Falkenjagd / Robert Walcher Bd.3
Ein Fall für Robert Walcher
Wenn es Nacht wird im Allgäu, ist der Tod nicht weit
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Falkenjagd / Robert Walcher Bd.3 “
Wenn es Nacht wird im Allgäu, ist der Tod nicht weit
Klappentext zu „Falkenjagd / Robert Walcher Bd.3 “
Für Recherchen zu einem Artikel begibt sich Robert Walcher verdeckt in üble Kreise - undin höchste Gefahr. Kurz entschlossen rettet er zwei junge Mädchen vor Menschenhändlern,doch nun steht er ganz oben auf der Abschussliste eines skrupellosen Verbrecherrings. Kommissar Brunner unternimmt alles, um Walcher und seine Familie zu schützen, doch die Kontaktedes in ganz Europa agierenden Kartells reichen bis in die heile Welt des Allgäus undhinauf in höchste Kreise.
Lese-Probe zu „Falkenjagd / Robert Walcher Bd.3 “
Falkenjagd von Joachim RangnickNestwärme
Die Schmerzen erstreckten sich über ihren ganzen Körper. Im Gesicht, auf der Brust, auf dem Rücken und am Gesäß waren sie erträglich. Aber ihr Unterleib brannte so, wie der Pfarrer das Höllenfeuer beschrieben hatte. Rodica dachte an ihren Unfall mit dem Fahrrad ihres Bruders vor drei Jahren, als sie barfuß von den Pedalen abgerutscht und mit voller Wucht auf die Querstange geschlagen war. Sie erinnerte sich genau daran, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie mehrere Tage geblutet hatte.
Damals war sie elf Jahre alt. Seitdem blutete sie jeden Monat, und sie glaubte, es läge daran, dass die Wunde immer wieder aufplatzte. Sie hatte sich nie getraut, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Mit dem Vater sowieso nicht. Der hätte sie vermutlich geschlagen, wie er fast täglich ihre ältere Schwester Ewa schlug, die als Blitzableiter der Familie herhalten musste. Ewa war geistig behindert. An ihr durften sich selbst die beiden jüngeren Brüder austoben, und manchmal schlug auch die Mutter zu, wenn Ewa ihr gerade im Weg war oder nur dastand und träumte. Ewa weinte dann still vor sich hin, aber das tat sie sowieso die meiste Zeit.
... mehr
Der Vater hatte sich nie groß um Rodica gekümmert, das war nichts Ungewöhnliches, aber seit einigen Wochen verhielt sich auch die Mutter seltsam und abweisend. Rodica verstand das nicht. Immer wieder grübelte sie, ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte, konnte sich aber an nichts erinnern. Angefangen hatte es an dem Tag, an dem das Schuljahr und damit ihre Schulzeit zu Ende war. Bilbor, das kleine rumänische Dörfchen, bot keine Berufsaussichten, und auch in der fünfzehn Kilometer entfernten Kreisstadt Vatra Dornei gab es keine Lehrstellen für arme Dörflerkinder. Die wenigen Ausbildungsplätze schacherten sich die Mitglieder alter Seilschaften untereinander zu, denn die beiden großen Fabriken, ein Chemiewerk und ein Produktions betrieb für Elektromotoren, früher die größten Arbeitgeber der Stadt, verfielen mit dem Ende der Ära Ceau¸sescu noch schneller. Wurde doch einmal eine Hilfskraft gesucht, so meldeten sich auf die Stelle zwei Drittel der Einwohner des ganzen Distrikts. Für ein Mädchen blieb nur die Einheirat in eine der wenigen wohlhabenden Familien oder die Auswanderung in den Westen, aber Ersteres gelang armen Schluckern selten, und für Letzteres fehlte den meisten das Reisegeld.
Rodica war ein hübsches Mädchen mit großen strahlenden Augen und pechschwarzem Haar. Für ihre vierzehn Jahre war sie körperlich reifer als andere Mädchen ihres Alters. An einem regnerischen Morgen geschah dann, was Rodica zunächst einmal als ein kleines Wunder ansah. Ein großes schwarzes Auto hielt vor dem winzigen Häuschen der Nanescus. Zwei Männer stiegen aus, gut gekleidet in schwarzen Hosen und schwarzen Lederjacken.
Mutter und Vater tranken mit ihnen in der Küche Schnaps, plauderten und lachten von Zeit zu Zeit ein schrilles, aufgesetztes Lachen. Die Geschwister waren aus dem Haus geschickt worden, nur Rodica nicht, sie sollte im Schlafzimmer warten. Dort saß sie über eine Stunde lang auf dem Bett, das sie mit Ewa teilte, dann kam die Mutter und befahl ihr barsch: »Zieh dein gutes Kleid an und die Schuhe, kämm dein Haar, pack Unterhosen und Hemden ein, aber nur die besseren, und lass deiner Schwester noch was übrig. Du wirst mit Roman Miklos mitgehen. Er ist ein alter Freund von Vater, er hat ein Geschäft und Arbeit für dich. Sei brav und ordentlich, dann wird's dir gutgehen«, sagte sie. Mehr nicht.
Rodica putzte sich heraus und ging dann brav zum Auto. In ihrer Tragetasche steckten eine Haarbürste, zwei T-Shirts, eine Strickjacke und vier Unterhosen, ihr ganzer Besitz. Bevor sie einstieg, lief sie hastig noch mal ins Haus zurück, sie hatte ihren kleinen Teddybären vergessen.
Roman Miklos gab sich als freundlicher Mann, der andere, der Fahrer, sprach wenig. Sie fuhren den Rest des Tages und in die halbe Nacht hinein, bis sie in Bukarest ankamen. Rodica war noch nie in der Hauptstadt gewesen und kannte sie nur aus Schulbüchern. Und gelegentlich, wenn sie bei Nachbarn fernsehen durfte, hatte sie auch etwas über diese große Stadt gesehen. Herr Miklos besaß eine riesige Wohnung mit vielen Zimmern und einem Salon. Im Badezimmer, das allein schon größer war als das größte Zimmer der Nanescus zu Hause, gab es eine Badewanne, eine Dusche, zwei Waschbecken, eine Toilette und ein niedriges Becken, wie sie es noch nicht gesehen hatte. Aus ihm sprudelte das Wasser wie bei einem Springbrunnen in die Höhe, wenn man an den Hähnen drehte.
Rodica durfte duschen, obwohl es schon mitten in der Nacht war, und wurde dann von Miklos in ein Zimmer geführt, in dem sie schlafen sollte. Mit einer kleinen Kamera machte er von Rodica ein Foto, was sie aufregend fand. »Für die Eltern«, meinte Miklos, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte und das Zimmer verließ. Das Bett war weich, und das Bettzeug duftete nach Blumen. So schliefen Prinzessinnen, hatte sich Rodica immer vorgestellt.
Ihre Träume von dem guten Leben, das nun für sie begonnen hatte, dauerten noch den nächsten Tag und eine weitere halbe Nacht. Dann wurde sie jäh aus dem Schlaf gerissen.
Herr Miklos forderte sie auf, freundlich wie immer, sich anzuziehen und mit den beiden Männern zu gehen, die im Flur warteten. Die Männer wirkten ungeduldig und stanken nach Kneipe und parfümiertem Haaröl. Herr Miklos sagte nur: »Geh mit ihnen und mach keinen Ärger.«
In jener Nacht fuhren sie in einem klapprigen alten Wagen durch die Dunkelheit. Erst in den frühen Morgenstunden hielten sie irgendwo auf dem flachen Land vor einem halbzerfallenen Gehöft. Während der ganzen Fahrt sprachen die beiden kein Wort mit Rodica, außer einem »Halt's Maul« auf ihre Frage, wohin sie denn fahren würden. Rodica war müde, durstig und verängstigt. Mit einer Handbewegung deutete der Fahrer zur offenstehenden Stalltür: »Wenn du musst, dann mach's im Stall, drinnen ist das Klo verstopft.«
Rodica nickte und rannte in die Scheune, schon seit Stunden musste sie zur Toilette, hatte sich aber nicht getraut, die Männer um einen Halt zu bitten. Der eine von ihnen war schon im Wohngebäude verschwunden, die Haustür stand jedenfalls offen, der andere wartete auf sie und winkte ihr herzukommen. Rodica folgte ihm ins Haus. Hinter der Eingangstür blieb er stehen, ließ sie an sich vorbeigehen, legte ihr dann eine Hand auf die Schulter und dirigierte sie den langen dunklen Flur entlang ganz bis ans Ende und dort durch eine Tür in einen kleinen Raum. Viel sehen konnte Rodica nicht, nur durch einen schmalen Spalt in den geschlossenen Fensterläden fi el etwas Licht. Außer einer Matratze auf dem Holzboden mit einem Haufen Decken und Kissen drauf war das Zimmer leer. Es stank penetrant nach Erbrochenem.
»Schlaf«, befahl der Mann und stieß sie grob ins Zimmer.
Rodica stolperte hinein und hörte, wie der Türschlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Der Lichtstreifen am Fenster zog sie an, und sie tastete sich an der Wand entlang darauf zu. Aber sie konnte das Fenster und die Läden nicht öffnen. Dort, wo der Griff sein sollte, war nur ein fingerdickes Loch im Holz. Ein wenig frische Luft kam aber durch einen kleinen Spalt herein. Rodica sog die frische Luft ein und stierte durch den Spalt, bis ihre Augen in dem grellen Licht schmerzten. Blind tappte sie zur Matratze, legte sich darauf und rollte sich zusammen wie ein Igel. Leise kamen ihre Tränen. Sie verstand das alles nicht, wünschte sich, bei der Mutter zu sein, selbst der Vater wäre ihr lieb gewesen. Irgendwann schlief sie darüber ein.
Als sie Stunden später jemand an der Schulter rüttelte, schreckte sie auf und wusste erst nicht, wo sie war. Ein Mann stand über sie gebeugt, es war keiner von den beiden im Auto. Der Mann lehnte sich zu ihr herunter und strich ihr mit der Hand durch die Haare.
»Schönes Täubchen, schönes Täubchen«, flüsterte er. Sein Atem roch nach Schnaps und Zigaretten. Rodica kannte das von ihrem Vater und den anderen Männern aus dem Dorf, sie rochen alle so, wenn man ihnen zu nahe kam, das war für sie noch nichts Beunruhigendes.
Aber dann schob der Mann seine Hand zwischen ihre Beine. Rodica erstarrte vor Angst, sie verstand nicht. Einmal hatte ihr der Nachbarsjunge einen flüchtigen nassen Kuss auf die Lippen gepresst. Sie ahnte nicht, was dieser Mann von ihr wollte.
Er küsste sein »Täubchen«, zerrte ihr die Kleider vom zitternden Körper und versuchte sie zu streicheln. Aber Rodica schrie, weinte, wehrte sich, hysterisch vor Angst und Scham. Da schlug er zu, mit der flachen Hand auf ihren Hinterkopf, wo die Haare Blutergüsse verdeckten. Wieder und wieder schlug er sie und flüsterte dabei, dass nur ein braves Täubchen ein schönes Täubchen sei. Nicht nur an diesem Tag kam er, sondern ebenso am nächsten und übernächsten. So lange, bis das Täubchen ihn küsste und dabei lächelte. Da brachte er Schokolade und süße Cola und eine neue Jeans und ein T-Shirt und neue Schuhe. Rodica hatte begriffen, aber ihre Kinderseele versteckte sich wie ein kleiner Vogel in dem schützenden Nest ihrer Erinnerungen.
Jeswita Drugajew
Bei St. Margrethen, kurz vor dem Grenzübergang nach Österreich, rief Walcher die Großeltern Armbruster an, bei denen er seine Tochter Irmi abgeliefert hatte. Statt der geplanten einen Stunde hatte sich das Gespräch in Zürich auf über drei Stunden ausgedehnt. Deshalb würde er erst gegen einundzwanzig Uhr bei den Armbrusters eintreffen können.
Die Großmutter versprach, es Irmi auszurichten, und Walcher hoffte, dass sie es auch tatsächlich tat. In der letzten Zeit wurde die gute Oma Armbruster ein wenig vergesslich.
Das Gespräch in Zürich war durch die Vermittlung seines Freundes Johannes zustande gekommen, mit dem er gelegentlich zusammenarbeitete und der über Walchers neue Recherche informiert war.
Jeswita Drugajew hatte mitten in Zürich auf dem Limmat Quai einen Verkehrspolizisten um Hilfe angefleht. Dass der Polizist bruchstückhaft verstand, was sie sagte - er lernte seit zwei Jahren Russisch an der Volkshochschule -, war ein glücklicher Zufall. Er nahm sie mit auf die Wache und meldete den Vorfall der Fremdenpolizei. Die Polizistin samt einer Dolmetscherin, die kurz darauf eintrafen und Drugajew befragten, brachten die Russin in das Frauenstift, ein ehemaliges Zisterzienserkloster, in dem der Psychosoziale Dienst ein Übergangswohnheim unterhielt. Für die Behandlung von Asylsuchenden und Migranten entsprach das nicht dem offiziell vorgeschriebenen Weg der Züricher Verwaltungsbürokratie, sondern war der Sympathie und dem Verständnis beider Beamtinnen für Jeswita Drugajew zuzuschreiben, nachdem diese ihnen die letzten Stationen ihres Lebens geschildert hatte. Eine Mitarbeiterin des Psychosozialen Dienstes wiederum war eine Bekannte von Johannes' Freundin Marianne. So gelangte die Information zu Walcher, und auf demselben Weg retour wurde ihm das Gespräch mit der Russin ermöglicht.
Jeswita Drugajew und die Dolmetscherin, die auch für den Psychosozialen Dienst arbeitete, trafen sich mit Walcher am Zollikerberg, in dem winzigen Besprechungszimmer eines Wohnheims, an dem bestenfalls der Blick auf den Zürichsee eine Erwähnung wert war.
Auf einem wackeligen, altersschwachen Tisch standen drei verschrammte Tassen und eine verbeulte Thermoskanne mit Tee. Drei Waffeln lagen abgezählt auf einem Unterteller. Zucker gab es nicht und deshalb wohl auch keine Löffel. Der Tee erinnerte Walcher an seine Mandeloperation, den unangenehmsten Krankenhausaufenthalt während seiner Kindheit. Vermutlich sollten mit dem dünnen Früchtetee und der ärmlichen Zimmerausstattung Asylsuchende abgeschreckt werden. Aber Jeswita Drugajew passte in das Zimmer.
Sie trug Fundstücke aus der Kleidersammlung. Nur die edlen Schuhe standen in krassem Kontrast zu den billigen, ausgewaschenen Cordjeans und der violetten, mit Rüschen besetzten Bluse.
Jeswita Drugajew sprach leise und ruhig, als sie nach der Begrüßung fragte: »Also, was wollen Sie hören?«
Walcher versuchte ein Lächeln: »Alles, was Sie mir erzählen wollen ... von Ihrer Heimat, Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, Schule, mich interessiert alles, bis hin zu den Menschen, von denen Sie verschleppt wurden, von deren Organisation, alles, was Sie darüber wissen. «
Jeswita Drugajew nickte mehrmals. Sie wirkte auf Walcher klar und geradeheraus, wie eine Person, die wusste, was sie wollte. Wenn er die geschwollene Augenbraue, den gelblich-blauen Bluterguss auf dem Wangenknochen, die aufgeplatzte und schlecht verheilte Lippe der jungen Frau ignorierte, würde er sie als hübsch bezeichnen.
»Es war ein Tag vor meinem Geburtstag. Sechzehn Jahre war ich, da wurde ich von der Arbeitsvermittlung abgeholt, bei der ich mich gemeldet hatte. Ich wollte nach England, später nach Amerika. Das lief alles illegal, weil ich dort niemals eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hätte. Meine Eltern wussten Bescheid. Sie waren sehr traurig, aber verstanden, dass ich in den Westen wollte. Wir lebten außerhalb von Kolomna, das ist ein kleines Drecksnest nahe bei Moskau, zu fünft in drei Zimmern. Wir konnten uns zwar ernähren, mehr aber nicht. Ich träumte von schicken Kleidern, Schuhen und der großen Welt. Ja, und auf dem Weg dorthin geschah es dann ... Schon in der ersten Nacht ... Sie hielten mir einen Lappen auf den Mund, und an mehr kann ich mich nicht erinnern. Erst als ich wieder aufgewacht bin ... Das war furchtbar ... Ich habe geglaubt, ich bin verrückt geworden oder so, aber es war alles Wirklichkeit. Gefesselt auf einem Bett und nackt ... Ich habe mich so geschämt ... Sie haben mich berührt ... Immer wieder ... ›Turnstunde‹ haben sie es genannt und dabei laute Musik gespielt und gesoffen ... Zu dritt waren sie.«
Die Dolmetscherin war bleich geworden und mit einem geflüsterten: »Entschuldigung« aus dem Zimmer gehetzt.
Jeswita lächelte Walcher an, es war ein seltsames Lächeln. Mit einem harten, holprigen Akzent sagte sie auf Deutsch: »Ist schwer sich vorstellen, auch schwer erinnern.«
Walcher nickte nur. Vielleicht hätte er etwas sagen sollen oder fragen, aber ihm fiel nichts ein, und so lauschten beide dem leisen Singen der Teekanne, in dem Zimmer, das nun noch trauriger wirkte.
Copyright © by List TB (Verlag)
Der Vater hatte sich nie groß um Rodica gekümmert, das war nichts Ungewöhnliches, aber seit einigen Wochen verhielt sich auch die Mutter seltsam und abweisend. Rodica verstand das nicht. Immer wieder grübelte sie, ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte, konnte sich aber an nichts erinnern. Angefangen hatte es an dem Tag, an dem das Schuljahr und damit ihre Schulzeit zu Ende war. Bilbor, das kleine rumänische Dörfchen, bot keine Berufsaussichten, und auch in der fünfzehn Kilometer entfernten Kreisstadt Vatra Dornei gab es keine Lehrstellen für arme Dörflerkinder. Die wenigen Ausbildungsplätze schacherten sich die Mitglieder alter Seilschaften untereinander zu, denn die beiden großen Fabriken, ein Chemiewerk und ein Produktions betrieb für Elektromotoren, früher die größten Arbeitgeber der Stadt, verfielen mit dem Ende der Ära Ceau¸sescu noch schneller. Wurde doch einmal eine Hilfskraft gesucht, so meldeten sich auf die Stelle zwei Drittel der Einwohner des ganzen Distrikts. Für ein Mädchen blieb nur die Einheirat in eine der wenigen wohlhabenden Familien oder die Auswanderung in den Westen, aber Ersteres gelang armen Schluckern selten, und für Letzteres fehlte den meisten das Reisegeld.
Rodica war ein hübsches Mädchen mit großen strahlenden Augen und pechschwarzem Haar. Für ihre vierzehn Jahre war sie körperlich reifer als andere Mädchen ihres Alters. An einem regnerischen Morgen geschah dann, was Rodica zunächst einmal als ein kleines Wunder ansah. Ein großes schwarzes Auto hielt vor dem winzigen Häuschen der Nanescus. Zwei Männer stiegen aus, gut gekleidet in schwarzen Hosen und schwarzen Lederjacken.
Mutter und Vater tranken mit ihnen in der Küche Schnaps, plauderten und lachten von Zeit zu Zeit ein schrilles, aufgesetztes Lachen. Die Geschwister waren aus dem Haus geschickt worden, nur Rodica nicht, sie sollte im Schlafzimmer warten. Dort saß sie über eine Stunde lang auf dem Bett, das sie mit Ewa teilte, dann kam die Mutter und befahl ihr barsch: »Zieh dein gutes Kleid an und die Schuhe, kämm dein Haar, pack Unterhosen und Hemden ein, aber nur die besseren, und lass deiner Schwester noch was übrig. Du wirst mit Roman Miklos mitgehen. Er ist ein alter Freund von Vater, er hat ein Geschäft und Arbeit für dich. Sei brav und ordentlich, dann wird's dir gutgehen«, sagte sie. Mehr nicht.
Rodica putzte sich heraus und ging dann brav zum Auto. In ihrer Tragetasche steckten eine Haarbürste, zwei T-Shirts, eine Strickjacke und vier Unterhosen, ihr ganzer Besitz. Bevor sie einstieg, lief sie hastig noch mal ins Haus zurück, sie hatte ihren kleinen Teddybären vergessen.
Roman Miklos gab sich als freundlicher Mann, der andere, der Fahrer, sprach wenig. Sie fuhren den Rest des Tages und in die halbe Nacht hinein, bis sie in Bukarest ankamen. Rodica war noch nie in der Hauptstadt gewesen und kannte sie nur aus Schulbüchern. Und gelegentlich, wenn sie bei Nachbarn fernsehen durfte, hatte sie auch etwas über diese große Stadt gesehen. Herr Miklos besaß eine riesige Wohnung mit vielen Zimmern und einem Salon. Im Badezimmer, das allein schon größer war als das größte Zimmer der Nanescus zu Hause, gab es eine Badewanne, eine Dusche, zwei Waschbecken, eine Toilette und ein niedriges Becken, wie sie es noch nicht gesehen hatte. Aus ihm sprudelte das Wasser wie bei einem Springbrunnen in die Höhe, wenn man an den Hähnen drehte.
Rodica durfte duschen, obwohl es schon mitten in der Nacht war, und wurde dann von Miklos in ein Zimmer geführt, in dem sie schlafen sollte. Mit einer kleinen Kamera machte er von Rodica ein Foto, was sie aufregend fand. »Für die Eltern«, meinte Miklos, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte und das Zimmer verließ. Das Bett war weich, und das Bettzeug duftete nach Blumen. So schliefen Prinzessinnen, hatte sich Rodica immer vorgestellt.
Ihre Träume von dem guten Leben, das nun für sie begonnen hatte, dauerten noch den nächsten Tag und eine weitere halbe Nacht. Dann wurde sie jäh aus dem Schlaf gerissen.
Herr Miklos forderte sie auf, freundlich wie immer, sich anzuziehen und mit den beiden Männern zu gehen, die im Flur warteten. Die Männer wirkten ungeduldig und stanken nach Kneipe und parfümiertem Haaröl. Herr Miklos sagte nur: »Geh mit ihnen und mach keinen Ärger.«
In jener Nacht fuhren sie in einem klapprigen alten Wagen durch die Dunkelheit. Erst in den frühen Morgenstunden hielten sie irgendwo auf dem flachen Land vor einem halbzerfallenen Gehöft. Während der ganzen Fahrt sprachen die beiden kein Wort mit Rodica, außer einem »Halt's Maul« auf ihre Frage, wohin sie denn fahren würden. Rodica war müde, durstig und verängstigt. Mit einer Handbewegung deutete der Fahrer zur offenstehenden Stalltür: »Wenn du musst, dann mach's im Stall, drinnen ist das Klo verstopft.«
Rodica nickte und rannte in die Scheune, schon seit Stunden musste sie zur Toilette, hatte sich aber nicht getraut, die Männer um einen Halt zu bitten. Der eine von ihnen war schon im Wohngebäude verschwunden, die Haustür stand jedenfalls offen, der andere wartete auf sie und winkte ihr herzukommen. Rodica folgte ihm ins Haus. Hinter der Eingangstür blieb er stehen, ließ sie an sich vorbeigehen, legte ihr dann eine Hand auf die Schulter und dirigierte sie den langen dunklen Flur entlang ganz bis ans Ende und dort durch eine Tür in einen kleinen Raum. Viel sehen konnte Rodica nicht, nur durch einen schmalen Spalt in den geschlossenen Fensterläden fi el etwas Licht. Außer einer Matratze auf dem Holzboden mit einem Haufen Decken und Kissen drauf war das Zimmer leer. Es stank penetrant nach Erbrochenem.
»Schlaf«, befahl der Mann und stieß sie grob ins Zimmer.
Rodica stolperte hinein und hörte, wie der Türschlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Der Lichtstreifen am Fenster zog sie an, und sie tastete sich an der Wand entlang darauf zu. Aber sie konnte das Fenster und die Läden nicht öffnen. Dort, wo der Griff sein sollte, war nur ein fingerdickes Loch im Holz. Ein wenig frische Luft kam aber durch einen kleinen Spalt herein. Rodica sog die frische Luft ein und stierte durch den Spalt, bis ihre Augen in dem grellen Licht schmerzten. Blind tappte sie zur Matratze, legte sich darauf und rollte sich zusammen wie ein Igel. Leise kamen ihre Tränen. Sie verstand das alles nicht, wünschte sich, bei der Mutter zu sein, selbst der Vater wäre ihr lieb gewesen. Irgendwann schlief sie darüber ein.
Als sie Stunden später jemand an der Schulter rüttelte, schreckte sie auf und wusste erst nicht, wo sie war. Ein Mann stand über sie gebeugt, es war keiner von den beiden im Auto. Der Mann lehnte sich zu ihr herunter und strich ihr mit der Hand durch die Haare.
»Schönes Täubchen, schönes Täubchen«, flüsterte er. Sein Atem roch nach Schnaps und Zigaretten. Rodica kannte das von ihrem Vater und den anderen Männern aus dem Dorf, sie rochen alle so, wenn man ihnen zu nahe kam, das war für sie noch nichts Beunruhigendes.
Aber dann schob der Mann seine Hand zwischen ihre Beine. Rodica erstarrte vor Angst, sie verstand nicht. Einmal hatte ihr der Nachbarsjunge einen flüchtigen nassen Kuss auf die Lippen gepresst. Sie ahnte nicht, was dieser Mann von ihr wollte.
Er küsste sein »Täubchen«, zerrte ihr die Kleider vom zitternden Körper und versuchte sie zu streicheln. Aber Rodica schrie, weinte, wehrte sich, hysterisch vor Angst und Scham. Da schlug er zu, mit der flachen Hand auf ihren Hinterkopf, wo die Haare Blutergüsse verdeckten. Wieder und wieder schlug er sie und flüsterte dabei, dass nur ein braves Täubchen ein schönes Täubchen sei. Nicht nur an diesem Tag kam er, sondern ebenso am nächsten und übernächsten. So lange, bis das Täubchen ihn küsste und dabei lächelte. Da brachte er Schokolade und süße Cola und eine neue Jeans und ein T-Shirt und neue Schuhe. Rodica hatte begriffen, aber ihre Kinderseele versteckte sich wie ein kleiner Vogel in dem schützenden Nest ihrer Erinnerungen.
Jeswita Drugajew
Bei St. Margrethen, kurz vor dem Grenzübergang nach Österreich, rief Walcher die Großeltern Armbruster an, bei denen er seine Tochter Irmi abgeliefert hatte. Statt der geplanten einen Stunde hatte sich das Gespräch in Zürich auf über drei Stunden ausgedehnt. Deshalb würde er erst gegen einundzwanzig Uhr bei den Armbrusters eintreffen können.
Die Großmutter versprach, es Irmi auszurichten, und Walcher hoffte, dass sie es auch tatsächlich tat. In der letzten Zeit wurde die gute Oma Armbruster ein wenig vergesslich.
Das Gespräch in Zürich war durch die Vermittlung seines Freundes Johannes zustande gekommen, mit dem er gelegentlich zusammenarbeitete und der über Walchers neue Recherche informiert war.
Jeswita Drugajew hatte mitten in Zürich auf dem Limmat Quai einen Verkehrspolizisten um Hilfe angefleht. Dass der Polizist bruchstückhaft verstand, was sie sagte - er lernte seit zwei Jahren Russisch an der Volkshochschule -, war ein glücklicher Zufall. Er nahm sie mit auf die Wache und meldete den Vorfall der Fremdenpolizei. Die Polizistin samt einer Dolmetscherin, die kurz darauf eintrafen und Drugajew befragten, brachten die Russin in das Frauenstift, ein ehemaliges Zisterzienserkloster, in dem der Psychosoziale Dienst ein Übergangswohnheim unterhielt. Für die Behandlung von Asylsuchenden und Migranten entsprach das nicht dem offiziell vorgeschriebenen Weg der Züricher Verwaltungsbürokratie, sondern war der Sympathie und dem Verständnis beider Beamtinnen für Jeswita Drugajew zuzuschreiben, nachdem diese ihnen die letzten Stationen ihres Lebens geschildert hatte. Eine Mitarbeiterin des Psychosozialen Dienstes wiederum war eine Bekannte von Johannes' Freundin Marianne. So gelangte die Information zu Walcher, und auf demselben Weg retour wurde ihm das Gespräch mit der Russin ermöglicht.
Jeswita Drugajew und die Dolmetscherin, die auch für den Psychosozialen Dienst arbeitete, trafen sich mit Walcher am Zollikerberg, in dem winzigen Besprechungszimmer eines Wohnheims, an dem bestenfalls der Blick auf den Zürichsee eine Erwähnung wert war.
Auf einem wackeligen, altersschwachen Tisch standen drei verschrammte Tassen und eine verbeulte Thermoskanne mit Tee. Drei Waffeln lagen abgezählt auf einem Unterteller. Zucker gab es nicht und deshalb wohl auch keine Löffel. Der Tee erinnerte Walcher an seine Mandeloperation, den unangenehmsten Krankenhausaufenthalt während seiner Kindheit. Vermutlich sollten mit dem dünnen Früchtetee und der ärmlichen Zimmerausstattung Asylsuchende abgeschreckt werden. Aber Jeswita Drugajew passte in das Zimmer.
Sie trug Fundstücke aus der Kleidersammlung. Nur die edlen Schuhe standen in krassem Kontrast zu den billigen, ausgewaschenen Cordjeans und der violetten, mit Rüschen besetzten Bluse.
Jeswita Drugajew sprach leise und ruhig, als sie nach der Begrüßung fragte: »Also, was wollen Sie hören?«
Walcher versuchte ein Lächeln: »Alles, was Sie mir erzählen wollen ... von Ihrer Heimat, Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, Schule, mich interessiert alles, bis hin zu den Menschen, von denen Sie verschleppt wurden, von deren Organisation, alles, was Sie darüber wissen. «
Jeswita Drugajew nickte mehrmals. Sie wirkte auf Walcher klar und geradeheraus, wie eine Person, die wusste, was sie wollte. Wenn er die geschwollene Augenbraue, den gelblich-blauen Bluterguss auf dem Wangenknochen, die aufgeplatzte und schlecht verheilte Lippe der jungen Frau ignorierte, würde er sie als hübsch bezeichnen.
»Es war ein Tag vor meinem Geburtstag. Sechzehn Jahre war ich, da wurde ich von der Arbeitsvermittlung abgeholt, bei der ich mich gemeldet hatte. Ich wollte nach England, später nach Amerika. Das lief alles illegal, weil ich dort niemals eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hätte. Meine Eltern wussten Bescheid. Sie waren sehr traurig, aber verstanden, dass ich in den Westen wollte. Wir lebten außerhalb von Kolomna, das ist ein kleines Drecksnest nahe bei Moskau, zu fünft in drei Zimmern. Wir konnten uns zwar ernähren, mehr aber nicht. Ich träumte von schicken Kleidern, Schuhen und der großen Welt. Ja, und auf dem Weg dorthin geschah es dann ... Schon in der ersten Nacht ... Sie hielten mir einen Lappen auf den Mund, und an mehr kann ich mich nicht erinnern. Erst als ich wieder aufgewacht bin ... Das war furchtbar ... Ich habe geglaubt, ich bin verrückt geworden oder so, aber es war alles Wirklichkeit. Gefesselt auf einem Bett und nackt ... Ich habe mich so geschämt ... Sie haben mich berührt ... Immer wieder ... ›Turnstunde‹ haben sie es genannt und dabei laute Musik gespielt und gesoffen ... Zu dritt waren sie.«
Die Dolmetscherin war bleich geworden und mit einem geflüsterten: »Entschuldigung« aus dem Zimmer gehetzt.
Jeswita lächelte Walcher an, es war ein seltsames Lächeln. Mit einem harten, holprigen Akzent sagte sie auf Deutsch: »Ist schwer sich vorstellen, auch schwer erinnern.«
Walcher nickte nur. Vielleicht hätte er etwas sagen sollen oder fragen, aber ihm fiel nichts ein, und so lauschten beide dem leisen Singen der Teekanne, in dem Zimmer, das nun noch trauriger wirkte.
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Autoren-Porträt von Joachim Rangnick
Rangnick, JoachimJoachim Rangnick, geboren 1947, ist studierter Grafiker und lebt in Weingarten. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben. In seinen Kriminalromanen bringt sich Journalist Robert Walcher im beschaulichen Allgäu immer wieder in höchste Gefahr.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joachim Rangnick
- 2012, Überarb. Neuaus., 419 Seiten, Maße: 12,4 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610943
- ISBN-13: 9783548610948
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