Gegenüber
Roman
Henriette Lauber kann auf ein Leben voller Kreativität und Arbeit zurückblicken. Sie war Kinofilm-Cutterin, machte dank ihres Jobs interessante Bekanntschaften und arbeitete an der Seite eines beliebten Mannes. Allerdings liegt das alles schon...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gegenüber “
Henriette Lauber kann auf ein Leben voller Kreativität und Arbeit zurückblicken. Sie war Kinofilm-Cutterin, machte dank ihres Jobs interessante Bekanntschaften und arbeitete an der Seite eines beliebten Mannes. Allerdings liegt das alles schon eine ganze Weile zurück - heute pflegt sie fast keine sozialen Kontakte mehr und lebt nahezu isoliert in einer kleinen Innenstadtwohnung. Ihre gesamte Aufmerksamkeit, Liebe und Sehnsucht widmet sie ihrem Patensohn aus der Westsahara. Als sie einen Schwächeanfall hat, lernt sie Linda, ihre Nachbarin, kennen. Die junge Frau fängt an, sich um Henriette zu kümmern und ihre Nähe zu suchen....
Erika Pluhar erzählt in ihrem Roman von der Entstehung einer Freundschaft zwischen zwei ungleichen Frauen, von unterschiedlichen Lebensmustern, vom Älterwerden und vom Tod.
Erika Pluhar erzählt in ihrem Roman von der Entstehung einer Freundschaft zwischen zwei ungleichen Frauen, von unterschiedlichen Lebensmustern, vom Älterwerden und vom Tod.
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Klappentext zu „Gegenüber “
Henriette Lauber blickt auf ein kreatives und arbeitsreiches Leben zurück. Als Cutterin von Kinofilmen tauchte sie in spannende Welten ein und konnte an der Seite eines geliebten Mannes tätig sein. Doch dies ist lange her und sie lebt nun kontaktscheuund weitgehend isoliert in einer kleinen Innenstadtwohnung. Ihrem Patensohn aus der Westsahara gilt all ihre Liebe und Sehnsucht. Nach einem Schwächeanfall macht sie die Bekanntschaft ihrer jungen Nachbarin Linda, die sich um Henriette zu kümmern und ihre Nähe zu suchen beginnt...Erika Pluhar lässt die Freundschaft zweier ungleicher Frauen entstehen, sie erzählt von Lebensmustern, von Alter und Vergänglichkeit.
Lese-Probe zu „Gegenüber “
Erika Pluhar - GegenüberGegen Morgen hatte der Regen eingesetzt, ein
heftig herabrauschender Sommerregen, der die
Hitze brach. Endlich, dachte Henriette. Als sie
das Bett verlassen und sich ihr Frühstück zubereitet
hatte, genoß sie es, wie kühlere Luft durch
die Wohnung wehte. Sie hatte alle Fenster geöffnet,
hörte Radio, trank Kaffee, und fühlte
sich wieder so, wie sie sich vor ihrem seltsamen
Zusammenbruch gefühlt hatte. Einfach nur alt
und aus der Welt geraten, aber ohne diese beunruhigend
tiefgreifenden körperlichen Beschwerden.
Jetzt also wieder der ereignislose Morgen eines
ereignislosen Tages, dachte Henriette, es wird
sich in dieser Weise aneinanderreihen bis zu
meinem letzten Tag. Aber gestern sollte es dieser
letzte Tag nicht gewesen sein. Wird noch ein
wenig dauern bis dahin.
»Nichts ist so dauerhaft wie das Vorübergehende.
«
Henriette sprach diesen Satz plötzlich laut vor
sich hin, als hätte man ihr den Befehl dazu gegeben.
Woher kam er, dieser Satz? Wer hatte ihr
diesen Satz einmal gesagt? War es Mirco gewesen?
Würde ihm ähnlichsehen, sie beide hatten
immer wieder das Phänomen Zeit diskutiert,
da jede filmische Erzählung schließlich darauf
aufbaut. Film ist das Einfangen von Ewigkeit,
immer wieder das Einfangen von Ewigkeit, das
war Mircos Lebensantrieb, seine leidenschaftliche
Lebensbehauptung gewesen. Deshalb liebte
er Film. Er liebte ihn wie das Leben. Lebte nur,
wenn er filmte. Starb, als er nicht mehr filmen
konnte.
Henriette erhob sich langsam und trug ihr
Frühstückstablett zur Küche. Im Radio war
Kammermusik zu hören, ein Streichquartett von
Borodin, mit irgendeinem berühmten Russen am
Cello, es war zuvor angekündigt worden. Die
Musik trieb Henriette unvermutet Tränen in die
Augen. Das kann man sich erlauben, dachte sie,
... mehr
wenn man alleine lebt. Einfach jederzeit zu weinen.
Obwohl sie es nur noch selten tat. Es erschien
ihr manchmal so, als wären alle Tränen
ihres Lebens bereits vergossen und jede Form von
Traurigkeit von dürrer Vernunft erstickt worden.
Es gefiel ihr, wieder einmal weinen zu können.
Immer noch fiel Regen gleichmäßig rauschend
vom Himmel. Henriette verließ die Küche, ging
ins Bad, kleidete sich an und brachte ihr Bett in
Ordnung. Jeder Handgriff war vorgezeichnet,
geschah wie von selbst, die tagtäglichen Wiederholungen
hatten sich zu strengen Ritualen verfestigt,
denen sie nicht mehr zu entrinnen vermochte.
Sie handelte wie unter Zwang und haßte
es gleichzeitig. Immer war sie erleichtert, wenn
die für eine disziplinierte und alleinstehende Frau
unerläßlichen Anforderungen des Tagesbeginns
hinter ihr lagen. Disziplin ist das halbe Leben,
hatte ihr Vater immer gesagt, und sie war gelehrig
gewesen, hatte nicht nur das halbe, sondern ihr
ganzes Leben der Disziplin untergeordnet. So
wie heute wieder, nachdem ihre überraschenden
Tränen versiegt waren und der Alltag nach ihr
griff.
Ich muß mir jetzt wirklich einiges besorgen,
dachte Henriette, ich war gestern nicht draußen,
keinerlei Einkauf, der Kühlschrank ist leer. Sie
zog die Regenjacke über, steckte ihre Geldbörse
ein und griff nach dem Regenschirm, der neben
der Eingangstür lehnte. Da läutete es.
»Ja?« rief Henriette, ohne zu öffnen.
»Ich bin es, Linda!«
Darf nicht wahr sein, dachte Henriette. Dann
schloß sie die Tür auf.
»Was machen Sie denn so früh schon wieder
bei mir?«
Sie hörte selbst, daß ihre Frage unfreundlich
klang, aber Linda schien es nicht zu bemerken.
»Es regnet so stark«, sagte sie, »ich könnte für
Sie etwas mitbringen, wenn ich jetzt einkaufen
gehe, Sie müßten mir nur aufschreiben, was Sie
haben wollen.«
»Linda, bitte!« antwortete Henriette, »Sie
sehen, ich bin für den Regen gerüstet und dabei,
selbst hinauszugehen und meine Besorgungen
zu machen. Sicher sehen Sie auch, daß ich heute
wohlauf bin und durchaus in der Lage, wieder für
mich selber zu sorgen. Ihre Hilfe gestern vergesse
ich nicht, und ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet
deshalb. Aber jetzt muß wieder Schluß sein.«
Die junge Frau trat einen Schritt zurück,
wandte sich jedoch nicht ab. Wie sie mich anschaut,
dachte Henriette, so, als hätte ich sie
geschlagen. Diesmal scheine ich sie wirklich beleidigt
zu haben. Sie wollte mir nichts Böses, ich
war bös. Eine böse Alte.
»Ich wollte Ihnen nicht lästigfallen, Frau Lauber
«, sagte Linda.
»Nein«, sagte Henriette, »Sie fallen mir nicht
lästig. Ich bin nur - ich bin ein alter Mensch, und
Sie sind jung. Ich bin nicht gesellig, und ich bin
vor allem keine Gesellschaft für Sie.«
»Bin ich Ihnen unsympathisch?« fragte Linda.
»Aber nein, was soll das?«
»Oder vielleicht zu ungebildet? Zu dumm?«
»Dumm ist diese Frage, Linda. Nein, ich mag
Sie.«
»Ja dann!« rief die junge Frau, »dann ist es
doch egal, wie alt Sie sind und wie jung ich bin.
Und so wahnsinnig jung bin ich ja auch nicht
mehr.« Sie lachte auf. »Mein Mann hat mich unlängst
gefragt, wann ich denn eigentlich in den
Wechsel komme, und ich hab gesagt, da kannst
du noch lang drauf warten.«
»Er hat Sie gefragt, wann Sie in den Wechsel
kommen?«
»Die Männer haben doch keine Ahnung, sie
haben im Betrieb über so was geredet, ein Kollege
hat wohl über seine Frau gejammert, und da
hat der Helmut eben mal bei mir nachgefragt.«
»Ihr Helmut hat da aber besonders wenig Ahnung
«, sagte Henriette.
»Ich weiß«, sagte Linda, »aber ich glaube, er ist
nur typisch.«
»Typisch?«
»Nun ja, typisch für solche Männer, für die
Frauen ein Rätsel sind, das sie gar nicht lösen
möchten. Die Frau soll einfach nur da sein.«
»Und wie geht es Ihnen dabei, Linda?«
»Er ist ein guter Mann, ich kann mich auf ihn
verlassen.«
»Ja dann«, sagte Henriette.
Beide schwiegen. Sie standen einander gegenüber,
jede mit einem Regenschirm in der Hand.
»Wollen wir gemeinsam gehen?« fragte Henriette
schließlich.
Lindas Gesicht erhellte sich. »Aber gern!« rief
sie.
Als Henriette auf den Gang hinaustrat und die
Wohnungstür hinter sich schließen wollte, war
aus dem Schlafzimmer der Rufton ihres Handys
zu hören. Sie hatte es nach dem Erwachen
eingeschaltet, um erreichbar zu sein, wenn Maloud
sich wieder bei ihr melden würde. »Moment!« rief
Henriette, ließ ihren Schirm fallen und eilte zurück,
ohne die Eingangstür zu schließen. Bei ihrem
Bett angelangt, griff sie hastig nach dem Gerät und
drückte auf die Empfangstaste. »Ja?« fragte sie.
»Hallo, Mum«, meldete sich Maloud, »warum
so atemlos?«
»Ich wollte nur grade einkaufen gehen.«
»Tu das, ich rufe später nochmals an.«
»Nein, nein, ich will jetzt lieber mit dir sprechen.
«
»Es geht wirklich, Mum, ich bin heute in
Algier, kann mich also wunderbar in einer Stunde
nochmals melden.«
»Ja? In einer Stunde?«
»Okay, Mum, bis dann.«
Ohne auf ihren Abschiedsgruß zu warten,
hatte Maloud das Gespräch beendet. Henriette
legte das Handy auf den Nachttisch zurück. Sie
stand noch ein paar Sekunden tief atmend davor,
ehe sie langsam zur Eingangstür ging. Linda trug
jetzt zwei Regenschirme und schaute ihr abwartend
entgegen.
»Etwas Wichtiges?« fragte sie.
»Mein Patensohn«, antwortete Henriette.
»Oh - aber warum -«
»Er ruft in einer Stunde nochmals an.«
»Da müssen wir uns aber beeilen, bei Regen
dauert es überall.«
»Nicht bei Herrn Watussil«, versuchte Henriette
zu scherzen.
Linda lachte auf.
»Daß der noch von seinem Geschäft leben
kann«, sagte sie, »keiner kauft mehr Gemüse
dort.«
»Ich schon«, sagte Henriette, »aber ich esse es
nie. Der Mann tut mir nur leid.«
»Ja, er kann einem wirklich leid tun, und
lange wird er es wohl nicht mehr machen«, sagte
Linda. »Gehen wir?«
Henriette wollte die Wohnungstür hinter sich
schließen, aber sie zögerte plötzlich.
»Was ist?« fragte Linda.
»Könnten Sie mir doch - etwas mitnehmen?«
»Aber das habe ich Ihnen doch angeboten!«
»Ja, aber ich war pampig zu Ihnen.«
»Macht doch nichts!« erwiderte Linda fröhlich.
Sie übergab Henriette wieder ihren Schirm und
drängte sie sanft in die Wohnung zurück.
»Was also soll ich Ihnen bringen, Frau Lauber?
« fragte sie.
Es scheint ihr Freude zu machen, dachte Henriette,
bei strömendem Regen für mich Einkäufe
zu erledigen, scheint ihr Freude zu machen. Eine
ungewöhnliche junge Frau. Aber ich nehme ihre
Hilfsbereitschaft jetzt an, bleibe plötzlich gern
daheim, Malouds nächsten Anruf möchte ich
nicht versäumen. Ihn nur so kurz zu hören, seine
Stimme so schnell wieder zu verlieren, das hat
mich seltsam müde gemacht.
Henriette stellte den Regenschirm wieder
neben der Tür ab, ging ins Wohnzimmer an
den Schreibtisch, nahm dort Platz und notierte,
wofür sie hinaus und zum Supermarkt gegangen
wäre. Milch, Eier, Butter, ein halbes Brot, Orangen,
ein wenig Salat, Erdäpfel, ein kleines Steak
und eine Packung Spaghetti.
»Ist gar nicht so wenig, Linda«, sagte sie,
»können Sie das alles schleppen? Zu Ihren eigenen
Einkäufen dazu?«
»Ich schaffe das ganz leicht«, antwortete
Linda, »also bis dann.«
»Halt!« rief Henriette und holte ihre Geldbörse
hervor.
»Machen wir später!«
Die Wohnungstür fiel hinter Linda zu und weg
war sie.
Henriette blieb vor dem geöffneten Fenster am
Schreibtisch sitzen. Sie schob sich die Regenjacke
von den Schultern, ohne aufzustehen, und starrte
hinaus. Im Hof rauschte nach wie vor der Regen
herab. Ein dichter Vorhang aus Wasser ließ den
Baum nur verschwommen sichtbar werden.
Henriette senkte den Blick und besah plötzlich
mit dem Interesse einer Fremden, was sie so alles
auf der Schreibtischfläche liegen hatte. Nicht viel.
Einen Kalender. Den Notizblock, auf dem sie
eben ihre Einkaufswünsche notiert hatte. Einige
Kugelschreiber. Ein Adreßbuch, ewig nicht
mehr geöffnet, auch, weil so viele Namen darin
nur noch Toten galten. Einer nach dem anderen
waren ihr Freunde und Bekannte hinweggestorben.
Das zu erleiden ist bittere Frucht des Altwerdens,
dachte Henriette.
Früher hatte sie noch aufgeschrieben, niedergeschrieben,
was ihre Gedanken bewegte. Hatte
Bildfolgen skizziert, ähnlich wie zu Zeiten des
Filmschnitts, wenn sie und Mirco sich entweder
uneinig waren, oder in Gemeinsamkeit etwas festlegen
wollten. Beide hatten sie gern gezeichnet.
Und immer wieder aufgeschrieben, was schwer
zu sagen war. Das Schreiben, auch das Schreiben
an ihn, hatte sie hier in dieser Wohnung noch eine
Weile beibehalten. Dann hatte sie von einem Tag
auf den anderen damit aufgehört. Das heißt, an
einem ganz bestimmten Tag hatte sie damit aufgehört.
Es war der Tag, an dem sie erfuhr, daß Mirco
gestorben sei, Selbstmord begangen hatte. Es war
einige Jahre nach seinem letzten Film. Bei dem sie
bereits nicht mehr seine Cutterin gewesen war.
Längst war ihr selbst klargeworden, daß sie bei
den neuen Technologien nicht mehr mitkam, sie
hatte ein Leben lang analog gearbeitet, das digitale
Arbeiten beim Filmschnitt entzog sich ihr. Mirco
hatte es noch einmal versucht und war gescheitert.
Sein letzter Film kostete zu viel Geld und wurde
zu wenig erfolgreich. Trotz seiner bis dahin unantastbar
gewesenen Bedeutung als Filmschaffender
gelang es ihm plötzlich nicht mehr, sich bei Institutionen
und Geldgebern mit seinen Ideen durchzusetzen.
Ich ersticke an meinen Ideen, hatte er
am Telefon zu ihr gesagt.
Eigentlich war das sein Lebensende, dachte
Henriette. Er hat nur noch eine Weile so getan,
als lebe er.
Die Schubladen des Schreibtischs waren unregelmäßig
geschlossen worden, nicht nahtlos über
einander, und Henriette schob die oberste Lade
seufzend in Position. Meist hatte Milenas Eile
beim Saubermachen diese kleinen Unregelmäßigkeiten
zur Folge. Das Alter und ihre jetzt nahezu
nur auf den Bereich dieser Wohnung begrenzte
Welt hatte Henriette seltsam pedantisch werden
lassen. Jedes Mal war es so: Milena eilte davon,
und sie rückte und schob zurecht. So wie jetzt.
Ja, ich weiß, dachte Henriette, ich bin pingelig
geworden zwischen dem wenigen, das mich umgibt,
zwischen den paar Möbeln und Gegenständen,
mit denen ich mein Leben teile. Pedanterie
war etwas, das ich früher bei allen anderen verabscheut
habe und das mich selbst, wie ich dachte,
nie ereilen würde. Jetzt korrigiere ich zentimetergenau
die Schubladen eines Schreibtischs, den ich
ohnehin fast nie mehr benutze.
Ein Impuls bewog Henriette, die eben zugeschobene
oberste Lade wieder zu öffnen. Was sie
sah, waren Büroklammern, Bleistifte, Farbstifte,
Radiergummis. Daneben aber, säuberlich übereinandergelegt,
einige beschriebene Papierblätter.
Wie lange habe ich diese Lade nicht mehr geöffnet,
dachte sie. Was habe ich denn da geschrieben
und einfach zwischen all dem Krimskrams
liegenlassen. Sie nahm die Blätter hoch. Du wunderst
Dich, von mir zu hören, nicht wahr? las sie.
Draußen regnete es nach wie vor heftig. Henriette
legte die Briefbögen vor sich auf den Tisch
und schaute auf sie herab wie aus großer Höhe.
© Residenz Verlag
wenn man alleine lebt. Einfach jederzeit zu weinen.
Obwohl sie es nur noch selten tat. Es erschien
ihr manchmal so, als wären alle Tränen
ihres Lebens bereits vergossen und jede Form von
Traurigkeit von dürrer Vernunft erstickt worden.
Es gefiel ihr, wieder einmal weinen zu können.
Immer noch fiel Regen gleichmäßig rauschend
vom Himmel. Henriette verließ die Küche, ging
ins Bad, kleidete sich an und brachte ihr Bett in
Ordnung. Jeder Handgriff war vorgezeichnet,
geschah wie von selbst, die tagtäglichen Wiederholungen
hatten sich zu strengen Ritualen verfestigt,
denen sie nicht mehr zu entrinnen vermochte.
Sie handelte wie unter Zwang und haßte
es gleichzeitig. Immer war sie erleichtert, wenn
die für eine disziplinierte und alleinstehende Frau
unerläßlichen Anforderungen des Tagesbeginns
hinter ihr lagen. Disziplin ist das halbe Leben,
hatte ihr Vater immer gesagt, und sie war gelehrig
gewesen, hatte nicht nur das halbe, sondern ihr
ganzes Leben der Disziplin untergeordnet. So
wie heute wieder, nachdem ihre überraschenden
Tränen versiegt waren und der Alltag nach ihr
griff.
Ich muß mir jetzt wirklich einiges besorgen,
dachte Henriette, ich war gestern nicht draußen,
keinerlei Einkauf, der Kühlschrank ist leer. Sie
zog die Regenjacke über, steckte ihre Geldbörse
ein und griff nach dem Regenschirm, der neben
der Eingangstür lehnte. Da läutete es.
»Ja?« rief Henriette, ohne zu öffnen.
»Ich bin es, Linda!«
Darf nicht wahr sein, dachte Henriette. Dann
schloß sie die Tür auf.
»Was machen Sie denn so früh schon wieder
bei mir?«
Sie hörte selbst, daß ihre Frage unfreundlich
klang, aber Linda schien es nicht zu bemerken.
»Es regnet so stark«, sagte sie, »ich könnte für
Sie etwas mitbringen, wenn ich jetzt einkaufen
gehe, Sie müßten mir nur aufschreiben, was Sie
haben wollen.«
»Linda, bitte!« antwortete Henriette, »Sie
sehen, ich bin für den Regen gerüstet und dabei,
selbst hinauszugehen und meine Besorgungen
zu machen. Sicher sehen Sie auch, daß ich heute
wohlauf bin und durchaus in der Lage, wieder für
mich selber zu sorgen. Ihre Hilfe gestern vergesse
ich nicht, und ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet
deshalb. Aber jetzt muß wieder Schluß sein.«
Die junge Frau trat einen Schritt zurück,
wandte sich jedoch nicht ab. Wie sie mich anschaut,
dachte Henriette, so, als hätte ich sie
geschlagen. Diesmal scheine ich sie wirklich beleidigt
zu haben. Sie wollte mir nichts Böses, ich
war bös. Eine böse Alte.
»Ich wollte Ihnen nicht lästigfallen, Frau Lauber
«, sagte Linda.
»Nein«, sagte Henriette, »Sie fallen mir nicht
lästig. Ich bin nur - ich bin ein alter Mensch, und
Sie sind jung. Ich bin nicht gesellig, und ich bin
vor allem keine Gesellschaft für Sie.«
»Bin ich Ihnen unsympathisch?« fragte Linda.
»Aber nein, was soll das?«
»Oder vielleicht zu ungebildet? Zu dumm?«
»Dumm ist diese Frage, Linda. Nein, ich mag
Sie.«
»Ja dann!« rief die junge Frau, »dann ist es
doch egal, wie alt Sie sind und wie jung ich bin.
Und so wahnsinnig jung bin ich ja auch nicht
mehr.« Sie lachte auf. »Mein Mann hat mich unlängst
gefragt, wann ich denn eigentlich in den
Wechsel komme, und ich hab gesagt, da kannst
du noch lang drauf warten.«
»Er hat Sie gefragt, wann Sie in den Wechsel
kommen?«
»Die Männer haben doch keine Ahnung, sie
haben im Betrieb über so was geredet, ein Kollege
hat wohl über seine Frau gejammert, und da
hat der Helmut eben mal bei mir nachgefragt.«
»Ihr Helmut hat da aber besonders wenig Ahnung
«, sagte Henriette.
»Ich weiß«, sagte Linda, »aber ich glaube, er ist
nur typisch.«
»Typisch?«
»Nun ja, typisch für solche Männer, für die
Frauen ein Rätsel sind, das sie gar nicht lösen
möchten. Die Frau soll einfach nur da sein.«
»Und wie geht es Ihnen dabei, Linda?«
»Er ist ein guter Mann, ich kann mich auf ihn
verlassen.«
»Ja dann«, sagte Henriette.
Beide schwiegen. Sie standen einander gegenüber,
jede mit einem Regenschirm in der Hand.
»Wollen wir gemeinsam gehen?« fragte Henriette
schließlich.
Lindas Gesicht erhellte sich. »Aber gern!« rief
sie.
Als Henriette auf den Gang hinaustrat und die
Wohnungstür hinter sich schließen wollte, war
aus dem Schlafzimmer der Rufton ihres Handys
zu hören. Sie hatte es nach dem Erwachen
eingeschaltet, um erreichbar zu sein, wenn Maloud
sich wieder bei ihr melden würde. »Moment!« rief
Henriette, ließ ihren Schirm fallen und eilte zurück,
ohne die Eingangstür zu schließen. Bei ihrem
Bett angelangt, griff sie hastig nach dem Gerät und
drückte auf die Empfangstaste. »Ja?« fragte sie.
»Hallo, Mum«, meldete sich Maloud, »warum
so atemlos?«
»Ich wollte nur grade einkaufen gehen.«
»Tu das, ich rufe später nochmals an.«
»Nein, nein, ich will jetzt lieber mit dir sprechen.
«
»Es geht wirklich, Mum, ich bin heute in
Algier, kann mich also wunderbar in einer Stunde
nochmals melden.«
»Ja? In einer Stunde?«
»Okay, Mum, bis dann.«
Ohne auf ihren Abschiedsgruß zu warten,
hatte Maloud das Gespräch beendet. Henriette
legte das Handy auf den Nachttisch zurück. Sie
stand noch ein paar Sekunden tief atmend davor,
ehe sie langsam zur Eingangstür ging. Linda trug
jetzt zwei Regenschirme und schaute ihr abwartend
entgegen.
»Etwas Wichtiges?« fragte sie.
»Mein Patensohn«, antwortete Henriette.
»Oh - aber warum -«
»Er ruft in einer Stunde nochmals an.«
»Da müssen wir uns aber beeilen, bei Regen
dauert es überall.«
»Nicht bei Herrn Watussil«, versuchte Henriette
zu scherzen.
Linda lachte auf.
»Daß der noch von seinem Geschäft leben
kann«, sagte sie, »keiner kauft mehr Gemüse
dort.«
»Ich schon«, sagte Henriette, »aber ich esse es
nie. Der Mann tut mir nur leid.«
»Ja, er kann einem wirklich leid tun, und
lange wird er es wohl nicht mehr machen«, sagte
Linda. »Gehen wir?«
Henriette wollte die Wohnungstür hinter sich
schließen, aber sie zögerte plötzlich.
»Was ist?« fragte Linda.
»Könnten Sie mir doch - etwas mitnehmen?«
»Aber das habe ich Ihnen doch angeboten!«
»Ja, aber ich war pampig zu Ihnen.«
»Macht doch nichts!« erwiderte Linda fröhlich.
Sie übergab Henriette wieder ihren Schirm und
drängte sie sanft in die Wohnung zurück.
»Was also soll ich Ihnen bringen, Frau Lauber?
« fragte sie.
Es scheint ihr Freude zu machen, dachte Henriette,
bei strömendem Regen für mich Einkäufe
zu erledigen, scheint ihr Freude zu machen. Eine
ungewöhnliche junge Frau. Aber ich nehme ihre
Hilfsbereitschaft jetzt an, bleibe plötzlich gern
daheim, Malouds nächsten Anruf möchte ich
nicht versäumen. Ihn nur so kurz zu hören, seine
Stimme so schnell wieder zu verlieren, das hat
mich seltsam müde gemacht.
Henriette stellte den Regenschirm wieder
neben der Tür ab, ging ins Wohnzimmer an
den Schreibtisch, nahm dort Platz und notierte,
wofür sie hinaus und zum Supermarkt gegangen
wäre. Milch, Eier, Butter, ein halbes Brot, Orangen,
ein wenig Salat, Erdäpfel, ein kleines Steak
und eine Packung Spaghetti.
»Ist gar nicht so wenig, Linda«, sagte sie,
»können Sie das alles schleppen? Zu Ihren eigenen
Einkäufen dazu?«
»Ich schaffe das ganz leicht«, antwortete
Linda, »also bis dann.«
»Halt!« rief Henriette und holte ihre Geldbörse
hervor.
»Machen wir später!«
Die Wohnungstür fiel hinter Linda zu und weg
war sie.
Henriette blieb vor dem geöffneten Fenster am
Schreibtisch sitzen. Sie schob sich die Regenjacke
von den Schultern, ohne aufzustehen, und starrte
hinaus. Im Hof rauschte nach wie vor der Regen
herab. Ein dichter Vorhang aus Wasser ließ den
Baum nur verschwommen sichtbar werden.
Henriette senkte den Blick und besah plötzlich
mit dem Interesse einer Fremden, was sie so alles
auf der Schreibtischfläche liegen hatte. Nicht viel.
Einen Kalender. Den Notizblock, auf dem sie
eben ihre Einkaufswünsche notiert hatte. Einige
Kugelschreiber. Ein Adreßbuch, ewig nicht
mehr geöffnet, auch, weil so viele Namen darin
nur noch Toten galten. Einer nach dem anderen
waren ihr Freunde und Bekannte hinweggestorben.
Das zu erleiden ist bittere Frucht des Altwerdens,
dachte Henriette.
Früher hatte sie noch aufgeschrieben, niedergeschrieben,
was ihre Gedanken bewegte. Hatte
Bildfolgen skizziert, ähnlich wie zu Zeiten des
Filmschnitts, wenn sie und Mirco sich entweder
uneinig waren, oder in Gemeinsamkeit etwas festlegen
wollten. Beide hatten sie gern gezeichnet.
Und immer wieder aufgeschrieben, was schwer
zu sagen war. Das Schreiben, auch das Schreiben
an ihn, hatte sie hier in dieser Wohnung noch eine
Weile beibehalten. Dann hatte sie von einem Tag
auf den anderen damit aufgehört. Das heißt, an
einem ganz bestimmten Tag hatte sie damit aufgehört.
Es war der Tag, an dem sie erfuhr, daß Mirco
gestorben sei, Selbstmord begangen hatte. Es war
einige Jahre nach seinem letzten Film. Bei dem sie
bereits nicht mehr seine Cutterin gewesen war.
Längst war ihr selbst klargeworden, daß sie bei
den neuen Technologien nicht mehr mitkam, sie
hatte ein Leben lang analog gearbeitet, das digitale
Arbeiten beim Filmschnitt entzog sich ihr. Mirco
hatte es noch einmal versucht und war gescheitert.
Sein letzter Film kostete zu viel Geld und wurde
zu wenig erfolgreich. Trotz seiner bis dahin unantastbar
gewesenen Bedeutung als Filmschaffender
gelang es ihm plötzlich nicht mehr, sich bei Institutionen
und Geldgebern mit seinen Ideen durchzusetzen.
Ich ersticke an meinen Ideen, hatte er
am Telefon zu ihr gesagt.
Eigentlich war das sein Lebensende, dachte
Henriette. Er hat nur noch eine Weile so getan,
als lebe er.
Die Schubladen des Schreibtischs waren unregelmäßig
geschlossen worden, nicht nahtlos über
einander, und Henriette schob die oberste Lade
seufzend in Position. Meist hatte Milenas Eile
beim Saubermachen diese kleinen Unregelmäßigkeiten
zur Folge. Das Alter und ihre jetzt nahezu
nur auf den Bereich dieser Wohnung begrenzte
Welt hatte Henriette seltsam pedantisch werden
lassen. Jedes Mal war es so: Milena eilte davon,
und sie rückte und schob zurecht. So wie jetzt.
Ja, ich weiß, dachte Henriette, ich bin pingelig
geworden zwischen dem wenigen, das mich umgibt,
zwischen den paar Möbeln und Gegenständen,
mit denen ich mein Leben teile. Pedanterie
war etwas, das ich früher bei allen anderen verabscheut
habe und das mich selbst, wie ich dachte,
nie ereilen würde. Jetzt korrigiere ich zentimetergenau
die Schubladen eines Schreibtischs, den ich
ohnehin fast nie mehr benutze.
Ein Impuls bewog Henriette, die eben zugeschobene
oberste Lade wieder zu öffnen. Was sie
sah, waren Büroklammern, Bleistifte, Farbstifte,
Radiergummis. Daneben aber, säuberlich übereinandergelegt,
einige beschriebene Papierblätter.
Wie lange habe ich diese Lade nicht mehr geöffnet,
dachte sie. Was habe ich denn da geschrieben
und einfach zwischen all dem Krimskrams
liegenlassen. Sie nahm die Blätter hoch. Du wunderst
Dich, von mir zu hören, nicht wahr? las sie.
Draußen regnete es nach wie vor heftig. Henriette
legte die Briefbögen vor sich auf den Tisch
und schaute auf sie herab wie aus großer Höhe.
© Residenz Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Erika Pluhar
Erika Pluhar war seit ihrer Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar bis 1999 Schauspielerin am Burgtheater in Wien. Sie textet und interpretiert Lieder, hat Filmegedreht und zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt u. a. "Spätes Tagebuch" (2010), "Die öffentliche Frau" (2013). 2009 erhielt Erika Pluhar denEhrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken undHandeln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Erika Pluhar
- 2016, 2. Aufl., 344 Seiten, Maße: 13,6 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Residenz
- ISBN-10: 3701716749
- ISBN-13: 9783701716746
- Erscheinungsdatum: 12.09.2016
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