Fräulein Jacobs funktioniert nicht
Als ich aufhörte, gut zu sein
Louise Jacobs wird in die bekannte Kaffeeröster-Dynastie Jacobs hineingeboren. Und von vornherein steht fest: Auch sie soll einmal erfolgreich werden.
Doch als Louise in die Schule kommt, wird bald klar, dass sie Mühe haben wird, mit den anderen...
Doch als Louise in die Schule kommt, wird bald klar, dass sie Mühe haben wird, mit den anderen...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
19.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Fräulein Jacobs funktioniert nicht “
Louise Jacobs wird in die bekannte Kaffeeröster-Dynastie Jacobs hineingeboren. Und von vornherein steht fest: Auch sie soll einmal erfolgreich werden.
Doch als Louise in die Schule kommt, wird bald klar, dass sie Mühe haben wird, mit den anderen mitzuhalten. Das Schreiben fällt ihr schwer, die Zahlen wirbeln bunt durch ihren Kopf. Ein Makel in ihrem leistungsorientierten Umfeld, den ihr zahlreiche Therapeuten und Nachhilfelehrer auszutreiben versuchen - vergeblich. Louise wird immer mehr zur Außenseiterin. Mit fünfzehn erkrankt sie an Magersucht und wird in eine Klinik eingewiesen. Nach der Entlassung ist vieles besser - doch die Frage bleibt: Was anfangen mit einem Leben, in dem man aus der zugedachten Rolle fällt? Und wo die Heimat finden, die man zu Hause vergeblich sucht? Louise flüchtet sich auf die Farm ihres Vaters in Vermont. Hier, inmitten der Natur, kann sie das sein, wovon sie als Kind immer geträumt hatte: frei. Und nicht nur das: Hier findet sie auch die Bestimmung für ihr Leben.
Doch als Louise in die Schule kommt, wird bald klar, dass sie Mühe haben wird, mit den anderen mitzuhalten. Das Schreiben fällt ihr schwer, die Zahlen wirbeln bunt durch ihren Kopf. Ein Makel in ihrem leistungsorientierten Umfeld, den ihr zahlreiche Therapeuten und Nachhilfelehrer auszutreiben versuchen - vergeblich. Louise wird immer mehr zur Außenseiterin. Mit fünfzehn erkrankt sie an Magersucht und wird in eine Klinik eingewiesen. Nach der Entlassung ist vieles besser - doch die Frage bleibt: Was anfangen mit einem Leben, in dem man aus der zugedachten Rolle fällt? Und wo die Heimat finden, die man zu Hause vergeblich sucht? Louise flüchtet sich auf die Farm ihres Vaters in Vermont. Hier, inmitten der Natur, kann sie das sein, wovon sie als Kind immer geträumt hatte: frei. Und nicht nur das: Hier findet sie auch die Bestimmung für ihr Leben.
Klappentext zu „Fräulein Jacobs funktioniert nicht “
Louise Jacobs wird in die bekannte Kaffeeröster-Dynastie Jacobs hineingeboren. Und von vornherein steht fest: Auch sie soll einmal erfolgreich werden. Doch als Louise in die Schule kommt, wird bald klar, dass sie Mühe haben wird, mit den anderen mitzuhalten. Das Schreiben fällt ihr schwer, die Zahlen wirbeln bunt durch ihren Kopf. Ein Makel in ihrem leistungsorientierten Umfeld, den ihr zahlreiche Therapeuten und Nachhilfelehrer auszutreiben versuchen vergeblich. Louise wird immer mehr zur Außenseiterin. Mit fünfzehn erkrankt sie an Magersucht und wird in eine Klinik eingewiesen. Nach der Entlassung ist vieles besser doch die Frage bleibt: Was anfangen mit einem Leben, in dem man aus der zugedachten Rolle fällt? Und wo die Heimat finden, die man zu Hause vergeblich sucht? Louise flüchtet sich auf die Farm ihres Vaters in Vermont. Hier, inmitten der Natur, kann sie das sein, wovon sie als Kind immer geträumt hatte: frei. Und nicht nur das: Hier findet sie auch die Bestimmung für ihr Leben.
Lese-Probe zu „Fräulein Jacobs funktioniert nicht “
Fräulein Jacobs funktioniert nicht von Louise Jacobs Prolog
Ich wollte immer Cowboy werden. Ich träume davon, an nichts und niemanden gebunden zu sein. Ich sehne mich nach Schotterwegen, die nie auf eine Kreuzung stoßen, nach so viel Land und Raum, dass ich mich darin verlieren kann. Nichts berauscht mich mehr als die Weite. Da ich in der Schweiz aufgewachsen bin, machte sich die Sucht nach mehr Platz schon früh bemerkbar. Mit vierzehn begann ich davon zu träumen, ein Cowboy zu sein. Damals fühlte ich mich gefangen in Schulpflichten, eingepfercht von einem Zaun aus einem 4000 Meter hohen Bergmassiv, umschlossen von goldenen Gitterstäben. Ich hatte Sehnsucht und träumte von der endlosen Weite jenseits der Schweiz, jenseits des Ozeans.
Als Cowboy würde ich in einer Blockhütte mitten in der endlosen Weite eines Graslandes leben und zwei, drei Pferde und ein paar Hunde und Schafe besitzen. In meiner Vorstellung wäre ich alleine. Der Wind würde in den Überlandleitungen singen, die hohen Gräser wiegen. Ich würde jeden Tag ausreiten, um meine Rinder auf den Weiden zu besuchen.
... mehr
Einmal die Woche würde ich mit einem blauen Chevrolet Truck, der einige rostige Stellen an den Kotflügeln hätte und innen nach Motoröl und Eisenketten röche, die paar Meilen zum Beispiel nach Bozeman, Montana, fahren. AM Radio würde Hank Williams' Move over good dog cause a mad dog's movin' in spielen. Ich käme linker Hand an den alten Traktoren vorbei, würde die Scheune mit dem Feldsteinfundament und dem Tonnendach passieren, da lägen Heubüschel auf der Straßenseite, die der Wind von der Ladefl äche eines Trucks gezerrt hatte, und die knallblauen, kleinen Bluebirds würden vom Drahtzaun hüpfen und davonzwitschern. Zu beiden Seiten des Highways würde sich die goldene Talsohle, bedeckt von Licht und Schattenfl ecken ausbreiten, über mir die Wolkenteppiche im Himmel schweben. Da lägen die Baum- schnitte und Eisenreste von altem Farmequipment herum, da würde eine Plastikabdeckung im Wind wabern, und die davon aufgeschreckten Pferde stünden mit geblähten Nüstern am Zaun ihrer Koppel. Dann in Bozeman würde ich beim Leaf And Bean an der Main Street einkehren und in der Lokalzeitung die Anzeigen durchgehen. Da gäbe es den zweiten Heuschnitt - die Tonne zu 100 Dollar - in kleinen Ballen zu kaufen, jemand würde ein ganzes Schwein anbieten - cut and wrapped 320 $ call 388 -1989 - , oder ich fände einen gebrauchten »John Deere 4720«-Traktor mit Vorderradantrieb in gutem Zustand. Ich würde mich bei den Arbeitern der umliegenden Farmen über günstigen Stacheldraht und elektrischen Drahtzaun informieren, mich mit Greg vom Zeitungsladen und Meredith vom Postamt unterhalten, würde erfahren, wer geboren und gestorben und wie bei jedem die Ernte ausgefallen war. Dann würde ich an den grasenden Rinderpulks mit Son House oder Lightnin' Hopkins im Radio wieder zurückfahren und mir ein Roastbeef-Sandwich zum Mittagessen machen. Nachmittags könnte ich die Pferde wieder auf die Koppeln bringen, nach den Hühnern sehen, in meinem Gemüsegarten Unkraut jäten oder zur Auktion fahren, um einen neuen Bullen oder ein Schaf zu ersteigern. Abends säße ich auf der Veranda und würde dem Atem des Windes lauschen. Ich bräuchte nur zwei Paar Jeans, hätte mehrere Hüte und eine Auswahl von karierten Hemden. Meine Hände würden nach dem Leder feuchter Handschuhe riechen, meine Stiefel nach Glyzerinseife.
Ich müsste nie Hunger leiden, hätte immer ein paar Geldscheine unter der Matratze, würde mich nie einsam fühlen, sondern wäre geborgen in der unendlichen Großzügigkeit der mich umgebenden Natur.
Meine Reise in diesen Mythos, dorthin, wo eine eigene Gesetzgebung und ungezähmte Elemente herrschen, beginnt mitten in Europa. Genauer: in der Schweiz, am Ufer eines Sees mit Blick auf einen Sendeturm.
Erster Teil
Im Tobel
1
Ich bin ein Kind aus dem Schlaraffenland, aus einem kleinen geographischen Wunder, das einst nur ein Fleck Land mitten im Heiligen Römischen Reich war. Doch dieses Land wurde von mutigen Vätern befreit und zur Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgerufen. Heute gibt es in der Schweiz die beste Schokolade, der Lack der Autos glänzt hier am schönsten, die Straßen sind immer gesaugt und gefegt, wir haben die idyllischsten Blicke über See und Alp, und unsere Uhren gehen am genausten.Tag für Tag, Jahr für Jahr ist das so, seit dem Apfelschuss von Wilhelm Tell.
Ich bin in meinem Leben fast nie zu etwas gezwungen gewesen. Meine Familie wurde nicht politisch verfolgt, wir mussten nicht vor Krieg flüchten, ich musste nie Hunger leiden. Ich wuchs in einer Familie auf, in der großer Wert auf Harmonie und Ordnung gelegt wurde. Und doch wollte ich irgendwann nur noch eines: weg.
Die ersten sieben Jahre meines Lebens sind geprägt von der dörflichen Struktur des Ortes, in dem ich aufwuchs. Es standen noch Bauernhäuser mit Fachwerk im Dorf, auf den Fensterbrettern rote Geranien. Es gab einen Dorfplatz mit einem Süßwarenladen und eine Zoohandlung mit Hasen im Schaufenster. Ich lief zu Fuß zum Kindergarten und nutzte Schleichwege durch fremde Gärten als Abkürzung oder Erweiterung der Strecke. In unserem Dorf gab es keine Gefahren, keine Nöte. Was auch immer eine Kindheit zur glücklichen Kindheit macht, es fiel mir zu.
Und doch: Dort, wo ich geboren wurde, habe ich mich nie heimisch gefühlt. Wir wuchsen nicht in die Tradition eines Zunfthauses rein, haben beim Sechseläuten nie auf dem Balkon bei Sprüngli gestanden, und mein Vater ritt auch nie um den gigantischen Scheiterhaufen herum, während ein Schneemann aus Papier zum Ende des Winters auf dem Sechseläutenplatz in Zürich von Flammen zerfressen wurde. Wir waren Fremde in dem Land, in dem wir lebten. Mein Vater stammt aus einer Bremer Bauernfamilie, die sich im Lauf der Zeit als Unternehmerdynastie einen Namen gemacht hat. Die Familie meiner Mutter hat sephardisch-jüdische Ursprünge; ihre Spuren führen zurück bis ins 15. Jahrhundert, nach Portugal.
In Zürich kam ich mir, ohne von diesen Ursprüngen zu wissen, immer so vor, als sei ich angeschwemmt worden, wie Treibgut. Und nachdem ich der Schweiz einmal den Rücken gekehrt hatte, wollte ich mich nicht mehr umsehen, und ich habe nie die Sehnsucht verspürt zurückzukehren.
2
Es ist Ende September, ich überquere den Ozean, um mal wieder alles hinter mir zu lassen. Ich will mich von der Gegenwart trennen, mich in den zeitlosen Raum der Reise heben lassen und in der Fremde abgesetzt werden. Vielleicht ist es auch einfach eine Flucht. Obwohl mich weniger das Verlangen danach treibt, alle Seile zu kappen, als vielmehr ein großer Trotz und eine tiefe Verzweiflung darüber, immer mithalten zu müssen. Ich stamme aus einer Welt, in der ich nie gut genug war, und fliehe in eine Welt, in der es keine Maßstäbe gibt.
Ich sehne mich nach endloser Stille.
Wenn diese Sehnsucht unerträglich wird, verfalle ich in ein wiederkehrendes Handlungsmuster: Koffer packen und ab nach Vermont. Als könnte ich damit aus dem einen Film austreten und in einem anderen weiterspielen. In Vermont habe ich nichts mit meinem Leben zu tun. An diesem Ort wird mir alles verziehen, ich brauche mit niemandem umzugehen, ich brauche keine unerwiderten Gefühle niederzukämpfen. Ich wanke mit letzten Kräften in den Wald und lasse mich fallen. Vermont ist eine Droge, die mich über die Jahre abhängig gemacht hat, die mich immer wieder für dieses Muster belohnt: nicht argumentieren, einfach weggehen. Meistens bin ich traurig, verlassen, verzweifelt oder am Ende, wenn ich in Boston aus dem Flughafen trete. Meistens schleppe ich eine Haut mit nach Vermont, die ich dort ablege und begrabe. Egal, ob es die Liebe oder das Leben ist, ich bin voller nicht getroffener Entscheidungen, voller falscher Hoffnungen, voller ungelöster Konflikte, und meist suche ich in Vermont die Einsicht.
Andere gehen dafür zur Beichte, ins Bordell oder setzen sich an den Stammtisch. Mich holt immer wieder das gleiche brennende Verlangen ein: Vermont.
Seit Generationen besaßen die bäuerlichen Vorfahren meines Vaters Land und Hof. Wie es die Tradition vorsah, wurde beides immer dem erstgeborenen Sohn vererbt. Da weder mein Großvater noch mein Vater erstgeborene Söhne waren, bekamen sie nichts davon ab.
In meinem Großvater hat sich die Liebe zum Land schließlich mit sechsundfünfzig Jahren wieder durchgesetzt, er baute ein Vollblüter-Gestüt in Sottrum auf, züchtete Rennpferde und kaufte Bullen und Kühe bei Versteigerungen im Umland ein. Er liebte das Landleben und fuhr noch mindestens dreißig Jahre lang täglich um 16 Uhr und an den Wochenenden auf das Gestüt.
Mein Vater entdeckte während seiner beruflichen Tätigkeit in New York den Staat Vermont. Nur vier Autostunden von der Metropole entfernt fand er hier die stehengebliebene Zeit. Er lernte das Neuengland mit seinen ochsenblutrot gestrichenen Scheunen und den Country Stores kennen, die zugleich Fischlizenzen, Waffen, Unterwäsche, Bier und Panzertape im Angebot führen. Jedes Wochenende fuhr er nach Norden zu den Blueberryfeldern, Birkenhainen, den stillen Kirchen und den Familien, die seit Generationen die einzige Autowerkstatt im Ort betreiben. Auf Birch Hill Farm in Vermont ist auch mein Vater wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und Farmer geworden.
Vor dreiundzwanzig Jahren, als Birch Hill in unsere Familie kam, war es nichts als ein von meterhohen und meterdicken Bäumen umzingeltes Haus. Zu diesem Backsteinhaus mit schwarz geschindeltem Dach und vier gemauerten Schornsteinen gehörte ein Waldstück von vielleicht hundertfünfzig Acres. Außerdem standen auf dem Grundstück ein Garagenhäuschen, ein blau gestrichenes Holzhaus und ein alter Stall mit vier Stellplätzen für Pferde und einem ausgebauten Dachboden für Stroh und Heu. Diese drei Nebengebäude lagen dicht beieinander unterhalb des Backsteinhauses und wurden überragt von dem größten frei stehenden Ahornbaum, den ich jemals gesehen habe.
Vor dreiundzwanzig Jahren stand in einer Entfernung von fünf Minuten Fußmarsch auch noch ein Trailer auf einer Anhöhe mit Weitblick auf den Horizont. Dort lebte Mrs. Wilmot, die Dame, von der mein Vater das Grundstück und die Häuser gekauft hatte. Sie hatte das ganze Land gemeinsam mit ihrem Mann besessen. Doch ihr Mann war die Treppe des Hauses runtergestürzt und tödlich verunglückt. Sie räumte das Haupthaus, kaufte sich ein blaues Wohnmobil, das sie an diesem einzigen freigeschlagenen, schönsten Platz auf der Anhöhe aufstellte und beschloss, den Wald drumherum zu verkaufen. Es heißt, sie habe meinen Vater in ihrer Kutsche durchs Dorf gefahren und ihn gefragt, wo er das Geld verdient hätte, um sich ihr Land zu leisten. Mein Vater antwortete nur, er möge Pferde.
»Sie mögen Pferde?«, fragte Mrs.Wilmot weiter.
»Ich liebe Pferde!«, korrigierte sich mein Vater. »Wie heißen denn die beiden Prachttiere in Ihrem Gespann?«
»Oh, der Rechte ist ein Hurensohn ,und den Linken nenne ich immer ›The Shit‹.«
Mein Vater kaufte das Land. Stellte er sich die Frage, ob Landarbeit auf diesem steinigen Boden Spaß machen würde? Wahrscheinlich nicht. Er konnte dem inneren Drang nach der freigebigen Natur einfach nicht mehr widerstehen. Und unsere Mutter und wir sechs Kinder mussten ihm, ob wir wollten oder nicht, folgen.
Niemand in Zürich wusste, wo Vermont liegt. Sprach man von Vermont, antworteten sie: »Eine wunderbare Gegend! Ich mag das französische Voralpenland auch, weil es so gar nicht typisch französisch ist. Ich war schon etliche Male dort unten.«
Ich fand es magisch, nach Vermont zu fahren und zu wissen, dass mir im Zweifel keiner folgen konnte, da er dieses Gebiet irgendwo in Frankreich vermuten würde.
Mein Vater hat sich das Land nicht einfach gekauft, er hat es sich auch erarbeitet, Stück für Stück der Natur abgerungen. Jim, der Forstarbeiter und zugleich das Herz von Birch Hill Farm, half meinem Vater beim Bäumefällen. Er konnte die eingewachsenen Ahornbäume - die zur Gewinnung von Maple- Sirup benötigt werden - von Nutzhölzern und Bauhölzern unterscheiden. Er markierte die Nussbäume, die Buchen, die meterhoch gewachsenen Zuckerahorne, die typisch amerikanischen Weißeichen und bestätigte die Qualität des guten, reichhaltigen Bodens, auf dem die Farm angesiedelt war. Er wusste genau, welche Hölzer für den Zaunbau verwendet werden konnten und welche gutes Feuerholz hermachten.
Mein Vater zeigte uns Birch Hill Farm zum ersten Mal in einem Herbsturlaub 1991. Wir wohnten in dem einzigen Hotel in der Umgebung, dem Hartland Inn. Es lag vierzig Autominuten von der Farm entfernt im nächsten Ort, Hart- land. Wir aßen in weißen Blusen im Country Club Sandwiches und fuhren eines Nachmittages mit einem Chevrolet SUV, dessen stechender Ledergeruch Übelkeit erzeugte, an diesen gottverlassenen Ort. Meine Mutter stieg aus dem Wagen, sah sich um und war verzweifelt: weit und breit kein Meer. Die Küste lag Tausende Meilen entfernt. Seit ich denken kann, will meine Mutter »ans Meer«. Statt Kultur, Kirchen und Museen gab es in der nächsten Umgebung von Birch Hill nur einen Country Store mit Zapfsäule für Schneemobile, ein heruntergekommenes Hotel, einen verlotterten Stall mit matschigen Auslaufweiden für verbrauchte Pferde und einen daran angeschlossenen toten Tennisplatz.
Die gelben Blätter des Ahorns vor dem alten Stall der Farm begannen gerade erst abzufallen, und dennoch lag an seinem Stamm ein meterhoher Laubhaufen. Kreischend spielten wir im Laub. Das liegt über zwanzig Jahre zurück.
3
Wer konnte ahnen, dass mit meinem ersten Schultag ein erbitterter Kampf begann, um mich irgendwie durch ein System zu pressen, in welches ich, wie auch immer gedreht, nicht hineinpassen wollte. Es dauerte keine drei Schulwochen, bis klarwurde, dass an mir etwas nicht stimmte. Ich hatte einen Defekt. Aus dem Nichts kam eine Krankheit, die bis zu meinem siebten Lebensjahr völlig unerkannt geblieben war. Nun aber sollte ich Rechnen und Schreiben lernen, und da stellte sich heraus, dass ich weder addieren noch subtrahieren oder laut vorlesen konnte. Ein Jahr ging das so. Ich lernte nichts. Alles, was ich niederschrieb, war spiegelverkehrt oder unleserlich - bald weigerte sich meine Lehrerin, die Schulhefte zu korrigieren.
Als ich acht war, begann man mich zu untersuchen. Und das Faszinierende war: Je genauer man mich untersuchte, desto weniger an mir stimmte. Ich wurde immer falscher.
Ich konnte keine zwei Worte zusammenhängend lesen, und so musste ich mit meiner Mutter laut lesen üben. Fünf Minuten auf dem linken, fünf Minuten auf dem rechten Auge und fünf Minuten mit beiden. Meine Mutter stellte die Eieruhr. Fünf Minuten, das waren für mich damals wie fünf Stunden am Bahnsteig auf den Zug warten. Die Zeit nahm kein Ende. Nach fünfzehn Minuten Lesen war ich völlig erschöpft und bekam als Belohnung einen Anspitzer, einen Stift oder einen Schlumpf.
Mit dem Rechnen ging es mir ähnlich. Ich konnte drei und fünf nur mit den Fingern zusammenzählen. Da mir das Fingerrechnen von der Lehrerin verboten wurde, übte ich mich im Fingerdrücken. Das heißt, dass ich meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballte und bei links anfing, dreimal zu drücken: Daumen, Zeige-, Mittelfinger. Plus fünfmal drücken: Ringfinger, kleiner Finger, Daumen der rechten Hand, Zeige- und Mittelfinger. Ich merkte mir den Mittelfinger und begann wieder von vorne zu zählen und kam so auf acht.
Eines meiner Probleme war, dass jede Zahl in meiner Vorstellung eine Farbe hat; die Null ist farblos, die Eins ist grau, die Zwei ist weiß, die Drei ist grün, die Vier ist pink, die Fünf ist gelb, die Sechs ist grün, die Sieben ist schwarz, die Acht ist braun, die Neun ist blau. Ich hege auch Sympathien und Aversionen gegenüber bestimmten Zahlen. Die schwarze Sieben habe ich immer gehasst, die Neun hingegen ist mir sympathisch. Mit der Sieben assoziiere ich auch Katzen, schwarze Katzen. Mit der Neun hingegen Wasser. Ich rechnete also nicht sieben plus neun, sondern sieben schwarze Katzen plus eine blaue Neun, die bis zur Hüfte im Wasser steht, ergeben eine farblose Eins mit acht braunen Pferden, die auf einer Weide stehen und grasen. Das nennt sich nonverbales Denken in Bildern. Pro Sekunde spielt das Gehirn in diesem Fall zweiunddreißig Bilder ab - kontinuierlich. In derselben Sekunde produziert ein verbal denkender Mensch zwei bis fünf Worte.
Denken in Bildern ist 400- bis 2000mal schneller als verbales Denken. Es ist vielfältiger, tiefer und umfassender. Verbales Denken verläuft dagegen linear und strukturiert.
Lese ich einen Text, dann wächst das Bild mit jedem weiteren Wort, jedem weiteren Gedanken, der dem Grundgedanken angefügt wird.
Zum Beispiel: »Das braune Pferd sprang über die Steinmauer und rannte durch die Weide.«
Würde ich den Satz so beschreiben, wie ich ihn mir bildlich vorstelle, bräuchte ich dafür etwa eine halbe Seite.
»An einem sonnigen Tag, an dem die Schäfchenwolken im Himmel gen Westen ziehen, hebt ein grasendes braunes Pferd mit schwarzer Mähne und glänzendem Schweif seinen Kopf und erblickt einen vorbeifahrenden roten Traktor. Es richtet sich auf, hebt den Schweif an, schnaubt und fängt in großen Schritten an zu traben. Der Traktor kommt näher. Es rattert, und der Anhänger, den er zieht, scheppert. Das Pferd galoppiert an und nähert sich einer Steinmauer, die am Rand der Wiese steht. Die Trockenmauer ist bewachsen mit Moos und Flechten. Unkraut, Brombeeren und anderes Gestrüpp haben sich über die Jahre an ihr hochgerankt. Auf einem der obersten Steine sonnt sich eine Echse. Blitzschnell verschwindet sie in den dunklen Ritzen, als das Pferd heranprescht, zum Sprung ansetzt und das Hindernis in hohem Bogen überwindet. Auf der anderen Seite galoppiert es sich aus, fällt wieder schnaubend in Trab, dreht noch wild blickend ein paar Kreise, prüft die Gefahr erneut und erkennt, dass der Traktor ruckelnd hinter dem Hügel verschwindet.«
Ich habe in dem Beispiel die Insekten ausgelassen, den Geruch vom Gras, dem Pferd, die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Wie sieht die Landschaft aus, in der das Pferd steht? Und so weiter. Ich kann die Bilder gar nicht alle auf die Schnelle erfassen, die beim Lesen auftauchen und wieder verschwinden. Vielleicht kann man es vergleichen mit Folgendem: Man spielt einen Ausschnitt aus der Ouvertüre von La Belle Hélène ab, lässt die Musik ein paar Sekunden laufen und drückt auf Pause. Nun soll man all die einzelnen Instrumente benennen, die man gehört hat, jede einzelne Note aufzählen, die Melodie in ihrer Fülle versuchen nachzuerzählen. So geht es einem in Bildern denkenden Menschen, wenn er sich Satz für Satz in einem Text vortastet. Er muss sich an den Worten festklammern, da die Bilder in beliebiger Reihenfolge durch das Gehirn jagen. Das führt beim lauten Vorlesen zur völligen Überforderung und Desorientierung. Das Gehirn sieht nicht mehr, was die Augen sehen. Es sieht, was die Person gerade denkt. Das Gehirn hört nicht mehr, was die Ohren hören, sondern es hört, was die Person gerade denkt. Es fühlt nicht den Körper, sondern es fühlt, was die Person gerade glaubt zu fühlen. Das fortgeschrittene Stadium dieser Desorientierung ist Autismus.
Heute habe ich keine Probleme, Texte zu lesen. Schwierig wird es erst beim Bankgespräch. Denn wie soll ich mir folgenden Satz in Bildern vorstellen: »Unsere Performance reflektiert die Entwicklung des jeweiligen Strategiedepots der fünf Sparkonten seit 2008.«
Bei unsere sehe ich uns hier beisammensitzen. Den Bankberater und mich. Hat er eine Frau? Ist er glücklich? Singt er unter der Dusche? Bei Performance sehe ich einen Sportler, der gerade eine Bestzeit geschwommen ist und jubelnd seinen Arm in die Höhe reckt. Bei reflektiert sehe ich mein Bild in einem Spiegel, das Abbild des Narziss auf der Wasseroberfläche. Die ist ein Wort, zu dem es kein Bild gibt, daher lassen es Legastheniker beim lauten Lesen auch oft aus oder vergessen es beim Abschreiben des Satzes ganz. Des und jeweiligen lösen ebenfalls kein Bild aus. Entwicklung löst eine Zeitrafferaufnahme eines Baumes im Sommer, Frühling, Herbst und Winter aus. Bei Spar sehe ich einen Bettler auf der Straße, der seine Centstücke im Plastikbecher schüttelt. Das Konto ist ein Fach mit Wänden aus dickem Stahl. Bei seit 2008 überlege ich, was denn seit 2008 alles passiert ist in meinem Leben, und bis ich mit alldem fertig bin, legt mir der Bankberater das Formular zur Unterschrift hin, und ich weiß überhaupt nicht mehr, worum es eigentlich ging.
4
Es ist Nachmittag, vier Uhr nordamerikanische Zeit.
Für Anfang Oktober ist es sommerlich warm, Indian Summer, der Himmel leuchtet wasserblau. Die Temperaturen schwanken zu dieser Jahreszeit zwischen minus 15 Grad in der Nacht und plus 25 Grad am Tag. Ich nehme meinen Koffer vom Gepäckförderband und gehe nach draußen auf den Parkplatz vor dem Bostoner Flughafen. Ungelenk schiebe ich den Koffer neben mir her über die Bordsteinkante. Das Handgepäck hängt auf meiner Schulter, die Jacke habe ich über den Unterarm gelegt.
Dort steht Francis. Er ist der Verwalter von Birch Hill und der Kopf eines kleinen Teams aus Jim, vier Frauen und den Saisonarbeitern, das rund ums Jahr für Birch Hill zuständig ist. Auf der Farm wird Ahornsirup und Heu produziert, das Fleisch der Schafe wird an Restaurants und andere Abnehmer in der Umgebung verkauft. So versucht sich die Farm mittlerweile selbst zu tragen.
Francis' Schatten liegt auf dem Asphalt des Parkplatzes. Nebeneinander parken die schwarzen Limousinen, ihre Chauffeure stehen mit dunklen Sonnenbrillen jeweils an der Kühlerhaube oder am Kofferraum lehnend daneben. Francis sticht aus den anderen wartenden Männern in schwarzen Anzügen hervor, da er seine grüne Steppjacke und Khakihosen trägt. Ich will ihn in den Arm nehmen, doch ich zögere, und so gibt er mir seine rechte Hand und klopft mir mit der Linken liebevoll auf den Rücken. »Ich habe dich ein bisschen vermisst.«
»Erzähl mir keinen Quatsch.«
Francis ist Ire, hat aber diese klassischen Gesichtszüge: herb, nobel, mit einem vornehmen Witz in den wasserblauen Augen. Er lacht sehr viel, auch jetzt lacht er, dabei legt er seinen Kopf zurück und guckt mich dann wieder an. An den Mundwinkeln entstehen für Sekunden tiefe Furchen, an den Augenwinkeln sind es Dutzend Fältchen, die dann wieder verschwinden. Er hat einen dichten roten, kurzen Bart und blondes, welliges Haar mit einem rötlichen Stich.
Auf seinem Handrücken treten, als er mir den Koffer abnimmt, die Adern hervor. Er öffnet die Kofferraumtür, versucht das Gepäck hochzuheben, zieht und zieht am Henkel. »Brauchst du Hilfe?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Francis lacht und hievt den Koffer mit einer kräftigen Bewegung seiner Arme in den dunkelgrünen Chevi.
Erleichtert öffne ich die schwere Beifahrertür und klettere auf den Sitz. Von Müdigkeit keine Spur mehr.
Francis startet den Motor und streicht sich, bevor er den Rückwärtsgang einlegt, mit seinen groben großen Händen übers Haar.
Francis kommt, wie er selbst sagt, aus dem »bitterkalten, nassen und kargen« Norden Irlands. Ich kann ihn mir als Kind sehr gut vorstellen. Er wird als Junge im Regen über hügelige Wiesen gerannt sein. Er wird die Milchkanne geschleppt haben, mit nackten Füßen auf dem Rücken eines Ponys durch das Moor geritten sein und, die Beine baumelnd, auf einem Zaun gesessen und selbstgepflückte Äpfel gegessen haben.
Dieser Junge ist er heute auch mit Anfang fünfzig noch, nur die Haut in seinem Gesicht ist gealtert. Auf einer festgetrampelten Rennstrecke irgendwo auf dem irischen Land ritt er, keine zwölf, Ponyrennen. Mit Pferden konnte er einfach besser umgehen als mit Eseln, sagt er.
Francis' Familie zog später nach London zu einer Tante des Vaters, die ihrem Neffen Arbeit in einem Stahlwerk verschafft hatte. Francis verbrachte nach wie vor jedes Wochenende auf einer Rennstrecke. Er wollte eigentlich Jockey werden. Doch da er nicht so klein und schmächtig blieb, sondern mit fünfzehn in die Höhe schoss, entdeckte er das Kutschefahren. Als jüngster Knecht bekam er ein Jahr später in den königlichen Ställen seine erste Stelle. Er musste die störrischsten Pferde reiten. Er putzte die prunkvollen Zaumzeuge und zwängte sich für Spazierfahrten mit einem Gespann von acht Pferden quer durch London in steife, hundert Jahre alte Hosen, in Rock und Stiefel. Er saß auf Kutschböcken, die so hoch über der Erde lagen wie das erste Geschoss eines Reihenhauses. Doch Kutschefahren ist für Francis sowieso ein Kinderspiel, egal wie viele Pferde er angespannt hat. Je mehr Pferde, desto mehr Spaß.
Noch nie habe ich Francis schlecht gelaunt erlebt, er kann selbst noch lachen, wenn er sich den Finger bricht. Er singt Countrysongs wie Blue Canadian Rockies von Gene Autry bis zu The Taker von Waylon Jennings auswendig, und er erzählt Pferdegeschichten. Zum Beispiel kann er die grausigsten Kutschunfälle schildern. Darin kommen Uferböschungen von reißenden Flüssen, tote Pferde und querschnittsgelähmte Fahrer vor, und er gibt sie so nüchtern wieder wie die Rezeptur von Yorkshire-Pudding. Bis nach Polen ist er gereist, um weiße Lipizzaner für den Stall von Mr.Cummings einzukaufen. Mr.Cummings, unser Nachbar in Vermont und passionierter Kutschenfahrer, hat Francis vor Jahrzehnten in London entdeckt und ihn nach Amerika geholt. Seitdem lebt er mit seiner Frau und einem Sohn in Hartland, und doch ist er bis heute der irischste Ire außerhalb Irlands geblieben.
Als wir den Flughafen hinter uns gelassen haben und uns durch die Rushhour bis zum Stadtrand von Boston durchgeschlängelt haben, stellt er die Frage, die alle Vermonter einem Fremden stellen: »Wie lange bleibst du?«
»Für immer«, sage ich und lache. Wir wissen beide, dass es ein Witz ist.
Mit 75 Meilen pro Stunde schleicht der gekühlte Chevi Richtung Norden. Während der drei Stunden Fahrt nach Birch Hill Farm nähern wir uns den »Grünen Bergen«. Sie bilden das Rückgrat des kleinen Staates und verlaufen von der kanadischen Grenze im westlichen Vermont bis nach Connecticut. Auf 400 Millionen Jahre schätzt man das Alter des Gesteins ein, welches die Hügelkette bildet. Über die Zeit wurde sie durch Wind, Wasser und Eis abgeschliffen und erhielt so ihre typische weiche Silhouette.
Der Himmel erscheint unendlich weit und groß, der Highway endlos lang und sanft. Ich kann nicht anders: dafür liebe ich Amerika. Dafür kehre ich immer wieder zurück an diesen Ort, nach Vermont, das mir - zumindest auf Zeit - ein Leben mit und in der Natur ermöglicht. Hier lebe ich mich selbst, und diese Erkenntnis hat mich unter dem tiefblauen endlosen Himmel auch oft traurig gestimmt. Anscheinend lebe ich mich woanders nicht oder kann mich nicht leben.
Vermont ist für mich ein Ort der Besinnung. Für Francis ist es Heimat geworden. Ich beneide ihn darum.
Nach zwei Stunden verlassen wir den Highway. Die untergehende Sonne färbt den westlichen Himmel rot. Francis biegt rechts ab. Er hält an einer Kreuzung und biegt links auf die Route 12 ab. Die Route 12 schlängelt sich über eine kleine Schlucht, die »Pippin Gorge«, vorbei an dem Souvenirshop, in dem man Tassen, Hüte und T-Shirts mit dem Namen der Schlucht erwerben kann. Wir passieren die Orte Springfield und Weathersfield, eine Tankstelle, eine weitere Tankstelle und noch eine Tankstelle und fahren schließlich mit 25 Meilen pro Stunde über die Hauptstraße durch Hartland durch. Von hier führt uns die Route 4 Richtung Birch Hill. Uns umgibt das Connecticut Valley. Das ist das Tal, in dem der Connecticut- Fluss fließt. Es ist umringt von Hügeln, und auf einem von ihnen sitzt das Haupthaus der Farm. Wir biegen auf die Rick Road ab, die steil bergauf geht.
Mittlerweile ist es Abend geworden. Vor der kleinen, schwach erleuchteten Garage nimmt unsere Fahrt ein Ende. So gerne hätte ich Francis noch zum Essen eingeladen, doch ich weiß, dass er - im Gegensatz zu mir - erwartet wird.
Wir verabschieden uns mit Handschlag, und ich nehme den Koffer entgegen.
Ich schaue mich noch mal um. Die Autotür schlägt zu, und der Wagen wendet auf dem Kies. Ich sehe den Rücklichtern nach.
© 2013 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten
Einmal die Woche würde ich mit einem blauen Chevrolet Truck, der einige rostige Stellen an den Kotflügeln hätte und innen nach Motoröl und Eisenketten röche, die paar Meilen zum Beispiel nach Bozeman, Montana, fahren. AM Radio würde Hank Williams' Move over good dog cause a mad dog's movin' in spielen. Ich käme linker Hand an den alten Traktoren vorbei, würde die Scheune mit dem Feldsteinfundament und dem Tonnendach passieren, da lägen Heubüschel auf der Straßenseite, die der Wind von der Ladefl äche eines Trucks gezerrt hatte, und die knallblauen, kleinen Bluebirds würden vom Drahtzaun hüpfen und davonzwitschern. Zu beiden Seiten des Highways würde sich die goldene Talsohle, bedeckt von Licht und Schattenfl ecken ausbreiten, über mir die Wolkenteppiche im Himmel schweben. Da lägen die Baum- schnitte und Eisenreste von altem Farmequipment herum, da würde eine Plastikabdeckung im Wind wabern, und die davon aufgeschreckten Pferde stünden mit geblähten Nüstern am Zaun ihrer Koppel. Dann in Bozeman würde ich beim Leaf And Bean an der Main Street einkehren und in der Lokalzeitung die Anzeigen durchgehen. Da gäbe es den zweiten Heuschnitt - die Tonne zu 100 Dollar - in kleinen Ballen zu kaufen, jemand würde ein ganzes Schwein anbieten - cut and wrapped 320 $ call 388 -1989 - , oder ich fände einen gebrauchten »John Deere 4720«-Traktor mit Vorderradantrieb in gutem Zustand. Ich würde mich bei den Arbeitern der umliegenden Farmen über günstigen Stacheldraht und elektrischen Drahtzaun informieren, mich mit Greg vom Zeitungsladen und Meredith vom Postamt unterhalten, würde erfahren, wer geboren und gestorben und wie bei jedem die Ernte ausgefallen war. Dann würde ich an den grasenden Rinderpulks mit Son House oder Lightnin' Hopkins im Radio wieder zurückfahren und mir ein Roastbeef-Sandwich zum Mittagessen machen. Nachmittags könnte ich die Pferde wieder auf die Koppeln bringen, nach den Hühnern sehen, in meinem Gemüsegarten Unkraut jäten oder zur Auktion fahren, um einen neuen Bullen oder ein Schaf zu ersteigern. Abends säße ich auf der Veranda und würde dem Atem des Windes lauschen. Ich bräuchte nur zwei Paar Jeans, hätte mehrere Hüte und eine Auswahl von karierten Hemden. Meine Hände würden nach dem Leder feuchter Handschuhe riechen, meine Stiefel nach Glyzerinseife.
Ich müsste nie Hunger leiden, hätte immer ein paar Geldscheine unter der Matratze, würde mich nie einsam fühlen, sondern wäre geborgen in der unendlichen Großzügigkeit der mich umgebenden Natur.
Meine Reise in diesen Mythos, dorthin, wo eine eigene Gesetzgebung und ungezähmte Elemente herrschen, beginnt mitten in Europa. Genauer: in der Schweiz, am Ufer eines Sees mit Blick auf einen Sendeturm.
Erster Teil
Im Tobel
1
Ich bin ein Kind aus dem Schlaraffenland, aus einem kleinen geographischen Wunder, das einst nur ein Fleck Land mitten im Heiligen Römischen Reich war. Doch dieses Land wurde von mutigen Vätern befreit und zur Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgerufen. Heute gibt es in der Schweiz die beste Schokolade, der Lack der Autos glänzt hier am schönsten, die Straßen sind immer gesaugt und gefegt, wir haben die idyllischsten Blicke über See und Alp, und unsere Uhren gehen am genausten.Tag für Tag, Jahr für Jahr ist das so, seit dem Apfelschuss von Wilhelm Tell.
Ich bin in meinem Leben fast nie zu etwas gezwungen gewesen. Meine Familie wurde nicht politisch verfolgt, wir mussten nicht vor Krieg flüchten, ich musste nie Hunger leiden. Ich wuchs in einer Familie auf, in der großer Wert auf Harmonie und Ordnung gelegt wurde. Und doch wollte ich irgendwann nur noch eines: weg.
Die ersten sieben Jahre meines Lebens sind geprägt von der dörflichen Struktur des Ortes, in dem ich aufwuchs. Es standen noch Bauernhäuser mit Fachwerk im Dorf, auf den Fensterbrettern rote Geranien. Es gab einen Dorfplatz mit einem Süßwarenladen und eine Zoohandlung mit Hasen im Schaufenster. Ich lief zu Fuß zum Kindergarten und nutzte Schleichwege durch fremde Gärten als Abkürzung oder Erweiterung der Strecke. In unserem Dorf gab es keine Gefahren, keine Nöte. Was auch immer eine Kindheit zur glücklichen Kindheit macht, es fiel mir zu.
Und doch: Dort, wo ich geboren wurde, habe ich mich nie heimisch gefühlt. Wir wuchsen nicht in die Tradition eines Zunfthauses rein, haben beim Sechseläuten nie auf dem Balkon bei Sprüngli gestanden, und mein Vater ritt auch nie um den gigantischen Scheiterhaufen herum, während ein Schneemann aus Papier zum Ende des Winters auf dem Sechseläutenplatz in Zürich von Flammen zerfressen wurde. Wir waren Fremde in dem Land, in dem wir lebten. Mein Vater stammt aus einer Bremer Bauernfamilie, die sich im Lauf der Zeit als Unternehmerdynastie einen Namen gemacht hat. Die Familie meiner Mutter hat sephardisch-jüdische Ursprünge; ihre Spuren führen zurück bis ins 15. Jahrhundert, nach Portugal.
In Zürich kam ich mir, ohne von diesen Ursprüngen zu wissen, immer so vor, als sei ich angeschwemmt worden, wie Treibgut. Und nachdem ich der Schweiz einmal den Rücken gekehrt hatte, wollte ich mich nicht mehr umsehen, und ich habe nie die Sehnsucht verspürt zurückzukehren.
2
Es ist Ende September, ich überquere den Ozean, um mal wieder alles hinter mir zu lassen. Ich will mich von der Gegenwart trennen, mich in den zeitlosen Raum der Reise heben lassen und in der Fremde abgesetzt werden. Vielleicht ist es auch einfach eine Flucht. Obwohl mich weniger das Verlangen danach treibt, alle Seile zu kappen, als vielmehr ein großer Trotz und eine tiefe Verzweiflung darüber, immer mithalten zu müssen. Ich stamme aus einer Welt, in der ich nie gut genug war, und fliehe in eine Welt, in der es keine Maßstäbe gibt.
Ich sehne mich nach endloser Stille.
Wenn diese Sehnsucht unerträglich wird, verfalle ich in ein wiederkehrendes Handlungsmuster: Koffer packen und ab nach Vermont. Als könnte ich damit aus dem einen Film austreten und in einem anderen weiterspielen. In Vermont habe ich nichts mit meinem Leben zu tun. An diesem Ort wird mir alles verziehen, ich brauche mit niemandem umzugehen, ich brauche keine unerwiderten Gefühle niederzukämpfen. Ich wanke mit letzten Kräften in den Wald und lasse mich fallen. Vermont ist eine Droge, die mich über die Jahre abhängig gemacht hat, die mich immer wieder für dieses Muster belohnt: nicht argumentieren, einfach weggehen. Meistens bin ich traurig, verlassen, verzweifelt oder am Ende, wenn ich in Boston aus dem Flughafen trete. Meistens schleppe ich eine Haut mit nach Vermont, die ich dort ablege und begrabe. Egal, ob es die Liebe oder das Leben ist, ich bin voller nicht getroffener Entscheidungen, voller falscher Hoffnungen, voller ungelöster Konflikte, und meist suche ich in Vermont die Einsicht.
Andere gehen dafür zur Beichte, ins Bordell oder setzen sich an den Stammtisch. Mich holt immer wieder das gleiche brennende Verlangen ein: Vermont.
Seit Generationen besaßen die bäuerlichen Vorfahren meines Vaters Land und Hof. Wie es die Tradition vorsah, wurde beides immer dem erstgeborenen Sohn vererbt. Da weder mein Großvater noch mein Vater erstgeborene Söhne waren, bekamen sie nichts davon ab.
In meinem Großvater hat sich die Liebe zum Land schließlich mit sechsundfünfzig Jahren wieder durchgesetzt, er baute ein Vollblüter-Gestüt in Sottrum auf, züchtete Rennpferde und kaufte Bullen und Kühe bei Versteigerungen im Umland ein. Er liebte das Landleben und fuhr noch mindestens dreißig Jahre lang täglich um 16 Uhr und an den Wochenenden auf das Gestüt.
Mein Vater entdeckte während seiner beruflichen Tätigkeit in New York den Staat Vermont. Nur vier Autostunden von der Metropole entfernt fand er hier die stehengebliebene Zeit. Er lernte das Neuengland mit seinen ochsenblutrot gestrichenen Scheunen und den Country Stores kennen, die zugleich Fischlizenzen, Waffen, Unterwäsche, Bier und Panzertape im Angebot führen. Jedes Wochenende fuhr er nach Norden zu den Blueberryfeldern, Birkenhainen, den stillen Kirchen und den Familien, die seit Generationen die einzige Autowerkstatt im Ort betreiben. Auf Birch Hill Farm in Vermont ist auch mein Vater wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und Farmer geworden.
Vor dreiundzwanzig Jahren, als Birch Hill in unsere Familie kam, war es nichts als ein von meterhohen und meterdicken Bäumen umzingeltes Haus. Zu diesem Backsteinhaus mit schwarz geschindeltem Dach und vier gemauerten Schornsteinen gehörte ein Waldstück von vielleicht hundertfünfzig Acres. Außerdem standen auf dem Grundstück ein Garagenhäuschen, ein blau gestrichenes Holzhaus und ein alter Stall mit vier Stellplätzen für Pferde und einem ausgebauten Dachboden für Stroh und Heu. Diese drei Nebengebäude lagen dicht beieinander unterhalb des Backsteinhauses und wurden überragt von dem größten frei stehenden Ahornbaum, den ich jemals gesehen habe.
Vor dreiundzwanzig Jahren stand in einer Entfernung von fünf Minuten Fußmarsch auch noch ein Trailer auf einer Anhöhe mit Weitblick auf den Horizont. Dort lebte Mrs. Wilmot, die Dame, von der mein Vater das Grundstück und die Häuser gekauft hatte. Sie hatte das ganze Land gemeinsam mit ihrem Mann besessen. Doch ihr Mann war die Treppe des Hauses runtergestürzt und tödlich verunglückt. Sie räumte das Haupthaus, kaufte sich ein blaues Wohnmobil, das sie an diesem einzigen freigeschlagenen, schönsten Platz auf der Anhöhe aufstellte und beschloss, den Wald drumherum zu verkaufen. Es heißt, sie habe meinen Vater in ihrer Kutsche durchs Dorf gefahren und ihn gefragt, wo er das Geld verdient hätte, um sich ihr Land zu leisten. Mein Vater antwortete nur, er möge Pferde.
»Sie mögen Pferde?«, fragte Mrs.Wilmot weiter.
»Ich liebe Pferde!«, korrigierte sich mein Vater. »Wie heißen denn die beiden Prachttiere in Ihrem Gespann?«
»Oh, der Rechte ist ein Hurensohn ,und den Linken nenne ich immer ›The Shit‹.«
Mein Vater kaufte das Land. Stellte er sich die Frage, ob Landarbeit auf diesem steinigen Boden Spaß machen würde? Wahrscheinlich nicht. Er konnte dem inneren Drang nach der freigebigen Natur einfach nicht mehr widerstehen. Und unsere Mutter und wir sechs Kinder mussten ihm, ob wir wollten oder nicht, folgen.
Niemand in Zürich wusste, wo Vermont liegt. Sprach man von Vermont, antworteten sie: »Eine wunderbare Gegend! Ich mag das französische Voralpenland auch, weil es so gar nicht typisch französisch ist. Ich war schon etliche Male dort unten.«
Ich fand es magisch, nach Vermont zu fahren und zu wissen, dass mir im Zweifel keiner folgen konnte, da er dieses Gebiet irgendwo in Frankreich vermuten würde.
Mein Vater hat sich das Land nicht einfach gekauft, er hat es sich auch erarbeitet, Stück für Stück der Natur abgerungen. Jim, der Forstarbeiter und zugleich das Herz von Birch Hill Farm, half meinem Vater beim Bäumefällen. Er konnte die eingewachsenen Ahornbäume - die zur Gewinnung von Maple- Sirup benötigt werden - von Nutzhölzern und Bauhölzern unterscheiden. Er markierte die Nussbäume, die Buchen, die meterhoch gewachsenen Zuckerahorne, die typisch amerikanischen Weißeichen und bestätigte die Qualität des guten, reichhaltigen Bodens, auf dem die Farm angesiedelt war. Er wusste genau, welche Hölzer für den Zaunbau verwendet werden konnten und welche gutes Feuerholz hermachten.
Mein Vater zeigte uns Birch Hill Farm zum ersten Mal in einem Herbsturlaub 1991. Wir wohnten in dem einzigen Hotel in der Umgebung, dem Hartland Inn. Es lag vierzig Autominuten von der Farm entfernt im nächsten Ort, Hart- land. Wir aßen in weißen Blusen im Country Club Sandwiches und fuhren eines Nachmittages mit einem Chevrolet SUV, dessen stechender Ledergeruch Übelkeit erzeugte, an diesen gottverlassenen Ort. Meine Mutter stieg aus dem Wagen, sah sich um und war verzweifelt: weit und breit kein Meer. Die Küste lag Tausende Meilen entfernt. Seit ich denken kann, will meine Mutter »ans Meer«. Statt Kultur, Kirchen und Museen gab es in der nächsten Umgebung von Birch Hill nur einen Country Store mit Zapfsäule für Schneemobile, ein heruntergekommenes Hotel, einen verlotterten Stall mit matschigen Auslaufweiden für verbrauchte Pferde und einen daran angeschlossenen toten Tennisplatz.
Die gelben Blätter des Ahorns vor dem alten Stall der Farm begannen gerade erst abzufallen, und dennoch lag an seinem Stamm ein meterhoher Laubhaufen. Kreischend spielten wir im Laub. Das liegt über zwanzig Jahre zurück.
3
Wer konnte ahnen, dass mit meinem ersten Schultag ein erbitterter Kampf begann, um mich irgendwie durch ein System zu pressen, in welches ich, wie auch immer gedreht, nicht hineinpassen wollte. Es dauerte keine drei Schulwochen, bis klarwurde, dass an mir etwas nicht stimmte. Ich hatte einen Defekt. Aus dem Nichts kam eine Krankheit, die bis zu meinem siebten Lebensjahr völlig unerkannt geblieben war. Nun aber sollte ich Rechnen und Schreiben lernen, und da stellte sich heraus, dass ich weder addieren noch subtrahieren oder laut vorlesen konnte. Ein Jahr ging das so. Ich lernte nichts. Alles, was ich niederschrieb, war spiegelverkehrt oder unleserlich - bald weigerte sich meine Lehrerin, die Schulhefte zu korrigieren.
Als ich acht war, begann man mich zu untersuchen. Und das Faszinierende war: Je genauer man mich untersuchte, desto weniger an mir stimmte. Ich wurde immer falscher.
Ich konnte keine zwei Worte zusammenhängend lesen, und so musste ich mit meiner Mutter laut lesen üben. Fünf Minuten auf dem linken, fünf Minuten auf dem rechten Auge und fünf Minuten mit beiden. Meine Mutter stellte die Eieruhr. Fünf Minuten, das waren für mich damals wie fünf Stunden am Bahnsteig auf den Zug warten. Die Zeit nahm kein Ende. Nach fünfzehn Minuten Lesen war ich völlig erschöpft und bekam als Belohnung einen Anspitzer, einen Stift oder einen Schlumpf.
Mit dem Rechnen ging es mir ähnlich. Ich konnte drei und fünf nur mit den Fingern zusammenzählen. Da mir das Fingerrechnen von der Lehrerin verboten wurde, übte ich mich im Fingerdrücken. Das heißt, dass ich meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballte und bei links anfing, dreimal zu drücken: Daumen, Zeige-, Mittelfinger. Plus fünfmal drücken: Ringfinger, kleiner Finger, Daumen der rechten Hand, Zeige- und Mittelfinger. Ich merkte mir den Mittelfinger und begann wieder von vorne zu zählen und kam so auf acht.
Eines meiner Probleme war, dass jede Zahl in meiner Vorstellung eine Farbe hat; die Null ist farblos, die Eins ist grau, die Zwei ist weiß, die Drei ist grün, die Vier ist pink, die Fünf ist gelb, die Sechs ist grün, die Sieben ist schwarz, die Acht ist braun, die Neun ist blau. Ich hege auch Sympathien und Aversionen gegenüber bestimmten Zahlen. Die schwarze Sieben habe ich immer gehasst, die Neun hingegen ist mir sympathisch. Mit der Sieben assoziiere ich auch Katzen, schwarze Katzen. Mit der Neun hingegen Wasser. Ich rechnete also nicht sieben plus neun, sondern sieben schwarze Katzen plus eine blaue Neun, die bis zur Hüfte im Wasser steht, ergeben eine farblose Eins mit acht braunen Pferden, die auf einer Weide stehen und grasen. Das nennt sich nonverbales Denken in Bildern. Pro Sekunde spielt das Gehirn in diesem Fall zweiunddreißig Bilder ab - kontinuierlich. In derselben Sekunde produziert ein verbal denkender Mensch zwei bis fünf Worte.
Denken in Bildern ist 400- bis 2000mal schneller als verbales Denken. Es ist vielfältiger, tiefer und umfassender. Verbales Denken verläuft dagegen linear und strukturiert.
Lese ich einen Text, dann wächst das Bild mit jedem weiteren Wort, jedem weiteren Gedanken, der dem Grundgedanken angefügt wird.
Zum Beispiel: »Das braune Pferd sprang über die Steinmauer und rannte durch die Weide.«
Würde ich den Satz so beschreiben, wie ich ihn mir bildlich vorstelle, bräuchte ich dafür etwa eine halbe Seite.
»An einem sonnigen Tag, an dem die Schäfchenwolken im Himmel gen Westen ziehen, hebt ein grasendes braunes Pferd mit schwarzer Mähne und glänzendem Schweif seinen Kopf und erblickt einen vorbeifahrenden roten Traktor. Es richtet sich auf, hebt den Schweif an, schnaubt und fängt in großen Schritten an zu traben. Der Traktor kommt näher. Es rattert, und der Anhänger, den er zieht, scheppert. Das Pferd galoppiert an und nähert sich einer Steinmauer, die am Rand der Wiese steht. Die Trockenmauer ist bewachsen mit Moos und Flechten. Unkraut, Brombeeren und anderes Gestrüpp haben sich über die Jahre an ihr hochgerankt. Auf einem der obersten Steine sonnt sich eine Echse. Blitzschnell verschwindet sie in den dunklen Ritzen, als das Pferd heranprescht, zum Sprung ansetzt und das Hindernis in hohem Bogen überwindet. Auf der anderen Seite galoppiert es sich aus, fällt wieder schnaubend in Trab, dreht noch wild blickend ein paar Kreise, prüft die Gefahr erneut und erkennt, dass der Traktor ruckelnd hinter dem Hügel verschwindet.«
Ich habe in dem Beispiel die Insekten ausgelassen, den Geruch vom Gras, dem Pferd, die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Wie sieht die Landschaft aus, in der das Pferd steht? Und so weiter. Ich kann die Bilder gar nicht alle auf die Schnelle erfassen, die beim Lesen auftauchen und wieder verschwinden. Vielleicht kann man es vergleichen mit Folgendem: Man spielt einen Ausschnitt aus der Ouvertüre von La Belle Hélène ab, lässt die Musik ein paar Sekunden laufen und drückt auf Pause. Nun soll man all die einzelnen Instrumente benennen, die man gehört hat, jede einzelne Note aufzählen, die Melodie in ihrer Fülle versuchen nachzuerzählen. So geht es einem in Bildern denkenden Menschen, wenn er sich Satz für Satz in einem Text vortastet. Er muss sich an den Worten festklammern, da die Bilder in beliebiger Reihenfolge durch das Gehirn jagen. Das führt beim lauten Vorlesen zur völligen Überforderung und Desorientierung. Das Gehirn sieht nicht mehr, was die Augen sehen. Es sieht, was die Person gerade denkt. Das Gehirn hört nicht mehr, was die Ohren hören, sondern es hört, was die Person gerade denkt. Es fühlt nicht den Körper, sondern es fühlt, was die Person gerade glaubt zu fühlen. Das fortgeschrittene Stadium dieser Desorientierung ist Autismus.
Heute habe ich keine Probleme, Texte zu lesen. Schwierig wird es erst beim Bankgespräch. Denn wie soll ich mir folgenden Satz in Bildern vorstellen: »Unsere Performance reflektiert die Entwicklung des jeweiligen Strategiedepots der fünf Sparkonten seit 2008.«
Bei unsere sehe ich uns hier beisammensitzen. Den Bankberater und mich. Hat er eine Frau? Ist er glücklich? Singt er unter der Dusche? Bei Performance sehe ich einen Sportler, der gerade eine Bestzeit geschwommen ist und jubelnd seinen Arm in die Höhe reckt. Bei reflektiert sehe ich mein Bild in einem Spiegel, das Abbild des Narziss auf der Wasseroberfläche. Die ist ein Wort, zu dem es kein Bild gibt, daher lassen es Legastheniker beim lauten Lesen auch oft aus oder vergessen es beim Abschreiben des Satzes ganz. Des und jeweiligen lösen ebenfalls kein Bild aus. Entwicklung löst eine Zeitrafferaufnahme eines Baumes im Sommer, Frühling, Herbst und Winter aus. Bei Spar sehe ich einen Bettler auf der Straße, der seine Centstücke im Plastikbecher schüttelt. Das Konto ist ein Fach mit Wänden aus dickem Stahl. Bei seit 2008 überlege ich, was denn seit 2008 alles passiert ist in meinem Leben, und bis ich mit alldem fertig bin, legt mir der Bankberater das Formular zur Unterschrift hin, und ich weiß überhaupt nicht mehr, worum es eigentlich ging.
4
Es ist Nachmittag, vier Uhr nordamerikanische Zeit.
Für Anfang Oktober ist es sommerlich warm, Indian Summer, der Himmel leuchtet wasserblau. Die Temperaturen schwanken zu dieser Jahreszeit zwischen minus 15 Grad in der Nacht und plus 25 Grad am Tag. Ich nehme meinen Koffer vom Gepäckförderband und gehe nach draußen auf den Parkplatz vor dem Bostoner Flughafen. Ungelenk schiebe ich den Koffer neben mir her über die Bordsteinkante. Das Handgepäck hängt auf meiner Schulter, die Jacke habe ich über den Unterarm gelegt.
Dort steht Francis. Er ist der Verwalter von Birch Hill und der Kopf eines kleinen Teams aus Jim, vier Frauen und den Saisonarbeitern, das rund ums Jahr für Birch Hill zuständig ist. Auf der Farm wird Ahornsirup und Heu produziert, das Fleisch der Schafe wird an Restaurants und andere Abnehmer in der Umgebung verkauft. So versucht sich die Farm mittlerweile selbst zu tragen.
Francis' Schatten liegt auf dem Asphalt des Parkplatzes. Nebeneinander parken die schwarzen Limousinen, ihre Chauffeure stehen mit dunklen Sonnenbrillen jeweils an der Kühlerhaube oder am Kofferraum lehnend daneben. Francis sticht aus den anderen wartenden Männern in schwarzen Anzügen hervor, da er seine grüne Steppjacke und Khakihosen trägt. Ich will ihn in den Arm nehmen, doch ich zögere, und so gibt er mir seine rechte Hand und klopft mir mit der Linken liebevoll auf den Rücken. »Ich habe dich ein bisschen vermisst.«
»Erzähl mir keinen Quatsch.«
Francis ist Ire, hat aber diese klassischen Gesichtszüge: herb, nobel, mit einem vornehmen Witz in den wasserblauen Augen. Er lacht sehr viel, auch jetzt lacht er, dabei legt er seinen Kopf zurück und guckt mich dann wieder an. An den Mundwinkeln entstehen für Sekunden tiefe Furchen, an den Augenwinkeln sind es Dutzend Fältchen, die dann wieder verschwinden. Er hat einen dichten roten, kurzen Bart und blondes, welliges Haar mit einem rötlichen Stich.
Auf seinem Handrücken treten, als er mir den Koffer abnimmt, die Adern hervor. Er öffnet die Kofferraumtür, versucht das Gepäck hochzuheben, zieht und zieht am Henkel. »Brauchst du Hilfe?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Francis lacht und hievt den Koffer mit einer kräftigen Bewegung seiner Arme in den dunkelgrünen Chevi.
Erleichtert öffne ich die schwere Beifahrertür und klettere auf den Sitz. Von Müdigkeit keine Spur mehr.
Francis startet den Motor und streicht sich, bevor er den Rückwärtsgang einlegt, mit seinen groben großen Händen übers Haar.
Francis kommt, wie er selbst sagt, aus dem »bitterkalten, nassen und kargen« Norden Irlands. Ich kann ihn mir als Kind sehr gut vorstellen. Er wird als Junge im Regen über hügelige Wiesen gerannt sein. Er wird die Milchkanne geschleppt haben, mit nackten Füßen auf dem Rücken eines Ponys durch das Moor geritten sein und, die Beine baumelnd, auf einem Zaun gesessen und selbstgepflückte Äpfel gegessen haben.
Dieser Junge ist er heute auch mit Anfang fünfzig noch, nur die Haut in seinem Gesicht ist gealtert. Auf einer festgetrampelten Rennstrecke irgendwo auf dem irischen Land ritt er, keine zwölf, Ponyrennen. Mit Pferden konnte er einfach besser umgehen als mit Eseln, sagt er.
Francis' Familie zog später nach London zu einer Tante des Vaters, die ihrem Neffen Arbeit in einem Stahlwerk verschafft hatte. Francis verbrachte nach wie vor jedes Wochenende auf einer Rennstrecke. Er wollte eigentlich Jockey werden. Doch da er nicht so klein und schmächtig blieb, sondern mit fünfzehn in die Höhe schoss, entdeckte er das Kutschefahren. Als jüngster Knecht bekam er ein Jahr später in den königlichen Ställen seine erste Stelle. Er musste die störrischsten Pferde reiten. Er putzte die prunkvollen Zaumzeuge und zwängte sich für Spazierfahrten mit einem Gespann von acht Pferden quer durch London in steife, hundert Jahre alte Hosen, in Rock und Stiefel. Er saß auf Kutschböcken, die so hoch über der Erde lagen wie das erste Geschoss eines Reihenhauses. Doch Kutschefahren ist für Francis sowieso ein Kinderspiel, egal wie viele Pferde er angespannt hat. Je mehr Pferde, desto mehr Spaß.
Noch nie habe ich Francis schlecht gelaunt erlebt, er kann selbst noch lachen, wenn er sich den Finger bricht. Er singt Countrysongs wie Blue Canadian Rockies von Gene Autry bis zu The Taker von Waylon Jennings auswendig, und er erzählt Pferdegeschichten. Zum Beispiel kann er die grausigsten Kutschunfälle schildern. Darin kommen Uferböschungen von reißenden Flüssen, tote Pferde und querschnittsgelähmte Fahrer vor, und er gibt sie so nüchtern wieder wie die Rezeptur von Yorkshire-Pudding. Bis nach Polen ist er gereist, um weiße Lipizzaner für den Stall von Mr.Cummings einzukaufen. Mr.Cummings, unser Nachbar in Vermont und passionierter Kutschenfahrer, hat Francis vor Jahrzehnten in London entdeckt und ihn nach Amerika geholt. Seitdem lebt er mit seiner Frau und einem Sohn in Hartland, und doch ist er bis heute der irischste Ire außerhalb Irlands geblieben.
Als wir den Flughafen hinter uns gelassen haben und uns durch die Rushhour bis zum Stadtrand von Boston durchgeschlängelt haben, stellt er die Frage, die alle Vermonter einem Fremden stellen: »Wie lange bleibst du?«
»Für immer«, sage ich und lache. Wir wissen beide, dass es ein Witz ist.
Mit 75 Meilen pro Stunde schleicht der gekühlte Chevi Richtung Norden. Während der drei Stunden Fahrt nach Birch Hill Farm nähern wir uns den »Grünen Bergen«. Sie bilden das Rückgrat des kleinen Staates und verlaufen von der kanadischen Grenze im westlichen Vermont bis nach Connecticut. Auf 400 Millionen Jahre schätzt man das Alter des Gesteins ein, welches die Hügelkette bildet. Über die Zeit wurde sie durch Wind, Wasser und Eis abgeschliffen und erhielt so ihre typische weiche Silhouette.
Der Himmel erscheint unendlich weit und groß, der Highway endlos lang und sanft. Ich kann nicht anders: dafür liebe ich Amerika. Dafür kehre ich immer wieder zurück an diesen Ort, nach Vermont, das mir - zumindest auf Zeit - ein Leben mit und in der Natur ermöglicht. Hier lebe ich mich selbst, und diese Erkenntnis hat mich unter dem tiefblauen endlosen Himmel auch oft traurig gestimmt. Anscheinend lebe ich mich woanders nicht oder kann mich nicht leben.
Vermont ist für mich ein Ort der Besinnung. Für Francis ist es Heimat geworden. Ich beneide ihn darum.
Nach zwei Stunden verlassen wir den Highway. Die untergehende Sonne färbt den westlichen Himmel rot. Francis biegt rechts ab. Er hält an einer Kreuzung und biegt links auf die Route 12 ab. Die Route 12 schlängelt sich über eine kleine Schlucht, die »Pippin Gorge«, vorbei an dem Souvenirshop, in dem man Tassen, Hüte und T-Shirts mit dem Namen der Schlucht erwerben kann. Wir passieren die Orte Springfield und Weathersfield, eine Tankstelle, eine weitere Tankstelle und noch eine Tankstelle und fahren schließlich mit 25 Meilen pro Stunde über die Hauptstraße durch Hartland durch. Von hier führt uns die Route 4 Richtung Birch Hill. Uns umgibt das Connecticut Valley. Das ist das Tal, in dem der Connecticut- Fluss fließt. Es ist umringt von Hügeln, und auf einem von ihnen sitzt das Haupthaus der Farm. Wir biegen auf die Rick Road ab, die steil bergauf geht.
Mittlerweile ist es Abend geworden. Vor der kleinen, schwach erleuchteten Garage nimmt unsere Fahrt ein Ende. So gerne hätte ich Francis noch zum Essen eingeladen, doch ich weiß, dass er - im Gegensatz zu mir - erwartet wird.
Wir verabschieden uns mit Handschlag, und ich nehme den Koffer entgegen.
Ich schaue mich noch mal um. Die Autotür schlägt zu, und der Wagen wendet auf dem Kies. Ich sehe den Rücklichtern nach.
© 2013 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten
... weniger
Autoren-Porträt von Louise Jacobs
Louise Jacobs, geboren 1982, ist Enkeltochter von Walther Jacobs, der nach dem 2. Weltkrieg das Unternehmen Jacobs zum Synonym für Kaffeekultur in Deutschland machte. Sie lebt in der Schweiz und in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Louise Jacobs
- 2013, 336 Seiten, Maße: 13,3 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426655233
- ISBN-13: 9783426655238
Rezension zu „Fräulein Jacobs funktioniert nicht “
"Louise Jacobs, 30, ..... gelingen in ihrer Autobiographie "Fräulein Jacobs funktioniert nicht" Sätze wie Pistolenschüsse, die ins Herz treffen. Kein Wunder: Schon immer wäre die Autorin am liebstem ein Cowboy gewesen - frei und eins mit der Natur.....Ihre Geschichte ist ein Schrei nach Unabhängigkeit." -- Susanne Nolden Frau im Spiegel, 06.02.2013"Mit achtzehn war Louises Leben schon fast am Ende. ... Sie kam heraus aus eigenen Kraft. Zerbrechlich, verletzlich wirkt sie noch immer. Doch über die Hölle der Jugend spricht eine willensstarke Frau, die ihren Weg gefunden hat." -- Karl Gaulhofer Die Presse, 03.02.2013
"Louise malt, sie spielt auf ihrer Gibson-Gitarre und sie schreibt Bücher. Die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend ist ihr drittes und persönlichstes. Louise scheint angekommen zu sein bei sich selbst! Mit drei Ausrufezeichen und dem vollen Respekt des Autors dieses Artikels." -- Holger Karkheck Bild am Sonntag, 27.01.2013
"Über die Qualen des Kindes, das anders ist als erwartet, hat sie jetzt ein sehr intensives Buch geschrieben." -- Lisa Lisa, 30.01.2013
Kommentar zu "Fräulein Jacobs funktioniert nicht"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Fräulein Jacobs funktioniert nicht".
Kommentar verfassen