haben sie herausgefunden, hat Es seine Behausung. Und das Schlimmste ist, Es kann die Gestalt der größten Angst der Person, die Es gerade überfällt, annehmen. Meistens tritt Es aber in der Gestalt des Clowns Pennywise auf, weil diese anziehend auf Kinder wirkt.
In der Kanalisation verletzen sie Es, und verschwinden in dem schrecklichen Irrglauben, Es getötet zu haben. Sie schwören jedoch zurückzukommen, falls Es jemals wieder auftauchen sollte. Sie zerstreuen sich über die ganze Welt. Bill wird ein erfolgreicher Schriftsteller, Ben Architekt, Beverly Modedesignerin, Richie wird Radiomoderator, Stan Unternehmensberater und Eddie leitet ein erfolgreiches Chauffeur-Unternehmen. Sie alle haben ihre Kindheit größtenteils vergessen bzw. verdrängt, was auf die Begegnung mit Es zurückzuführen ist. Nur Mike, der in Derry geblieben ist, ist weitaus weniger erfolgreich als die anderen. Er ist Leiter der Stadtbibliothek und verfolgt die Spur, die Es durch die Stadtgeschichte zieht. Da er sich zudem wesentlich besser an die Ereignisse erinnert, wirkt er auch älter als die anderen.
1985 scheint Es wieder aufzutauchen, zuerst mit dem Mord an einem homosexuellen Mann. Doch dann beginnen auch wieder Kinder zu verschwinden. Mike ruft die Freunde an, damit sie Es endgültig besiegen können. Bis auf Stan erscheinen alle - er hatte sich nach Mikes Anruf in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Zusammen suchen sie Es wieder auf, und diesmal besiegen sie Es endgültig. Nach Es' Ende tritt bei allen ein sehr rapides Vergessen hinsichtlich aller Ereignisse und Derry an sich ein, mit dem der Roman endet.tan Unternehmensberater und Eddie leitet ein erfolgreiches Chauffeur-Unternehmen. Sie alle haben ihre Kindheit größtenteils vergessen bzw. verdrängt, was auf die Begegnung mit Es zurückzuführen ist. Nur Mike, der in Derry geblieben ist, ist weitaus weniger erfolgreich als die anderen. Er ist Leiter
Gleichzeitig werden in der Stadt Kinder ermordet oder verschwinden. Eines der Opfer war Bills jüngerer Bruder Georgie. Entsetzt stellen die Kinder fest, dass in einem Zyklus von etwa 27 Jahren immer etwas Schlimmes in Derry passiert. Sie stellen sich dem Grauen und Es begegnet ihnen in der Kanalisation von Derry. Dort, so haben sie herausgefunden, hat Es seine Behausung. Und das Schlimmste ist, Es kann die Gestalt der größten Angst der Person, die Es gerade überfällt, annehmen. Meistens tritt Es aber in der Gestalt des Clowns Pennywise auf, weil diese anziehend auf Kinder wirkt.
In der Kanalisation verletzen sie Es, und verschwinden in dem schrecklichen Irrglauben, Es getötet zu haben. Sie schwören jedoch zurückzukommen, falls Es jemals wieder auftauchen sollte. Sie zerstreuen sich über die ganze Welt. Bill wird ein erfolgreicher Schriftsteller, Ben Architekt, Beverly Modedesignerin, Richie wird Radiomoderator, Stan Unternehmensberater und Eddie leitet ein erfolgreiches Chauffeur-Unternehmen. Sie alle haben ihre Kindheit größtenteils vergessen bzw. verdrängt, was auf die Begegnung mit Es zurückzuführen ist. Nur Mike, der in Derry geblieben ist, ist weitaus weniger erfolgreich als die anderen. Er ist Leiter der Stadtbibliothek und verfolgt die Spur, die Es durch die Stadtgeschichte zieht. Da er sich zudem wesentlich besser an die Ereignisse erinnert, wirkt er auch älter als die anderen.
1985 scheint Es wieder aufzutauchen, zuerst mit dem Mord an einem homosexuellen Mann. Doch dann beginnen auch wieder Kinder zu verschwinden. Mike ruft die Freunde an, damit sie Es endgültig besiegen können. Bis auf Stan erscheinen alle - er hatte sich nach Mikes Anruf in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Zusammen suchen sie Es wieder auf, und diesmal besiegen sie Es endgültig. Nach Es' Ende tritt bei allen ein sehr rapides Vergessen hinsichtlich aller Ereignisse und Derry an sich ein, mit dem der Roman endet.tan Unternehmensberater und Eddie leitet ein erfolgreiches Chauffeur-Unternehmen. Sie alle haben ihre Kindheit größtenteils vergessen bzw. verdrängt, was auf die Begegnung mit Es zurückzuführen ist. Nur Mike, der in Derry geblieben ist, ist weitaus weniger erfolgreich als die anderen. Er ist Leiter
Lese-Probe zu „Es “
Es von Stephen KingKapitel eins
Nach der Überschwemmung (1957)
1
... mehr
Der Schrecken, der weitere achtundzwanzig Jahre kein Ende nehmen sollte - wenn er überhaupt je ein Ende nahm -, begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb.
Das Boot schwankte, hatte Schlagseite und richtete sich wieder auf, brachte heldenhaft manch bedrohlichen Strudel hinter sich und schwamm immer weiter die Witcham Road hinab, auf die Verkehrsampel an der Kreuzung Witcham und Jackson Street zu. Die drei vertikalen Linsen an allen Seiten der Ampel waren an diesem Nachmittag im Herbst des Jahres 1957 dunkel, und die Häuser waren ebenfalls allesamt dunkel. Es regnete nun seit einer Woche ununterbrochen, und vor zwei Tagen war auch noch Wind aufgekommen. In den meisten Teilen von Derry war der Strom ausgefallen und noch nicht wieder eingeschaltet worden.
Ein kleiner Junge in gelbem Regenmantel und roten Gummistiefeln rannte fröhlich neben dem Papierboot her. Der Regen hatte noch nicht aufgehört, ließ aber allmählich nach. Er trommelte auf die gelbe Kapuze, und das hörte sich in seinen Ohren wie Regen auf einem Giebeldach an ... ein angenehmes, fast schon beruhigendes Geräusch. Der Junge im gelben Regenmantel hieß George Denbrough und war sechs Jahre alt. Sein Bruder William, der in der Derry-Elementary-Schule allgemein nur unter dem Namen Stotter-Bill bekannt war (sogar bei den Lehrern, die ihn natürlich nie so anredeten), war zu Hause und erholte sich gerade von einer schweren Grippe.
In jenem Herbst 1957 - acht Monate bevor der wahre Schrecken begann und achtundzwanzig Jahre vor der letzten Konfrontation - war Stotter-Bill zehn Jahre alt.
Bill hatte das Boot gefaltet, neben dem George jetzt lief. Er hatte es im Bett gefaltet, den Rücken an einen Stapel Kissen gelehnt, während ihre Mutter auf dem Klavier im Salon Für Elise gespielt hatte und Regen unablässig gegen sein Kinderzimmerfenster prasselte.
Etwa drei Viertel des Weges den Block entlang in Richtung Kreuzung und ausgefallener Ampel war die Witcham Road mit Warnlichtern und orangefarbenen Sägeböcken für den Verkehr gesperrt. Auf jedem Sägebock stand die Aufschrift
des Tiefbauamtes DERRY DEPT. OF PUBLIC WORKS. Dahinter war der Regen aus Gullys gequollen, die mit Ästen und Steinen und großen, pappigen Klumpen Herbstlaub verstopft waren. Das Wasser hatte zuerst Griffmulden in den Asphalt gebohrt und dann gierig ganze Hände voll weggerissen - das alles am dritten Tag des Regens. Am Mittag des vierten Tages trieben große Bruchstücke der Straße über die Kreuzung Witcham und Jackson und erinnerten dabei an Miniaturflöße. Zu dem Zeitpunkt machten schon viele Leute in Derry nervöse Witze über Archen. Es war dem Tiefbauamt gelungen, die Jackson Street offen zu halten, die Witcham war allerdings ab den Sägeböcken bis in die Innenstadt unpassierbar.
Aber nun war nach allgemeiner Meinung das Schlimmste überstanden. Der Pegel des Kenduskeag River war knapp unterhalb der Höhe der natürlichen Ufer in den Barrens und der betonierten Kanalmauern in der Innenstadt stehen geblieben, und im Augenblick war eine Gruppe von Männern -darunter auch Zack Denbrough, Georges und Bills Vater -damit beschäftigt, die Sandsäcke wegzuräumen, die sie am Vortag angsterfüllt entlang des Flusses aufgestapelt hatten, als es so aussah, als würde er unweigerlich über die Ufer treten und die Stadt überfluten. Das war schon öfter vorgekommen, und es gab noch genügend Menschen, die sich an die Überschwemmung von 1931 erinnern konnten und die übrigen Bewohner von Derry mit ihren Erzählungen in Angst und Schrecken versetzten. Damals waren bei der Hochwasserkatastrophe über zwanzig Menschen ums Leben gekommen. Einer davon war später vierzig Kilometer stromabwärts in Bucksport aufgefunden worden. Die Fische hatten diesem Ärmsten die Augen, drei Finger, den Penis und den größten Teil des linken Fußes abgefressen. Seine Hände - oder was davon noch übrig gewesen war - hatten das Lenkrad eines Fords umklammert.
Aber jetzt ging der Fluss zurück, und wenn weiter oben der neue Damm von Bangor Hydro fertig war, würde der Fluss keine Bedrohung mehr sein. Sagte jedenfalls Zack Denbrough, der für Bangor Hydroelectric arbeitete. Was die anderen betraf - nun, zukünftige Sturmfluten konnten sich um sich selbst kümmern. Das Entscheidende war, diese hier zu überstehen, den Strom wieder einzuschalten und sie zu vergessen. In Derry war das Vergessen solcher Katastrophen und Tragödien beinahe eine Kunstform, wie Bill Denbrough im Verlauf der Ereignisse noch herausfinden sollte.
George blieb hinter den Sägeböcken am Rande eines tiefen Risses stehen, der sich gut zehn Meter diagonal durch den Teer der Witcham Road bis zur anderen Straßenseite zog, und er lachte laut auf - der Klang der kindlichen ausgelassenen Fröhlichkeit erhellte einen Augenblick lang diesen grauen Nachmittag -, als das Wasser sein Papierboot nach rechts in die Miniatur-Stromschnellen der schmalen Vertiefung riss. Es trieb so schnell auf die andere Seite der Witcham Road zu, dass George rennen musste, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Unter seinen Gummistiefeln spritzte Wasser hervor, und ihre Schnallen klapperten fröhlich, während George Denbrough in seinen absonderlichen Tod rannte. Er war in diesem Moment ganz erfüllt von Liebe zu seinem Bruder Bill ... von Liebe und leichtem Bedauern, dass Bill nicht bei ihm war und dies hier nicht sehen konnte. Natürlich konnte er ihm alles erzählen, wenn er nach Hause kam, aber er konnte es ihm nicht bildhaft vor Augen führen, so wie Bill das fertigbringen würde, wenn er an seiner Stelle wäre. Bill konnte so etwas ganz fantastisch - deshalb bekam er in seinen Zeugnissen im Lesen und Schreiben auch immer die besten Noten, deshalb waren die Lehrer so begeistert von seinen Aufsätzen. Aber selbst der kleine George wusste, das Erzählen war nicht alles. Bill konnte auch sehen.
Das Boot schnellte durch die Vertiefung, und obwohl es in Wirklichkeit nur aus der Anzeigenseite der Derry News bestand, stellte George sich vor, es wäre ein Torpedoboot wie die in den Kriegsfilmen, die er manchmal in Samstagsvorstellungen mit Bill sah. Ein Kriegsfilm mit John Wayne, der gegen die Japsen kämpfte. Schmutziges Wasser schäumte um den Bug, während das Boot durch den Riss im Teer trieb, und dann erreichte es den Rinnstein auf der anderen Straßenseite. Einen Augenblick sah es so aus, als ob die neue starke Strömung, die gegen seine rechte Seite prallte, es zum Kentern bringen würde, aber es richtete sich wieder auf und drehte nach links - und erneut rannte George lachend nebenher, während unter seinen Gummistiefeln hervor das Wasser hochspritzte und der heftige Oktoberwind an den fast kahlen Bäumen rüttelte, die durch den furchtbaren Sturm der Vortage ihr buntes Blätterkleid verloren hatten.
2
Im Bett sitzend, die Wangen noch immer vor Hitze gerötet (aber das Fieber sank jetzt wie der Kenduskeag), hatte Bill das Boot gefaltet und dann zu George, der schon danach greifen wollte, gesagt: »U-und jetzt h-h-hol mir das P-P-Paraffin.«
»Was ist das? Und wo ist es?«
»Es steht auf dem Regal im Keller«, hatte Bill gesagt. »In einer Schachtel mit der A-Aufschrift G-G-hulf Gulf. Und bring auch ein Messer und eine Sch-Sch-Schüssel mit. Und St-St-Streichhölzer.«
George hatte sich gehorsam auf den Weg gemacht, um diese Sachen zu holen. Er hörte seine Mutter Klavier spielen, nicht mehr Für Elise, sondern etwas anderes, das ihm nicht so gut gefiel, weil es sich trocken und hektisch anhörte, während der Regen an diesem verhangenen Vormittag beharrlich gegen die Küchenfenster klopfte - es waren beruhigende Geräusche, wohingegen der Gedanke an den Keller alles andere als beruhigend war. Er ging nicht gern die schmale Kellertreppe hinunter, weil er sich immer vorstellte, dass da unten im Dunkeln etwas lauerte. Natürlich war das dumm und kindisch, das hatten ihm seine Eltern ja schon gesagt, und was noch viel wichtiger war, auch Bill hatte ihm das gesagt, aber dennoch ...
Er öffnete nicht einmal gern die Tür, weil er immer das Gefühl hatte - und das war so furchtbar dumm, dass er es niemandem zu erzählen wagte -, dass in dem Moment, in dem er seine Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, etwas nach ihm greifen würde ... irgendeine schreckliche Kralle mit Klauen ... und ihn in die Dunkelheit hinabzerren würde, die nach Schmutz, Moder und verschimmeltem Gemüse roch.
Dumm! Es gab keine haarigen, mordlustigen Krallen. Ab und zu drehte jemand durch und brachte einen Haufen Leute um - manchmal berichtete Chet Huntley über so etwas in den Abendnachrichten -, und natürlich waren da die Kornmies. Aber es gab kein unheimliches Monster, das unten im Keller hauste. Trotzdem wurde er die Vorstellung nicht los. In jenen endlos scheinenden Sekunden, wenn er mit der rechten Hand (der linke Arm war dabei immer panisch um den Türknauf geschlungen) nach dem Lichtschalter tastete, glaubte er immer wieder, der Kellergeruch - jener säuerlich bittere Geruch von Moder, Fäule und verschimmeltem Gemüse - sei der Eigengeruch des Ungeheuers, des Monsters aller Monster. Es war der Geruch von etwas, für das er keinen Namen hatte - Es lauerte dort unten hungrig im Dunkeln und verschlang mit Vorliebe das Fleisch kleiner Jungen.
An diesem Vormittag hatte er die Tür geöffnet, den Kellergeruch wahrgenommen und wie immer nur einen Arm in die Dunkelheit hinein ausgestreckt, um das Licht einzuschalten, während der andere Arm um den Knauf geschlungen war und er mit fest zusammengekniffenen Augen, verzerrtem Mund und hervorstehender Zungenspitze vor der Türschwelle stand. Komisch? Natürlich! Und wie! Schau dich doch nur mal an, Georgie! Georgie hat Angst vor der Dunkelheit! So ein Baby!
Die Klänge des Klaviers aus dem Salon - wie seine Mutter es nannte, sein Vater nannte es Wohnzimmer - schienen aus weiter Ferne zu kommen, so wie das Stimmengewirr und Gelächter an einem überfüllten Strand im Sommer einem erschöpften Schwimmer, der verzweifelt gegen die Strömung ankämpft, weit entfernt und völlig fremd und sinnlos vorkommen mussten.
Seine Finger ertasteten den Schalter. Ah!
Sie drückten darauf ...
... und nichts. Kein Licht.
O Mann! Der Strom!
George zog seinen Arm so schnell zurück, als hätte er in einen Korb voller Schlangen gegriffen. Er wich einige Schritte von der geöffneten Kellertür zurück und blieb mit laut pochendem Herzen stehen. Klar, kein Strom, er hatte ganz vergessen, dass der Strom ausgefallen war. So ein Mist aber auch! Was nun? Sollte er Bill erklären, er könne das Paraffin nicht holen, weil kein Strom da sei und er Angst habe, dass etwas ihn auf der Kellertreppe schnappen könnte, dass etwas ihn unter der Treppe hervor am Knöchel packen könnte, kein Kommie oder Massenmörder, sondern ein viel, viel schlimmeres Wesen? Dass es einfach mit einem Teil seines verrotteten Leibs die Treppe heraufgekrochen kam und ihn am Knöchel packte? Das wäre wohl etwas dick aufgetragen, oder? Andere mochten über so ein Hirngespinst lachen, aber Bill nicht. Bill würde wütend werden. Bill würde sagen: »Werd erwachsen, Georgie ... Willst du das Boot oder nicht?«
Als hätte Bill seine Gedanken gelesen, rief er genau in die-
sem Augenblick: »B-B-Bist du da d-draußen g-g-gestorben, Georgie? «
»Nein, ich hol's gerade! «, rief George zurück. Er rieb sich die Arme und hoffte, dass dadurch die Gänsehaut verschwinden würde. »Ich hab nur schnell einen Schluck Wasser getrunken.«
»Los, b-b-beeil dich!«
Also ging er die vier Stufen zum Kellerregal hinunter; sein Herz war ein warmer, pochender Klumpen in seiner Kehle, seine Nackenhaare sträubten sich, seine Augen brannten, seine Hände waren eiskalt. Er war überzeugt davon, dass die Kellertür gleich zufallen und damit auch das Licht aus der Küche verschwinden würde und dass er es dann hören würde, etwas Schlimmeres als alle Kommies und Mörder der Welt zusammen, schlimmer als die Japsen, schlimmer als Attila der Hunne, schlimmer als die schlimmsten Sachen in hundert Horrorfilmen. Es war da, gleich würde er sein tiefes kehliges Knurren in den albtraumhaften Sekunden hören, bevor es sich auf ihn stürzen und ihm die Gedärme aus dem Leib reißen würde.
Wegen der Überschwemmung war der Geruch heute schlimmer denn je. Ihr Haus stand ziemlich weit oben an der Witcham Road, und deshalb waren sie verhältnismäßig gut davongekommen, aber durch die alten Steinfundamente war Wasser in den Keller gesickert. Der Gestank war so unangenehm, dass George versuchte, möglichst flach zu atmen.
George wühlte das Zeug auf dem Regal so schnell er konnte durch - alte Dosen Kiwi-Schuhcreme und Schuhputzlappen, eine kaputte Petroleumlampe, zwei fast leere Flaschen Windex, eine alte flache Dose Turtle-Wachs. Aus irgendeinem Grund fiel ihm diese Dose auf, und wie hypnotisiert betrachtete er fast eine Minute lang die Schildkröte auf dem Deckel. Dann legte er sie zurück ... und da war endlich die eckige Schachtel mit der Aufschrift GULF.
George packte sie und rannte so schnell er konnte die Treppe hinauf. Ihm war plötzlich eingefallen, dass sein Hemdzipfel heraushing, und er war überzeugt davon, dass ihm das zum Verhängnis werden würde; das Ding im Keller würde ihn daran packen, wenn er schon fast draußen war, es würde ihn zurückzerren und ...
Oben angekommen, knallte er die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen, die Paraffinschachtel mit der Hand umklammernd, Stirn und Unterarme schweißbedeckt.
Das Klavier verstummte, und die Stimme seiner Mutter ertönte: » Georgie, kannst du die Tür nicht noch etwas lauter zuschlagen? Vielleicht schaffst du es, im Esszimmerschrank einige Teller zu zerbrechen.«
»Entschuldige, Mama! «, rief George.
»Georgie, du lahme Ente!«, sagte Bill aus seinem Kinderzimmer. Er flüsterte, damit ihre Mutter es nicht hören konnte.
George kicherte leise. Seine Angst war schon wieder fort; sie war so mühelos verschwunden, wie ein Albtraum einem Mann entgleitet, der mit kaltem Schweiß bedeckt und keuchend daraus erwacht, der seinen Körper und seine Umgebung wahrnimmt und sich vergewissert, dass alles nicht passiert ist - und im gleichen Moment setzt schon das Vergessen ein. Die Hälfte ist weg, wenn seine Füße den Boden berühren, drei Viertel sind weg, wenn er aus der Dusche kommt und sich abzutrocknen beginnt, und bis er mit dem Frühstück fertig ist, ist nichts mehr da. Alles weg ... bis zum nächsten Mal, wenn er sich im Griff eines Albtraums an alle Ängste erinnert.
Die Schildkröte, dachte Georgie und ging zur Schubladenkommode, wo die Streichhölzer aufbewahrt wurden. Wo habe ich so eine Schildkröte schon einmal gesehen?
Aber er kam nicht darauf und vergaß die Frage.
Er holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Schublade, ein Messer aus dem Besteckkasten (die scharfe Messerkante hielt er von sich weg, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte) und eine kleine Schüssel aus dem Geschirrschrank im Esszimmer. Dann kehrte er in Bills Zimmer zurück.
»D-Du bist doch ein A-loch, G-Georgie«, sagte Bill freundschaftlich und räumte einen Teil der Krankenutensilien auf seinem Nachttischchen beiseite: ein leeres Glas, einen Wasserkrug, Kleenex, Bücher, eine kleine blaue Flasche Wick VapoRub - dessen Geruch Bill sein halbes Leben lang mit verschleimten Bronchien und laufender Nase assoziieren sollte. Auch das alte Philco-Radio stand da; es spielte leise irgendein Lied von Little Richard, nichts von Bach oder Chopin ... so leise, dass Little Richard einen Großteil seines mitreißenden Elans einbüßte. Aber ihre Mutter, die auf dem Juilliard-Musikkonservatorium klassische Musik - Hauptfach Klavier -studiert hatte, hasste Rock 'n' Roll: Sie war nicht einfach nur dagegen, sie hasste ihn regelrecht.
»Ich bin kein A-loch«, sagte George, setzte sich auf die Bettkante und stellte seine Sachen auf dem Nachttisch ab.
»Aber sicher bist du eins«, sagte Bill. »Nichts weiter als ein großes braunes A-loch.«
Georgie versuchte sich ein Kind vorzustellen, das nur ein großes rundes A-loch auf zwei Beinen war, und fing an zu kichern.
»Dein A-loch ist größer als Augusta«, sagte Bill und fing auch an zu kichern.
»Dein A-loch ist größer als der ganze Staat«, antwortete George. Darauf kicherten beide Jungs fast zwei Minuten lang.
Es folgte eine Unterhaltung im Flüsterton, von jener Art, wie nur kleine Jungen sie so sehr lieben: Wer das größte A-loch war, wer das größte A-loch hatte, wer das braunste A-loch war und so weiter. Schließlich verwendete Bill eines der verbotenen Wörter; er erklärte, George sei ein großes braunes, verschissenes A-loch, und dann mussten beide so heftig lachen, dass Bills Gelächter in einen Hustenanfall überging. Als er allmählich abklang (Bills Gesicht war so dunkelrot angelaufen, dass George ihn besorgt betrachtete), verstummte das Klavier wieder, und beide Jungen blickten in Richtung des Salons und warteten ab, ob sie das Zurückschieben der Klavierbank und die ungeduldigen Schritte ihrer Mutter
hören würden. Bill erstickte den Husten, indem er den Mund in seiner Armbeuge vergrub, und deutete gleichzeitig auf den Wasserkrug. George schenkte ihm ein Glas Wasser ein, das er dann auch in einem Zug austrank.
Wieder erklang das Klavier - noch einmal Für Elise. Stotter-Bill vergaß dieses Stück nie, und noch nach Jahren überzogen sich seine Arme und sein Rücken mit einer Gänsehaut, wenn er es zufällig hörte; er bekam lautes Herzklopfen und erinnerte sich: Meine Mutter spielte dieses Stück an dem Tag, als Georgie starb.
»Musst du wieder husten, Bill?«
»Nein.«
Bill zog ein Kleenex aus dem Karton, erzeugte ein grollendes Geräusch in der Brust, spie Schleim in das Papiertuch, knüllte es zusammen und warf es in den Mülleimer neben dem Bett, der mit ähnlichen Papiertuchbällchen gefüllt war. Dann öffnete er die Paraffinschachtel, zog einen wachsartigen Würfel heraus und legte ihn auf seine Handfläche. George sah ihm interessiert zu, schwieg aber. Bill mochte es nicht, wenn er auf ihn einredete, während er mit etwas beschäftigt war, aber George wusste aus Erfahrung, dass Bill ihm meistens ganz von allein erklärte, was er machte, wenn er den Mund hielt.
Bill schnitt ein kleines Stück von dem Paraffinwürfel ab, warf es in die Schüssel, zündete ein Streichholz an und legte es auf das Paraffin. Die beiden Jungen betrachteten die kleine gelbe Flamme, während der schwächer werdende Wind vereinzelte Regenböen gegen die Fensterscheibe wehte.
»Ich muss das Boot wasserdicht machen, sonst wird es sofort nass und sinkt«, sagte Bill. Wenn er mit George zusammen war, stotterte er nur ganz leicht oder überhaupt nicht, aber in der Schule war es manchmal so schlimm, dass er nicht mehr reden konnte und seine Mitschüler verlegen zur Seite schauten, während er sich an seiner Bank festhielt, sein Gesicht rot anlief, bis es fast die Farbe seiner Haare hatte, und er die Augen zudrückte und sich abmühte, seiner störrischen Kehle ein paar Worte abzuringen. Manchmal - meistens - gelang ihm das auch tatsächlich, aber eben nicht immer. Seine Mutter sagte, der Unfall sei schuld an dem Stottern; mit drei Jahren war Bill von einem Auto angefahren und gegen eine Hauswand geschleudert worden; die folgenden sieben Stunden war er bewusstlos gewesen. George hatte aber manchmal das Gefühl, dass sein Vater - und auch Bill selbst - von dieser Erklärung nicht hundertprozentig überzeugt war.
Das Stückchen Paraffin in der Schüssel war inzwischen fast völlig geschmolzen. Die Streichholzflamme wurde bläulich, versank in der Flüssigkeit und erlosch. Bill tauchte seinen Finger ein, stieß einen leisen Zischlaut aus und lächelte George zu. »Heiß«, sagte er und begann das Paraffin auf die Seiten des Papierboots zu streichen, wo es rasch zu einem hauchdünnen milchigen Überzug erstarrte.
»Darf ich auch mal?«, fragte George.
»Okay. Pass nur auf, dass nichts auf die Bettwäsche kommt, sonst bringt Mama dich um.«
George tauchte seinen Finger in das Paraffin, das jetzt zwar noch sehr warm, aber nicht mehr heiß war, und verteilte es auf der anderen Bootseite.
»Nicht so viel, du A-loch!«, rief Bill. »Willst du, dass es auf der J-Jungfernfahrt sinkt? «
»Tut mir leid.«
»Schon gut. Du darfst nur g-ganz leicht drüberfahren.«
George beendete seine Seite und nahm das Boot dann vorsichtig in die Hand. Es fühlte sich ein bisschen schwerer an als zuvor, aber nicht viel. »Ich werd jetzt rausgehen und es schwimmen lassen«, sagte er.
»Ja, mach das.« Bill sah plötzlich ziemlich müde aus -müde und immer noch sehr angeschlagen.
»Ich wollte, du könntest mitkommen«, sagte George. Das wünschte er wirklich. Bill konnte manchmal richtig herrisch werden, aber er hatte immer die tollsten Einfälle und schlug einen fast nie. »Eigentlich ist es dein Boot.«
»Sie«, sagte Bill. »Boote sind immer w-weiblich.«
»Gut, dann ist sie eigentlich dein Boot.«
»Ich würde auch gern mitkommen«, sagte Bill mürrisch. »Tja ...« George trat mit dem Boot in der Hand von einem Bein aufs andere.
»Zieh deine Regenklamotten an«, erwiderte Bill. »Sonst wirst du noch kra-hank wie ich. Aber vermutlich hast du dich ohnehin sch-schon bei mir angesteckt.«
»Danke, Bill. Es ist ein tolles Boot.« Und dann tat er etwas, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte und was Bill nie vergessen sollte: Er beugte sich vor und küsste seinen Bruder auf die Wange.
»Jetzt hast du dich hundertprozentig angesteckt, du A-loch«, sagte Bill, aber er schien sich trotzdem zu freuen. Er lächelte George zu. »Und räum das ganze Zeug wieder weg, sonst kriegt Mama einen Anfall.«
»Klar.« Er durchquerte das Zimmer mit der Schüssel, dem Messer und der Paraffinschachtel, auf die er behutsam und etwas schräg sein Boot gelegt hatte.
» G-G-Georgie? «
George drehte sich nach seinem Bruder um.
»Sei v-vorsichtig.
»Na klar«, sagte George und runzelte ein wenig die Stirn. So etwas sagt normalerweise eine Mutter, nicht aber ein großer Bruder. Es war ebenso seltsam wie der Kuss, den er Bill gegeben hatte. »Klar bin ich vorsichtig.«
Er ging hinaus. Bill sah ihn nie wieder.
...
Übersetzung: Alexandra von Reinhardt und Joachim Körber
Bearbeitet und teilweise neu übersetzt von Anja Heppelmann
Neubearbeitete, erstmals vollständige Taschenbuchausgabe 03/2011
Copyright © 1986 by Stephen King
Copyright © 1990, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Schrecken, der weitere achtundzwanzig Jahre kein Ende nehmen sollte - wenn er überhaupt je ein Ende nahm -, begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb.
Das Boot schwankte, hatte Schlagseite und richtete sich wieder auf, brachte heldenhaft manch bedrohlichen Strudel hinter sich und schwamm immer weiter die Witcham Road hinab, auf die Verkehrsampel an der Kreuzung Witcham und Jackson Street zu. Die drei vertikalen Linsen an allen Seiten der Ampel waren an diesem Nachmittag im Herbst des Jahres 1957 dunkel, und die Häuser waren ebenfalls allesamt dunkel. Es regnete nun seit einer Woche ununterbrochen, und vor zwei Tagen war auch noch Wind aufgekommen. In den meisten Teilen von Derry war der Strom ausgefallen und noch nicht wieder eingeschaltet worden.
Ein kleiner Junge in gelbem Regenmantel und roten Gummistiefeln rannte fröhlich neben dem Papierboot her. Der Regen hatte noch nicht aufgehört, ließ aber allmählich nach. Er trommelte auf die gelbe Kapuze, und das hörte sich in seinen Ohren wie Regen auf einem Giebeldach an ... ein angenehmes, fast schon beruhigendes Geräusch. Der Junge im gelben Regenmantel hieß George Denbrough und war sechs Jahre alt. Sein Bruder William, der in der Derry-Elementary-Schule allgemein nur unter dem Namen Stotter-Bill bekannt war (sogar bei den Lehrern, die ihn natürlich nie so anredeten), war zu Hause und erholte sich gerade von einer schweren Grippe.
In jenem Herbst 1957 - acht Monate bevor der wahre Schrecken begann und achtundzwanzig Jahre vor der letzten Konfrontation - war Stotter-Bill zehn Jahre alt.
Bill hatte das Boot gefaltet, neben dem George jetzt lief. Er hatte es im Bett gefaltet, den Rücken an einen Stapel Kissen gelehnt, während ihre Mutter auf dem Klavier im Salon Für Elise gespielt hatte und Regen unablässig gegen sein Kinderzimmerfenster prasselte.
Etwa drei Viertel des Weges den Block entlang in Richtung Kreuzung und ausgefallener Ampel war die Witcham Road mit Warnlichtern und orangefarbenen Sägeböcken für den Verkehr gesperrt. Auf jedem Sägebock stand die Aufschrift
des Tiefbauamtes DERRY DEPT. OF PUBLIC WORKS. Dahinter war der Regen aus Gullys gequollen, die mit Ästen und Steinen und großen, pappigen Klumpen Herbstlaub verstopft waren. Das Wasser hatte zuerst Griffmulden in den Asphalt gebohrt und dann gierig ganze Hände voll weggerissen - das alles am dritten Tag des Regens. Am Mittag des vierten Tages trieben große Bruchstücke der Straße über die Kreuzung Witcham und Jackson und erinnerten dabei an Miniaturflöße. Zu dem Zeitpunkt machten schon viele Leute in Derry nervöse Witze über Archen. Es war dem Tiefbauamt gelungen, die Jackson Street offen zu halten, die Witcham war allerdings ab den Sägeböcken bis in die Innenstadt unpassierbar.
Aber nun war nach allgemeiner Meinung das Schlimmste überstanden. Der Pegel des Kenduskeag River war knapp unterhalb der Höhe der natürlichen Ufer in den Barrens und der betonierten Kanalmauern in der Innenstadt stehen geblieben, und im Augenblick war eine Gruppe von Männern -darunter auch Zack Denbrough, Georges und Bills Vater -damit beschäftigt, die Sandsäcke wegzuräumen, die sie am Vortag angsterfüllt entlang des Flusses aufgestapelt hatten, als es so aussah, als würde er unweigerlich über die Ufer treten und die Stadt überfluten. Das war schon öfter vorgekommen, und es gab noch genügend Menschen, die sich an die Überschwemmung von 1931 erinnern konnten und die übrigen Bewohner von Derry mit ihren Erzählungen in Angst und Schrecken versetzten. Damals waren bei der Hochwasserkatastrophe über zwanzig Menschen ums Leben gekommen. Einer davon war später vierzig Kilometer stromabwärts in Bucksport aufgefunden worden. Die Fische hatten diesem Ärmsten die Augen, drei Finger, den Penis und den größten Teil des linken Fußes abgefressen. Seine Hände - oder was davon noch übrig gewesen war - hatten das Lenkrad eines Fords umklammert.
Aber jetzt ging der Fluss zurück, und wenn weiter oben der neue Damm von Bangor Hydro fertig war, würde der Fluss keine Bedrohung mehr sein. Sagte jedenfalls Zack Denbrough, der für Bangor Hydroelectric arbeitete. Was die anderen betraf - nun, zukünftige Sturmfluten konnten sich um sich selbst kümmern. Das Entscheidende war, diese hier zu überstehen, den Strom wieder einzuschalten und sie zu vergessen. In Derry war das Vergessen solcher Katastrophen und Tragödien beinahe eine Kunstform, wie Bill Denbrough im Verlauf der Ereignisse noch herausfinden sollte.
George blieb hinter den Sägeböcken am Rande eines tiefen Risses stehen, der sich gut zehn Meter diagonal durch den Teer der Witcham Road bis zur anderen Straßenseite zog, und er lachte laut auf - der Klang der kindlichen ausgelassenen Fröhlichkeit erhellte einen Augenblick lang diesen grauen Nachmittag -, als das Wasser sein Papierboot nach rechts in die Miniatur-Stromschnellen der schmalen Vertiefung riss. Es trieb so schnell auf die andere Seite der Witcham Road zu, dass George rennen musste, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Unter seinen Gummistiefeln spritzte Wasser hervor, und ihre Schnallen klapperten fröhlich, während George Denbrough in seinen absonderlichen Tod rannte. Er war in diesem Moment ganz erfüllt von Liebe zu seinem Bruder Bill ... von Liebe und leichtem Bedauern, dass Bill nicht bei ihm war und dies hier nicht sehen konnte. Natürlich konnte er ihm alles erzählen, wenn er nach Hause kam, aber er konnte es ihm nicht bildhaft vor Augen führen, so wie Bill das fertigbringen würde, wenn er an seiner Stelle wäre. Bill konnte so etwas ganz fantastisch - deshalb bekam er in seinen Zeugnissen im Lesen und Schreiben auch immer die besten Noten, deshalb waren die Lehrer so begeistert von seinen Aufsätzen. Aber selbst der kleine George wusste, das Erzählen war nicht alles. Bill konnte auch sehen.
Das Boot schnellte durch die Vertiefung, und obwohl es in Wirklichkeit nur aus der Anzeigenseite der Derry News bestand, stellte George sich vor, es wäre ein Torpedoboot wie die in den Kriegsfilmen, die er manchmal in Samstagsvorstellungen mit Bill sah. Ein Kriegsfilm mit John Wayne, der gegen die Japsen kämpfte. Schmutziges Wasser schäumte um den Bug, während das Boot durch den Riss im Teer trieb, und dann erreichte es den Rinnstein auf der anderen Straßenseite. Einen Augenblick sah es so aus, als ob die neue starke Strömung, die gegen seine rechte Seite prallte, es zum Kentern bringen würde, aber es richtete sich wieder auf und drehte nach links - und erneut rannte George lachend nebenher, während unter seinen Gummistiefeln hervor das Wasser hochspritzte und der heftige Oktoberwind an den fast kahlen Bäumen rüttelte, die durch den furchtbaren Sturm der Vortage ihr buntes Blätterkleid verloren hatten.
2
Im Bett sitzend, die Wangen noch immer vor Hitze gerötet (aber das Fieber sank jetzt wie der Kenduskeag), hatte Bill das Boot gefaltet und dann zu George, der schon danach greifen wollte, gesagt: »U-und jetzt h-h-hol mir das P-P-Paraffin.«
»Was ist das? Und wo ist es?«
»Es steht auf dem Regal im Keller«, hatte Bill gesagt. »In einer Schachtel mit der A-Aufschrift G-G-hulf Gulf. Und bring auch ein Messer und eine Sch-Sch-Schüssel mit. Und St-St-Streichhölzer.«
George hatte sich gehorsam auf den Weg gemacht, um diese Sachen zu holen. Er hörte seine Mutter Klavier spielen, nicht mehr Für Elise, sondern etwas anderes, das ihm nicht so gut gefiel, weil es sich trocken und hektisch anhörte, während der Regen an diesem verhangenen Vormittag beharrlich gegen die Küchenfenster klopfte - es waren beruhigende Geräusche, wohingegen der Gedanke an den Keller alles andere als beruhigend war. Er ging nicht gern die schmale Kellertreppe hinunter, weil er sich immer vorstellte, dass da unten im Dunkeln etwas lauerte. Natürlich war das dumm und kindisch, das hatten ihm seine Eltern ja schon gesagt, und was noch viel wichtiger war, auch Bill hatte ihm das gesagt, aber dennoch ...
Er öffnete nicht einmal gern die Tür, weil er immer das Gefühl hatte - und das war so furchtbar dumm, dass er es niemandem zu erzählen wagte -, dass in dem Moment, in dem er seine Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, etwas nach ihm greifen würde ... irgendeine schreckliche Kralle mit Klauen ... und ihn in die Dunkelheit hinabzerren würde, die nach Schmutz, Moder und verschimmeltem Gemüse roch.
Dumm! Es gab keine haarigen, mordlustigen Krallen. Ab und zu drehte jemand durch und brachte einen Haufen Leute um - manchmal berichtete Chet Huntley über so etwas in den Abendnachrichten -, und natürlich waren da die Kornmies. Aber es gab kein unheimliches Monster, das unten im Keller hauste. Trotzdem wurde er die Vorstellung nicht los. In jenen endlos scheinenden Sekunden, wenn er mit der rechten Hand (der linke Arm war dabei immer panisch um den Türknauf geschlungen) nach dem Lichtschalter tastete, glaubte er immer wieder, der Kellergeruch - jener säuerlich bittere Geruch von Moder, Fäule und verschimmeltem Gemüse - sei der Eigengeruch des Ungeheuers, des Monsters aller Monster. Es war der Geruch von etwas, für das er keinen Namen hatte - Es lauerte dort unten hungrig im Dunkeln und verschlang mit Vorliebe das Fleisch kleiner Jungen.
An diesem Vormittag hatte er die Tür geöffnet, den Kellergeruch wahrgenommen und wie immer nur einen Arm in die Dunkelheit hinein ausgestreckt, um das Licht einzuschalten, während der andere Arm um den Knauf geschlungen war und er mit fest zusammengekniffenen Augen, verzerrtem Mund und hervorstehender Zungenspitze vor der Türschwelle stand. Komisch? Natürlich! Und wie! Schau dich doch nur mal an, Georgie! Georgie hat Angst vor der Dunkelheit! So ein Baby!
Die Klänge des Klaviers aus dem Salon - wie seine Mutter es nannte, sein Vater nannte es Wohnzimmer - schienen aus weiter Ferne zu kommen, so wie das Stimmengewirr und Gelächter an einem überfüllten Strand im Sommer einem erschöpften Schwimmer, der verzweifelt gegen die Strömung ankämpft, weit entfernt und völlig fremd und sinnlos vorkommen mussten.
Seine Finger ertasteten den Schalter. Ah!
Sie drückten darauf ...
... und nichts. Kein Licht.
O Mann! Der Strom!
George zog seinen Arm so schnell zurück, als hätte er in einen Korb voller Schlangen gegriffen. Er wich einige Schritte von der geöffneten Kellertür zurück und blieb mit laut pochendem Herzen stehen. Klar, kein Strom, er hatte ganz vergessen, dass der Strom ausgefallen war. So ein Mist aber auch! Was nun? Sollte er Bill erklären, er könne das Paraffin nicht holen, weil kein Strom da sei und er Angst habe, dass etwas ihn auf der Kellertreppe schnappen könnte, dass etwas ihn unter der Treppe hervor am Knöchel packen könnte, kein Kommie oder Massenmörder, sondern ein viel, viel schlimmeres Wesen? Dass es einfach mit einem Teil seines verrotteten Leibs die Treppe heraufgekrochen kam und ihn am Knöchel packte? Das wäre wohl etwas dick aufgetragen, oder? Andere mochten über so ein Hirngespinst lachen, aber Bill nicht. Bill würde wütend werden. Bill würde sagen: »Werd erwachsen, Georgie ... Willst du das Boot oder nicht?«
Als hätte Bill seine Gedanken gelesen, rief er genau in die-
sem Augenblick: »B-B-Bist du da d-draußen g-g-gestorben, Georgie? «
»Nein, ich hol's gerade! «, rief George zurück. Er rieb sich die Arme und hoffte, dass dadurch die Gänsehaut verschwinden würde. »Ich hab nur schnell einen Schluck Wasser getrunken.«
»Los, b-b-beeil dich!«
Also ging er die vier Stufen zum Kellerregal hinunter; sein Herz war ein warmer, pochender Klumpen in seiner Kehle, seine Nackenhaare sträubten sich, seine Augen brannten, seine Hände waren eiskalt. Er war überzeugt davon, dass die Kellertür gleich zufallen und damit auch das Licht aus der Küche verschwinden würde und dass er es dann hören würde, etwas Schlimmeres als alle Kommies und Mörder der Welt zusammen, schlimmer als die Japsen, schlimmer als Attila der Hunne, schlimmer als die schlimmsten Sachen in hundert Horrorfilmen. Es war da, gleich würde er sein tiefes kehliges Knurren in den albtraumhaften Sekunden hören, bevor es sich auf ihn stürzen und ihm die Gedärme aus dem Leib reißen würde.
Wegen der Überschwemmung war der Geruch heute schlimmer denn je. Ihr Haus stand ziemlich weit oben an der Witcham Road, und deshalb waren sie verhältnismäßig gut davongekommen, aber durch die alten Steinfundamente war Wasser in den Keller gesickert. Der Gestank war so unangenehm, dass George versuchte, möglichst flach zu atmen.
George wühlte das Zeug auf dem Regal so schnell er konnte durch - alte Dosen Kiwi-Schuhcreme und Schuhputzlappen, eine kaputte Petroleumlampe, zwei fast leere Flaschen Windex, eine alte flache Dose Turtle-Wachs. Aus irgendeinem Grund fiel ihm diese Dose auf, und wie hypnotisiert betrachtete er fast eine Minute lang die Schildkröte auf dem Deckel. Dann legte er sie zurück ... und da war endlich die eckige Schachtel mit der Aufschrift GULF.
George packte sie und rannte so schnell er konnte die Treppe hinauf. Ihm war plötzlich eingefallen, dass sein Hemdzipfel heraushing, und er war überzeugt davon, dass ihm das zum Verhängnis werden würde; das Ding im Keller würde ihn daran packen, wenn er schon fast draußen war, es würde ihn zurückzerren und ...
Oben angekommen, knallte er die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen, die Paraffinschachtel mit der Hand umklammernd, Stirn und Unterarme schweißbedeckt.
Das Klavier verstummte, und die Stimme seiner Mutter ertönte: » Georgie, kannst du die Tür nicht noch etwas lauter zuschlagen? Vielleicht schaffst du es, im Esszimmerschrank einige Teller zu zerbrechen.«
»Entschuldige, Mama! «, rief George.
»Georgie, du lahme Ente!«, sagte Bill aus seinem Kinderzimmer. Er flüsterte, damit ihre Mutter es nicht hören konnte.
George kicherte leise. Seine Angst war schon wieder fort; sie war so mühelos verschwunden, wie ein Albtraum einem Mann entgleitet, der mit kaltem Schweiß bedeckt und keuchend daraus erwacht, der seinen Körper und seine Umgebung wahrnimmt und sich vergewissert, dass alles nicht passiert ist - und im gleichen Moment setzt schon das Vergessen ein. Die Hälfte ist weg, wenn seine Füße den Boden berühren, drei Viertel sind weg, wenn er aus der Dusche kommt und sich abzutrocknen beginnt, und bis er mit dem Frühstück fertig ist, ist nichts mehr da. Alles weg ... bis zum nächsten Mal, wenn er sich im Griff eines Albtraums an alle Ängste erinnert.
Die Schildkröte, dachte Georgie und ging zur Schubladenkommode, wo die Streichhölzer aufbewahrt wurden. Wo habe ich so eine Schildkröte schon einmal gesehen?
Aber er kam nicht darauf und vergaß die Frage.
Er holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Schublade, ein Messer aus dem Besteckkasten (die scharfe Messerkante hielt er von sich weg, wie sein Vater es ihn gelehrt hatte) und eine kleine Schüssel aus dem Geschirrschrank im Esszimmer. Dann kehrte er in Bills Zimmer zurück.
»D-Du bist doch ein A-loch, G-Georgie«, sagte Bill freundschaftlich und räumte einen Teil der Krankenutensilien auf seinem Nachttischchen beiseite: ein leeres Glas, einen Wasserkrug, Kleenex, Bücher, eine kleine blaue Flasche Wick VapoRub - dessen Geruch Bill sein halbes Leben lang mit verschleimten Bronchien und laufender Nase assoziieren sollte. Auch das alte Philco-Radio stand da; es spielte leise irgendein Lied von Little Richard, nichts von Bach oder Chopin ... so leise, dass Little Richard einen Großteil seines mitreißenden Elans einbüßte. Aber ihre Mutter, die auf dem Juilliard-Musikkonservatorium klassische Musik - Hauptfach Klavier -studiert hatte, hasste Rock 'n' Roll: Sie war nicht einfach nur dagegen, sie hasste ihn regelrecht.
»Ich bin kein A-loch«, sagte George, setzte sich auf die Bettkante und stellte seine Sachen auf dem Nachttisch ab.
»Aber sicher bist du eins«, sagte Bill. »Nichts weiter als ein großes braunes A-loch.«
Georgie versuchte sich ein Kind vorzustellen, das nur ein großes rundes A-loch auf zwei Beinen war, und fing an zu kichern.
»Dein A-loch ist größer als Augusta«, sagte Bill und fing auch an zu kichern.
»Dein A-loch ist größer als der ganze Staat«, antwortete George. Darauf kicherten beide Jungs fast zwei Minuten lang.
Es folgte eine Unterhaltung im Flüsterton, von jener Art, wie nur kleine Jungen sie so sehr lieben: Wer das größte A-loch war, wer das größte A-loch hatte, wer das braunste A-loch war und so weiter. Schließlich verwendete Bill eines der verbotenen Wörter; er erklärte, George sei ein großes braunes, verschissenes A-loch, und dann mussten beide so heftig lachen, dass Bills Gelächter in einen Hustenanfall überging. Als er allmählich abklang (Bills Gesicht war so dunkelrot angelaufen, dass George ihn besorgt betrachtete), verstummte das Klavier wieder, und beide Jungen blickten in Richtung des Salons und warteten ab, ob sie das Zurückschieben der Klavierbank und die ungeduldigen Schritte ihrer Mutter
hören würden. Bill erstickte den Husten, indem er den Mund in seiner Armbeuge vergrub, und deutete gleichzeitig auf den Wasserkrug. George schenkte ihm ein Glas Wasser ein, das er dann auch in einem Zug austrank.
Wieder erklang das Klavier - noch einmal Für Elise. Stotter-Bill vergaß dieses Stück nie, und noch nach Jahren überzogen sich seine Arme und sein Rücken mit einer Gänsehaut, wenn er es zufällig hörte; er bekam lautes Herzklopfen und erinnerte sich: Meine Mutter spielte dieses Stück an dem Tag, als Georgie starb.
»Musst du wieder husten, Bill?«
»Nein.«
Bill zog ein Kleenex aus dem Karton, erzeugte ein grollendes Geräusch in der Brust, spie Schleim in das Papiertuch, knüllte es zusammen und warf es in den Mülleimer neben dem Bett, der mit ähnlichen Papiertuchbällchen gefüllt war. Dann öffnete er die Paraffinschachtel, zog einen wachsartigen Würfel heraus und legte ihn auf seine Handfläche. George sah ihm interessiert zu, schwieg aber. Bill mochte es nicht, wenn er auf ihn einredete, während er mit etwas beschäftigt war, aber George wusste aus Erfahrung, dass Bill ihm meistens ganz von allein erklärte, was er machte, wenn er den Mund hielt.
Bill schnitt ein kleines Stück von dem Paraffinwürfel ab, warf es in die Schüssel, zündete ein Streichholz an und legte es auf das Paraffin. Die beiden Jungen betrachteten die kleine gelbe Flamme, während der schwächer werdende Wind vereinzelte Regenböen gegen die Fensterscheibe wehte.
»Ich muss das Boot wasserdicht machen, sonst wird es sofort nass und sinkt«, sagte Bill. Wenn er mit George zusammen war, stotterte er nur ganz leicht oder überhaupt nicht, aber in der Schule war es manchmal so schlimm, dass er nicht mehr reden konnte und seine Mitschüler verlegen zur Seite schauten, während er sich an seiner Bank festhielt, sein Gesicht rot anlief, bis es fast die Farbe seiner Haare hatte, und er die Augen zudrückte und sich abmühte, seiner störrischen Kehle ein paar Worte abzuringen. Manchmal - meistens - gelang ihm das auch tatsächlich, aber eben nicht immer. Seine Mutter sagte, der Unfall sei schuld an dem Stottern; mit drei Jahren war Bill von einem Auto angefahren und gegen eine Hauswand geschleudert worden; die folgenden sieben Stunden war er bewusstlos gewesen. George hatte aber manchmal das Gefühl, dass sein Vater - und auch Bill selbst - von dieser Erklärung nicht hundertprozentig überzeugt war.
Das Stückchen Paraffin in der Schüssel war inzwischen fast völlig geschmolzen. Die Streichholzflamme wurde bläulich, versank in der Flüssigkeit und erlosch. Bill tauchte seinen Finger ein, stieß einen leisen Zischlaut aus und lächelte George zu. »Heiß«, sagte er und begann das Paraffin auf die Seiten des Papierboots zu streichen, wo es rasch zu einem hauchdünnen milchigen Überzug erstarrte.
»Darf ich auch mal?«, fragte George.
»Okay. Pass nur auf, dass nichts auf die Bettwäsche kommt, sonst bringt Mama dich um.«
George tauchte seinen Finger in das Paraffin, das jetzt zwar noch sehr warm, aber nicht mehr heiß war, und verteilte es auf der anderen Bootseite.
»Nicht so viel, du A-loch!«, rief Bill. »Willst du, dass es auf der J-Jungfernfahrt sinkt? «
»Tut mir leid.«
»Schon gut. Du darfst nur g-ganz leicht drüberfahren.«
George beendete seine Seite und nahm das Boot dann vorsichtig in die Hand. Es fühlte sich ein bisschen schwerer an als zuvor, aber nicht viel. »Ich werd jetzt rausgehen und es schwimmen lassen«, sagte er.
»Ja, mach das.« Bill sah plötzlich ziemlich müde aus -müde und immer noch sehr angeschlagen.
»Ich wollte, du könntest mitkommen«, sagte George. Das wünschte er wirklich. Bill konnte manchmal richtig herrisch werden, aber er hatte immer die tollsten Einfälle und schlug einen fast nie. »Eigentlich ist es dein Boot.«
»Sie«, sagte Bill. »Boote sind immer w-weiblich.«
»Gut, dann ist sie eigentlich dein Boot.«
»Ich würde auch gern mitkommen«, sagte Bill mürrisch. »Tja ...« George trat mit dem Boot in der Hand von einem Bein aufs andere.
»Zieh deine Regenklamotten an«, erwiderte Bill. »Sonst wirst du noch kra-hank wie ich. Aber vermutlich hast du dich ohnehin sch-schon bei mir angesteckt.«
»Danke, Bill. Es ist ein tolles Boot.« Und dann tat er etwas, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte und was Bill nie vergessen sollte: Er beugte sich vor und küsste seinen Bruder auf die Wange.
»Jetzt hast du dich hundertprozentig angesteckt, du A-loch«, sagte Bill, aber er schien sich trotzdem zu freuen. Er lächelte George zu. »Und räum das ganze Zeug wieder weg, sonst kriegt Mama einen Anfall.«
»Klar.« Er durchquerte das Zimmer mit der Schüssel, dem Messer und der Paraffinschachtel, auf die er behutsam und etwas schräg sein Boot gelegt hatte.
» G-G-Georgie? «
George drehte sich nach seinem Bruder um.
»Sei v-vorsichtig.
»Na klar«, sagte George und runzelte ein wenig die Stirn. So etwas sagt normalerweise eine Mutter, nicht aber ein großer Bruder. Es war ebenso seltsam wie der Kuss, den er Bill gegeben hatte. »Klar bin ich vorsichtig.«
Er ging hinaus. Bill sah ihn nie wieder.
...
Übersetzung: Alexandra von Reinhardt und Joachim Körber
Bearbeitet und teilweise neu übersetzt von Anja Heppelmann
Neubearbeitete, erstmals vollständige Taschenbuchausgabe 03/2011
Copyright © 1986 by Stephen King
Copyright © 1990, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Stephen King
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen King
- 2011, 1533 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Alexandra von Reinhardt, Joachim Körber
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345343577X
- ISBN-13: 9783453435773
- Erscheinungsdatum: 04.02.2011
Kommentar zu "Es"