Gewaschen, gefüttert, abgehakt
Der unmenschliche Alltag in der mobilen Pflege
In Deutschland werden über eine Million Menschen zu Hause gepflegt. Doch was kaum bekannt ist: Gerade die mobile Pflege ist dramatisch unterfinanziert - mit katastrophalen Folgen für Pfleger und Gepflegten.
Undercover hat Autor Markus...
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Produktinformationen zu „Gewaschen, gefüttert, abgehakt “
In Deutschland werden über eine Million Menschen zu Hause gepflegt. Doch was kaum bekannt ist: Gerade die mobile Pflege ist dramatisch unterfinanziert - mit katastrophalen Folgen für Pfleger und Gepflegten.
Undercover hat Autor Markus Breitscheidel selbst erlebt, was es bedeutet, als mobiler Pfleger zu arbeiten.
Klappentext zu „Gewaschen, gefüttert, abgehakt “
'Über eine Million Menschen werden zu Hause gepflegt. Was kaum jemand weiß: Gerade die mobile Pflege ist dramatisch unterfinanziert. Die Folgen sind katastrophal. Markus Breitscheidel hat in seiner Undercover-Recherche selbst erlebt, was es heißt, als mobiler Pfleger zu arbeiten: Schlechte Bezahlung, Überstunden und Zeitdruck machen den Pflegern und den Hilfsbedürftigen das Leben zur Hölle. Hier zeigt sich unser sogenannter Sozialstaat von seiner schlechtesten Seite.Markus Breitscheidel entlarvt ein durch und durch krankes System, in dem die Alten von den Ausgebeuteten gepflegt werden und alle darunter zu leiden haben.
Lese-Probe zu „Gewaschen, gefüttert, abgehakt “
Gewaschen, gefüttert, abgehakt von Markus Breitscheidel»Ich fühlte mich wie im Gefängnis« - die Belastung der Angehörigen
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Am nächsten Tag stand zusätzlich zu den bisherigen pflegebedürftigen Menschen auch noch der 82-jährige Herr S. auf meiner Liste. Lediglich im zweitägigen Rhythmus wurde der durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmte Herr von einer Pflegekraft gewaschen oder geduscht. Im Gegensatz zu den bisherigen Kunden hatte Herr S. das Glück, noch seine zehn Jahre jüngere Ehefrau an seiner Seite zu haben. So spielte bei ihm die sonst so übliche Einsamkeit kaum eine Rolle, was man von seiner Ehefrau allerdings nicht behaupten konnte. Als ich die ziemlich modern ausgestattete Wohnung im Südosten von Hannover erreichte, empfing mich die Dame des Hauses schon etwas nervös vor der Haustür. Bepackt mit mehreren Einkaufstaschen und einer Klappbox, gefüllt mit leeren Pfandflaschen, stand sie bereits seit mehr als einer Stunde in den Startlöchern. Die Zeit hatte ich mal wieder dem Straßenverkehr opfern müssen, doch zu meiner Verwunderung war die alte Dame immer noch sehr freundlich und sichtbar glücklich, für eine kurze Zeit ihre Wohnung verlassen zu können. Frau S.:«Schön, dass Sie da sind. Sie kommen wegen der Pflege meines Mannes?« MB: »Ja, ich bin die neue Pflegekraft.« Frau S.:»Dass hier stetig neue Gesichter auftauchen, daran haben wir uns längst gewöhnt. Wir sind mittlerweile froh, dass überhaupt noch jemand kommt. Kommen Sie doch bitte herein, ich zeige Ihnen kurz das Notwendigste und stelle Sie meinem Mann vor.« In einer gewissen Routine führte sie mich durch die gesamte Wohnung und zeigte mir, wo ich die notwendigen Pflegeutensilien finden konnte. Im gut 25 Quadratmeter großen Wohnzimmer mit herrlicher Sonnenterrasse hatten sie genügend Platz für ein Pflegebett mit Anti-Dekubitus-Matratze und einen besonderen Pflegestuhl. Selbst einen Lift bekam ich zum ersten Mal seit Beginn meiner Recherche zu Gesicht. Mein Kunde war wirklich gut ausgestattet. Wie in einem Pflegeheim waren alle Pflegeutensilien vorhanden, und diese sollten mir die Arbeit erheblich erleichtern. Frau S.:»Ich muss jetzt schnell einkaufen. Tun Sie mir bitte den Gefallen, hier auf mich zu warten, auch wenn Sie mit der Pflegearbeit schon fertig sind. Wir dürfen meinen Mann nicht alleine lassen. Können Sie mir das versprechen?« MB: »Machen Sie sich keine Sorgen, ich bleibe hier, bis Sie zurück sind.« Schon verschwand sie hektisch im Treppenhaus, und ich wandte mich meiner eigentlichen Aufgabe zu, den alten Herrn in seinem Bett zu waschen und die Inkontinenzwindel zu wechseln. Der linksseitig gelähmte Herr war durchaus in der Lage, mich zu verstehen, allerdings war sein Sprachzentrum merklich betroffen. Selbst ein einfaches Ja oder Nein über die Lippen zu bringen, kostete ihn viel Kraft und es dauerte gefühlte fünf Minuten, bis er ein Wort über die Lippen brachte. Dabei lief sein Kopf feuerrot an, und er hustete recht heftig, bis er endlich mit einem fast schon blauen Kopf die zwei Buchstaben von sich gab.
Nach 15 Minuten hatte ich den Mann laut Plan versorgt, doch von seiner Frau war noch nichts zu sehen. So nahm ich zunächst auf dem Ikea-Sofa Platz und schaute mir die kleine und sehr persönliche Bildergalerie an der Wand an. Neben dem schon etwas vergilbten schwarz-weißen Hochzeitsfoto hing ein Foto des alten Herrn in jungen Jahren mit einem neugeborenen Kind in den Armen. Daneben mehrere glückliche Familienbilder von den verschiedensten Urlaubsorten
der ganzen Welt. Ganz rechts jedoch das scheinbar aktuellste Bild am Grab der eigenen Tochter.
Der alte Herr ließ mich nicht aus den Augen, und ein gewisses Misstrauen war zu spüren. Erst als nach weiteren 15 Minuten ein Schlüssel ins Schloss der Haustür gesteckt wurde, entspannte sich mein Kunde. Frau S.: »Ach, Sie sind noch da? Vielen Dank, dass Sie gewartet haben. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen, und einer muss doch einkaufen.« MB: »Kein Problem. Sie sind bestimmt belastet genug, oder?« Frau S.:»Ach, was soll ich jammern? Natürlich ist es nicht einfach, sich stetig um einen Menschen zu kümmern. Als mein Mann vor drei Jahren den ersten Schlaganfall hatte, war das schon ein Schock. Im Krankenhaus sollte ich dann die Entscheidung treffen, ob ich ihn selbst pflege oder in ein Heim gebe.« MB: »Schwierige Entscheidung. Was haben Sie gemacht?« Frau S.: »Zuerst entschied ich mich natürlich dafür, ihn selbst in unserer Wohnung zu versorgen. Es war mir damals gar nicht so richtig bewusst, was da alles auf mich zukommt. Das komplette Badezimmer wurde behindertengerecht umgebaut. In unserem Schlafzimmer war kein Platz für ein Pflegebett mit Rollstuhl, so musste ich auch noch aufs Wohnzimmer verzichten.« MB: »Entschuldigung, aber wer hat sich in dieser Zeit um die Pflege gekümmert?« Frau S.: »Auch das wollte ich zunächst alles alleine bewältigen. Ich belegte einen Abendkurs, während er sechs Wochen in der Reha war. Doch das ging nicht lange gut.« MB: »Warum?« Frau S.: »Bereits nach kurzer Zeit war ich mit meinen Kräften völlig am Ende. Dabei wurde ich selbst immer ungeduldiger mit meinem Mann und beschuldigte ihn, mein komplettes Leben in Beschlag zu nehmen. Ich hatte keine Zeit mehr, unseren Freundeskreis aufrecht zu erhalten, und fühlte mich teilweise wie in ein Gefängnis gesperrt. Erst als ich meine stetige Unzufriedenheit in einer heftigen Ohrfeige an meinem Mann entlud, wurde mir klar, dass ich mit der Aufgabe völlig überfordert war. Dabei führten gerade das Waschen und die Pflege des Intimbereichs immer wieder zu beiderseitiger Aggressionen.« MB:»Das war bestimmt für Sie beide eine sehr harte Zeit. Was haben Sie seither geändert?« Frau S.:»Zunächst war ich so wütend und gleichzeitig fertig mit den Nerven, dass ich ihn tatsächlich in ein Altenheim gegeben habe. Diese Entscheidung kann ich mir allerdings bis heute nicht verzeihen.« MB: »Warum das?« Frau S.: »Schon nach vier Wochen war er bis auf die Knochen abgemagert, und keiner hatte Zeit für ihn. Dabei musste ich knapp 4000 Euro pro Monat auf den Tisch legen, um zuzusehen, wie er langsam vor die Hunde geht. So entschied ich mich entgegen dem Rat meines Hausarztes, ihn wieder zurück in unsere Wohnung zu nehmen.« MB: »Was hatte Ihnen denn Ihr Arzt geraten?« Frau S.: »Dass ich bei der Entscheidung doch bitte auch an meine eigene Gesundheit denken soll. Er war sicher, dass ich die Belastung sowohl körperlich als auch seelisch nicht mehr verkraften konnte.« MB: »Und trotzdem hielten Sie an Ihrer Entscheidung fest?« Frau S.: »Wissen Sie, wir sind jetzt mehr als 60 Jahre verheiratet und immer gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Viel zu früh haben wir unser einziges Kind verloren und haben jetzt nur noch uns selbst. Wie kann ich ihn in einer solchen Situation alleine lassen? Das würde ich selbst auch nicht überstehen. Also blieb mir doch gar nichts anderes übrig, als meinen geliebten Mann wieder nach Hause zu nehmen. Diesmal beauftragte ich allerdings Ihre Firma mit der Pflege, um die schon erlebten und schmerzhaften Gewaltausbrüche zu verhindern.«
MB: »Und das hat funktioniert?« Frau S: »Zu unserem gemeinsamen Glück ist ja bis zum heutigen Tag alles gut gegangen.« MB:»Sehr schön, jetzt muss ich allerdings schnell weiter.« Frau S.: »Vielen Dank, dass Sie nicht nur gewartet, sondern auch so geduldig zugehört haben. Das hat mir persönlich sehr gut getan. Danke!« Erst nach mehr als 45 Minuten verließ ich die Wohnung und trug die zusätzliche halbe Stunde als unbezahlte Pause in meinen Tätigkeitsbericht ein.
Pfleger in der Leiharbeit - Fazit einer Arbeitswoche
Die erste Woche verging wie im Flug und schon war es Freitagnachmittag. Wie mit meiner Disponentin vereinbart, war es jetzt an der Zeit, die Stundenzettel im Büro meiner Leiharbeitsfirma abzugeben. In den ersten fünf Tagen hatte ich dabei die üblichen sechs Arbeitsstunden zuzüglich der jeweils zwei bis drei Überstunden pro Schicht auf dem Zettel notiert. Disp.: »Und wie war Ihre erste Woche?« MB: »Ganz schön anstrengend, und es dauert schon eine Weile, bis man sich orientiert hat und seine Route verinnerlicht.« Disp.: »Gut! Für die nächste Woche arbeiten Sie im Auftrag eines anderen Pflegeunternehmens. Ich möchte Sie bitten, am Montag um 5:30 Uhr bei Frau K. in der Nähe des Bahnhofs Ihren Dienst anzutreten.« MB: »Also wieder eine neue Route mit neuen Kunden?« Disp.: »So ist das eben in der Leiharbeit, daran werden Sie sich schon gewöhnen müssen.« MB: »Ja, dann ist es eben so. Schönes Wochenende und bis Freitag.« Man sollte sich als Pflegekraft nicht allzu sehr über ein freies Wochenende freuen, denn häufig kommt doch etwas dazwischen. Ich hatte mich für den freien Samstag mit einigen Freunden zum Fußball verabredet. Schon vor zwei Wochen hatten wir die Eintrittskarten für das Heimspiel von Hannover 96 gekauft und waren gerade auf dem Weg ins Stadion, als mein Mobiltelefon klingelte. Auf dem Display erschien die Nummer meiner Disponentin. Ich entschied, den Anruf zu ignorieren. Schließlich hatte ich die vereinbarten 30 Arbeitsstunden in der letzten Woche schon erheblich überschritten, und mein Körper wie auch meine Seele lechzten nach einer Pause. Während das Spiel lief, klingelte es mehrfach, und ich wunderte mich schon etwas über mich selbst, wie gelassen ich den Anruf ignorierte. Bei meiner Recherchearbeit in den Altenheimen wäre dies undenkbar gewesen. Damals hatte ich eine persönliche Beziehung zu den Bewohnern und auch zum Personal aufgebaut. Allein mein Verantwortungsgefühl diesen Menschen gegenüber hätte mich sofort zum Dienst getrieben. Doch hier war durch die stetige Anonymität alles anders. Es gab keine Kollegen, die ich persönlich kennengelernt hatte, und der Kontakt zu den Kunden war bisher viel zu kurz, um eine Bindung aufzubauen. So fiel es mir leicht, das Spiel mit meinen Freunden zu genießen und meinen Arbeitgeber für diesen Tag zu vergessen. Dies merkte meine Disponentin dann auch nach zwölf erfolglosen Versuchen.
Neue Woche - neue Pflegekunden
Am darauf folgenden Montag erschien ich wie immer pünktlich um 5:30 Uhr bei meinem neuen Auftraggeber, um den Frühdienst anzutreten. Die Geschäftsführerin des kleinen Pflegeunternehmens im Norden der Stadt empfing mich persönlich, stellte mir mit kurzen Worten ihren Betrieb vor, und
bereits nach 15 Minuten saß ich im kleinen Firmenwagen auf dem Weg zur ersten Kundin. Auf meiner Liste standen am heutigen Tag genau 16 Kunden, zehn mit Pflegestufe I und sechs mit Pflegestufe II. Die auf dem Arbeitszettel vorgegebenen Zeiten lagen wie üblich zwischen zehn und 20 Minuten.
Wenig später stand ich vor der Haustür von Herrn S. und klingelte, da uns dieser Kunde seinen Haustürschlüssel nicht anvertraut hatte. Doch selbst auf mein lautes Klopfen reagierte Herr S. nicht, und so rief ich zunächst meine Disponentin an. Sie gab mir dann zügig die Telefonnummer der Auftraggeberin, und ich meldete den Vorgang. MB: »Ich stehe hier gerade vor der Tür von Herrn S., und er öffnet nicht. Was soll ich jetzt tun?« AG: »Der ist bestimmt schon abgeholt worden. Fahren Sie zum nächsten Kunden!« MB: »Und was trage ich ein?« AG: »Dass der Kunde nicht anzutreffen ist.« MB: »Und was ist mit der Pflegezeit?« AG: »Die haben Sie nicht ausgeführt, und somit kann ich die auch nicht abrechnen.« MB: »Heißt, die 20 Minuten bekomme ich nicht bezahlt?« AG: »Das haben Sie schon richtig verstanden, und nun machen Sie sich bitte auf zum nächsten Kunden. Sie werden bereits erwartet.« Kopfschüttelnd beendete ich das Gespräch, und auf dem etwas längeren Weg zur nächsten Kundin regte ich mich gehörig über das gerade Erlebte auf. Das Gehalt war sowieso schon mehr als knapp bemessen, da konnte ich mir einen solchen Verdienstausfall nicht leisten. In meinen Augen war es geradezu untragbar, dass man in diesem Fall das unternehmerische Risiko ganz auf meine Schultern gelegt hatte. Dabei war ich bei dieser Firma nicht einmal angestellt. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Chefin des Pflegeunternehmens ihr eigentliches, von ihr allein zu tragendes, Risiko auf mich, die leihweise dort arbeitende Pflegekraft, abwälzte, machte mich sehr ärgerlich. Außerdem war ich felsenfest überzeugt, dass ihr Verhalten durch kein einzig geltendes Gesetz in unserem Land abgedeckt ist. Sie als Unternehmerin hat in diesem Fall selbstverständlich das Risiko für diese Art von Ausfall alleine zu tragen. So werden diese 20 Minuten zu einem
späteren Zeitpunkt noch für erheblichen Ärger sorgen. »Ich brauche dringend mein Insulin« - schwerwiegende Panne beim Pflegedienst Aber jetzt stand ich schon vor der nächsten Haustür, für die ich allerdings zu meinem Glück einen Schlüssel hatte. Die 78-jährige Frau B. erwartete mich schon sehnsüchtig. Dabei dachte die Diabetikerin, ich wäre die ausgebildete Kraft. Frau B.: »Schön, dass Sie da sind. Ich habe einen Bärenhunger und warte schon auf die üblichen Spritzen.« MB:»Tut mir leid, aber ich bin nur Hilfskraft und lediglich zum Waschen hier.« Frau B.: »Na toll. Mir knurrt der Magen, und vor der Spritze darf ich nichts essen.« MB: »Da müssen Sie sich noch ein wenig gedulden.« Inzwischen hatte ich die recht wackelig laufende Frau in das Badezimmer begleitet und ihr schon auf dem Weg Jacke und Pullover ausgezogen. Wie üblich, eine schnelle Katzenwäsche am Waschbecken, und während sich die alte Dame selbst kämmte, war ich in ihrem Kleiderschrank bereits auf der Suche nach Unterhemd und frischer Bluse. So war nach 15 Minuten mein Einsatz erledigt. Als ich die alte Dame wieder zurück in ihr Wohnzimmer bringen wollte, fragte sie: Frau B.: »Und was ist mit meinen Beinen?« MB: »Die sind morgen wieder an der Reihe. Für heute stand nur die kleine Wäsche auf dem Programm.« Frau B.: »Nein, waschen meine ich auch nicht. Die müssen jeden Morgen anständig verbunden werden.« MB: »Oh, damit müssen Sie sich gedulden, bis die ausgebildete Kraft kommt. Das darf ich gar nicht machen.« Frau B.: »Also soll ich jetzt hier warten? Wann kommt denn der Kollege?« MB: »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Frau B.: »Na toll. Ich habe eine schwere Diabetes und benötige dringend mein Insulin. Sie können mich doch nicht so alleine sitzen lassen.« Doch das musste ich, denn es standen schließlich noch weitere 14 Kunden auf meiner Liste, die genauso dringend auf mich warteten. Zur Beruhigung der alten Dame rief ich allerdings kurz im Büro an, um die Sache zu klären. Die Geschäftsführerin bat mich, beruhigend auf Frau B. einzuwirken und ihr zu versprechen, dass die examinierte Kraft bereits auf dem Weg sei. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend verließ ich ihre Wohnung und machte mich auf den Weg zu weiteren Kunden.
Kurz vor der Mittagspause hatte ich einen Einsatz bei Frau S., die zufällig im gegenüberliegenden Wohnblock von Frau B. wohnte. Ich hatte die Kundin wie üblich im rasanten Stil nahezu mechanisch in zwölf Minuten abgefertigt. Der Gedanke an Frau B. ließ mich aber nicht los. Ich machte mir immer noch Sorgen. War die examinierte Kraft schon bei ihr gewesen? Ich wollte es genau wissen und war bereit, wieder einmal auf meine Pause zu verzichten. So klingelte ich bei Frau B., öffnete mit dem Schlüssel ihre Haustür und hörte schon ihr lautes Seufzen aus dem Wohnzimmer. Frau B: »Endlich sind Sie da. Ich brauche dringend mein Insulin.« Erst als ich ins Zimmer kam, bemerkte sie, dass ich nicht die erwartete Person war, die sie endlich behandeln würde. Frau B:»Ach, Sie sind es schon wieder. Sie haben mir doch versprochen, dass ihre Kollegin bald kommt. Wo ist sie?« MB: »Keine Ahnung, aber ich rufe gleich noch einmal im Büro an.« Während ich zum Mobiltelefon griff, merkte ich am Zustand der Frau, dass es nun wirklich dringend an der Zeit war für ihr Insulin, dabei hatte ich ihre Beine bisher noch nicht gesehen. MB: »Ja, hier bin ich schon wieder. Das ist ja kein guter erster Tag. Hier sitzt immer noch Frau B. und wartet auf die Examinierte. Wo bleibt die Kollegin?« GF: »Oh, die hat sich zwischendurch krank gemeldet. Ich besorge gerade Ersatz.« MB: »Das sollten Sie aber sehr schnell erledigen, denn die alte Dame wartet dringend auf ihr Insulin. Aber das müssen Sie doch wissen!« GF: »Ja natürlich, aber was bleibt mir übrig?« MB: »Vielleicht sollten Sie mal auf die Idee kommen, sich selbst auf den Weg zu machen. Denn nicht nur Frau B. fehlt bisher die medizinische Versorgung, die anderen Patienten, bei denen ich war, warten auch noch. Ihre Gelassenheit wundert mich dabei schon.« GF: »Das müssen Sie mir überlassen, schließlich bin ich die Geschäftsführerin. Sie machen Ihre Arbeit jetzt gefälligst weiter, und um den Rest bemühe ich mich.« MB: »Das werde ich tun, aber verlassen Sie sich darauf, dass ich in spätestens einer Stunde wieder hier bin.« Während des Gesprächs saß die alte Dame mir gegenüber und merkte, dass hier ein Mensch war, dem sie vertrauen konnte. Ich versprach ihr, nach spätestens einer Stunde wieder vorbeizuschauen. Als ich nach der Pflege von drei weiteren Kunden in ihre Wohnung kam, war immer noch nichts geschehen. Mittlerweile hatte Frau B. sich die Beinverbände selbst abgewickelt und saß immer noch auf dem Fernsehsessel in ihrem Wohnzimmer. Erst jetzt wurde mir das ganze Ausmaß der Unterversorgung bewusst. Beide Beine der alten Dame waren völlig offen, und einzelne Hautfetzen hatten sich bereits gelöst. Sie selbst war am ganzen Körper sehr kaltschweißig, und ich befürchtete einen baldigen Zuckerschock. Zudem hatte sie bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Nahrungsmittel zu sich genommen. Auf ihrem Esstisch in der Küche stand neben dem frischen Brötchen vom geplanten Frühstück schon das Mittagessen von »Essen auf Rädern«. Jetzt ging mir die Geduld mehr und mehr verloren, wütend versuchte ich, den Pflegedienst nochmals zu erreichen. MB: »Also, meine Geduld hat jetzt hier ein Ende! Ich werde hier bei Frau B. noch genau 15 Minuten auf eine Examinierte warten, danach werde ich sofort den Notarzt alarmieren.« GF: »Was machen Sie da eigentlich noch, das ist doch gar nicht Ihre Aufgabe. Überlassen Sie das wohl mir.« MB: »Nein, Sie haben mir heute genügend vorgespielt. Ich weiß, dass ich Ihnen zwar weisungsgebunden bin, obwohl Sie nicht meine Chefin sind. Doch auch wenn ich nur Leiharbeiter bin, können Sie sicher sein, dass ich die Verantwortung für Frau B. übernehme.« GF: »Ich habe Ihnen doch deutlich gesagt, dass Sie da nichts mehr zu suchen haben. Machen Sie weiter mit Ihrer Arbeit, aber sofort!« MB: »Nein, für Ihr Unternehmen garantiert nicht mehr. Ich warte genau noch 13 Minuten!« GF: »Das ist wohl eine Frechheit. Ich werde sofort Ihre Disponentin anrufen, dann sind Sie Ihren Job los.« MB: »Jetzt ist Feierabend. Ich werde jetzt gleich ein paar Fotos vom Zustand der alten Dame machen, und Sie haben genau noch 12 Minuten, dann werde ich auch noch die Polizei einschalten.«
Wütend knallte ich mein Handy auf den Tisch. Wenige Minuten später klingelte es an der Haustür von Frau B., und die völlig gestresste Geschäftsführerin stand mit hochrotem Kopf vor mir. Ich musste mich ernsthaft kontrollieren und tief durchatmen, sonst wäre mir sehr wahrscheinlich noch die Hand ausgerutscht. Doch im Hinblick auf die immer schwächer werdende alte Dame, die mittlerweile bereits am ganzen Körper zitterte, mäßigte ich mich. In aller Ruhe unterstützte ich die Geschäftsführerin beim Anlegen des neuen Verbands und half nach der Insulinspritze auch noch beim Anziehen. Nach bereits zehn Minuten war alles erledigt, und Frau B. machte jetzt schon einen weitaus ruhigeren Eindruck. Gemeinsam mit der Geschäftsführerin verließ ich die Wohnung und folgte ihr bis zum Parkplatz, wo ich den kleinen Firmenwagen abgestellt hatte. GF: »So, dann können Sie jetzt wohl weitermachen, oder?« MB: »Nein, ganz bestimmt nicht! Für ein solches Unternehmen werde ich sicher keine einzige Minute mehr arbeiten. Hier sind die restlichen Wohnungsschlüssel, und den Wagen fahre ich Ihnen auch noch zurück.« GF: »Was ist mit den restlichen Kunden auf Ihrer Liste?«
MB: »Die können Sie selbst abarbeiten, schließlich sind das Ihre Kunden. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass Sie die auch mal kennenlernen. Viel Spaß dabei!« GF: »So etwas habe ich noch nicht erlebt! Ich werde mich bei Ihrer Firma beschweren!« MB: »Tun Sie das, und tschüss!« Dabei warf ich ihr die restlichen Wohnungsschlüssel vor die Füße und ließ die wütende Geschäftsführerin alleine auf dem Parkplatz zurück. Wenige Minuten später klingelte mein Telefon, und meine Disponentin beorderte mich in ihr Büro. Also fuhr ich noch schnell den Wagen zurück vor das Büro des ambulanten Dienstes und machte mich gespannt auf den Weg zu meiner wirklichen Chefin. Diese erwartete mich bereits mit meiner Personalakte auf ihrem Schreibtisch. Innerlich hatte ich mich schon von meiner neuen Arbeitsstelle verabschiedet, doch es sollte noch ein wenig dauern, bis mir die Kündigung ausgesprochen wurde.
Am nächsten Tag stand zusätzlich zu den bisherigen pflegebedürftigen Menschen auch noch der 82-jährige Herr S. auf meiner Liste. Lediglich im zweitägigen Rhythmus wurde der durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmte Herr von einer Pflegekraft gewaschen oder geduscht. Im Gegensatz zu den bisherigen Kunden hatte Herr S. das Glück, noch seine zehn Jahre jüngere Ehefrau an seiner Seite zu haben. So spielte bei ihm die sonst so übliche Einsamkeit kaum eine Rolle, was man von seiner Ehefrau allerdings nicht behaupten konnte. Als ich die ziemlich modern ausgestattete Wohnung im Südosten von Hannover erreichte, empfing mich die Dame des Hauses schon etwas nervös vor der Haustür. Bepackt mit mehreren Einkaufstaschen und einer Klappbox, gefüllt mit leeren Pfandflaschen, stand sie bereits seit mehr als einer Stunde in den Startlöchern. Die Zeit hatte ich mal wieder dem Straßenverkehr opfern müssen, doch zu meiner Verwunderung war die alte Dame immer noch sehr freundlich und sichtbar glücklich, für eine kurze Zeit ihre Wohnung verlassen zu können. Frau S.:«Schön, dass Sie da sind. Sie kommen wegen der Pflege meines Mannes?« MB: »Ja, ich bin die neue Pflegekraft.« Frau S.:»Dass hier stetig neue Gesichter auftauchen, daran haben wir uns längst gewöhnt. Wir sind mittlerweile froh, dass überhaupt noch jemand kommt. Kommen Sie doch bitte herein, ich zeige Ihnen kurz das Notwendigste und stelle Sie meinem Mann vor.« In einer gewissen Routine führte sie mich durch die gesamte Wohnung und zeigte mir, wo ich die notwendigen Pflegeutensilien finden konnte. Im gut 25 Quadratmeter großen Wohnzimmer mit herrlicher Sonnenterrasse hatten sie genügend Platz für ein Pflegebett mit Anti-Dekubitus-Matratze und einen besonderen Pflegestuhl. Selbst einen Lift bekam ich zum ersten Mal seit Beginn meiner Recherche zu Gesicht. Mein Kunde war wirklich gut ausgestattet. Wie in einem Pflegeheim waren alle Pflegeutensilien vorhanden, und diese sollten mir die Arbeit erheblich erleichtern. Frau S.:»Ich muss jetzt schnell einkaufen. Tun Sie mir bitte den Gefallen, hier auf mich zu warten, auch wenn Sie mit der Pflegearbeit schon fertig sind. Wir dürfen meinen Mann nicht alleine lassen. Können Sie mir das versprechen?« MB: »Machen Sie sich keine Sorgen, ich bleibe hier, bis Sie zurück sind.« Schon verschwand sie hektisch im Treppenhaus, und ich wandte mich meiner eigentlichen Aufgabe zu, den alten Herrn in seinem Bett zu waschen und die Inkontinenzwindel zu wechseln. Der linksseitig gelähmte Herr war durchaus in der Lage, mich zu verstehen, allerdings war sein Sprachzentrum merklich betroffen. Selbst ein einfaches Ja oder Nein über die Lippen zu bringen, kostete ihn viel Kraft und es dauerte gefühlte fünf Minuten, bis er ein Wort über die Lippen brachte. Dabei lief sein Kopf feuerrot an, und er hustete recht heftig, bis er endlich mit einem fast schon blauen Kopf die zwei Buchstaben von sich gab.
Nach 15 Minuten hatte ich den Mann laut Plan versorgt, doch von seiner Frau war noch nichts zu sehen. So nahm ich zunächst auf dem Ikea-Sofa Platz und schaute mir die kleine und sehr persönliche Bildergalerie an der Wand an. Neben dem schon etwas vergilbten schwarz-weißen Hochzeitsfoto hing ein Foto des alten Herrn in jungen Jahren mit einem neugeborenen Kind in den Armen. Daneben mehrere glückliche Familienbilder von den verschiedensten Urlaubsorten
der ganzen Welt. Ganz rechts jedoch das scheinbar aktuellste Bild am Grab der eigenen Tochter.
Der alte Herr ließ mich nicht aus den Augen, und ein gewisses Misstrauen war zu spüren. Erst als nach weiteren 15 Minuten ein Schlüssel ins Schloss der Haustür gesteckt wurde, entspannte sich mein Kunde. Frau S.: »Ach, Sie sind noch da? Vielen Dank, dass Sie gewartet haben. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen, und einer muss doch einkaufen.« MB: »Kein Problem. Sie sind bestimmt belastet genug, oder?« Frau S.:»Ach, was soll ich jammern? Natürlich ist es nicht einfach, sich stetig um einen Menschen zu kümmern. Als mein Mann vor drei Jahren den ersten Schlaganfall hatte, war das schon ein Schock. Im Krankenhaus sollte ich dann die Entscheidung treffen, ob ich ihn selbst pflege oder in ein Heim gebe.« MB: »Schwierige Entscheidung. Was haben Sie gemacht?« Frau S.: »Zuerst entschied ich mich natürlich dafür, ihn selbst in unserer Wohnung zu versorgen. Es war mir damals gar nicht so richtig bewusst, was da alles auf mich zukommt. Das komplette Badezimmer wurde behindertengerecht umgebaut. In unserem Schlafzimmer war kein Platz für ein Pflegebett mit Rollstuhl, so musste ich auch noch aufs Wohnzimmer verzichten.« MB: »Entschuldigung, aber wer hat sich in dieser Zeit um die Pflege gekümmert?« Frau S.: »Auch das wollte ich zunächst alles alleine bewältigen. Ich belegte einen Abendkurs, während er sechs Wochen in der Reha war. Doch das ging nicht lange gut.« MB: »Warum?« Frau S.: »Bereits nach kurzer Zeit war ich mit meinen Kräften völlig am Ende. Dabei wurde ich selbst immer ungeduldiger mit meinem Mann und beschuldigte ihn, mein komplettes Leben in Beschlag zu nehmen. Ich hatte keine Zeit mehr, unseren Freundeskreis aufrecht zu erhalten, und fühlte mich teilweise wie in ein Gefängnis gesperrt. Erst als ich meine stetige Unzufriedenheit in einer heftigen Ohrfeige an meinem Mann entlud, wurde mir klar, dass ich mit der Aufgabe völlig überfordert war. Dabei führten gerade das Waschen und die Pflege des Intimbereichs immer wieder zu beiderseitiger Aggressionen.« MB:»Das war bestimmt für Sie beide eine sehr harte Zeit. Was haben Sie seither geändert?« Frau S.:»Zunächst war ich so wütend und gleichzeitig fertig mit den Nerven, dass ich ihn tatsächlich in ein Altenheim gegeben habe. Diese Entscheidung kann ich mir allerdings bis heute nicht verzeihen.« MB: »Warum das?« Frau S.: »Schon nach vier Wochen war er bis auf die Knochen abgemagert, und keiner hatte Zeit für ihn. Dabei musste ich knapp 4000 Euro pro Monat auf den Tisch legen, um zuzusehen, wie er langsam vor die Hunde geht. So entschied ich mich entgegen dem Rat meines Hausarztes, ihn wieder zurück in unsere Wohnung zu nehmen.« MB: »Was hatte Ihnen denn Ihr Arzt geraten?« Frau S.: »Dass ich bei der Entscheidung doch bitte auch an meine eigene Gesundheit denken soll. Er war sicher, dass ich die Belastung sowohl körperlich als auch seelisch nicht mehr verkraften konnte.« MB: »Und trotzdem hielten Sie an Ihrer Entscheidung fest?« Frau S.: »Wissen Sie, wir sind jetzt mehr als 60 Jahre verheiratet und immer gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Viel zu früh haben wir unser einziges Kind verloren und haben jetzt nur noch uns selbst. Wie kann ich ihn in einer solchen Situation alleine lassen? Das würde ich selbst auch nicht überstehen. Also blieb mir doch gar nichts anderes übrig, als meinen geliebten Mann wieder nach Hause zu nehmen. Diesmal beauftragte ich allerdings Ihre Firma mit der Pflege, um die schon erlebten und schmerzhaften Gewaltausbrüche zu verhindern.«
MB: »Und das hat funktioniert?« Frau S: »Zu unserem gemeinsamen Glück ist ja bis zum heutigen Tag alles gut gegangen.« MB:»Sehr schön, jetzt muss ich allerdings schnell weiter.« Frau S.: »Vielen Dank, dass Sie nicht nur gewartet, sondern auch so geduldig zugehört haben. Das hat mir persönlich sehr gut getan. Danke!« Erst nach mehr als 45 Minuten verließ ich die Wohnung und trug die zusätzliche halbe Stunde als unbezahlte Pause in meinen Tätigkeitsbericht ein.
Pfleger in der Leiharbeit - Fazit einer Arbeitswoche
Die erste Woche verging wie im Flug und schon war es Freitagnachmittag. Wie mit meiner Disponentin vereinbart, war es jetzt an der Zeit, die Stundenzettel im Büro meiner Leiharbeitsfirma abzugeben. In den ersten fünf Tagen hatte ich dabei die üblichen sechs Arbeitsstunden zuzüglich der jeweils zwei bis drei Überstunden pro Schicht auf dem Zettel notiert. Disp.: »Und wie war Ihre erste Woche?« MB: »Ganz schön anstrengend, und es dauert schon eine Weile, bis man sich orientiert hat und seine Route verinnerlicht.« Disp.: »Gut! Für die nächste Woche arbeiten Sie im Auftrag eines anderen Pflegeunternehmens. Ich möchte Sie bitten, am Montag um 5:30 Uhr bei Frau K. in der Nähe des Bahnhofs Ihren Dienst anzutreten.« MB: »Also wieder eine neue Route mit neuen Kunden?« Disp.: »So ist das eben in der Leiharbeit, daran werden Sie sich schon gewöhnen müssen.« MB: »Ja, dann ist es eben so. Schönes Wochenende und bis Freitag.« Man sollte sich als Pflegekraft nicht allzu sehr über ein freies Wochenende freuen, denn häufig kommt doch etwas dazwischen. Ich hatte mich für den freien Samstag mit einigen Freunden zum Fußball verabredet. Schon vor zwei Wochen hatten wir die Eintrittskarten für das Heimspiel von Hannover 96 gekauft und waren gerade auf dem Weg ins Stadion, als mein Mobiltelefon klingelte. Auf dem Display erschien die Nummer meiner Disponentin. Ich entschied, den Anruf zu ignorieren. Schließlich hatte ich die vereinbarten 30 Arbeitsstunden in der letzten Woche schon erheblich überschritten, und mein Körper wie auch meine Seele lechzten nach einer Pause. Während das Spiel lief, klingelte es mehrfach, und ich wunderte mich schon etwas über mich selbst, wie gelassen ich den Anruf ignorierte. Bei meiner Recherchearbeit in den Altenheimen wäre dies undenkbar gewesen. Damals hatte ich eine persönliche Beziehung zu den Bewohnern und auch zum Personal aufgebaut. Allein mein Verantwortungsgefühl diesen Menschen gegenüber hätte mich sofort zum Dienst getrieben. Doch hier war durch die stetige Anonymität alles anders. Es gab keine Kollegen, die ich persönlich kennengelernt hatte, und der Kontakt zu den Kunden war bisher viel zu kurz, um eine Bindung aufzubauen. So fiel es mir leicht, das Spiel mit meinen Freunden zu genießen und meinen Arbeitgeber für diesen Tag zu vergessen. Dies merkte meine Disponentin dann auch nach zwölf erfolglosen Versuchen.
Neue Woche - neue Pflegekunden
Am darauf folgenden Montag erschien ich wie immer pünktlich um 5:30 Uhr bei meinem neuen Auftraggeber, um den Frühdienst anzutreten. Die Geschäftsführerin des kleinen Pflegeunternehmens im Norden der Stadt empfing mich persönlich, stellte mir mit kurzen Worten ihren Betrieb vor, und
bereits nach 15 Minuten saß ich im kleinen Firmenwagen auf dem Weg zur ersten Kundin. Auf meiner Liste standen am heutigen Tag genau 16 Kunden, zehn mit Pflegestufe I und sechs mit Pflegestufe II. Die auf dem Arbeitszettel vorgegebenen Zeiten lagen wie üblich zwischen zehn und 20 Minuten.
Wenig später stand ich vor der Haustür von Herrn S. und klingelte, da uns dieser Kunde seinen Haustürschlüssel nicht anvertraut hatte. Doch selbst auf mein lautes Klopfen reagierte Herr S. nicht, und so rief ich zunächst meine Disponentin an. Sie gab mir dann zügig die Telefonnummer der Auftraggeberin, und ich meldete den Vorgang. MB: »Ich stehe hier gerade vor der Tür von Herrn S., und er öffnet nicht. Was soll ich jetzt tun?« AG: »Der ist bestimmt schon abgeholt worden. Fahren Sie zum nächsten Kunden!« MB: »Und was trage ich ein?« AG: »Dass der Kunde nicht anzutreffen ist.« MB: »Und was ist mit der Pflegezeit?« AG: »Die haben Sie nicht ausgeführt, und somit kann ich die auch nicht abrechnen.« MB: »Heißt, die 20 Minuten bekomme ich nicht bezahlt?« AG: »Das haben Sie schon richtig verstanden, und nun machen Sie sich bitte auf zum nächsten Kunden. Sie werden bereits erwartet.« Kopfschüttelnd beendete ich das Gespräch, und auf dem etwas längeren Weg zur nächsten Kundin regte ich mich gehörig über das gerade Erlebte auf. Das Gehalt war sowieso schon mehr als knapp bemessen, da konnte ich mir einen solchen Verdienstausfall nicht leisten. In meinen Augen war es geradezu untragbar, dass man in diesem Fall das unternehmerische Risiko ganz auf meine Schultern gelegt hatte. Dabei war ich bei dieser Firma nicht einmal angestellt. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Chefin des Pflegeunternehmens ihr eigentliches, von ihr allein zu tragendes, Risiko auf mich, die leihweise dort arbeitende Pflegekraft, abwälzte, machte mich sehr ärgerlich. Außerdem war ich felsenfest überzeugt, dass ihr Verhalten durch kein einzig geltendes Gesetz in unserem Land abgedeckt ist. Sie als Unternehmerin hat in diesem Fall selbstverständlich das Risiko für diese Art von Ausfall alleine zu tragen. So werden diese 20 Minuten zu einem
späteren Zeitpunkt noch für erheblichen Ärger sorgen. »Ich brauche dringend mein Insulin« - schwerwiegende Panne beim Pflegedienst Aber jetzt stand ich schon vor der nächsten Haustür, für die ich allerdings zu meinem Glück einen Schlüssel hatte. Die 78-jährige Frau B. erwartete mich schon sehnsüchtig. Dabei dachte die Diabetikerin, ich wäre die ausgebildete Kraft. Frau B.: »Schön, dass Sie da sind. Ich habe einen Bärenhunger und warte schon auf die üblichen Spritzen.« MB:»Tut mir leid, aber ich bin nur Hilfskraft und lediglich zum Waschen hier.« Frau B.: »Na toll. Mir knurrt der Magen, und vor der Spritze darf ich nichts essen.« MB: »Da müssen Sie sich noch ein wenig gedulden.« Inzwischen hatte ich die recht wackelig laufende Frau in das Badezimmer begleitet und ihr schon auf dem Weg Jacke und Pullover ausgezogen. Wie üblich, eine schnelle Katzenwäsche am Waschbecken, und während sich die alte Dame selbst kämmte, war ich in ihrem Kleiderschrank bereits auf der Suche nach Unterhemd und frischer Bluse. So war nach 15 Minuten mein Einsatz erledigt. Als ich die alte Dame wieder zurück in ihr Wohnzimmer bringen wollte, fragte sie: Frau B.: »Und was ist mit meinen Beinen?« MB: »Die sind morgen wieder an der Reihe. Für heute stand nur die kleine Wäsche auf dem Programm.« Frau B.: »Nein, waschen meine ich auch nicht. Die müssen jeden Morgen anständig verbunden werden.« MB: »Oh, damit müssen Sie sich gedulden, bis die ausgebildete Kraft kommt. Das darf ich gar nicht machen.« Frau B.: »Also soll ich jetzt hier warten? Wann kommt denn der Kollege?« MB: »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Frau B.: »Na toll. Ich habe eine schwere Diabetes und benötige dringend mein Insulin. Sie können mich doch nicht so alleine sitzen lassen.« Doch das musste ich, denn es standen schließlich noch weitere 14 Kunden auf meiner Liste, die genauso dringend auf mich warteten. Zur Beruhigung der alten Dame rief ich allerdings kurz im Büro an, um die Sache zu klären. Die Geschäftsführerin bat mich, beruhigend auf Frau B. einzuwirken und ihr zu versprechen, dass die examinierte Kraft bereits auf dem Weg sei. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend verließ ich ihre Wohnung und machte mich auf den Weg zu weiteren Kunden.
Kurz vor der Mittagspause hatte ich einen Einsatz bei Frau S., die zufällig im gegenüberliegenden Wohnblock von Frau B. wohnte. Ich hatte die Kundin wie üblich im rasanten Stil nahezu mechanisch in zwölf Minuten abgefertigt. Der Gedanke an Frau B. ließ mich aber nicht los. Ich machte mir immer noch Sorgen. War die examinierte Kraft schon bei ihr gewesen? Ich wollte es genau wissen und war bereit, wieder einmal auf meine Pause zu verzichten. So klingelte ich bei Frau B., öffnete mit dem Schlüssel ihre Haustür und hörte schon ihr lautes Seufzen aus dem Wohnzimmer. Frau B: »Endlich sind Sie da. Ich brauche dringend mein Insulin.« Erst als ich ins Zimmer kam, bemerkte sie, dass ich nicht die erwartete Person war, die sie endlich behandeln würde. Frau B:»Ach, Sie sind es schon wieder. Sie haben mir doch versprochen, dass ihre Kollegin bald kommt. Wo ist sie?« MB: »Keine Ahnung, aber ich rufe gleich noch einmal im Büro an.« Während ich zum Mobiltelefon griff, merkte ich am Zustand der Frau, dass es nun wirklich dringend an der Zeit war für ihr Insulin, dabei hatte ich ihre Beine bisher noch nicht gesehen. MB: »Ja, hier bin ich schon wieder. Das ist ja kein guter erster Tag. Hier sitzt immer noch Frau B. und wartet auf die Examinierte. Wo bleibt die Kollegin?« GF: »Oh, die hat sich zwischendurch krank gemeldet. Ich besorge gerade Ersatz.« MB: »Das sollten Sie aber sehr schnell erledigen, denn die alte Dame wartet dringend auf ihr Insulin. Aber das müssen Sie doch wissen!« GF: »Ja natürlich, aber was bleibt mir übrig?« MB: »Vielleicht sollten Sie mal auf die Idee kommen, sich selbst auf den Weg zu machen. Denn nicht nur Frau B. fehlt bisher die medizinische Versorgung, die anderen Patienten, bei denen ich war, warten auch noch. Ihre Gelassenheit wundert mich dabei schon.« GF: »Das müssen Sie mir überlassen, schließlich bin ich die Geschäftsführerin. Sie machen Ihre Arbeit jetzt gefälligst weiter, und um den Rest bemühe ich mich.« MB: »Das werde ich tun, aber verlassen Sie sich darauf, dass ich in spätestens einer Stunde wieder hier bin.« Während des Gesprächs saß die alte Dame mir gegenüber und merkte, dass hier ein Mensch war, dem sie vertrauen konnte. Ich versprach ihr, nach spätestens einer Stunde wieder vorbeizuschauen. Als ich nach der Pflege von drei weiteren Kunden in ihre Wohnung kam, war immer noch nichts geschehen. Mittlerweile hatte Frau B. sich die Beinverbände selbst abgewickelt und saß immer noch auf dem Fernsehsessel in ihrem Wohnzimmer. Erst jetzt wurde mir das ganze Ausmaß der Unterversorgung bewusst. Beide Beine der alten Dame waren völlig offen, und einzelne Hautfetzen hatten sich bereits gelöst. Sie selbst war am ganzen Körper sehr kaltschweißig, und ich befürchtete einen baldigen Zuckerschock. Zudem hatte sie bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Nahrungsmittel zu sich genommen. Auf ihrem Esstisch in der Küche stand neben dem frischen Brötchen vom geplanten Frühstück schon das Mittagessen von »Essen auf Rädern«. Jetzt ging mir die Geduld mehr und mehr verloren, wütend versuchte ich, den Pflegedienst nochmals zu erreichen. MB: »Also, meine Geduld hat jetzt hier ein Ende! Ich werde hier bei Frau B. noch genau 15 Minuten auf eine Examinierte warten, danach werde ich sofort den Notarzt alarmieren.« GF: »Was machen Sie da eigentlich noch, das ist doch gar nicht Ihre Aufgabe. Überlassen Sie das wohl mir.« MB: »Nein, Sie haben mir heute genügend vorgespielt. Ich weiß, dass ich Ihnen zwar weisungsgebunden bin, obwohl Sie nicht meine Chefin sind. Doch auch wenn ich nur Leiharbeiter bin, können Sie sicher sein, dass ich die Verantwortung für Frau B. übernehme.« GF: »Ich habe Ihnen doch deutlich gesagt, dass Sie da nichts mehr zu suchen haben. Machen Sie weiter mit Ihrer Arbeit, aber sofort!« MB: »Nein, für Ihr Unternehmen garantiert nicht mehr. Ich warte genau noch 13 Minuten!« GF: »Das ist wohl eine Frechheit. Ich werde sofort Ihre Disponentin anrufen, dann sind Sie Ihren Job los.« MB: »Jetzt ist Feierabend. Ich werde jetzt gleich ein paar Fotos vom Zustand der alten Dame machen, und Sie haben genau noch 12 Minuten, dann werde ich auch noch die Polizei einschalten.«
Wütend knallte ich mein Handy auf den Tisch. Wenige Minuten später klingelte es an der Haustür von Frau B., und die völlig gestresste Geschäftsführerin stand mit hochrotem Kopf vor mir. Ich musste mich ernsthaft kontrollieren und tief durchatmen, sonst wäre mir sehr wahrscheinlich noch die Hand ausgerutscht. Doch im Hinblick auf die immer schwächer werdende alte Dame, die mittlerweile bereits am ganzen Körper zitterte, mäßigte ich mich. In aller Ruhe unterstützte ich die Geschäftsführerin beim Anlegen des neuen Verbands und half nach der Insulinspritze auch noch beim Anziehen. Nach bereits zehn Minuten war alles erledigt, und Frau B. machte jetzt schon einen weitaus ruhigeren Eindruck. Gemeinsam mit der Geschäftsführerin verließ ich die Wohnung und folgte ihr bis zum Parkplatz, wo ich den kleinen Firmenwagen abgestellt hatte. GF: »So, dann können Sie jetzt wohl weitermachen, oder?« MB: »Nein, ganz bestimmt nicht! Für ein solches Unternehmen werde ich sicher keine einzige Minute mehr arbeiten. Hier sind die restlichen Wohnungsschlüssel, und den Wagen fahre ich Ihnen auch noch zurück.« GF: »Was ist mit den restlichen Kunden auf Ihrer Liste?«
MB: »Die können Sie selbst abarbeiten, schließlich sind das Ihre Kunden. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass Sie die auch mal kennenlernen. Viel Spaß dabei!« GF: »So etwas habe ich noch nicht erlebt! Ich werde mich bei Ihrer Firma beschweren!« MB: »Tun Sie das, und tschüss!« Dabei warf ich ihr die restlichen Wohnungsschlüssel vor die Füße und ließ die wütende Geschäftsführerin alleine auf dem Parkplatz zurück. Wenige Minuten später klingelte mein Telefon, und meine Disponentin beorderte mich in ihr Büro. Also fuhr ich noch schnell den Wagen zurück vor das Büro des ambulanten Dienstes und machte mich gespannt auf den Weg zu meiner wirklichen Chefin. Diese erwartete mich bereits mit meiner Personalakte auf ihrem Schreibtisch. Innerlich hatte ich mich schon von meiner neuen Arbeitsstelle verabschiedet, doch es sollte noch ein wenig dauern, bis mir die Kündigung ausgesprochen wurde.
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Autoren-Porträt von Markus Breitscheidel
Markus Breitscheidel studierte Wirtschaftswissenschaften und war Marketingleiter einer Werkzeugfirma. Über ein Jahr lang arbeitete er undercover als Hilfskraft in verschiedenen Pflege- und Altersheimen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Markus Breitscheidel
- 2011, 223 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: ECON
- ISBN-10: 3430200989
- ISBN-13: 9783430200981
Rezension zu „Gewaschen, gefüttert, abgehakt “
»Er verlegt dort keine Rohre, er pflegt kein Parkett - sondern alte Menschen. Solche, die nicht im Heim, sondern so lange es geht zu Hause leben wollen - Und wer wollte das nicht? Nach der Lektüre von Markus Breitscheidel Gewaschen, gefüttert, abgehakt dürften es ein paar weniger sein.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, Charlotte Frank, 19.09.11
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