Glücksgift
Thriller
Vom siebten Himmel in die tiefste Hölle
In einem Luxushotel wird nachts eine Leiche aufgefunden. Jemand hat sie in die Bar gebettet und mit 14 rätselhaften Geschenken umgeben. Ein Liebesmord? Die Kripo ist zunächst ratlos - und...
In einem Luxushotel wird nachts eine Leiche aufgefunden. Jemand hat sie in die Bar gebettet und mit 14 rätselhaften Geschenken umgeben. Ein Liebesmord? Die Kripo ist zunächst ratlos - und...
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Produktinformationen zu „Glücksgift “
Vom siebten Himmel in die tiefste Hölle
In einem Luxushotel wird nachts eine Leiche aufgefunden. Jemand hat sie in die Bar gebettet und mit 14 rätselhaften Geschenken umgeben. Ein Liebesmord? Die Kripo ist zunächst ratlos - und stößt doch bald auf die Geschichte dahinter. Die merkwürdigen Geschenke führen zu Bravo und Amanda und direkt zum Beginn einer großen Liebe. Einer Liebe, die plötzlich kommt und heftig, wild, schön und radikal ist. Doch es ist ein Glück, das sich schleichend selbst vergiftet. Amanda ist besessen von Perfektion, süchtig nach Vollkommenheit. Für sie gibt es nur ganz oder gar nicht und niemals einen Mittelweg. Dass sie von Bravo das Unmögliche erwartet, wird ihrer Beziehung bald zum Verhängnis. Als ein bösartiger Verrat hinzukommt, kann Amanda plötzlich nicht mehr zurück. So sorgfältig wie vorher die Liebe inszeniert sie jetzt den Tod.
In einem Luxushotel wird nachts eine Leiche aufgefunden. Jemand hat sie in die Bar gebettet und mit 14 rätselhaften Geschenken umgeben. Ein Liebesmord? Die Kripo ist zunächst ratlos - und stößt doch bald auf die Geschichte dahinter. Die merkwürdigen Geschenke führen zu Bravo und Amanda und direkt zum Beginn einer großen Liebe. Einer Liebe, die plötzlich kommt und heftig, wild, schön und radikal ist. Doch es ist ein Glück, das sich schleichend selbst vergiftet. Amanda ist besessen von Perfektion, süchtig nach Vollkommenheit. Für sie gibt es nur ganz oder gar nicht und niemals einen Mittelweg. Dass sie von Bravo das Unmögliche erwartet, wird ihrer Beziehung bald zum Verhängnis. Als ein bösartiger Verrat hinzukommt, kann Amanda plötzlich nicht mehr zurück. So sorgfältig wie vorher die Liebe inszeniert sie jetzt den Tod.
Klappentext zu „Glücksgift “
Vom siebten Himmel in die tiefste HölleIn einem Luxushotel wird nachts eine Leiche aufgefunden. Jemand hat sie in die Bar gebettet und mit 14 rätselhaften Geschenken umgeben. Ein Liebesmord? Die Kripo ist zunächst ratlos - und stößt doch bald auf die Geschichte dahinter. Die merkwürdigen Geschenke führen zu Bravo und Amanda und direkt zum Beginn einer großen Liebe. Einer Liebe, die plötzlich kommt und heftig, wild, schön und radikal ist. Doch es ist ein Glück, das sich schleichend selbst vergiftet. Amanda ist besessen von Perfektion, süchtig nach Vollkommenheit. Für sie gibt es nur ganz oder gar nicht und niemals einen Mittelweg. Dass sie von Bravo das Unmögliche erwartet, wird ihrer Beziehung bald zum Verhängnis. Als ein bösartiger Verrat hinzukommt, kann Amanda plötzlich nicht mehr zurück. So sorgfältig wie vorher die Liebe inszeniert sie jetzt den Tod.
Lese-Probe zu „Glücksgift “
Glücksgift von Irma Krauß1
DAS LABORGLAS
Eine wunderbar wilde und einmalige Liebe, die genau
genommen mit einem Laborglas begonnen hat, endet
tragischerweise mit einer Leiche.
Wo liegt die Leiche? Sie liegt in keinem Wald, in keinem
Bett, überhaupt nicht in einer Wohnung. In keinem Flur,
Hauseingang oder Treppenaufgang. An keiner Straße, in
keinem Hinterhof, auf keinem Schrottplatz. Auch nicht im
Leichenschauhaus und noch lange nicht auf dem Friedhof.
Sie liegt weder auf einsamen Bahngleisen noch im Laderaum
eines Lieferwagens, weder auf einer Dachterrasse noch im
Park. Es gibt ja so viele Möglichkeiten. Aber für diese Leiche
scheiden sie alle aus.
... mehr
1:50
Uhr. Der General Manager des Fünf-Sterne-Hotels mag es,
nachts noch einmal durch die nun beinahe leere Halle zu gehen
und dem Personal zuzunicken - in einer Ecke plaudern
die letzten Gäste, der Pianist ist schon weg, er hat den Flügel
um Mitternacht geschlossen -, mag es, seinen Weg zur Treppe
zu nehmen, die sich von zwei Seiten in die Halle schwingt,
gleitet mit leichter Hand über die Balustrade, während seine
polierten Schuhe in den Teppich der Stufen sinken, mag es,
sich im Spiegel des Zwischengeschosses hinaufsteigen zu sehen,
bevor er der Treppenwendung folgen und schließlich
über die breite Brüstung in die Halle hinabblicken wird.
Vollendete Schönheit überall: gedämpfte Farben und großzügige
Weite. Kühne Lampen und schimmernder Glanz, wo
immer ihr Licht einen Punkt, eine Fläche erreicht. Aus unsichtbaren
Lautsprechern leise Musik, die das entspannte
Gesprächsmurmeln der späten Gäste untermalt. Tausend
Lichtreflexe in den Gläsern und Flaschen der Hallenbar. Und
hinter den haushohen Glaswänden das rotbunte, bewegte
Leuchten der Stadt.
Der General Manager hält für einen Moment an der Treppenwende
inne, im Zwischengeschoss. Noch ein kleines
Vergnügen, das er heute mitnehmen will: durch die blaue
Bar zu streifen, die wie eine Insel in die Halle schwingt und
die man auch wie eine solche betritt. Über die umlaufende,
mit Stoff bezogene, mannshohe Wand fällt sanftes Licht in
ihre blaue Dämmerung aus Sofas und Sesseln.
Die blaue Bar steht den Gästen auch dann zur Verfügung,
wenn sie nicht in Betrieb ist. Für ein Platznehmen abseits
des Kommens und Gehens auf der Treppe und in der Halle.
Für eine zurückgezogene Lesestunde bei Tag, nachts ist es zu
dunkel zum Lesen. Für verborgenes Zuhören, wenn der
Flügel gespielt wird.
Nun aber liegt hier eine Leiche lang ausgestreckt auf
einem Couchtisch. Als Unterlage das blaue Tuch, das sonst
die Bartheke bedeckt, den Kopf auf einem blauen Polsterkissen,
die Hände flach zu beiden Seiten des Körpers, als
wäre dies eine Entspannungsübung. Blaue Sessel umgeben
die Leiche und bieten ihr wie gefällige Tabletts Dinge dar.
Das Arrangement fügt sich perfekt in die noble Umgebung
ein. So perfekt, dass der General Manager nicht einmal
übermäßig erschrickt, sondern nur lautlos näher tritt, mit
dem scheinbar beiläufigen Blick dessen, der unauffällig
prüft, ob auch alles zur Zufriedenheit vorbereitet wurde.
Dann reißt er aber doch die Augen auf und weicht zur
Bartheke zurück, wo er blind nach dem verborgenen Schalter
für die Wandleuchten tastet. Vierzehn Schirmlämpchen
flammen auf und tauchen den Raum in mildes Licht.
Der General Manager nähert sich der Leiche erneut. Von
allen Dingen, die sie auf blauen Polstertabletts umgeben,
springt ihm als Erstes ein Laborglas ins Auge.
Das Laborglas steht auf einer Laderampe. Dahinter ist der
Gummilappeneingang der Warenannahme der VEGA-
Hartmetall GmbH.
Die Sonne bescheint die pissgelbe Flüssigkeit im Glas und
das Ding leuchtet vor dem schwarzen Hintergrund der Gummilappen
wie eine Ampel.
Amanda stößt rückwärts in eine freie Lücke in der Autoreihe
gegenüber, um vorwärts wegfahren zu können, sobald
sie ihre Ware abgeliefert hat. Sie grinst über das gelbe Ampelchen.
Ob bei denen die Toilette kaputt ist?
In dem Moment, in dem sie sich zu ihrem Päckchen auf
dem Beifahrersitz beugt, hört sie ein mahlendes Geräusch
und etwas rast vorüber. Sie fährt hoch.
Ein Skater. Er ist von der Straße gekommen, überquert
den Platz und schießt drüben über einen Treppenabgang
hinaus ins Leere.
Amanda springt aus dem Wagen und reckt den Hals. Der
Skater ist nach einer wirbelnden Drehung des Bretts auf
einem Fußweg gelandet. Dort fährt er ein Stück weiter, wendet
dann und rollt zurück. Am Fuß der Treppe kickt er das
Brett, fängt es und nimmt die Stufen praktisch in einer einzigen
Bewegung. Oben setzt er das Brett ab, steht schon wieder
darauf und rollt über den Platz. Vor der Rampe noch eine
Drehung, dann düst er zur Straße und verschwindet um das
Gebäude herum.
Amanda vergisst, was sie vorhatte, und starrt ihm hingerissen
nach. Man weiß ja normalerweise, wen man an einem
solchen Ort erwarten kann ... Also, bestimmt keinen Superklasse-
Skater!
Dann erinnert sie sich wieder an ihr Päckchen. Sie bückt
sich mit einem kleinen Seufzer ins Auto.
Und genau da kommt der Skater zurückgeschossen.
»He, Bravo! Ich denk, du bist mit deiner Pisse direkt ins
Labor!«, ruft eine Stimme vom Wareneingang her.
Amanda, die sich rasch aufgerichtet hat, sieht zwischen
den Gummilappen einen Kopf.
Der Skater kantet das Brett und steht. Dann schlendert er
wie ein normaler Mensch auf die geparkten Autos zu, öffnet
einen Kofferraum und wirft das Skateboard hinein.
»Ich geh schon, Mann«, knurrt er.
»Du brichst dir garantiert mal das Genick!«, wiehert der
andere.
Der Skater checkt seine Uhr. »Drei Minuten! Was soll das
Gedöns? Hau ab, Mann, ich geh ja schon.«
»... Die Chefs gucken aber auch nie nach hinten raus -
denen müsste man vielleicht einen Tipp geben ... Was hältst
du davon, he, he?«
Der Kopf verschwindet und die Gummilappen pendeln
aus.
Der Skater nimmt das Laborglas von der Rampe und dreht
sich um, da steht Amanda vor ihm.
Amanda mit dem Päckchen, er mit dem Glas. Die gelbe
Flüssigkeit schwappt erschrocken zum Rand. Amanda reißt
das Päckchen hoch, der Skater drückt die Hand aufs Glas.
»Das war knapp!«, sagt sie und lugt hinter dem Päckchen
hervor. Dann wird sie unaufhaltsam rot, genau wie er, eine
Hitze breitet sich aus, die irgendwie überspringt und zurückschlägt,
und das ist so ziemlich das Seltsamste, was ihr
je bei einer ersten Begegnung passiert ist.
Der Typ spürt es ebenfalls, sie findet das Staunen für
einen Moment in seinen Augen, bevor er den Blick nach unten
klappt und nachsieht, ob das Glas noch da ist. Seine
Haare sind eine Spur dunkler als ihre, fast schwarz, kurz ge-
schnitten, aber lang genug, um sich im Nacken verschwitzt
zu kräuseln. Amanda schaut ihm verstohlen auf die erröteten
Wangen, die muskulösen Unterarme, die Hände, auf sein
Shirt, auf die schwarze Jeans. Sie zoomt den feinen, grauen
Metallstaub, der ihm in jeder Pore sitzt, ins Riesengroße.
Jede Pore ein Krater, jedes Härchen knistert.
Jemand hat einen Kreis um sie beide gemacht, die Welt
verschwindet, der Kreis ist ein Magnetfeld.
Nur will der Typ leider raus.
Er stößt etwas hervor, gerade als auch Amanda den Mund
aufmacht. »Das muss ins Labor!«
»Ich muss das abgeben!«
Zwei Salven, gleichzeitig gefeuert. Sie lacht.
Der Skater nicht. Er schafft den Schritt und geht auch
schon zur Treppe.
»Ist das wirklich Pisse?«, ruft sie. Seine schönen, schönen Lippen,
jetzt sind sie weg.
»Nein, Öl aus der Vakuumpumpe.«
Sie läuft ihm nach. »Ach, ehrlich? Öl? Und was machst du
damit?«
Diese Lippen, die hat sie schon mal gesehen ...
»Im Labor prüfen lassen, was da nicht stimmt. Die Farbe
ist komisch. Und es stinkt ...«, sagt er nach hinten, ohne wirklich
langsamer zu gehen.
Die drei Minuten?
»Ach so«, sagt Amanda. »Ach so.« Und ruft schnell: »Da drüben,
das ist mein Wagen.« Als er sich umdreht, schießt sie
mit ihrer Hand nach vorn.
»Amanda Flori.«
Der Skater nimmt das Laborglas in die Linke und kriegt
die Rechte frei. »Pravdan Milanovic.« Er lässt ihre Hand gleich
wieder los, um das Glas zu wechseln, als hätte er sich daran
verbrannt.
»Pravdan ... Milanovic«, wiederholt Amanda. Sie runzelt
die Stirn. Sie konzentriert sich. Ihr fällt aber nichts ein. Und
Pravdan Milanovic hier zählt entweder die paar Treppenstufen
und überlegt, ob er sie im Sprung nehmen soll, oder
er zerbricht sich den Kopf über die großen Rätsel der Welt.
»Wo geb ich das ab?« Amanda schwenkt ihr Päckchen in
sein Blickfeld, sie rechnet mit dem Sprung.
»Da.« Eine knappe Kopfbewegung zur Rampe hin. Die
schönen Lippen zucken einmal, Lächeln ist es keins. Der
Skater dreht sich endgültig zur Treppe um, die Hand über
dem Glas. Er hat wirklich nicht ein einziges Mal, nicht das
allerkleinste Mal gelächelt.
Amanda sieht ihm nach, bis er durch eine Tür des Firmenkomplexes
verschwunden ist. Dann beguckt sie sich ihre
rechte Hand. Sie steckt die Nase in die Handfläche.
Penetranter Ölgestank.
Sie atmet tief ein.
Pravdan Milanovic, woher kenn ich dich ...
2
DIE SÄGEZÄHNE
1:55 Uhr. Der General Manager, der in seinem 5-Sterne-
Hotel zuvor noch keine Leiche liegen hatte,
ist ein beherrschter, kontrollierter Mensch. Als solcher hat er
im Dienst noch nie die Stimme gehoben. Er schreit auch
jetzt nicht. Er nimmt nach einem Zeitraum von unbestimmbarer
Dauer die leise Musik aus den Hallenlautsprechern
und die murmelnden Stimmen der Gäste wieder wahr. Und
erschrickt endlich. In einem Reflex stellt er sich vor die Leiche,
das Gesicht dem Ausgang der blauen Bar zugewandt,
und horcht voller Angst.
Doch niemand kommt die Treppe herauf - er käme denn
lautlos. So wird wohl auch keiner in diesem und im nächsten
Augenblick auf halber Höhe, an der Kehre, sich der
blauen Bar zuwenden, die leider keine Tür hat.
Der General Manager weiß nicht, ob er sich wünschen soll,
dass die späten Gäste auch noch den Rest der Nacht in der
Halle verplaudern; einerseits möchte er, dass sie genau da sitzen
bleiben, wo sie jetzt sind, andererseits wünscht er sie in
ihre Betten, damit er die Polizei verständigen kann. Die Kripo
kommt in Zivil ... Aber die Kamera, die Spurensuche, das alles
geht wohl kaum ohne Aufsehen ab. Und dann wird man vermutlich
die Gäste befragen wollen ... Bei diesem Gedanken
stöhnt der General Manager nun doch auf, aber verhalten,
wie nur ein kontrollierter Mensch aufstöhnen kann.
Es hilft nichts, er muss handeln.
Nur eine Minute will er sich noch gönnen, um die Dinge
zu begutachten, die der Leiche auf den im Ring angeordneten
Sesseln dargeboten werden.
Neben dem Laborglas liegt ein Häufchen sanft schimmernder
Metallzähnchen, alle gleich, alle glatt poliert. Es
sind genau vierunddreißig Stück, was der General Manager
allerdings nicht wissen kann, denn um sie zu zählen, müsste
er das Häufchen mit dem Finger zerteilen.
Er wird sich hüten, etwas anzufassen.
Bravo stellt das Glas neben Franziskas Mikroskop ab.
Franzi sieht auf. »Nicht schon wieder!«, sagt sie.
»Doch. Schau's dir mal an.«
»Ich bin mitten im Sinterprotokoll!« Sie schiebt den Objektträger
mit der Knetmasse, in der ein Metallteilchen
steckt, unters Mikroskop. »Geh zu Judith.«
»Gib her«, sagt Judith und streckt die Hand nach hinten.
Sie nimmt das Glas, schnuppert vorsichtig daran, sagt
»Pfui Teufel!« und stellt es außer Reichweite. »Will das nicht
zufällig mit meinem Tee verwechseln ... Öh - suchst du was,
Bravo?«
»Hm? Nein.« Bravo wendet sich ein wenig hastig vom Fenster
ab und geht zur Tür.
»Du kannst warten, ich mach's gleich«, sagt Judith. »Nur
noch das hier.« Sie deutet auf eine Zahlenreihe auf ihrem
Bildschirm.
»Okay. Bin kurz draußen.« Bravo verlässt das Labor und
läuft zum Parkplatz vor der Warenannahme.
Der Minicooper ist weg.
Klar ist er weg, sagt sich Bravo und staunt über das erbärmliche
Verlustgefühl, das ihm die Schultern nach unten
zieht.
Als er mit dem Laborbericht in die Halle zurückkehrt,
geht er zuerst zum Regal hinter den Gummilappen.
Päckchen und Pakete, die zum Verschicken bereit liegen.
»Suchst du was, Bravo?«, fragt Dominik, der eine leere
Palette durch die Gummilappen nach draußen schiebt.
»Hat man nicht vorhin was abgegeben, was Kleines ...«
»Ja, per Eilboten. Ist schon beim Chef. Die Reklamation.«
Dominik gibt der Palette noch einen Stoß mit dem Fuß. »Ich
hab ja schon Sachen gehört. Aber dass sich die Sägezähne
beim Belastungstest verbiegen - nee.«
»Nee«, stimmt Bravo geistesabwesend zu. »Aber welcher
Dienst ... ich meine, welcher Botendienst hat das denn gebracht?«
Dominik grinst plötzlich breit. »Mann ...! Ich hab das Päckchen
angenommen ... He, Bravo, ich weiß, was du meinst!
Nee, also die Frau, hab ich gedacht, muss sich verlaufen
haben!«
»Welche Frau?«, sagt Bravo und geht mit seinem Laborblatt
weiter.
Dominik ruft hinter ihm her: »Wenn du die Sendung zurückverfolgen
willst - der Zettel ist auch beim Chef!«
Bravo braucht mehrere Stunden, bis er wieder er selbst ist.
Am Abend, auf dem Brett, konzentriert er sich einmal
nicht auf Stufen, Betonmäuerchen und Geländer, sondern
düst wie ein Anfänger kreuz und quer durch seine Provinzstadt,
auf der Suche nach einem metallicblauen Minicooper.
Obwohl das idiotisch ist, denn zu neunundneunzigkommaneun
Prozent kam der Botendienst von auswärts, vielleicht
von dort, wo der Kunde sitzt, oder von einer Übergabestelle.
Für das eine Zehntelprozent schwitzt Bravo auf seinem
Brett. Auch noch, als es dunkel ist und man ein Metallicblau
bestenfalls unter einer Laterne ausmachen kann.
Zum Chef gehen und den Botendienst zurückverfolgen -
nein, kommt nicht infrage.
Bravo hat in der Nacht einen Traum. Beim Aufwachen
weiß er, dass etwas gründlich falsch war: Man kann nicht
auf dem Skateboard über die Autobahn brettern, im Zickzack
über drei Spuren hinweg, man kann nicht auf die
Mittelplanke springen und dort entlanggleiten, um auch
den Gegenverkehr zu beobachten, so etwas ist im richtigen
Leben einfach nicht möglich.
Im richtigen Leben geht man zur Arbeit, sortiert Sägezähne
und andere Metallteile auf Grafitplatten, stapelt die
Platten und fährt das Material zum Sintern in den Ofen.
Im richtigen Leben wird man auch mit Verlustgefühlen
fertig.
Aber ein verflucht schöner Traum war es. Denn in jeder
Sekunde hätte es sein können, dass der metallicblaue Mini
Bravos Zickzackkurs kreuzt.
»Pravdan Milanovic?«, ruft die bullige Frau Henning von der
Verpackungsabteilung. Sie stampft durch die Halle, an
Arbeitstischen und Regalen vorbei, um computergesteuerte
Brennöfen, Pressen und Schneideanlagen herum und hat
einen Brief in der Hand. »Heißt einer von euch Pravdan Milanovic?«
»Nee«, ruft Luca von der Pressanlage herunter, wo er die
Granulatzufuhr prüft. »Nee, Frau Henne. Hier biste richtig
falsch.«
Bevor die Frau sich aufplustern kann, ist Bravo bei ihr.
»Zeig mal«, sagt er leise. Auf dem wasserblauen Briefkuvert
steht über der Firmenadresse Pravdan Milanovic. Eine
schwungvolle, nach links fallende, sehr besondere Schrift.
»Das ist für mich«, sagt er.
»Für dich, Bravo?« Frau Henning hält den Brief fest und
tritt einen Schritt zurück.
Die nächsten Sekunden sind übel. Denn die Frau beschallt
diesen Teil der Halle über das Dauerbrummen der Maschinen
hinweg mit der Auskunft, dass sie da einen komischen
Brief hat, einen Brief ohne Absender, einen verdammt verdächtigen
Brief für einen gewissen Pravdan, der sonst Bravo
heißt. Also, für sie sieht das original wie ein Liebesbrief aus!
Wenn das keiner ist! So eine Schrift!
Die Henne kräht wie ein Gockel und schwenkt den Brief.
Bravo ist schnell, er hat ihn. Doch schon rücken ihm die
Jungs auf die Pelle.
»Zeig, Bravo!«
»Verpisst euch.«
»Neehe. Nix da. Mach mal, Bravoface! Los!«
Bravo verdreht die Augen. Er befühlt den Brief. Er reibt ihn
zwischen den Fingern und macht graue Flecken drauf. Viel
kann da nicht drin sein. Genau gesagt, vielleicht gar nichts.
Plötzlich ist ein freundliches Taschenmesser da.
Bravo zuckt mit den Schultern und schlitzt das Kuvert
auf.
Es ist leer. Es ist wirklich leer!
Außer dass auf der Innenseite an einer Stelle etwas sehr
Kleines geschrieben steht.
Bravo spreizt das Kuvert und lässt die Leute hineingucken,
die Finger sauber auf dem winzigen Namen und der winzigen
Nummer.
»Kranke Typen.« Er zerknüllt das Kuvert, schiebt die
Papierkugel schön in die Hosentasche und macht sich dann
mit hochrotem Kopf wieder an die Arbeit - das heißt, er
stößt eine Serie Sägezähne von einer Grafitplatte, bückt
sich, um sie vom Boden aufzusammeln und fährt eben noch
zurück: Er selbst hat sie vor wenigen Minuten aus dem
Sinterofen gefahren, wo sie ihre gut vierzehnhundert Grad
abkriegten, und man spürt auf einen Meter Abstand, dass sie
heiß sind.
Aber eigentlich ist er zurückgezuckt, weil ein paar Zähnchen
wie ein A daliegen. Doch, ja. Bei etwas Fantasie.
Kurz vor Arbeitsschluss muss er in die Galvanik und greift
im Vorübergehen mal eben schnell in den Metallkorb mit
den glänzenden, fertig beschichteten Sägezähnen und versenkt
seine Faust in der Hosentasche.
An diesem Abend bleibt das Skateboard im Kofferraum.
Bravo fegt mit dem Unterarm eine ausreichend große Fläche
auf seinem Couchtisch frei, deponiert seine Zungenspitze im
Mundwinkel und ein Häufchen Sägezähne auf dem Couchtisch
und formt mit zwei Fingern Buchstaben. Aus vierunddreißig
Sägezähnen zaubert er ein schimmerndes Wort.
AMANDA.
Er starrt das Wort lange an. Dann legt er sein Handy dazu
und tippt die Nummer ein. Und starrt das Display an. Und
wechselt wieder zu den glänzenden Buchstaben. Bis sie ihm
wie Sterne vor den Augen tanzen.
Drei Tage sind vergangen, seit Amanda den Brief eingeworfen
hat. Nein, nicht vergangen, sondern Minute für Minute
quälend vorübergeschlichen. Und das bei diesem Job, diesem
Fahren gegen die Zeit, dieser Zwölf-Stunden-Maloche. Hat er
ihn schon gekriegt? Wie machen die das dort mit der Post, wer gibt
die aus? Oder wird sie ins Fach gelegt? Schaut er überhaupt in sein
Fach rein? Hab ich die Nachricht nicht doch zu winzig geschrieben?
Wer checkt um Himmels willen das Innere von einem Kuvert?
Weggehen ist nicht mehr wichtig, Freunde und Bekannte
sind bedeutungslos geworden, ja, auch Jonas irgendwie, und
die Familie war es vorher schon.
Kati und Lars, die mit Amanda die Wohnung teilen, merken
nichts, sie sind neuerdings zusammen, aber Amanda
fragt sich warum, denn sie streiten sich noch mehr als vorher
schon. Die beiden haben genug mit sich selbst zu tun.
Außerdem sehen sie das Handy nicht, das die ganze Nacht
neben ihrem Kopfkissen liegt.
Morgen. Morgen bestimmt!, denkt Amanda vor dem Einschlafen.
Vom Aufwachen an geht sie die Möglichkeiten durch:
Entweder er ruft an oder er ruft nicht an. Im zweiten Fall
gibt es Erklärungen:
Er hat den Brief nicht bekommen.
Er hat nur ein leeres Kuvert bemerkt.
Er hat eine fantastische Freundin, was ja völlig logisch
wäre. Doch genau davon will Amanda nichts wissen.
Es gäbe noch die Variante, dass er sie für eine Tusse hält
oder hässlich findet. Tusse, ja, hässlich, nein.
Tusse ganz sicher.
Am dritten Abend wimmelt Amanda Jonas an der Wohnungstür
ab, sie fühle sich krank oder irgendwas, er solle sie
einfach nur schlafen lassen und bitte, ja, am besten allein.
Sie macht genau die Sorte genervtes Gesicht, die ausreicht,
dass er abzieht, ohne sich zu große Sorgen zu machen.
Jonas - wer war das doch gleich?
Am vierten Tag, es ist Freitag, meldet sich Amanda krank.
Irgendwer wird die Tour schon übernehmen, sie ist heute
ihre eigene Eilzustellung und fährt die fünfzig Kilometer auf
ihre Rechnung.
Der Sender im Autoradio liefert den richtigen Beat zu
ihrem Herzklopfen und sie erwischt sich permanent bei
einem albernen nervösen Grinsen.
Vor der VEGA-Hartmetall GmbH findet sie eine freie Lücke
bei der Warenannahme und setzt den Wagen rückwärts rein.
Komisches Gefühl.
Hier war ich schon mal.
Vor vier Tagen.
Genau hier.
Irre.
An der Rampe steht ein Lkw. Der Fahrer lädt ein Fass ab.
Sonst ist niemand zu sehen.
Amanda steigt aus und verschwindet, bevor jemand fragen
kann, warum sie hier parkt. Der Firmenkomplex liegt an
der Hauptstraße, gegenüber einer Tankstelle, doch mit Zu-
fahrt von der Seitenstraße her. Sie folgt der Seitenstraße bis
zur Hauptstraße, überquert sie und geht in den Tankstellenshop.
Sie holt sich einen Becher Kaffee und trägt ihn zu
einem Stehtisch hinter der Schaufensterscheibe. Von dort
aus kann sie mit etwas Mühe über die Straße und die parkenden
Autos hinweg die Rampe beobachten.
Der Lkw ist verschwunden, das Fass steht noch da.
Amanda trinkt ihren Kaffee sehr langsam. Sie schmettert
einen Anbaggerversuch ab und spielt mit Hingabe Detektivin.
Plötzlich bewegen sich die Gummilappen. Sie kneift die
Augen zusammen. Jemand fährt das Fass mit einem Hubwagen
hinein. Aber es ist nicht Pravdan.
Amanda holt sich noch einen Kaffee.
Eine Zigarette wäre schön ...
Sie wühlt bereits in der Umhängetasche, als ihr einfällt,
dass sie seit heute nicht mehr raucht.
Drei Kaffees, eine Packung Diätkekse, mehrere Kaugummis
und viele Seitenblicke der Kassiererin später fährt
Amanda zusammen: Pravdan!
Er springt von der Rampe und will zu seinem Wagen.
Auf halbem Weg bleibt er wie vom Blitz getroffen stehen.
Er hat den Mini, ihren metallicblauen Eisvogel, entdeckt.
Amanda macht einen Schritt zurück. Sie findet ein Regal
und fächert durch Chipstüten, während sie ihn im Auge behält.
Ihr Herz klopft.
Pravdan entschließt sich, etwas zu tun.
Er schlendert zu ihrem Auto.
Er findet es leer.
Er fängt an, sich unauffällig umzusehen.
Bis zur anderen Straßenseite reicht sein Blick nicht.
Noch nicht.
Aber er geht zum Gehsteig hinaus, wo er die Seitenstraße
einsehen kann. Zu diesem Zeitpunkt steht Amanda hinter
dem Regal, denn er könnte ja bis zur Kreuzung kommen.
Hinter dem Regal ist sie auch, als Pravdan zum zweiten
Mal auf der Rampe erscheint. Und beim dritten - seine Abstände
werden kürzer - und vierten Mal wieder, denn sein
Blick reicht jetzt über die Straße.
Die Kassiererin steht sichtlich kurz davor, sie anzuschnauzen,
als Amanda endlich beschließt, dass es genug sei. Sie
verlässt den Laden, überquert die Hauptstraße, läuft zu
ihrem Auto und setzt sich schnell hinein.
Uff!
Falls er jetzt auftaucht, kriegt sie kein Wort heraus ...
Aber hoffentlich taucht er auf!
Sie startet den Wagen, fährt aus der Lücke und bleibt im
Leerlauf stehen, die Hand auf der Schaltung, bereit, den
Gang einzulegen im Moment, in dem sich die Gummilappen
bewegen. So tun, als würde sie gerade ausparken, ihn dann
plötzlich sehen, sich an ihn erinnern, lächeln, anhalten,
warten, was kommt.
Ein Lkw zwingt sie in die Lücke zurück, Amanda flucht.
Sie hört Stimmen auf der Rampe, kann aber nichts sehen.
Die Beifahrertür steht eine Ewigkeit offen, der Fahrer redet
hinübergebeugt dort hinaus. Dann zieht er endlich die Tür
zu. Er startet den Wagen, wendet und verlässt den Platz.
Kein Mensch auf der Rampe.
Amanda wiederholt ihr halbes Ausparkmanöver und wartet,
hibbelig, wütend auf sich selbst.
Da! Pravdan. Er kommt heraus und sieht mit einem Blick,
dass der Mini jetzt vor seiner Nase steht. Was ihn veranlasst,
scheinheilig nach dem Wetter und nach den Wolken zu
gucken.
Amanda legt etwas überhastet den Gang ein und würgt
beim Anfahren den Motor ab. Das war nicht geplant.
Pravdan springt von der Rampe.
Nicht weggehen ... Sie reißt die Tür auf und streckt den Kopf
darüber. »Oh! Hallo! Könnten Sie mir ...Öh ... Pravdan?«
»Hallo ...« Er kommt näher. Er lächelt nicht. Dafür, dass er
sie zum fünften Mal heimlich gesucht und endlich gefunden
hat, ist er ätzend cool.
»Probleme?« Seine Kopfbewegung gilt dem Minicooper.
»Normalerweise nicht«, sagt Amanda und wird wieder
feuerrot. »Der ist mir nur irgendwie gerade abgestorben.«
Was kann ich bloß fragen, wenn ich das, was ich wirklich fragen
will, nicht herauskriege?
Der Augenblick dehnt sich, die Hitze überflutet ihr Gesicht
und breitet sich weiter aus. Alles wie gehabt - total irre.
»Hast du ...« Pravdan hustet verhalten. »Hast du, ich meine,
musst du was anliefern?«
»Hier nicht. In der Nachbarschaft. Ist schon erledigt ...« Ist
mein Brief angekommen? Je länger sie wartet, desto schwerer
wird es, die Frage zu stellen.
Die Entscheidung wird ihr für den Moment abgenommen,
ein Wagen biegt in den Hof.
»Geh nicht weg!«, sagt Amanda und springt ins Auto. Der
Motor heult auf wie bei einer Anfängerin. Sie startet vorwärts,
erschrickt darüber, würgt den Wagen wieder ab, lässt
ihn erneut an und setzt ihn endlich rückwärts in die Parklücke.
Gott, was ist mit mir los?
Der Mensch im anderen Auto fuchtelt verärgert, er wollte
genau hier einparken. Pravdan ruft ihm etwas zu und zeigt
mit ausholendem Arm über die Firma hinweg, woraus
Amanda schließt, dass es hinter dem Gebäudekomplex einen
weiteren Parkplatz gibt.
Sie steigt, als der andere weg ist, mit komisch weichen
Knien aus und überspielt ihr nervöses Einparken mit einer
Kopfbewegung zum Wagen hin. »Ich glaube, mein Eisvogel
sollte in die Werkstatt ...« Dann sieht sie Pravdan direkt an.
»Meinst du, ich könnte mir kurz dein Handy ausleihen?
Mein Akku hat schlappgemacht.«
Er nimmt bereitwillig sein Handy vom Gürtel.
Es hat seine Körperwärme gespeichert und Amandas
Hand zittert, als sie ihre eigene Nummer eintippt und anwählt.
Im Display erscheint ein Wort.
AMANDA.
Ehe das Handy reagieren kann, das in ihrem Auto liegt,
bricht sie die Verbindung ab. »Öh, verwählt ...« Sie schließt
schwindlig vor Glück und Triumph die Augen. Und seufzt:
»Ich komm jetzt nicht auf die Nummer meiner Autowerkstatt
... Ist egal.« Ich hab's gewusst, ich hab's doch gewusst ...
»Danke ... Pravdan.« Sie lächelt und gibt ihm sein Handy zurück.
»Ja, also, ich muss dann mal los ...«
»Bravo, ich heiße eigentlich Bravo, schon seit der Grundschule ...«
»Bravo? Ist ja cool! Oder gibt's hier eine nette Kneipe, wo
man was essen kann?«
»Ja! Ich zeig sie dir. - Moment.« Er schaut auf seine Uhr.
»Ach ...«
»Wie lange musst du noch?«, fragt Amanda.
»Eine Stunde, leider. Bisschen lang, oder?«
»Nö. Ich muss sowieso noch was erledigen. Ich bin dann
nachher zurück und parke da draußen.« Sie zeigt zur Seitenstraße.
Bravo nickt mit der knappsten Andeutung eines Lächelns.
Als sie in den Wagen steigt, kommt Bewegung in ihn. Er setzt
in einer Flanke zur Rampe hinauf und taucht in die Gummilappen
ein.
Amanda legt die Hände aufs Steuer und tut erst mal
nichts. Sie lässt den Wagen nicht an und legt keinen Gang
ein. Sitzt einfach nur still da und streicht sanft mit den Daumen
übers Lenkrad.
Wir haben ein Date.
In einer Stunde.
Ich hab's geschafft, wir haben ein DATE!!
cbt ist der Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete
FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright
liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2010
© 2010 cbt Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld
Umschlagfoto: © Plainpicture / Marion Beckhäuser
SK • Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-570-16071-8
Printed in Germany
www.cbt-jugendbuch.de.
1:50
Uhr. Der General Manager des Fünf-Sterne-Hotels mag es,
nachts noch einmal durch die nun beinahe leere Halle zu gehen
und dem Personal zuzunicken - in einer Ecke plaudern
die letzten Gäste, der Pianist ist schon weg, er hat den Flügel
um Mitternacht geschlossen -, mag es, seinen Weg zur Treppe
zu nehmen, die sich von zwei Seiten in die Halle schwingt,
gleitet mit leichter Hand über die Balustrade, während seine
polierten Schuhe in den Teppich der Stufen sinken, mag es,
sich im Spiegel des Zwischengeschosses hinaufsteigen zu sehen,
bevor er der Treppenwendung folgen und schließlich
über die breite Brüstung in die Halle hinabblicken wird.
Vollendete Schönheit überall: gedämpfte Farben und großzügige
Weite. Kühne Lampen und schimmernder Glanz, wo
immer ihr Licht einen Punkt, eine Fläche erreicht. Aus unsichtbaren
Lautsprechern leise Musik, die das entspannte
Gesprächsmurmeln der späten Gäste untermalt. Tausend
Lichtreflexe in den Gläsern und Flaschen der Hallenbar. Und
hinter den haushohen Glaswänden das rotbunte, bewegte
Leuchten der Stadt.
Der General Manager hält für einen Moment an der Treppenwende
inne, im Zwischengeschoss. Noch ein kleines
Vergnügen, das er heute mitnehmen will: durch die blaue
Bar zu streifen, die wie eine Insel in die Halle schwingt und
die man auch wie eine solche betritt. Über die umlaufende,
mit Stoff bezogene, mannshohe Wand fällt sanftes Licht in
ihre blaue Dämmerung aus Sofas und Sesseln.
Die blaue Bar steht den Gästen auch dann zur Verfügung,
wenn sie nicht in Betrieb ist. Für ein Platznehmen abseits
des Kommens und Gehens auf der Treppe und in der Halle.
Für eine zurückgezogene Lesestunde bei Tag, nachts ist es zu
dunkel zum Lesen. Für verborgenes Zuhören, wenn der
Flügel gespielt wird.
Nun aber liegt hier eine Leiche lang ausgestreckt auf
einem Couchtisch. Als Unterlage das blaue Tuch, das sonst
die Bartheke bedeckt, den Kopf auf einem blauen Polsterkissen,
die Hände flach zu beiden Seiten des Körpers, als
wäre dies eine Entspannungsübung. Blaue Sessel umgeben
die Leiche und bieten ihr wie gefällige Tabletts Dinge dar.
Das Arrangement fügt sich perfekt in die noble Umgebung
ein. So perfekt, dass der General Manager nicht einmal
übermäßig erschrickt, sondern nur lautlos näher tritt, mit
dem scheinbar beiläufigen Blick dessen, der unauffällig
prüft, ob auch alles zur Zufriedenheit vorbereitet wurde.
Dann reißt er aber doch die Augen auf und weicht zur
Bartheke zurück, wo er blind nach dem verborgenen Schalter
für die Wandleuchten tastet. Vierzehn Schirmlämpchen
flammen auf und tauchen den Raum in mildes Licht.
Der General Manager nähert sich der Leiche erneut. Von
allen Dingen, die sie auf blauen Polstertabletts umgeben,
springt ihm als Erstes ein Laborglas ins Auge.
Das Laborglas steht auf einer Laderampe. Dahinter ist der
Gummilappeneingang der Warenannahme der VEGA-
Hartmetall GmbH.
Die Sonne bescheint die pissgelbe Flüssigkeit im Glas und
das Ding leuchtet vor dem schwarzen Hintergrund der Gummilappen
wie eine Ampel.
Amanda stößt rückwärts in eine freie Lücke in der Autoreihe
gegenüber, um vorwärts wegfahren zu können, sobald
sie ihre Ware abgeliefert hat. Sie grinst über das gelbe Ampelchen.
Ob bei denen die Toilette kaputt ist?
In dem Moment, in dem sie sich zu ihrem Päckchen auf
dem Beifahrersitz beugt, hört sie ein mahlendes Geräusch
und etwas rast vorüber. Sie fährt hoch.
Ein Skater. Er ist von der Straße gekommen, überquert
den Platz und schießt drüben über einen Treppenabgang
hinaus ins Leere.
Amanda springt aus dem Wagen und reckt den Hals. Der
Skater ist nach einer wirbelnden Drehung des Bretts auf
einem Fußweg gelandet. Dort fährt er ein Stück weiter, wendet
dann und rollt zurück. Am Fuß der Treppe kickt er das
Brett, fängt es und nimmt die Stufen praktisch in einer einzigen
Bewegung. Oben setzt er das Brett ab, steht schon wieder
darauf und rollt über den Platz. Vor der Rampe noch eine
Drehung, dann düst er zur Straße und verschwindet um das
Gebäude herum.
Amanda vergisst, was sie vorhatte, und starrt ihm hingerissen
nach. Man weiß ja normalerweise, wen man an einem
solchen Ort erwarten kann ... Also, bestimmt keinen Superklasse-
Skater!
Dann erinnert sie sich wieder an ihr Päckchen. Sie bückt
sich mit einem kleinen Seufzer ins Auto.
Und genau da kommt der Skater zurückgeschossen.
»He, Bravo! Ich denk, du bist mit deiner Pisse direkt ins
Labor!«, ruft eine Stimme vom Wareneingang her.
Amanda, die sich rasch aufgerichtet hat, sieht zwischen
den Gummilappen einen Kopf.
Der Skater kantet das Brett und steht. Dann schlendert er
wie ein normaler Mensch auf die geparkten Autos zu, öffnet
einen Kofferraum und wirft das Skateboard hinein.
»Ich geh schon, Mann«, knurrt er.
»Du brichst dir garantiert mal das Genick!«, wiehert der
andere.
Der Skater checkt seine Uhr. »Drei Minuten! Was soll das
Gedöns? Hau ab, Mann, ich geh ja schon.«
»... Die Chefs gucken aber auch nie nach hinten raus -
denen müsste man vielleicht einen Tipp geben ... Was hältst
du davon, he, he?«
Der Kopf verschwindet und die Gummilappen pendeln
aus.
Der Skater nimmt das Laborglas von der Rampe und dreht
sich um, da steht Amanda vor ihm.
Amanda mit dem Päckchen, er mit dem Glas. Die gelbe
Flüssigkeit schwappt erschrocken zum Rand. Amanda reißt
das Päckchen hoch, der Skater drückt die Hand aufs Glas.
»Das war knapp!«, sagt sie und lugt hinter dem Päckchen
hervor. Dann wird sie unaufhaltsam rot, genau wie er, eine
Hitze breitet sich aus, die irgendwie überspringt und zurückschlägt,
und das ist so ziemlich das Seltsamste, was ihr
je bei einer ersten Begegnung passiert ist.
Der Typ spürt es ebenfalls, sie findet das Staunen für
einen Moment in seinen Augen, bevor er den Blick nach unten
klappt und nachsieht, ob das Glas noch da ist. Seine
Haare sind eine Spur dunkler als ihre, fast schwarz, kurz ge-
schnitten, aber lang genug, um sich im Nacken verschwitzt
zu kräuseln. Amanda schaut ihm verstohlen auf die erröteten
Wangen, die muskulösen Unterarme, die Hände, auf sein
Shirt, auf die schwarze Jeans. Sie zoomt den feinen, grauen
Metallstaub, der ihm in jeder Pore sitzt, ins Riesengroße.
Jede Pore ein Krater, jedes Härchen knistert.
Jemand hat einen Kreis um sie beide gemacht, die Welt
verschwindet, der Kreis ist ein Magnetfeld.
Nur will der Typ leider raus.
Er stößt etwas hervor, gerade als auch Amanda den Mund
aufmacht. »Das muss ins Labor!«
»Ich muss das abgeben!«
Zwei Salven, gleichzeitig gefeuert. Sie lacht.
Der Skater nicht. Er schafft den Schritt und geht auch
schon zur Treppe.
»Ist das wirklich Pisse?«, ruft sie. Seine schönen, schönen Lippen,
jetzt sind sie weg.
»Nein, Öl aus der Vakuumpumpe.«
Sie läuft ihm nach. »Ach, ehrlich? Öl? Und was machst du
damit?«
Diese Lippen, die hat sie schon mal gesehen ...
»Im Labor prüfen lassen, was da nicht stimmt. Die Farbe
ist komisch. Und es stinkt ...«, sagt er nach hinten, ohne wirklich
langsamer zu gehen.
Die drei Minuten?
»Ach so«, sagt Amanda. »Ach so.« Und ruft schnell: »Da drüben,
das ist mein Wagen.« Als er sich umdreht, schießt sie
mit ihrer Hand nach vorn.
»Amanda Flori.«
Der Skater nimmt das Laborglas in die Linke und kriegt
die Rechte frei. »Pravdan Milanovic.« Er lässt ihre Hand gleich
wieder los, um das Glas zu wechseln, als hätte er sich daran
verbrannt.
»Pravdan ... Milanovic«, wiederholt Amanda. Sie runzelt
die Stirn. Sie konzentriert sich. Ihr fällt aber nichts ein. Und
Pravdan Milanovic hier zählt entweder die paar Treppenstufen
und überlegt, ob er sie im Sprung nehmen soll, oder
er zerbricht sich den Kopf über die großen Rätsel der Welt.
»Wo geb ich das ab?« Amanda schwenkt ihr Päckchen in
sein Blickfeld, sie rechnet mit dem Sprung.
»Da.« Eine knappe Kopfbewegung zur Rampe hin. Die
schönen Lippen zucken einmal, Lächeln ist es keins. Der
Skater dreht sich endgültig zur Treppe um, die Hand über
dem Glas. Er hat wirklich nicht ein einziges Mal, nicht das
allerkleinste Mal gelächelt.
Amanda sieht ihm nach, bis er durch eine Tür des Firmenkomplexes
verschwunden ist. Dann beguckt sie sich ihre
rechte Hand. Sie steckt die Nase in die Handfläche.
Penetranter Ölgestank.
Sie atmet tief ein.
Pravdan Milanovic, woher kenn ich dich ...
2
DIE SÄGEZÄHNE
1:55 Uhr. Der General Manager, der in seinem 5-Sterne-
Hotel zuvor noch keine Leiche liegen hatte,
ist ein beherrschter, kontrollierter Mensch. Als solcher hat er
im Dienst noch nie die Stimme gehoben. Er schreit auch
jetzt nicht. Er nimmt nach einem Zeitraum von unbestimmbarer
Dauer die leise Musik aus den Hallenlautsprechern
und die murmelnden Stimmen der Gäste wieder wahr. Und
erschrickt endlich. In einem Reflex stellt er sich vor die Leiche,
das Gesicht dem Ausgang der blauen Bar zugewandt,
und horcht voller Angst.
Doch niemand kommt die Treppe herauf - er käme denn
lautlos. So wird wohl auch keiner in diesem und im nächsten
Augenblick auf halber Höhe, an der Kehre, sich der
blauen Bar zuwenden, die leider keine Tür hat.
Der General Manager weiß nicht, ob er sich wünschen soll,
dass die späten Gäste auch noch den Rest der Nacht in der
Halle verplaudern; einerseits möchte er, dass sie genau da sitzen
bleiben, wo sie jetzt sind, andererseits wünscht er sie in
ihre Betten, damit er die Polizei verständigen kann. Die Kripo
kommt in Zivil ... Aber die Kamera, die Spurensuche, das alles
geht wohl kaum ohne Aufsehen ab. Und dann wird man vermutlich
die Gäste befragen wollen ... Bei diesem Gedanken
stöhnt der General Manager nun doch auf, aber verhalten,
wie nur ein kontrollierter Mensch aufstöhnen kann.
Es hilft nichts, er muss handeln.
Nur eine Minute will er sich noch gönnen, um die Dinge
zu begutachten, die der Leiche auf den im Ring angeordneten
Sesseln dargeboten werden.
Neben dem Laborglas liegt ein Häufchen sanft schimmernder
Metallzähnchen, alle gleich, alle glatt poliert. Es
sind genau vierunddreißig Stück, was der General Manager
allerdings nicht wissen kann, denn um sie zu zählen, müsste
er das Häufchen mit dem Finger zerteilen.
Er wird sich hüten, etwas anzufassen.
Bravo stellt das Glas neben Franziskas Mikroskop ab.
Franzi sieht auf. »Nicht schon wieder!«, sagt sie.
»Doch. Schau's dir mal an.«
»Ich bin mitten im Sinterprotokoll!« Sie schiebt den Objektträger
mit der Knetmasse, in der ein Metallteilchen
steckt, unters Mikroskop. »Geh zu Judith.«
»Gib her«, sagt Judith und streckt die Hand nach hinten.
Sie nimmt das Glas, schnuppert vorsichtig daran, sagt
»Pfui Teufel!« und stellt es außer Reichweite. »Will das nicht
zufällig mit meinem Tee verwechseln ... Öh - suchst du was,
Bravo?«
»Hm? Nein.« Bravo wendet sich ein wenig hastig vom Fenster
ab und geht zur Tür.
»Du kannst warten, ich mach's gleich«, sagt Judith. »Nur
noch das hier.« Sie deutet auf eine Zahlenreihe auf ihrem
Bildschirm.
»Okay. Bin kurz draußen.« Bravo verlässt das Labor und
läuft zum Parkplatz vor der Warenannahme.
Der Minicooper ist weg.
Klar ist er weg, sagt sich Bravo und staunt über das erbärmliche
Verlustgefühl, das ihm die Schultern nach unten
zieht.
Als er mit dem Laborbericht in die Halle zurückkehrt,
geht er zuerst zum Regal hinter den Gummilappen.
Päckchen und Pakete, die zum Verschicken bereit liegen.
»Suchst du was, Bravo?«, fragt Dominik, der eine leere
Palette durch die Gummilappen nach draußen schiebt.
»Hat man nicht vorhin was abgegeben, was Kleines ...«
»Ja, per Eilboten. Ist schon beim Chef. Die Reklamation.«
Dominik gibt der Palette noch einen Stoß mit dem Fuß. »Ich
hab ja schon Sachen gehört. Aber dass sich die Sägezähne
beim Belastungstest verbiegen - nee.«
»Nee«, stimmt Bravo geistesabwesend zu. »Aber welcher
Dienst ... ich meine, welcher Botendienst hat das denn gebracht?«
Dominik grinst plötzlich breit. »Mann ...! Ich hab das Päckchen
angenommen ... He, Bravo, ich weiß, was du meinst!
Nee, also die Frau, hab ich gedacht, muss sich verlaufen
haben!«
»Welche Frau?«, sagt Bravo und geht mit seinem Laborblatt
weiter.
Dominik ruft hinter ihm her: »Wenn du die Sendung zurückverfolgen
willst - der Zettel ist auch beim Chef!«
Bravo braucht mehrere Stunden, bis er wieder er selbst ist.
Am Abend, auf dem Brett, konzentriert er sich einmal
nicht auf Stufen, Betonmäuerchen und Geländer, sondern
düst wie ein Anfänger kreuz und quer durch seine Provinzstadt,
auf der Suche nach einem metallicblauen Minicooper.
Obwohl das idiotisch ist, denn zu neunundneunzigkommaneun
Prozent kam der Botendienst von auswärts, vielleicht
von dort, wo der Kunde sitzt, oder von einer Übergabestelle.
Für das eine Zehntelprozent schwitzt Bravo auf seinem
Brett. Auch noch, als es dunkel ist und man ein Metallicblau
bestenfalls unter einer Laterne ausmachen kann.
Zum Chef gehen und den Botendienst zurückverfolgen -
nein, kommt nicht infrage.
Bravo hat in der Nacht einen Traum. Beim Aufwachen
weiß er, dass etwas gründlich falsch war: Man kann nicht
auf dem Skateboard über die Autobahn brettern, im Zickzack
über drei Spuren hinweg, man kann nicht auf die
Mittelplanke springen und dort entlanggleiten, um auch
den Gegenverkehr zu beobachten, so etwas ist im richtigen
Leben einfach nicht möglich.
Im richtigen Leben geht man zur Arbeit, sortiert Sägezähne
und andere Metallteile auf Grafitplatten, stapelt die
Platten und fährt das Material zum Sintern in den Ofen.
Im richtigen Leben wird man auch mit Verlustgefühlen
fertig.
Aber ein verflucht schöner Traum war es. Denn in jeder
Sekunde hätte es sein können, dass der metallicblaue Mini
Bravos Zickzackkurs kreuzt.
»Pravdan Milanovic?«, ruft die bullige Frau Henning von der
Verpackungsabteilung. Sie stampft durch die Halle, an
Arbeitstischen und Regalen vorbei, um computergesteuerte
Brennöfen, Pressen und Schneideanlagen herum und hat
einen Brief in der Hand. »Heißt einer von euch Pravdan Milanovic?«
»Nee«, ruft Luca von der Pressanlage herunter, wo er die
Granulatzufuhr prüft. »Nee, Frau Henne. Hier biste richtig
falsch.«
Bevor die Frau sich aufplustern kann, ist Bravo bei ihr.
»Zeig mal«, sagt er leise. Auf dem wasserblauen Briefkuvert
steht über der Firmenadresse Pravdan Milanovic. Eine
schwungvolle, nach links fallende, sehr besondere Schrift.
»Das ist für mich«, sagt er.
»Für dich, Bravo?« Frau Henning hält den Brief fest und
tritt einen Schritt zurück.
Die nächsten Sekunden sind übel. Denn die Frau beschallt
diesen Teil der Halle über das Dauerbrummen der Maschinen
hinweg mit der Auskunft, dass sie da einen komischen
Brief hat, einen Brief ohne Absender, einen verdammt verdächtigen
Brief für einen gewissen Pravdan, der sonst Bravo
heißt. Also, für sie sieht das original wie ein Liebesbrief aus!
Wenn das keiner ist! So eine Schrift!
Die Henne kräht wie ein Gockel und schwenkt den Brief.
Bravo ist schnell, er hat ihn. Doch schon rücken ihm die
Jungs auf die Pelle.
»Zeig, Bravo!«
»Verpisst euch.«
»Neehe. Nix da. Mach mal, Bravoface! Los!«
Bravo verdreht die Augen. Er befühlt den Brief. Er reibt ihn
zwischen den Fingern und macht graue Flecken drauf. Viel
kann da nicht drin sein. Genau gesagt, vielleicht gar nichts.
Plötzlich ist ein freundliches Taschenmesser da.
Bravo zuckt mit den Schultern und schlitzt das Kuvert
auf.
Es ist leer. Es ist wirklich leer!
Außer dass auf der Innenseite an einer Stelle etwas sehr
Kleines geschrieben steht.
Bravo spreizt das Kuvert und lässt die Leute hineingucken,
die Finger sauber auf dem winzigen Namen und der winzigen
Nummer.
»Kranke Typen.« Er zerknüllt das Kuvert, schiebt die
Papierkugel schön in die Hosentasche und macht sich dann
mit hochrotem Kopf wieder an die Arbeit - das heißt, er
stößt eine Serie Sägezähne von einer Grafitplatte, bückt
sich, um sie vom Boden aufzusammeln und fährt eben noch
zurück: Er selbst hat sie vor wenigen Minuten aus dem
Sinterofen gefahren, wo sie ihre gut vierzehnhundert Grad
abkriegten, und man spürt auf einen Meter Abstand, dass sie
heiß sind.
Aber eigentlich ist er zurückgezuckt, weil ein paar Zähnchen
wie ein A daliegen. Doch, ja. Bei etwas Fantasie.
Kurz vor Arbeitsschluss muss er in die Galvanik und greift
im Vorübergehen mal eben schnell in den Metallkorb mit
den glänzenden, fertig beschichteten Sägezähnen und versenkt
seine Faust in der Hosentasche.
An diesem Abend bleibt das Skateboard im Kofferraum.
Bravo fegt mit dem Unterarm eine ausreichend große Fläche
auf seinem Couchtisch frei, deponiert seine Zungenspitze im
Mundwinkel und ein Häufchen Sägezähne auf dem Couchtisch
und formt mit zwei Fingern Buchstaben. Aus vierunddreißig
Sägezähnen zaubert er ein schimmerndes Wort.
AMANDA.
Er starrt das Wort lange an. Dann legt er sein Handy dazu
und tippt die Nummer ein. Und starrt das Display an. Und
wechselt wieder zu den glänzenden Buchstaben. Bis sie ihm
wie Sterne vor den Augen tanzen.
Drei Tage sind vergangen, seit Amanda den Brief eingeworfen
hat. Nein, nicht vergangen, sondern Minute für Minute
quälend vorübergeschlichen. Und das bei diesem Job, diesem
Fahren gegen die Zeit, dieser Zwölf-Stunden-Maloche. Hat er
ihn schon gekriegt? Wie machen die das dort mit der Post, wer gibt
die aus? Oder wird sie ins Fach gelegt? Schaut er überhaupt in sein
Fach rein? Hab ich die Nachricht nicht doch zu winzig geschrieben?
Wer checkt um Himmels willen das Innere von einem Kuvert?
Weggehen ist nicht mehr wichtig, Freunde und Bekannte
sind bedeutungslos geworden, ja, auch Jonas irgendwie, und
die Familie war es vorher schon.
Kati und Lars, die mit Amanda die Wohnung teilen, merken
nichts, sie sind neuerdings zusammen, aber Amanda
fragt sich warum, denn sie streiten sich noch mehr als vorher
schon. Die beiden haben genug mit sich selbst zu tun.
Außerdem sehen sie das Handy nicht, das die ganze Nacht
neben ihrem Kopfkissen liegt.
Morgen. Morgen bestimmt!, denkt Amanda vor dem Einschlafen.
Vom Aufwachen an geht sie die Möglichkeiten durch:
Entweder er ruft an oder er ruft nicht an. Im zweiten Fall
gibt es Erklärungen:
Er hat den Brief nicht bekommen.
Er hat nur ein leeres Kuvert bemerkt.
Er hat eine fantastische Freundin, was ja völlig logisch
wäre. Doch genau davon will Amanda nichts wissen.
Es gäbe noch die Variante, dass er sie für eine Tusse hält
oder hässlich findet. Tusse, ja, hässlich, nein.
Tusse ganz sicher.
Am dritten Abend wimmelt Amanda Jonas an der Wohnungstür
ab, sie fühle sich krank oder irgendwas, er solle sie
einfach nur schlafen lassen und bitte, ja, am besten allein.
Sie macht genau die Sorte genervtes Gesicht, die ausreicht,
dass er abzieht, ohne sich zu große Sorgen zu machen.
Jonas - wer war das doch gleich?
Am vierten Tag, es ist Freitag, meldet sich Amanda krank.
Irgendwer wird die Tour schon übernehmen, sie ist heute
ihre eigene Eilzustellung und fährt die fünfzig Kilometer auf
ihre Rechnung.
Der Sender im Autoradio liefert den richtigen Beat zu
ihrem Herzklopfen und sie erwischt sich permanent bei
einem albernen nervösen Grinsen.
Vor der VEGA-Hartmetall GmbH findet sie eine freie Lücke
bei der Warenannahme und setzt den Wagen rückwärts rein.
Komisches Gefühl.
Hier war ich schon mal.
Vor vier Tagen.
Genau hier.
Irre.
An der Rampe steht ein Lkw. Der Fahrer lädt ein Fass ab.
Sonst ist niemand zu sehen.
Amanda steigt aus und verschwindet, bevor jemand fragen
kann, warum sie hier parkt. Der Firmenkomplex liegt an
der Hauptstraße, gegenüber einer Tankstelle, doch mit Zu-
fahrt von der Seitenstraße her. Sie folgt der Seitenstraße bis
zur Hauptstraße, überquert sie und geht in den Tankstellenshop.
Sie holt sich einen Becher Kaffee und trägt ihn zu
einem Stehtisch hinter der Schaufensterscheibe. Von dort
aus kann sie mit etwas Mühe über die Straße und die parkenden
Autos hinweg die Rampe beobachten.
Der Lkw ist verschwunden, das Fass steht noch da.
Amanda trinkt ihren Kaffee sehr langsam. Sie schmettert
einen Anbaggerversuch ab und spielt mit Hingabe Detektivin.
Plötzlich bewegen sich die Gummilappen. Sie kneift die
Augen zusammen. Jemand fährt das Fass mit einem Hubwagen
hinein. Aber es ist nicht Pravdan.
Amanda holt sich noch einen Kaffee.
Eine Zigarette wäre schön ...
Sie wühlt bereits in der Umhängetasche, als ihr einfällt,
dass sie seit heute nicht mehr raucht.
Drei Kaffees, eine Packung Diätkekse, mehrere Kaugummis
und viele Seitenblicke der Kassiererin später fährt
Amanda zusammen: Pravdan!
Er springt von der Rampe und will zu seinem Wagen.
Auf halbem Weg bleibt er wie vom Blitz getroffen stehen.
Er hat den Mini, ihren metallicblauen Eisvogel, entdeckt.
Amanda macht einen Schritt zurück. Sie findet ein Regal
und fächert durch Chipstüten, während sie ihn im Auge behält.
Ihr Herz klopft.
Pravdan entschließt sich, etwas zu tun.
Er schlendert zu ihrem Auto.
Er findet es leer.
Er fängt an, sich unauffällig umzusehen.
Bis zur anderen Straßenseite reicht sein Blick nicht.
Noch nicht.
Aber er geht zum Gehsteig hinaus, wo er die Seitenstraße
einsehen kann. Zu diesem Zeitpunkt steht Amanda hinter
dem Regal, denn er könnte ja bis zur Kreuzung kommen.
Hinter dem Regal ist sie auch, als Pravdan zum zweiten
Mal auf der Rampe erscheint. Und beim dritten - seine Abstände
werden kürzer - und vierten Mal wieder, denn sein
Blick reicht jetzt über die Straße.
Die Kassiererin steht sichtlich kurz davor, sie anzuschnauzen,
als Amanda endlich beschließt, dass es genug sei. Sie
verlässt den Laden, überquert die Hauptstraße, läuft zu
ihrem Auto und setzt sich schnell hinein.
Uff!
Falls er jetzt auftaucht, kriegt sie kein Wort heraus ...
Aber hoffentlich taucht er auf!
Sie startet den Wagen, fährt aus der Lücke und bleibt im
Leerlauf stehen, die Hand auf der Schaltung, bereit, den
Gang einzulegen im Moment, in dem sich die Gummilappen
bewegen. So tun, als würde sie gerade ausparken, ihn dann
plötzlich sehen, sich an ihn erinnern, lächeln, anhalten,
warten, was kommt.
Ein Lkw zwingt sie in die Lücke zurück, Amanda flucht.
Sie hört Stimmen auf der Rampe, kann aber nichts sehen.
Die Beifahrertür steht eine Ewigkeit offen, der Fahrer redet
hinübergebeugt dort hinaus. Dann zieht er endlich die Tür
zu. Er startet den Wagen, wendet und verlässt den Platz.
Kein Mensch auf der Rampe.
Amanda wiederholt ihr halbes Ausparkmanöver und wartet,
hibbelig, wütend auf sich selbst.
Da! Pravdan. Er kommt heraus und sieht mit einem Blick,
dass der Mini jetzt vor seiner Nase steht. Was ihn veranlasst,
scheinheilig nach dem Wetter und nach den Wolken zu
gucken.
Amanda legt etwas überhastet den Gang ein und würgt
beim Anfahren den Motor ab. Das war nicht geplant.
Pravdan springt von der Rampe.
Nicht weggehen ... Sie reißt die Tür auf und streckt den Kopf
darüber. »Oh! Hallo! Könnten Sie mir ...Öh ... Pravdan?«
»Hallo ...« Er kommt näher. Er lächelt nicht. Dafür, dass er
sie zum fünften Mal heimlich gesucht und endlich gefunden
hat, ist er ätzend cool.
»Probleme?« Seine Kopfbewegung gilt dem Minicooper.
»Normalerweise nicht«, sagt Amanda und wird wieder
feuerrot. »Der ist mir nur irgendwie gerade abgestorben.«
Was kann ich bloß fragen, wenn ich das, was ich wirklich fragen
will, nicht herauskriege?
Der Augenblick dehnt sich, die Hitze überflutet ihr Gesicht
und breitet sich weiter aus. Alles wie gehabt - total irre.
»Hast du ...« Pravdan hustet verhalten. »Hast du, ich meine,
musst du was anliefern?«
»Hier nicht. In der Nachbarschaft. Ist schon erledigt ...« Ist
mein Brief angekommen? Je länger sie wartet, desto schwerer
wird es, die Frage zu stellen.
Die Entscheidung wird ihr für den Moment abgenommen,
ein Wagen biegt in den Hof.
»Geh nicht weg!«, sagt Amanda und springt ins Auto. Der
Motor heult auf wie bei einer Anfängerin. Sie startet vorwärts,
erschrickt darüber, würgt den Wagen wieder ab, lässt
ihn erneut an und setzt ihn endlich rückwärts in die Parklücke.
Gott, was ist mit mir los?
Der Mensch im anderen Auto fuchtelt verärgert, er wollte
genau hier einparken. Pravdan ruft ihm etwas zu und zeigt
mit ausholendem Arm über die Firma hinweg, woraus
Amanda schließt, dass es hinter dem Gebäudekomplex einen
weiteren Parkplatz gibt.
Sie steigt, als der andere weg ist, mit komisch weichen
Knien aus und überspielt ihr nervöses Einparken mit einer
Kopfbewegung zum Wagen hin. »Ich glaube, mein Eisvogel
sollte in die Werkstatt ...« Dann sieht sie Pravdan direkt an.
»Meinst du, ich könnte mir kurz dein Handy ausleihen?
Mein Akku hat schlappgemacht.«
Er nimmt bereitwillig sein Handy vom Gürtel.
Es hat seine Körperwärme gespeichert und Amandas
Hand zittert, als sie ihre eigene Nummer eintippt und anwählt.
Im Display erscheint ein Wort.
AMANDA.
Ehe das Handy reagieren kann, das in ihrem Auto liegt,
bricht sie die Verbindung ab. »Öh, verwählt ...« Sie schließt
schwindlig vor Glück und Triumph die Augen. Und seufzt:
»Ich komm jetzt nicht auf die Nummer meiner Autowerkstatt
... Ist egal.« Ich hab's gewusst, ich hab's doch gewusst ...
»Danke ... Pravdan.« Sie lächelt und gibt ihm sein Handy zurück.
»Ja, also, ich muss dann mal los ...«
»Bravo, ich heiße eigentlich Bravo, schon seit der Grundschule ...«
»Bravo? Ist ja cool! Oder gibt's hier eine nette Kneipe, wo
man was essen kann?«
»Ja! Ich zeig sie dir. - Moment.« Er schaut auf seine Uhr.
»Ach ...«
»Wie lange musst du noch?«, fragt Amanda.
»Eine Stunde, leider. Bisschen lang, oder?«
»Nö. Ich muss sowieso noch was erledigen. Ich bin dann
nachher zurück und parke da draußen.« Sie zeigt zur Seitenstraße.
Bravo nickt mit der knappsten Andeutung eines Lächelns.
Als sie in den Wagen steigt, kommt Bewegung in ihn. Er setzt
in einer Flanke zur Rampe hinauf und taucht in die Gummilappen
ein.
Amanda legt die Hände aufs Steuer und tut erst mal
nichts. Sie lässt den Wagen nicht an und legt keinen Gang
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Autoren-Porträt von Irma Krauß
Irma Krauß, 1949 geboren, arbeitete nach dem Pädagogikstudium zunächst als Lehrerin an einer Grund- und Hauptschule. Als ihre drei Kinder größer wurden, begann sie zu schreiben. Seither hat sie zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. 1998 wurde Irma Krauß mit dem "Peter-Härtling-Preis" für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet. Irma Krauß lebt in der Nähe von Augsburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Irma Krauß
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2010, 350 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570160718
- ISBN-13: 9783570160718
Rezension zu „Glücksgift “
"Irma Krauß lädt dazu ein, hinter die Fassaden zu schauen, in die Köpfe der Menschen, in ihre Seelen."
Kommentare zu "Glücksgift"
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