Geisterstunde
Obwohl niemand mehr wirklich weiß, was Bildung bedeutet,...
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Obwohl niemand mehr wirklich weiß, was Bildung bedeutet, würde jeder sie nur allzu gerne reformieren. Es ist ein Markt entstanden, der durchsetzt ist mit undurchsichtigen Bildungsforschern und -experten, Testinstituten, Agenturen, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitikern. Konrad Paul Liessmann setzt sich in seiner scharfsinnigen Kritik mit dem auseinander, was sich derzeit in Schulen, Universitäten, Redaktionen, in der virtuellen Welt sowie der realen Politik abspielt. Wie kaum ein anderer Autor erkennt er Fehlentwicklungen im Bildungssystem und prangert sie an. Auch wenn sein Text auf den ersten Blick polemisch anmutet, steht das äußerst wichtige und ernste Anliegen dahinter, Wissen und Bildung wieder den notwendigen Stellenwert einzuräumen.
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Konrad Paul Liessmann
Vorwort
Warum Bildung nicht glücklich macht
Bildung, so hört und liest man immer wieder, ist nicht nur
die wichtigste Ressource für rohstoffarme Länder, sie erfüllt
nicht nur die Bedürfnisse der Wirtschaft nach kompetenten
und hochqualifizierten Arbeitskräften, sie gleicht nicht nur
die sozialen Unterschiede der Menschen und die Nachteile
der Migranten aus, sondern sie ist auch eine beständige Quelle
des Glücks für den Einzelnen. Bildung ist, so sagt man gerne,
die Voraussetzung für ein erfülltes, selbstbestimmtes und gelingendes
Lebens. Nur der Gebildete weiß seine Chancen zu
nutzen, die Herausforderungen anzunehmen und seinem Leben
einen zukunftsorientierten Sinn zu verleihen. Wie bei allen
Phrasen besteht bei ihrem inflationären Gebrauch die Möglichkeit,
dass sie nicht beim Wort genommen werden dürfen.
Wie aber wäre es, wenn man einmal darüber nachdächte, inwiefern
Bildung zum Glück der Menschen tatsächlich etwas
beitragen kann? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn
man weiß, von welcher Bildung die Rede ist, welcher Bildungsbegriff
dafür herangezogen wird. Wir wählen deshalb drei Varianten
von Bildung aus und fragen nach deren Glückspotential.
Gesetzt den Fall, es gäbe noch in einem klassischen Sinn humanistisch
gebildete Menschen. Könnten diese glücklich genannt
werden? Oder müsste ihre Bildung nicht viel mehr als
eine Quelle des Unglücks erscheinen? Denn wie sollten sie
glücklich sein in einer Welt, die sie nicht mehr versteht und
die alles verachtet, was ihnen wichtig ist – die toten Sprachen,
den Kanon der klassischen Literaturen, profunde historische
Kenntnisse, ein eurozentrisches Weltbild, das an den Idealen
der Aufklärung festhält, ohne deshalb die antiken und religiösen
Wurzeln dieser Kultur zu vergessen oder zu verachten,
eine ästhetische Sensibilität, die an der Wertschätzung einer
elaborierten Sprache und am Stil und an der Rhetorik der klassischen
Vorbilder orientiert ist und deshalb an den Phrasen und
Euphemismen der Politik, der Werbung und der Medien sofort
deren Oberflächlichkeit, Verlogenheit und Gemeinheit erkennen
könnte? Der Gebildete, so schrieb Friedrich Nietzsche,
entwickelt einen veritablen Ekel vor den Falschheiten dieser
Welt, vor allem vor der Sprache des Journalismus, einer Sprache,
der mittlerweile niemand mehr entgehen kann und die
durch die Gebote der politischen Korrektheit noch zusätzlich
verhunzt wird. Wer aber möchte einen Menschen, der täglich
von Ekel geschüttelt wird, glücklich nennen? Glück sieht anders
aus.
Aber auch wenn wir den Bildungsbegriff modernisieren und,
wie gerne geschehen, auf die Beherrschung der aktuell notwendigen
Kulturtechniken und eine anspruchsvollere berufliche
Ausbildung reduzieren, will sich das Glück nicht so recht einstellen.
Denn wie sollten wir jemanden als glücklich bezeichnen,
der ständig aufgefordert wird, seine Skills zu schulen und
Kompetenzen zu erwerben, um im Wettbewerb bestehen zu
können, der alles, was ihn neugierig machen könnte, auf seine
Verwertbarkeit überprüfen muss, der ständig hört, wie viel an
Bildungsballast er abwerfen solle, um für das Neue gerüstet zu
sein, der täglich spürt, dass die Entwicklung und Entfaltung
seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten nur dem Ziel der ökonomischen
Rentabilität dienen, der sich also immer in dieser
Weise als fremdbestimmt erfahren wird? Vielleicht bleiben die
Chancen auf einen Arbeitsplatz oder auf die richtige Platzie
rung der Ich-AG auf diese Weise halbwegs intakt. Das ist aber
schon alles. Und im gar nicht so seltenen Ernstfall wird dieser
Mensch die Erfahrung machen müssen, dass alle Bildungsanstrengung,
alle Schulung, alle wundersame Kompetenzvermehrung
wenig gefruchtet haben und der Arbeitgeber oder der
Markt plötzlich ganz andere Dinge verlangen und wieder alles
vergebens gewesen war. Und vor allem wird dieser Mensch den
Eindruck bekommen, dass im Gegensatz zur herrschenden Bildungsideologie
die großen und einträglichen Karrieren in der
Wirtschaft und im Sport, in den Medien und im Show-Business
ganz ohne Bildung möglich sind, und er wird sich betrogen
fühlen. Glück sieht anders aus.
Aber sogar wenn wir annehmen, dass Bildung die entscheidende
Möglichkeit ist, um kritisch und verantwortungsbewusst
gestaltend an dieser Welt zu partizipieren, auch wenn
wir unterstellen, dass Bildung zum mündigen Bürger führt, der
sich seine eigene Urteilskraft bewahrt hat und deshalb resistent
gegen die ideologischen Verlockungen und Verführungen aller
Art ist, wird sich das Glück dadurch nicht einstellen. Denn
nähmen wir diese Ansprüche ernst, wird Bildung vor allem
Zweifel und Selbstzweifel bedeuten, eine Einsicht in die Unaufhebbarkeit
von Ansprüchen und Wirklichkeiten, eine Auseinandersetzung
mit sich ständig verändernden Werten, ein
permanentes Eingeständnis des sokratischen Nichtwissens, das
zu einer Verunsicherung führen wird, die im krassen Gegensatz
zum auftrumpfenden Gebaren einer Gesellschaft der vermeintlich
Hochbegabten und der selbsternannten und selbstgewissen
neuen Eliten steht. Die Vorsicht, Skepsis und Bescheidenheit
eines in dieser Weise Gebildeten würde ihn in einer Welt
der gnadenlosen Selbstdarsteller und zutiefst Überzeugten zu
einer einsamen und verunsicherten Figur machen. Glück sieht
anders aus.
Natürlich gibt es eine Verbindung von Glück und Bildung.
Aber die ist in unserer Zeit allen, ohne Ausnahme, verwehrt.
Aristoteles hatte als höchstes Glück jene Muße bestimmt, die
es den Menschen ermöglicht, in der kontemplativen Anschauung,
im Wissen um seiner selbst willen, in der reinen Theorie,
ohne Verwertungs- und Praxiszwang, jene Fähigkeiten zu entfalten,
die allein den Menschen auszeichnen: die Freiheit und
die Lust des Denkens, die Freiheit und die Lust am Erkennen,
die Freiheit und die Lust am Verstehen, die Freiheit und die
Lust am Schönen. Studenten, die schon im ersten Semester, bevor
sie noch von den Wonnen der Theorie auch nur haben kosten
dürfen, angehalten werden, die richtigen credit points zu
sammeln und so schnell wie möglich ins erste Praktikum gehetzt
werden, werden dann auch keine Chance haben zu erfahren,
warum Bildung trotz allem manchmal doch auch glücklich
machen kann.
Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches,
weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht.
Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit
durch Konsum. Was heute unter dem Titel Bildung
firmiert, was von Bildungsjournalisten propagiert, was
von Bildungsexperten verkündet, was von Bildungsforschern
behauptet, was von Bildungspolitikern durchgesetzt, was an
Schulen und Universitäten beworben wird, ist deren Gegenteil
und Karikatur, eine Phrase, eine Schimäre, eine einzige riesige
Sprechblase, ein Gespenst, das nicht um Mitternacht, sondern
zur besten Unterrichtszeit sein Unwesen treibt: Geisterstunde!
Die Konturen dieses Gespensts erinnern manchmal noch an
die Idee der Bildung, die damit verbundenen Ansprüche und
Verheißungen könnten wohltönender nicht sein, und doch
verbirgt sich dahinter – nichts. Kein Wissen, keine Haltung,
keine Kultur, kein Glück. Dieser Praxis der Unbildung, ihren
Erscheinungsformen und Tendenzen, ihrer Ideologie und Verblendung,
ihren Wortführern und Propagandisten, ihren Exzessen
und Absurditäten gilt die vorliegende Streitschrift.
Konrad Paul Liessmann
Wien, im Juli 2014
1. Pisa, Panik und Bologna
Die Logik von Bildungskatastrophen
Es ist gespenstisch: Zähneknirschend musste zu Beginn des Jahres
2014 das österreichische Institut für Bildungsforschung, das
auch für Organisation und Durchführung der Pisa-Tests und
der zentralen Reifeprüfung verantwortlich ist, ein »Datenleck«
ungeheuren Ausmaßes einbekennen. Auf einem rumänischen
Server waren unverschlüsselt die Daten von Schülern, Lehrern
und die Testergebnisse aufgetaucht. Nach monatelanger Verzögerung
reagierte das österreichische Bildungsministerium
scharf: Der nächste Pisa-Test wurde kurzerhand abgesagt. Und
nun das Erstaunliche: Anstatt eines erleichterten Aufatmens
wurde die zuständige Ministerin mit Kritik überschüttet: Eine
Schande sei dies für das Land, ohne internationale Vergleichstests
gehe es mit der Bildung bergab, ja, auch ehemalige Pisa-
Kritiker entdeckten nun plötzlich ihre Liebe zu Pisa und taten
so, als würde sich Österreich aus der Gemeinschaft der zivilisierten
Staaten dadurch verabschieden, dass bei Pisa einmal
pausiert wird. Der Druck, nicht zuletzt auch von Seiten der
OECD, wurde so stark, dass dieselbe Bildungsministerin einige
Wochen später eine ebenso scharfe Kehrtwendung bekanntgab:
Österreich werde doch wieder am Pisa-Test teilnehmen,
man habe mit der OECD »Sonderkonditionen« ausgehandelt,
so die Erklärung dafür. Pikanterie am Rande: Der Wiedereinstieg
Österreichs bei Pisa wurde just in dem Moment verkündet,
als ein von Heinz-Dieter Meyer von der State University
of New York initiierter und von zahlreichen internationalen
Experten unterzeichneter offener Brief an Andreas Schleicher,
den Pisa-Koordinator der OECD, die Pisa-Tests einer grundlegenden
Kritik unterzog und zu einem weltweiten Moratorium
aufrief.1 Allein: Noch die treffendste Kritik perlt an den
Pisa-Jüngern ab wie Wasser.
Pisa kann mittlerweile als Symptom für die Absurdität gewertet
werden, die das Bildungssystem erfasst hat. Das Faszinierende
am Pisa-Test ist, dass dieser trotz zahlreicher bekannter
und kritisierter Schwächen in Konstruktion, Durchführung
und Auswertung nach wie vor den Takt in der Bildungsdiskussion
angibt. Dass die Ergebnisse schon aus rein statistischen
Gründen auf schwachen Beinen stehen, weiß man. Deutschland
hat annähernd zehn Millionen Schüler, nicht einmal 5000
unterziehen sich dem Pisa-Test, in der viel kleineren Schweiz
sind es 20 000. Was will man da noch vergleichen? Da ein besonderer
Stolz der Pisa-Konstrukteure darin besteht, Zusammenhänge
zwischen Schultyp, Region, sozialem und familiärem
Hintergrund und Geschlecht zu eruieren, muss das
schmale deutsche Sample bedeuten, dass für manchen Typus –
männlicher Schüler mit Migrationshintergrund in einem norddeutschen
kleinstädtischen Gymnasium – wohl nicht mehr als
ein Testkandidat zur Verfügung steht. Hat dieser einen schlechten
Tag, herrscht bildungspolitischer Notstand, ist er in Form,
hat ganz Deutschland ein ungerechtes Schulsystem beseitigt.
Unsinniger geht es nicht. Pisa misst also in erster Linie den
Glauben von Bildungspolitikern und Bildungsjournalisten an
fragwürdige Statistiken. Pisa ist längst zu einer säkularen
Religion geworden, die nur mehr Rechtgläubige und Ketzer kennt.
Keine Frage, Pisa wirkt. Aber es wirkt als gigantomanisches
bildungspolitisches Placebo, das von seiner Inszenierung ebenso
lebt wie von der bis zur Veröffentlichung wie ein Staatsgeheimnis
gehüteten Nationenwertung. Ohne dieses Ranking,
das Vergleichbarkeit auch dort suggeriert, wo Vergleiche weder
möglich noch sinnvoll sind, und ohne die plakativen Ergebnisdeutungen,
wäre Pisa ein amüsanter, aber unnötiger Test
wie viele andere auch. Aber dass man nun die Punkteabstände
zwischen den Ländern angeblich in verlorene oder gewonnene
Schuljahre umrechnen kann, gibt der Bildungsökonomie ganz
neue Möglichkeiten. Um ordentlich lesen zu lernen, benötigen
österreichische Schüler fast zwei Jahre mehr als ihre Kollegen
in Finnland oder Südkorea. Und Zeit ist bekanntlich Geld.
Wenn es woanders schneller geht, dann muss das doch auch
hierzulande möglich sein. Oder anders formuliert: Leseförderung
lohnt sich doch. Im Wortsinn.
Manchmal wird an Pisa gelobt, dass hier kein »erlerntes Wissen
« abgefragt wird, sondern dass es um die Ermittlung von
Problemverständnis und Lösungsfähigkeit, also um die Voraussetzungen
für erfolgreiches Lernen im weiteren Leben geht.
Manche sprechen bei Pisa sogar andächtig von der »Vision einer
umfassenden Grundbildung«, die sich nun darauf beziehe,
»alltagsrelevante Fragestellungen« bewältigen zu können.2 Nun,
auch Visionen hatten schon bessere Zeiten, aber es ist beruhigend
zu wissen, dass man in einer Wissensgesellschaft auch
ohne Wissen Erfolg haben wird, denn angeblich kommt es nur
noch auf das Können an. In Wirklichkeit gibt Pisa durch die
Konstruktionen seiner Tests einen geheimen Lehrplan vor, der
eine Norm darstellt, an der sich die Bildungsbemühungen auszurichten
haben. Pisa misst nicht nur, sondern schreibt in erster
Linie vor. Das wird mittlerweile nicht nur zugegeben, sondern
auch als »beispielgebend« für die Bildungsstandards überhaupt
gefeiert. Pisa verstärkt dabei jene verhängnisvollen Tendenzen
in der Didaktik, die zwischen Fähigkeiten und Kenntnissen
nicht mehr unterscheiden und am Ende eines Lernprozesses
immer eine Kompetenz zur Lösung einer lebensweltlich orien
tierten Aufgabe sehen wollen. Da mag es in manchen Bereichen
durchaus sinnvoll sein, zu glauben, dass diese Problemlösungskompetenzen
unabhängig von Wissen erworben werden
können, ist aber ebenso ein Irrtum wie die Annahme,
dass auf ein Wissen, das nicht zu einer unmittelbaren Handlungsorientierung
führt, immer und überall verzichtet werden könne.
Seine eigentliche Bedeutung entfaltet Pisa dort, wo seine
Protagonisten unverhohlen Empfehlungen für großzügige
Schulreformen abgeben. Der Pisa-Verantwortliche der OECD,
Andreas Schleicher, ist denn auch nach jedem Pisa-Test in
Österreich und Deutschland mit dem Rat zur Stelle, doch endlich
auf die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen
umzusteigen, um im Ranking nach oben zu klettern. Dass
Deutschland und die Schweiz sich auch ohne diese Schule zum
Teil stark verbessern konnten, Schweden sich mit dieser Schule
verschlechtert hat und auch die Pisa-Schlusslichter die Gesamtschule
haben, ficht den Gesamtschulideologen nicht an. Länder,
die vielleicht tatsächlich ein Problem damit haben, der
Schule und der Bildung die angemessene Aufmerksamkeit zu
schenken, werden damit in endlose Strukturdebatten getrieben,
die Kräfte und Energien blockieren, welche anderswo gebraucht
werden könnten. Etwa bei der Frage, welche Rolle die
Lehrer, ihr Ansehen und ihre Bildung in diesem Prozess spielen.
Oder bei der Frage, wie es insgesamt um die Lesekultur
einer Gesellschaft bestellt ist, die seit zwei Jahrzehnten wortreich
das Ende der Schrift und des Buches feiert und das Computerspiel
zu einer Kulturtechnik stilisiert. Denn zu den eher
verblüffenden Effekten von Pisa gehört auch dieser: Alle reden
nun vom Lesen und dass wir es angesichts der steigenden Rate
sekundärer Analphabeten mit einer veritablen Bildungskatastrophe
zu tun haben.
Damit kommen wir dem Kern schon näher. Worum es
bei Pisa und anderen Tests geht, ist die Konstruktion von Bildungskatastrophen.
Diese stellen die Manövriermasse dar, mit
der Bildungsreformen aller Art durchgesetzt werden können.
Die Interessen, die sich dahinter verbergen, sind vielfältig – nur
mit Bildung haben sie nichts zu tun. Es geht um Konzepte einer
wettbewerbsorientierten Ausbildung im Dienste der Wirtschaft;
zu diesem Zweck muss das Bildungssystem mit künstlichen
Wettbewerben überhaupt erst infiziert werden.
Pisa stellt dafür das mächtigste Instrumentarium dar. Es geht um
die Pfründe der empirischen Bildungsforschung, die nach Daten
giert, welche sich zeitgeistkonform interpretieren lassen;
es geht um eine Bildungspolitik, die über Bildung nicht mehr
nachdenken, sondern mit Zahlen versorgt werden will – was
immer diese auch bedeuten mögen; und es geht um die unstillbare
Sehnsucht nach Ranglisten, Spitzenplätzen und der
masochistischen Selbstanklage, wenn es dafür wieder einmal
nicht gereicht haben sollte: »Solange Menschen daran glauben,
dass ein einfaches Mehr an Pisa-Punkten besser sei als weniger,
um am Markt erfolgreich zu sein, werden sie alles daransetzen,
dieses Mehr zu erlangen. Bildung beugt sich unreflektiert
der Kraft des vergleichenden Maßes, selbst wenn dieses auf reinen
Behauptungen beruht.«3 Gelingt diese »Anpassung an eine
Scheinwelt« nicht, herrschen Handlungs- und Reformbedarf;
fehlen dafür auch noch vernünftige Konzepte, greifen Nervosität
und Hektik um sich.
Das alles ist kein Spiel. Verfolgt man das, was Bildungsdebatte
genannt wird, ist man deshalb wenig erstaunt von den
nervösen, ja martialischen Tönen, die hier angeschlagen werden.
Seit der Philosoph Georg Picht in den sechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts die deutsche »Bildungskatastrophe«
ausgerufen hatte,4 muss Bildung etwas sein, das die Menschen
in Notsituationen bringt und Angstzustände hervorruft. Bildung
scheint ein Gut zu sein, um das wütende Auseinandersetzungen
entbrannt sind, es gibt »Bildungsgewinner« und
»Bildungsverlierer«; liefern die internationalen Vergleichstests
wieder einmal wenig zufriedenstellende Ergebnisse, wird mit
»Bildungsoffensiven« reagiert; gleichzeitig »wappnen« sich die
Universitäten gegen den »Ansturm« der Studenten, während
Professoren und Jungforscher, letztere oft mit prekären Anstellungsverhältnissen,
im »internationalen Wettbewerb« um Reputation,
Stellen, Drittmittel und Publikationsplätze
»kämpfen«, um in den diversen Rankings zum Überholen anzusetzen
oder wenigstens nicht zurückzufallen. Prallen unterschiedliche
Reformkonzepte aufeinander, kommt es zum »Bildungskrieg«,
und in manchen Schulhöfen herrscht ohnehin die nackte Gewalt.
Aber natürlich müssen »Bildungsbarrieren« niedergerissen
und Bildungschancen eröffnet werden. Bildung scheint auf
einer unteren Ebene zu einem Überlebenstraining, auf einer
mittleren zu einem erbitterten Kampf um Chancen und Einkommen
und auf einer höheren zu einer sich immer schneller
drehenden Reformspirale geworden zu sein: G9, G8, G9,
Bologna hin, Bologna her, mehr Autonomie, weniger Autonomie,
aber immer: Misstrauen und Kontrolle.
Wer sich dem »Bildungsdruck« entzieht, gilt als »Bildungsverweigerer
« oder als »Risikoschüler«. Und wehe, jemand ist
überhaupt nur mittelmäßig! Bildung als Ressource – das bedeutet
auch: Talente müssen abgeschöpft werden, potentielles
Humankapital darf nicht brachliegen, jeder muss mitgenommen
werden, keiner darf zurückbleiben, aber man muss auch
hier wissen, wo es sich zu investieren lohnt. Aber wer weiß das
schon? Es wundert wenig, dass der Soziologe Heinz Bude die
Grundstimmung der vermeintlichen Wissensgesellschaft unter
dem Stichwort »Bildungspanik« beschreibt.
Diese Panik äußert sich prominent in der Bildungspolitik
selbst und in jenen Mittelschichten, für die Bildung als Garant
für Lebensstandard, beruflichen Erfolg, sozialen Status
und Aufstiegschancen eine bedeutende Rolle spielt. Auch wenn
in den Medien gerne der Eindruck kommuniziert wird, dass es
sich hier um einen breiten gesellschaftlichen Konsens handle,
stimmt dies nur in engen Grenzen. Die entscheidende Frage in
diesem Zusammenhang durfte und darf auch weiterhin nicht
gestellt werden: Dass Bildung nicht nur ein Recht ist, sondern
dass die – übrigens keineswegs zwingende Inanspruchnahme
dieses Rechts – auch Pflichten implizieren könnte. Nicht überall,
wo Bildung verweigert wird, liegt die Schuld am System
oder am Anbieter.
Bildung ist ein Mittelstandsphänomen. Für die Eliten ist
sie bedeutungslos, weil entweder selbstverständlich oder überflüssig.
Und die sogenannten bildungsfernen Schichten haben
andere Werte und Ideale, an denen sie ihre Lebensentwürfe
orientieren möchten. Nur die durch die Globalisierung bedrohte
Mittelschicht glaubt noch an ihre Chancen durch Bildung
und an einen sozialen Aufstieg durch das Sammeln von
ECTS-Punkten, Modulen und Zertifikaten. Gleichzeitig aber
scheinen diese Chancen von allen Seiten bedroht: Die Arbeitsplätze
für Maturanten (Abiturienten) und Akademiker werden
knapp, die Ausbildung wird schlechter, die Flut an akademischen
Abschlüssen aller Art entwertet diese, die Klagen der Unternehmen
über die Schwächen ihrer jungen Mitarbeiter häufen
sich, die Praktika und prekären Beschäftigungsverhältnisse
nehmen zu, und die Jagd nach zusätzlichen Qualifikationen,
die kaum noch etwas bringen, hat schon lange begonnen. Die
Mittelstandseltern drängen denn auch auf die Hyperqualifizierung
ihrer Kinder: Englisch im Kindergarten, Chinesisch in
der Vorschule, computer literacy ab der Geburt, und von allem
nur das Beste: an Kitas, Kindergärten, Grundschulen, Gymnasien,
Universitäten, Lehrern, Professoren, Standorten. Es wird
eng. Und wenn gar nichts mehr hilft, springt die Pharmaindustrie
ein. Den Körper ruhig stellen und das Hirn dopen – auch
das kann eine Bildungsperspektive sein.
Der andere Ort, an dem in regelmäßigen Wellen Panik ausbricht,
ist die Bildungspolitik selbst. Getrieben von den Geistern,
die sie rief und nun nicht mehr los wird – die empirische
Bildungsforschung –, ist sie nahezu im Tagesrhythmus
alarmierenden Botschaften ausgesetzt, auf die irgendwie hektisch
und planlos reagiert werden muss. Testergebnisse, Fallstudien,
die ständigen Ermahnungen der OECD, die guten Ratschläge
selbsternannter Bildungsexperten, die Erwartung, dass
Bildung nahezu gleichbedeutend ist mit ihrer Reform, der Versuch
jeder Regierung, irgendetwas im Bildungsbereich zu verändern,
und wenn es gar nicht anders geht, dann wieder einmal
die Lehrpläne, nicht zu vergessen die Aktivitäten, die gesetzt
werden müssen, um die schlimmsten Folgen vergangener Reformen
einigermaßen abzufedern: In Summe ergibt dies das
Bild eines haltlosen Aktionismus, der eine überbordende, kontrollierende,
evaluierende, steuernde und anlassbezogene Bürokratie
schafft, die Bildungsprozesse in der Regel eher sabotiert
denn befördert.
© Paul Zsolnay Verlag
- Autor: Konrad Paul Liessmann
- 2014, 4. Aufl., 192 Seiten, Maße: 13,2 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552057005
- ISBN-13: 9783552057005
- Erscheinungsdatum: 25.09.2014
"Eine brillant formulierte, amüsant polemisierende Attacke auf die Unbildung." Markus Schär, Weltwoche, 01.10.14
"Provozierend, klug und erfrischend." Lerke von Saalfeld, SWR2, 25.11.14
"Liessmanns umfassende Kritik ist nicht nur inhaltlich fundiert, sie wird auch den stilistischen und formalen Anforderungen gerecht, die man mit anspruchsvoller Essayistik verbindet." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 10.12.14
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