Final Cut / Clara Vidalis Bd.1
Thriller. Originalausgabe
Top-Spannung für Fans von Cody McFadyen!
Du hast viele Freunde bei facebook. Und einen Feind. Deine Freunde sind virtuell, Dein Feind ist real: Er wird Dich suchen. Er wird Dich finden. Er wird Dich töten. Ein Killer...
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Produktinformationen zu „Final Cut / Clara Vidalis Bd.1 “
Top-Spannung für Fans von Cody McFadyen!
Du hast viele Freunde bei facebook. Und einen Feind. Deine Freunde sind virtuell, Dein Feind ist real: Er wird Dich suchen. Er wird Dich finden. Er wird Dich töten. Ein Killer geht im Netz um - unsichtbar und allgegenwärtig. Perfide lockt er seine Opfer in die Falle und führt das Ermittlerteam an der Nase herum: der Namenlose.
Klappentext zu „Final Cut / Clara Vidalis Bd.1 “
Du hast 438 Freunde auf Facebook.Und einen Feind.Die Freunde sind virtuell,der Feind ist real.Er wird Dich suchen.Er wird Dich finden.Er wird Dich töten.Du hast 438 Freunde auf Facebook. Und keiner wird etwas merken.Ein Killer, der wie ein Computervirus agiert: unsichtbar und allgegenwärtig. Er nennt sich der Namenlose, und seine Taten versetzen ganz Berlin in Angst und Schrecken. Hauptkommissarin Clara Vidalis und ihr Team sind in der Abteilung für Pathopsychologie ohnehin schon für die schweren Fälle zuständig, aber die Vorgehensweise dieses Verbrechers raubt selbst ihnen den Atem. Perfide und genial, lenkt er die Ermittler stets auf die falsche Fährte. Und erst allmählich begreift die Kommissarin, dass der Namenlose sein grausames Spiel nicht mit der Polizei spielen will, sondern nur mit einem Menschen: mit ihr, Clara Vidalis. Während die Ermittler noch verzweifelt versuchen, die Identität des Killers aufzudecken, startet der Medienmogul Albert Torino eine neue Casting-Show. Und es gibt jemanden, der diese Show für seine eigenen, brutalen Zwecke nutzen wird: der Namenlose.
Lese-Probe zu „Final Cut / Clara Vidalis Bd.1 “
Finalt Cut von Veit Etzold ... mehr
Prolog
Nummer 12! Er stellte die beiden Kanister mit der dunkelroten Flüssigkeit auf den modrigen Boden des Kellers, zog sich den schwarzen Gummianzug aus, knüllte ihn zusammen und schleuderte ihn ins Feuer. Das Plastik warf Blasen, die sich schmatzend und zischend aufblähten und zusammenschrumpften, während die Flammen das Gummi verzehrten und ein stechender Geruch den Raum mit der hohen Decke erfüllte.
Er warf alles, was er getragen hatte, ins Feuer: die Maske, die Brille, die Schuhe.
12 Anzüge.
12 Opfer.
12 Leben.
Ihm dröhnte der Schädel. Grauenvoller Schmerz wühlte in seinem Hirn. Sein Magen war ein Stück brennende Kohle.
Vor sich sah er den Sarg - und das, was sich darauf befand. Er hatte es tausend Mal gesehen. Und immer wieder durchfuhr es ihn wie ein Elektroschock. Die Erinnerung an das Vergangene traf ihn auch diesmal wie ein Hammerschlag, ließ ihn nackt auf die Knie fallen, während er in einem Crescendo des Ekels und der Verzweiflung einen Schwall grüner Galle erbrach.
Dann brach auch er zusammen, lag keuchend und zitternd auf dem steinernen Boden, während das Feuer seine Kleidung verzehrte und seine geröteten Augen sich auf den Sarg richteten, der über ihm in das diffuse Licht des Kellergewölbes ragte.
Und da lag sie.
Seit Jahren.
Seit Jahrzehnten.
Verloren, aber nicht vergangen. Verborgen, aber nicht vergessen. Tot, aber träumend.
Und er lag nackt auf dem feuchten Boden, zuckend, in seinem eigenen Dreck, und irgendetwas staute sich in ihm auf, so wie sich vorhin das Erbrochene gestaut und schließlich Bahn gebrochen hatte. Und dann zerriss sein Schrei die Stille, so schrecklich, wie ihn zuvor nur Luzifer ausstoßen konnte, nachdem er von Gott in den bodenlosen Abgrund gestürzt worden war. Ein Schrei voller animalischer Angst und erstickender Hoffnungslosigkeit.
Er hatte getan, was kein Mensch tun durfte. Etwas, was ihn dazu verdammte, für immer im Feuer der Hölle zu brennen. Etwas, was er sich niemals vergeben würde.
Er hatte den einzigen Menschen getötet, der ihn je geliebt hatte.
Er verlor das Bewusstsein, und Schwärze umgab ihn.
Erster Teil
BLUT
Auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen.
Lukas 2,35
1. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes «, flüsterte die junge Frau, die im Beichtstuhl kniete. Ihre Stimme zitterte, als sich die Tränen ankündigten.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit«, sagte der Priester mit ruhiger, sonorer Stimme. Die Frau konnte sein Gesicht durch das gitterartige kleine Holzfenster, das Sünder und Erlöser trennte, nur schemenhaft erkennen.
Sie wusste selbst nicht, was sie jedes Jahr hierhertrieb, immer am 23. Oktober, seit vielen Jahren. War es der Glaube? Nein, sicher nicht. Eher die Schuld, die sich immer wieder in ihr aufstaute und die sie loswerden musste, weil sie wie ein tonnenschwerer Stein auf ihr lastete. Jedes Jahr sagte sie sich, wie unnütz die Beichte sei. Denn wer konnte garantieren, dass ihre Schuld damit getilgt wurde? Dass sie Vergebung fand? Das vage Versprechen Christi, in Gestalt eines Priesters die Last der Sünde von ihr zu nehmen, hielt der Gottessohn leider so gut wie nie ein. Nur kurz fand sie gewöhnlich nach einer Beichte Frieden, und das wohl auch nur, weil sie die Möglichkeit hatte, ihre Geschichte jemandem zu erzählen. Von den Albträumen und den namenlosen Schrecken wurde sie weiterhin verfolgt.
Sie hatte alles Mögliche versucht: Gesprächstherapie, psychologische Behandlung, Yoga, Tai-Chi, Meditationskurse. Geholfen hatte nichts - da war die Beichte noch das Beste.
Mit jedem Jahr wurde die Schuld unerträglicher. Es war etwas Düsteres, Bösartiges, nicht Greifbares, das sich in ihr aufbaute und emporstieg wie eine von fauligen Gasen aufgeblähte Wasserleiche, die in einem verpesteten, stinkenden Tümpel langsam und gespenstisch nach oben schwebt. Dieses Etwas in ihrem Inneren wurde größer und bedrohlicher, bis sie es nicht mehr ertragen konnte und die aufgeblähte Blase ihrer Schuld aufstechen musste, damit die fauligen Gase entweichen konnten.
Nur dass es nicht lange dauerte, bis der Pestilenzgestank sich wieder in ihr ausbreitete und auf ihre Seele drückte.
Und so fand sie sich jedes Jahr am 23. Oktober in einem Beichtstuhl in der Berliner Sankt-Hedwigs-Kathedrale wieder. Es war die Bischofskirche von Berlin; viele Priester waren abwechselnd hier. Manchmal beichtete sie bei Priestern, die ihre Geschichte schon einmal gehört hatten. Doch den Geistlichen, der ihr diesmal die Beichte abnahm, hatte sie noch nie gesehen.
»Ich bin gekommen, um meine Sünden zu bekennen. Meine letzte Beichte . . . war vor einem Jahr. Am meisten beschäftigt mich . . . meine Schwester . . .«, sagte sie stockend, denn wie jedes Mal wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte. »Meine Schwester war acht, als sie entführt wurde. Der Täter . . . er hat sie vergewaltigt und getötet. Und es war meine Schuld.«
»Wie lange ist das her?«, fragte der Priester.
»Zwanzig Jahre.« Es war der 23. Oktober 1990 gewesen, ein Mittwoch, als sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen hatte. Genau um 16 Uhr. »Ich wollte sie von der Schule abholen . . . von der Musikschule. Sie hat sich auf mich verlassen, aber ich bin nicht gekommen. Deshalb fiel sie dieser Bestie in die Hände.« Sie fing leise zu weinen an. »Er hielt sie tagelang gefangen und hat sie missbraucht . . . immer wieder. Und am Ende«, ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, »hat er sie umgebracht.« Jetzt kamen die Tränen wie ein Sturzbach der Verzweiflung. »Er hat Fotos davon gemacht . . . wie er es getan hat . . .«
Der Priester blieb stumm. Schließlich räusperte er sich. »Das ist eine furchtbare Geschichte. Es ist gut, dass Sie damit zu mir kommen.« Er machte eine Pause. »Hat man den Täter gefasst?«
Eine seltsame Frage für einen Beichtvater.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Die Polizei sagte damals, sie würden alles tun. Heute weiß ich, dass sie nichts getan haben, gar nichts. Sie haben Kaffee aus ihren Pappbechern getrunken, immer wieder auf die Uhr geschaut und um vier Uhr Feierabend gemacht, während meine Schwester vor Angst und Schmerzen wahnsinnig wurde. Ich weiß es genau.« »Woher?«
»Weil ich auch zu dem Verein gehöre. Aber ich bin anders als diese Versager damals. Denn ich jage solche Ungeheuer wie den Mörder meiner Schwester. Ich jage und ich töte sie.« »Sie sind bei der Polizei und jagen Mörder?«
»Serienkiller.« Sie schluckte. »Manchmal weiß ich nicht, ob es klug ist, denn immer wieder werde ich daran erinnert, wie ich bei meinem ersten und schrecklichsten Fall versagt habe. Aber es ist meine Bestimmung. Ich muss diese Bestien jagen . . . ich muss sie finden, und ich muss sie töten . . .« Sie weinte wieder. Sie konnte das Nicken des Priesters durch das Holzgitter sehen. »Ihr Hass ist verständlich. Aber Sie dürfen nicht Tod mit Tod vergelten. Jesus hält uns dazu an, Milde zu zeigen. Um Vergebung zu finden, muss man anderen vergeben.« »Auch dem Mörder meiner Schwester?«
»Auch ihm.« Sie machte eine lange Pause. Vergebung für diesen Vergewaltiger? Diesen Schänder und Schlächter? Unmöglich. Ihr Hass auf diese Kreatur war grenzenlos. Sie wollte ihn in Stücke reißen, das Blut aus ihm herauspressen und die Überbleibsel zu Pulver zerstampfen, bis von dem Mörder nichts mehr übrig blieb als ein rot gefärbter Nebel. Sie wartete, bis ihr innerer Aufruhr abgeklungen war. »Was geschieht mit dem Mörder, wenn er stirbt?«, fragte sie dann. »Was glauben Sie?«
Der Priester faltete die Hände. »Mord verstößt gegen das fünfte Gebot. Und es ist eine schwere Todsünde. Wenn er nicht beichtet und aufrichtige Reue zeigt, erwartet ihn die ewige Verdammnis. «
»Die Hölle«, sagte sie. Sie schluckte und wischte sich mit der Hand die Tränen ab. »Ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn ich ihn dorthin befördert habe. Wird er leiden in der Hölle?«
»Die Kinder von Fatima hatten Anfang des letzten Jahrhunderts eine Vision von der Hölle, die ihnen die Gottesmutter zeigte.« Der Priester zitierte die Höllenvision, die er offenbar auswendig kannte: »›Sie trieben im Feuer dahin, emporgeworfen von den Flammen, die aus ihnen selbst hervorbrachen, ohne Schwere und Gleichgewicht, unter Schmerzens-und Verzweiflungsschreien, die mich vor Entsetzen erstarren ließen.‹« »Das ist gut«, sagte die Frau. »Etwas anderes hat er auch nicht verdient.«
»So dürfen Sie nicht denken«, sagte der Priester. »Auch Zorn ist eine Sünde. Und die Hölle bedeutet ewige Qual. Kein Christ sollte sich wünschen, dass jemand dorthin kommt.«
»Ich hoffe, dass man ihm dort die Haut abzieht, dass man ihn kastriert und in Stücke schneidet, dass man ihn foltert und quält bis ans Ende der Zeit!«, zischte sie und ballte die Fäuste. »Und es ist mir egal, ob ich dafür selbst in der Hölle schmoren muss.« »Wie heißen Sie?«
»Clara.« »Ich sehe, Clara, dass Ihr Schmerz groß ist und Hass Ihre Seele erstickt.« Der Priester schlug das Kreuzzeichen. »Doch Gott der Vater hat in seiner unendlichen Gnade Jesus Christus geschickt zur Vergebung der Sünden.« Er blickte Clara an. Trotz des engmaschigen Holzgitters, das sie trennte, sah sie Mitgefühl in seinen Augen, als er die Lossprechungsformel vortrug. »Im Dienste der Kirche spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Wieder schlug er das Kreuzzeichen. »Sprich vor der Mutter Gottes ein Ave Maria und versuche, die Bitterkeit aus deinem Herzen zu verbannen. Die Gottesmutter wird für dich beten.« Er schaute sie an. »Und ich werde es auch tun.«
Clara erhob sich. »Lohnt sich diese Mühe bei mir denn überhaupt? «
»Keiner ist verloren«, sagte der Priester. »Ich kann eine gequälte Seele nicht sich selbst überlassen. Ich werde dich in meine Gebete mit einschließen. Und Christus wird dir verzeihen.«
»Gut«, sagte Clara. »Doch wenn ich dem Täter begegnen sollte, werde ich ihm mit Sicherheit nicht verzeihen.« Sie erhob sich, während der Priester sie aufmerksam anschaute.
»Ich werde ihn töten.«
Clara Vidalis, Hauptkommissarin beim Morddezernat des LKA Berlin und Expertin für Forensik und Pathopsychologie, erhob sich und verließ den Beichtstuhl mit schnellen Schritten, bevor die Tränen ihr die Stimme nahmen.
2. Das Internet ist ein allgegenwärtiges, weltumspannendes Netzwerk, das die Kommunikation von jedem mit allen ermöglicht, den beinahe gedankenschnellen Austausch von Informationen, der die Welt gleichsam auf die Größe eines Computerchips schrumpfen lässt. Die Menschen reden nicht mehr miteinander, sondern mit Webseiten, sie treffen sich nicht mehr, sondern tauschen sich über soziale Netzwerke aus. Sie setzen sich Reizen aus, die auf die gleichen Nervenbahnen im Hirn einwirken wie Nikotin und Kokain. Elektronische Drogen. 60 Milliarden E-Mails werden täglich weltweit verschickt, eine digitale Kakophonie der Kommunikation, die die Lebenswelt der Menschen immer mehr aus der Wirklichkeit in eine künstliche Welt aus Bits und Bytes verlagert.
Frühere Endgeräte musste man mittels klobiger Knöpfe bedienen, während die heutigen iPhones und iPads gestreichelt und liebkost werden wollen wie eifersüchtige Geliebte, die niemanden neben sich dulden. Und so, wie jeder Himmel seine Hölle hat, schafft das Internet sich seine eigene Schattenwelt und seine eigene Negierung der vernetzten und scheinbar aufgeklärten Gesellschaft.
Denn das Internet ist nicht nur das größte Kommunikations- medium und der umfassendste Wissensspeicher aller Zeiten. Das Internet ist zugleich der größte Tatort der Welt. Von Kinderpornos bis zu Horrorclips - echt oder gestellt -, von Anleitungen zum Suizid bis zu Bauanleitungen für Bomben, von Happy-Slapping-Videos zu Aufnahmen tödlicher Unfälle und Katastrophen bis hin zu Bildern betrunkener Jugendlicher, die in einer Ecke liegen, nackt inmitten der eigenen Exkremente und für alle Welt sichtbar, ist das Internet ein moderner Pranger voller Obszönitäten und Abartigkeiten, eine Schattenwelt, in der sich die dunkelsten Begierden, die perversesten Abgründe und die grausamsten Phantasien manifestieren.
Die Website giftgiver.de war eine dieser Seiten. In homosexuellen SM-Kreisen ist ein »Giftgiver« ein Mann, der bei ungeschütztem Analverkehr das HIV-Virus überträgt. Die Krankheit in sich zu tragen, sie weiterzugeben und andere zu infizieren - eigentlich ein Akt des Verbrechens - wird bei den Giftgivers als Tugend betrachtet. Ein Schneeballsystem der Perversion, in dem man nur weitergibt, aber niemals erlöst wird.
Jakob war einer der User, die fast täglich auf giftgiver.de ihre bizarren Phantasien auslebten, Kontakte knüpften und sich für Sexorgien und schäbige Parkplatz-Treffs verabredeten. Jakob war längst »gestochen« worden, wie die Entjungferung von Männern in der Szene genannt wird. Irgendwann hatte er sich bei ungeschütztem Analverkehr auf einer dunklen Kellerparty das HIV-Virus eingefangen. Seitdem war er selbst ein Giftgiver, der nicht nur das Virus in sich trug, sondern selbst ein tödlicher Erreger war.
Jakob war außerdem ein »Sub« oder »Bottom« - einer, der sich benutzen, quälen, erniedrigen ließ. Er spielte die »Frau«, bei Gangbangs, befriedigte andere mit dem Mund und ließ sich schlagen, fesseln und bespucken. Es erregte ihn sogar, wenn andere auf ihn urinierten. Die anderen, das waren die »Dominanten «, die »Doms« oder »Tops«.
Doch irgendwann reichte ihm selbst das nicht mehr. Nachdem er die verschiedensten sadomasochistischen Phantasien ausgelebt hatte, wollte er bis an die Grenzen gehen: Er wollte sich fesseln und mit einem Skalpell schneiden lassen. Jakob wusste selbst nicht, ob diese Phantasie schon immer in ihm gelauert hatte wie ein verborgener, tückischer Dämon, oder ob die ständige
Beschäftigung mit der virtuellen Hölle der SM-Seiten diese Begierde in ihm geweckt hatte.
Schließlich gab er bei giftgiver.de folgende Anzeige auf: Geiler Boy, 31, 182, 78. Rasiert, schlank. Schwanz 17/5. Möchte von attraktivem Dom gequält werden, vielleicht mit Messern? Mache alles mit, nur keine Verstümmelung etc. Melde dich.
Noch am selben Tag erhielt er die Antwort:
Dom, 39, 191, 90. Fessle dich mit Handschellen ans Bett, dann besorg ich es dir mit Skalpellen. Du kannst sie auf einer Website bestellen (Anhang). Gefällt dir mein Foto?
Der Fremde sandte Jakob ein Foto, das nur seinen trainierten Körper zeigte; sein Gesicht war hinter einer schwarzen Maske verborgen. Aber der athletische Körper gefiel Jakob. Außerdem schickte er Jakob ein Formular, das ihn als Arzt und Geschäftskunden auswies, sodass er die Skalpelle auf einer Website für Chirurgiebedarf bestellen konnte. Jakob entschied sich für Einwegskalpelle mit grünem Plastikgriff.
Eine erregende Mischung aus Furcht und Lust erfüllte ihn, als er auf der Website auf den »Bestellen«-Knopf drückte, nachdem er seine Kreditkartennummer eingegeben hatte. Was, wenn der Fremde die Grenzen nicht einhielt? Wenn er, Jakob, ihm hilflos ausgeliefert wäre? Seltsamerweise erregte ihn dieser Gedanke umso mehr. Als nach vier Tagen die Skalpelle kamen, schrieb Jakob wieder eine Mail:
Skalpelle sind da. Wann kommst du?
Umgehend erschien die Antwort:
Bin in einer halben Stunde bei dir. Lass die Wohnungstür auf, damit ich rein kann. Fessle dich mit einer Handschelle ans Bett. Alles andere erledige ich. Mach ein Foto von dir und schick es mir auf meine Nummer, damit ich sehe, dass du alles richtig gemacht hast.
Jakob knipste das Foto und schickte es an die Mailadresse, die er erhalten hatte.
Nach wenigen Minuten hatte er alles vorbereitet und sich mit einer Hand ans Bett gefesselt. Die Wohnungstür ließ er offen. Die Skalpelle lagen bereit.
Dann begann das Warten. Endlich hörte er Schritte auf dem Flur. Eine Mischung aus Lust, Erregung und Angst erfasste ihn.
3. Albert Torino stellte seinen Blackberry auf Empfang, stopfte seine Papiere und den Laptop in seine schlangenlederne Aktentasche und ging mit wackligen Beinen über den Gang der Boeing 747, die soeben aus S˜ao Paulo in München gelandet war. Er zog seinen Rollkoffer aus der Gepäckablage über sich und ließ sich von der Flugbegleitung sein dunkelblaues Nadelstreifensakko geben, während er sich gleichzeitig ein Aspirin einwarf, zerkaute und die bitteren Krümel ohne Wasser schluckte. Er hatte kaum geschlafen, wie fast immer, wenn er die Nacht im Flugzeug unterwegs war. Und das, obwohl man in der Business Class seinen Sitz in ein Bett verwandeln konnte und sogar noch Kissen, Decken, Kulturbeutel und weiteren Firlefanz gestellt bekam, auf den die Gäste hinten im Viehtransport gefälligst zu verzichten hatten.
Vielleicht liegt es daran, überlegte Torino, dass man dadurch, indem man sich ganz auf den Schlaf einstellt, eine Erwartungshaltung erzeugt, die das, was man erreichen will, eben nicht eintreten lässt - nämlich den Schlaf.
Sonst konnte Torino überall gut schlafen, besonders bei Marketingpräsentationen irgendwelcher Werbefuzzis, die seiner Firma mal wieder überflüssige Brandingkampagnen andrehen wollten.
Er genoss den bitteren Geschmack des Aspirins, der sich in seiner Mundhöhle ausbreitete. Tatsächlich schien der Kopfschmerz ein wenig nachzulassen.
Albert Torino war Medienmanager. Nachdem er ein paar Jahre bei großen Privatsendern gearbeitet hatte und dort für einige ebenso umstrittene wie erfolgreiche Formate verantwortlich gewesen war, hatte er seine eigene Firma gegründet, die Integrated Entertainment, bei der ihm kein hirnloser Verwaltungsrat hereinreden und keine impotenten Controller etwas verbieten konnten. Er war der Boss; die Finanzierung für sein nächstes Projekt stand zu 80 Prozent, und seine Idee war brillant: In Brasilien suchten sie Straßenjungen aus den Slums von S˜ao Paulo, trainierten sie und hetzten sie beim Ultimate Fighting in Käfigen aufeinander. Die Zuschauer konnten vorher ihren Favoriten auswählen und bestimmen, wer gegen wen kämpfen sollte.
Dasselbe, hatte Torino sich überlegt, könnte man auch mit einem Superstar-Format machen. Die Waffen der Straßenjungs sind ihre Fäuste, die der Frauen ihr Aussehen. Lass die Girls mit ihren Waffen gegeneinander antreten wie die Ultimate Fighter aus den Slums, nur eben mit ihrer Schönheit und weiblicher List statt mit den Fäusten, und lass das Publikum entscheiden, wer die Schönste ist. Und der Zuschauer, der die richtige Frau gewählt hat, kann etwas Außergewöhnliches gewinnen. Was? Na, was wohl?
Torinos Idee würde die Medienlandschaft erschüttern. Deutschland war NewOrleans, und er war der Hurrikan Katrina. Die Stewardess am Ausgang nickte ihm zu, während er sie von oben bis unten musterte. Schnuckelig, dachte er, wenn auch nicht vergleichbar mit dem, was in Brasilien herumläuft. Aber wir leben ja auch im verkniffenen Deutschland.
Er durchquerte den Gang, wobei er Rollkoffer und Ledertasche hinter sich herzog, während der Geschmack des Aspirins allmählich aus seinem Mund verschwand. Das Kinn vorgereckt, während seine braunen Augen unruhig umherhuschten, erweckte Albert Torino den Eindruck, überall dabei sein zu wollen und ständig in Sorge zu sein, etwas Wichtiges zu verpassen.
Copyright ©2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Prolog
Nummer 12! Er stellte die beiden Kanister mit der dunkelroten Flüssigkeit auf den modrigen Boden des Kellers, zog sich den schwarzen Gummianzug aus, knüllte ihn zusammen und schleuderte ihn ins Feuer. Das Plastik warf Blasen, die sich schmatzend und zischend aufblähten und zusammenschrumpften, während die Flammen das Gummi verzehrten und ein stechender Geruch den Raum mit der hohen Decke erfüllte.
Er warf alles, was er getragen hatte, ins Feuer: die Maske, die Brille, die Schuhe.
12 Anzüge.
12 Opfer.
12 Leben.
Ihm dröhnte der Schädel. Grauenvoller Schmerz wühlte in seinem Hirn. Sein Magen war ein Stück brennende Kohle.
Vor sich sah er den Sarg - und das, was sich darauf befand. Er hatte es tausend Mal gesehen. Und immer wieder durchfuhr es ihn wie ein Elektroschock. Die Erinnerung an das Vergangene traf ihn auch diesmal wie ein Hammerschlag, ließ ihn nackt auf die Knie fallen, während er in einem Crescendo des Ekels und der Verzweiflung einen Schwall grüner Galle erbrach.
Dann brach auch er zusammen, lag keuchend und zitternd auf dem steinernen Boden, während das Feuer seine Kleidung verzehrte und seine geröteten Augen sich auf den Sarg richteten, der über ihm in das diffuse Licht des Kellergewölbes ragte.
Und da lag sie.
Seit Jahren.
Seit Jahrzehnten.
Verloren, aber nicht vergangen. Verborgen, aber nicht vergessen. Tot, aber träumend.
Und er lag nackt auf dem feuchten Boden, zuckend, in seinem eigenen Dreck, und irgendetwas staute sich in ihm auf, so wie sich vorhin das Erbrochene gestaut und schließlich Bahn gebrochen hatte. Und dann zerriss sein Schrei die Stille, so schrecklich, wie ihn zuvor nur Luzifer ausstoßen konnte, nachdem er von Gott in den bodenlosen Abgrund gestürzt worden war. Ein Schrei voller animalischer Angst und erstickender Hoffnungslosigkeit.
Er hatte getan, was kein Mensch tun durfte. Etwas, was ihn dazu verdammte, für immer im Feuer der Hölle zu brennen. Etwas, was er sich niemals vergeben würde.
Er hatte den einzigen Menschen getötet, der ihn je geliebt hatte.
Er verlor das Bewusstsein, und Schwärze umgab ihn.
Erster Teil
BLUT
Auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen.
Lukas 2,35
1. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes «, flüsterte die junge Frau, die im Beichtstuhl kniete. Ihre Stimme zitterte, als sich die Tränen ankündigten.
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit«, sagte der Priester mit ruhiger, sonorer Stimme. Die Frau konnte sein Gesicht durch das gitterartige kleine Holzfenster, das Sünder und Erlöser trennte, nur schemenhaft erkennen.
Sie wusste selbst nicht, was sie jedes Jahr hierhertrieb, immer am 23. Oktober, seit vielen Jahren. War es der Glaube? Nein, sicher nicht. Eher die Schuld, die sich immer wieder in ihr aufstaute und die sie loswerden musste, weil sie wie ein tonnenschwerer Stein auf ihr lastete. Jedes Jahr sagte sie sich, wie unnütz die Beichte sei. Denn wer konnte garantieren, dass ihre Schuld damit getilgt wurde? Dass sie Vergebung fand? Das vage Versprechen Christi, in Gestalt eines Priesters die Last der Sünde von ihr zu nehmen, hielt der Gottessohn leider so gut wie nie ein. Nur kurz fand sie gewöhnlich nach einer Beichte Frieden, und das wohl auch nur, weil sie die Möglichkeit hatte, ihre Geschichte jemandem zu erzählen. Von den Albträumen und den namenlosen Schrecken wurde sie weiterhin verfolgt.
Sie hatte alles Mögliche versucht: Gesprächstherapie, psychologische Behandlung, Yoga, Tai-Chi, Meditationskurse. Geholfen hatte nichts - da war die Beichte noch das Beste.
Mit jedem Jahr wurde die Schuld unerträglicher. Es war etwas Düsteres, Bösartiges, nicht Greifbares, das sich in ihr aufbaute und emporstieg wie eine von fauligen Gasen aufgeblähte Wasserleiche, die in einem verpesteten, stinkenden Tümpel langsam und gespenstisch nach oben schwebt. Dieses Etwas in ihrem Inneren wurde größer und bedrohlicher, bis sie es nicht mehr ertragen konnte und die aufgeblähte Blase ihrer Schuld aufstechen musste, damit die fauligen Gase entweichen konnten.
Nur dass es nicht lange dauerte, bis der Pestilenzgestank sich wieder in ihr ausbreitete und auf ihre Seele drückte.
Und so fand sie sich jedes Jahr am 23. Oktober in einem Beichtstuhl in der Berliner Sankt-Hedwigs-Kathedrale wieder. Es war die Bischofskirche von Berlin; viele Priester waren abwechselnd hier. Manchmal beichtete sie bei Priestern, die ihre Geschichte schon einmal gehört hatten. Doch den Geistlichen, der ihr diesmal die Beichte abnahm, hatte sie noch nie gesehen.
»Ich bin gekommen, um meine Sünden zu bekennen. Meine letzte Beichte . . . war vor einem Jahr. Am meisten beschäftigt mich . . . meine Schwester . . .«, sagte sie stockend, denn wie jedes Mal wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte. »Meine Schwester war acht, als sie entführt wurde. Der Täter . . . er hat sie vergewaltigt und getötet. Und es war meine Schuld.«
»Wie lange ist das her?«, fragte der Priester.
»Zwanzig Jahre.« Es war der 23. Oktober 1990 gewesen, ein Mittwoch, als sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen hatte. Genau um 16 Uhr. »Ich wollte sie von der Schule abholen . . . von der Musikschule. Sie hat sich auf mich verlassen, aber ich bin nicht gekommen. Deshalb fiel sie dieser Bestie in die Hände.« Sie fing leise zu weinen an. »Er hielt sie tagelang gefangen und hat sie missbraucht . . . immer wieder. Und am Ende«, ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, »hat er sie umgebracht.« Jetzt kamen die Tränen wie ein Sturzbach der Verzweiflung. »Er hat Fotos davon gemacht . . . wie er es getan hat . . .«
Der Priester blieb stumm. Schließlich räusperte er sich. »Das ist eine furchtbare Geschichte. Es ist gut, dass Sie damit zu mir kommen.« Er machte eine Pause. »Hat man den Täter gefasst?«
Eine seltsame Frage für einen Beichtvater.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Die Polizei sagte damals, sie würden alles tun. Heute weiß ich, dass sie nichts getan haben, gar nichts. Sie haben Kaffee aus ihren Pappbechern getrunken, immer wieder auf die Uhr geschaut und um vier Uhr Feierabend gemacht, während meine Schwester vor Angst und Schmerzen wahnsinnig wurde. Ich weiß es genau.« »Woher?«
»Weil ich auch zu dem Verein gehöre. Aber ich bin anders als diese Versager damals. Denn ich jage solche Ungeheuer wie den Mörder meiner Schwester. Ich jage und ich töte sie.« »Sie sind bei der Polizei und jagen Mörder?«
»Serienkiller.« Sie schluckte. »Manchmal weiß ich nicht, ob es klug ist, denn immer wieder werde ich daran erinnert, wie ich bei meinem ersten und schrecklichsten Fall versagt habe. Aber es ist meine Bestimmung. Ich muss diese Bestien jagen . . . ich muss sie finden, und ich muss sie töten . . .« Sie weinte wieder. Sie konnte das Nicken des Priesters durch das Holzgitter sehen. »Ihr Hass ist verständlich. Aber Sie dürfen nicht Tod mit Tod vergelten. Jesus hält uns dazu an, Milde zu zeigen. Um Vergebung zu finden, muss man anderen vergeben.« »Auch dem Mörder meiner Schwester?«
»Auch ihm.« Sie machte eine lange Pause. Vergebung für diesen Vergewaltiger? Diesen Schänder und Schlächter? Unmöglich. Ihr Hass auf diese Kreatur war grenzenlos. Sie wollte ihn in Stücke reißen, das Blut aus ihm herauspressen und die Überbleibsel zu Pulver zerstampfen, bis von dem Mörder nichts mehr übrig blieb als ein rot gefärbter Nebel. Sie wartete, bis ihr innerer Aufruhr abgeklungen war. »Was geschieht mit dem Mörder, wenn er stirbt?«, fragte sie dann. »Was glauben Sie?«
Der Priester faltete die Hände. »Mord verstößt gegen das fünfte Gebot. Und es ist eine schwere Todsünde. Wenn er nicht beichtet und aufrichtige Reue zeigt, erwartet ihn die ewige Verdammnis. «
»Die Hölle«, sagte sie. Sie schluckte und wischte sich mit der Hand die Tränen ab. »Ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn ich ihn dorthin befördert habe. Wird er leiden in der Hölle?«
»Die Kinder von Fatima hatten Anfang des letzten Jahrhunderts eine Vision von der Hölle, die ihnen die Gottesmutter zeigte.« Der Priester zitierte die Höllenvision, die er offenbar auswendig kannte: »›Sie trieben im Feuer dahin, emporgeworfen von den Flammen, die aus ihnen selbst hervorbrachen, ohne Schwere und Gleichgewicht, unter Schmerzens-und Verzweiflungsschreien, die mich vor Entsetzen erstarren ließen.‹« »Das ist gut«, sagte die Frau. »Etwas anderes hat er auch nicht verdient.«
»So dürfen Sie nicht denken«, sagte der Priester. »Auch Zorn ist eine Sünde. Und die Hölle bedeutet ewige Qual. Kein Christ sollte sich wünschen, dass jemand dorthin kommt.«
»Ich hoffe, dass man ihm dort die Haut abzieht, dass man ihn kastriert und in Stücke schneidet, dass man ihn foltert und quält bis ans Ende der Zeit!«, zischte sie und ballte die Fäuste. »Und es ist mir egal, ob ich dafür selbst in der Hölle schmoren muss.« »Wie heißen Sie?«
»Clara.« »Ich sehe, Clara, dass Ihr Schmerz groß ist und Hass Ihre Seele erstickt.« Der Priester schlug das Kreuzzeichen. »Doch Gott der Vater hat in seiner unendlichen Gnade Jesus Christus geschickt zur Vergebung der Sünden.« Er blickte Clara an. Trotz des engmaschigen Holzgitters, das sie trennte, sah sie Mitgefühl in seinen Augen, als er die Lossprechungsformel vortrug. »Im Dienste der Kirche spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Wieder schlug er das Kreuzzeichen. »Sprich vor der Mutter Gottes ein Ave Maria und versuche, die Bitterkeit aus deinem Herzen zu verbannen. Die Gottesmutter wird für dich beten.« Er schaute sie an. »Und ich werde es auch tun.«
Clara erhob sich. »Lohnt sich diese Mühe bei mir denn überhaupt? «
»Keiner ist verloren«, sagte der Priester. »Ich kann eine gequälte Seele nicht sich selbst überlassen. Ich werde dich in meine Gebete mit einschließen. Und Christus wird dir verzeihen.«
»Gut«, sagte Clara. »Doch wenn ich dem Täter begegnen sollte, werde ich ihm mit Sicherheit nicht verzeihen.« Sie erhob sich, während der Priester sie aufmerksam anschaute.
»Ich werde ihn töten.«
Clara Vidalis, Hauptkommissarin beim Morddezernat des LKA Berlin und Expertin für Forensik und Pathopsychologie, erhob sich und verließ den Beichtstuhl mit schnellen Schritten, bevor die Tränen ihr die Stimme nahmen.
2. Das Internet ist ein allgegenwärtiges, weltumspannendes Netzwerk, das die Kommunikation von jedem mit allen ermöglicht, den beinahe gedankenschnellen Austausch von Informationen, der die Welt gleichsam auf die Größe eines Computerchips schrumpfen lässt. Die Menschen reden nicht mehr miteinander, sondern mit Webseiten, sie treffen sich nicht mehr, sondern tauschen sich über soziale Netzwerke aus. Sie setzen sich Reizen aus, die auf die gleichen Nervenbahnen im Hirn einwirken wie Nikotin und Kokain. Elektronische Drogen. 60 Milliarden E-Mails werden täglich weltweit verschickt, eine digitale Kakophonie der Kommunikation, die die Lebenswelt der Menschen immer mehr aus der Wirklichkeit in eine künstliche Welt aus Bits und Bytes verlagert.
Frühere Endgeräte musste man mittels klobiger Knöpfe bedienen, während die heutigen iPhones und iPads gestreichelt und liebkost werden wollen wie eifersüchtige Geliebte, die niemanden neben sich dulden. Und so, wie jeder Himmel seine Hölle hat, schafft das Internet sich seine eigene Schattenwelt und seine eigene Negierung der vernetzten und scheinbar aufgeklärten Gesellschaft.
Denn das Internet ist nicht nur das größte Kommunikations- medium und der umfassendste Wissensspeicher aller Zeiten. Das Internet ist zugleich der größte Tatort der Welt. Von Kinderpornos bis zu Horrorclips - echt oder gestellt -, von Anleitungen zum Suizid bis zu Bauanleitungen für Bomben, von Happy-Slapping-Videos zu Aufnahmen tödlicher Unfälle und Katastrophen bis hin zu Bildern betrunkener Jugendlicher, die in einer Ecke liegen, nackt inmitten der eigenen Exkremente und für alle Welt sichtbar, ist das Internet ein moderner Pranger voller Obszönitäten und Abartigkeiten, eine Schattenwelt, in der sich die dunkelsten Begierden, die perversesten Abgründe und die grausamsten Phantasien manifestieren.
Die Website giftgiver.de war eine dieser Seiten. In homosexuellen SM-Kreisen ist ein »Giftgiver« ein Mann, der bei ungeschütztem Analverkehr das HIV-Virus überträgt. Die Krankheit in sich zu tragen, sie weiterzugeben und andere zu infizieren - eigentlich ein Akt des Verbrechens - wird bei den Giftgivers als Tugend betrachtet. Ein Schneeballsystem der Perversion, in dem man nur weitergibt, aber niemals erlöst wird.
Jakob war einer der User, die fast täglich auf giftgiver.de ihre bizarren Phantasien auslebten, Kontakte knüpften und sich für Sexorgien und schäbige Parkplatz-Treffs verabredeten. Jakob war längst »gestochen« worden, wie die Entjungferung von Männern in der Szene genannt wird. Irgendwann hatte er sich bei ungeschütztem Analverkehr auf einer dunklen Kellerparty das HIV-Virus eingefangen. Seitdem war er selbst ein Giftgiver, der nicht nur das Virus in sich trug, sondern selbst ein tödlicher Erreger war.
Jakob war außerdem ein »Sub« oder »Bottom« - einer, der sich benutzen, quälen, erniedrigen ließ. Er spielte die »Frau«, bei Gangbangs, befriedigte andere mit dem Mund und ließ sich schlagen, fesseln und bespucken. Es erregte ihn sogar, wenn andere auf ihn urinierten. Die anderen, das waren die »Dominanten «, die »Doms« oder »Tops«.
Doch irgendwann reichte ihm selbst das nicht mehr. Nachdem er die verschiedensten sadomasochistischen Phantasien ausgelebt hatte, wollte er bis an die Grenzen gehen: Er wollte sich fesseln und mit einem Skalpell schneiden lassen. Jakob wusste selbst nicht, ob diese Phantasie schon immer in ihm gelauert hatte wie ein verborgener, tückischer Dämon, oder ob die ständige
Beschäftigung mit der virtuellen Hölle der SM-Seiten diese Begierde in ihm geweckt hatte.
Schließlich gab er bei giftgiver.de folgende Anzeige auf: Geiler Boy, 31, 182, 78. Rasiert, schlank. Schwanz 17/5. Möchte von attraktivem Dom gequält werden, vielleicht mit Messern? Mache alles mit, nur keine Verstümmelung etc. Melde dich.
Noch am selben Tag erhielt er die Antwort:
Dom, 39, 191, 90. Fessle dich mit Handschellen ans Bett, dann besorg ich es dir mit Skalpellen. Du kannst sie auf einer Website bestellen (Anhang). Gefällt dir mein Foto?
Der Fremde sandte Jakob ein Foto, das nur seinen trainierten Körper zeigte; sein Gesicht war hinter einer schwarzen Maske verborgen. Aber der athletische Körper gefiel Jakob. Außerdem schickte er Jakob ein Formular, das ihn als Arzt und Geschäftskunden auswies, sodass er die Skalpelle auf einer Website für Chirurgiebedarf bestellen konnte. Jakob entschied sich für Einwegskalpelle mit grünem Plastikgriff.
Eine erregende Mischung aus Furcht und Lust erfüllte ihn, als er auf der Website auf den »Bestellen«-Knopf drückte, nachdem er seine Kreditkartennummer eingegeben hatte. Was, wenn der Fremde die Grenzen nicht einhielt? Wenn er, Jakob, ihm hilflos ausgeliefert wäre? Seltsamerweise erregte ihn dieser Gedanke umso mehr. Als nach vier Tagen die Skalpelle kamen, schrieb Jakob wieder eine Mail:
Skalpelle sind da. Wann kommst du?
Umgehend erschien die Antwort:
Bin in einer halben Stunde bei dir. Lass die Wohnungstür auf, damit ich rein kann. Fessle dich mit einer Handschelle ans Bett. Alles andere erledige ich. Mach ein Foto von dir und schick es mir auf meine Nummer, damit ich sehe, dass du alles richtig gemacht hast.
Jakob knipste das Foto und schickte es an die Mailadresse, die er erhalten hatte.
Nach wenigen Minuten hatte er alles vorbereitet und sich mit einer Hand ans Bett gefesselt. Die Wohnungstür ließ er offen. Die Skalpelle lagen bereit.
Dann begann das Warten. Endlich hörte er Schritte auf dem Flur. Eine Mischung aus Lust, Erregung und Angst erfasste ihn.
3. Albert Torino stellte seinen Blackberry auf Empfang, stopfte seine Papiere und den Laptop in seine schlangenlederne Aktentasche und ging mit wackligen Beinen über den Gang der Boeing 747, die soeben aus S˜ao Paulo in München gelandet war. Er zog seinen Rollkoffer aus der Gepäckablage über sich und ließ sich von der Flugbegleitung sein dunkelblaues Nadelstreifensakko geben, während er sich gleichzeitig ein Aspirin einwarf, zerkaute und die bitteren Krümel ohne Wasser schluckte. Er hatte kaum geschlafen, wie fast immer, wenn er die Nacht im Flugzeug unterwegs war. Und das, obwohl man in der Business Class seinen Sitz in ein Bett verwandeln konnte und sogar noch Kissen, Decken, Kulturbeutel und weiteren Firlefanz gestellt bekam, auf den die Gäste hinten im Viehtransport gefälligst zu verzichten hatten.
Vielleicht liegt es daran, überlegte Torino, dass man dadurch, indem man sich ganz auf den Schlaf einstellt, eine Erwartungshaltung erzeugt, die das, was man erreichen will, eben nicht eintreten lässt - nämlich den Schlaf.
Sonst konnte Torino überall gut schlafen, besonders bei Marketingpräsentationen irgendwelcher Werbefuzzis, die seiner Firma mal wieder überflüssige Brandingkampagnen andrehen wollten.
Er genoss den bitteren Geschmack des Aspirins, der sich in seiner Mundhöhle ausbreitete. Tatsächlich schien der Kopfschmerz ein wenig nachzulassen.
Albert Torino war Medienmanager. Nachdem er ein paar Jahre bei großen Privatsendern gearbeitet hatte und dort für einige ebenso umstrittene wie erfolgreiche Formate verantwortlich gewesen war, hatte er seine eigene Firma gegründet, die Integrated Entertainment, bei der ihm kein hirnloser Verwaltungsrat hereinreden und keine impotenten Controller etwas verbieten konnten. Er war der Boss; die Finanzierung für sein nächstes Projekt stand zu 80 Prozent, und seine Idee war brillant: In Brasilien suchten sie Straßenjungen aus den Slums von S˜ao Paulo, trainierten sie und hetzten sie beim Ultimate Fighting in Käfigen aufeinander. Die Zuschauer konnten vorher ihren Favoriten auswählen und bestimmen, wer gegen wen kämpfen sollte.
Dasselbe, hatte Torino sich überlegt, könnte man auch mit einem Superstar-Format machen. Die Waffen der Straßenjungs sind ihre Fäuste, die der Frauen ihr Aussehen. Lass die Girls mit ihren Waffen gegeneinander antreten wie die Ultimate Fighter aus den Slums, nur eben mit ihrer Schönheit und weiblicher List statt mit den Fäusten, und lass das Publikum entscheiden, wer die Schönste ist. Und der Zuschauer, der die richtige Frau gewählt hat, kann etwas Außergewöhnliches gewinnen. Was? Na, was wohl?
Torinos Idee würde die Medienlandschaft erschüttern. Deutschland war NewOrleans, und er war der Hurrikan Katrina. Die Stewardess am Ausgang nickte ihm zu, während er sie von oben bis unten musterte. Schnuckelig, dachte er, wenn auch nicht vergleichbar mit dem, was in Brasilien herumläuft. Aber wir leben ja auch im verkniffenen Deutschland.
Er durchquerte den Gang, wobei er Rollkoffer und Ledertasche hinter sich herzog, während der Geschmack des Aspirins allmählich aus seinem Mund verschwand. Das Kinn vorgereckt, während seine braunen Augen unruhig umherhuschten, erweckte Albert Torino den Eindruck, überall dabei sein zu wollen und ständig in Sorge zu sein, etwas Wichtiges zu verpassen.
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Autoren-Porträt von Veit Etzold
Veit Etzold, geboren 1973 in Bremen, studierte Anglistik, Kunstgeschichte, Medienwissenschaften und General Management in Oldenburg, London und Barcelona. 2005 promovierte er zum Kinofilm "Matrix". Während und nach seinem Studium arbeitete er für Medienkonzerne, Banken, in der Unternehmensberatung und in der Management-Ausbildung. Veit M. Etzold lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Veit Etzold
- 2012, 10. Aufl., 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166876
- ISBN-13: 9783404166879
- Erscheinungsdatum: 15.05.2012
Pressezitat
"Höchst spannend und gut erzählt." NDR.de Kultur "Berlins blutigster Thriller des Sommers!" Bild Berlin-Brandenburg "Es ist ein sehr packendes Buch, bietet einen spannenden Lesestoff" Offenbach-Post
Kommentar zu "Final Cut / Clara Vidalis Bd.1"