Gold und Stein
Roman
Dramatisch, süffig und geheimnisvoll! Das neue Meisterwerk von Heidi Rehn: Eine Frau zwischen zwei Männern.
Preußen, Mitte des 15. Jahrhunderts. Die 17jährige Agnes und ihre Mutter Gunda leben als angesehene...
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Produktinformationen zu „Gold und Stein “
Dramatisch, süffig und geheimnisvoll! Das neue Meisterwerk von Heidi Rehn: Eine Frau zwischen zwei Männern.
Preußen, Mitte des 15. Jahrhunderts. Die 17jährige Agnes und ihre Mutter Gunda leben als angesehene Bierbrauerinnen in Wehlau. Der junge Baumeister Laurenz erobert Agnes' Herz im Sturm. Gunda jedoch sperrt sich mit aller Kraft gegen diese Liebe. Als die Stadt von den Deutschordensrittern belagert wird, flieht Agnes nach Königsberg, wo sie dem gleichaltrigen Caspar begegnet. Warum nur fühlt sie sich sogleich zu ihm hingezogen, wo ihr Herz doch Laurenz gehört? Ihre Verwirrung wächst, als sie an Caspars Nacken dasselbe Feuermal wie an dem ihren entdeckt.
Klappentext zu „Gold und Stein “
Preußen, Mitte des 15. Jahrhunderts. Die 17jährige Agnes und ihre Mutter Gunda leben als angesehene Bierbrauerinnen in Wehlau. Eines Tages taucht der junge Baumeister Laurenz auf und erobert Agnes Herz im Sturm. Mit aller Kraft sperrt sich Mutter Gunda gegen diese Liebe, droht damit doch ein dunkles Geheimnis aus ihrer Vergangenheit offenbar zu werden. Als die Deutschordensritter Wehlau belagern, flieht Agnes nach Königsberg, wo sie dem gleichaltrigen Caspar begegnet. Warum nur fühlt sie sich sogleich zu ihm hingezogen, wo ihr Herz doch Laurenz gehört? Ihre Verwirrung wächst, als sie an Caspars Nacken dasselbe Feuermal wie an dem ihren entdeckt. Was verbindet sie mit ihm? Plötzlich muss sie sich nicht nur zwischen zwei Männern, sondern auch zwischen zwei Müttern entscheiden...
Lese-Probe zu „Gold und Stein “
Gold und Stein von Heidi RehnProlog
LÖBENICHT (KÖNIGSBERG)
9. Mai 1438
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Es war da! Erschöpft fiel Gunda auf das Bett zurück. Nach dem ersten kraftvollen Schrei des Neugeborenen überrollte sie ein nie zuvor empfundenes Gefühl von Zärtlichkeit. Sie streckte die Arme aus, um das schleimverschmierte Bündel aus den Händen der Hebamme entgegenzunehmen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Was, wenn sich beim Anblick des Kindes die Alpträume der letzten Monate bewahrheiteten? Eine neuerliche Schmerzwelle erfasste ihren Leib. Jäh bäumte sie sich auf und stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Im nächsten Moment krümmte es sie nach vorn. Sie meinte, von innen heraus zu zerreißen.
»Heilige Margareta, steh uns bei!« Hastig übergab die Hebamme Gerda Selege das Kind an Gundas Mutter Lore und eilte zurück zum Bett. Aufmerksam glitt ihr Blick über Gundas weiterhin stark aufgedunsenen Leib. Wesentlich unsanfter als beim ersten Mal zerrte sie die Achtzehnjährige auf den Gebärstuhl zurück, tastete sie ab, schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei. Da kommt noch eins.«
Gunda begriff nicht. Warum fand dieser Alptraum kein Ende, seit so vielen Monaten nicht? Verwirrt strich sie sich das schweißnasse Haar aus der Stirn, schloss die Lider. Das Kind war da, das reichte. Jetzt wollte sie sich ausruhen, bevor sie der Wahrheit ins Auge sah.
Von neuem erfüllte ein eigenartiges Ziehen ihren Unterleib. Bald schon ging es wieder in jene kaum auszuhaltende Pein über, die binnen weniger Atemzüge den gesamten Körper erfasste. Ihr schwanden die Sinne. Eine schallende Maulschelle brachte sie ins Bewusstsein zurück.
»Hiergeblieben!«, knurrte Gerda. »Was du dir eingebrockt hast, badest du gefälligst auch aus.«
Sie setzte ihr einen Becher an die Lippen, schob mit den Fingerkuppen einige Körner zwischen Gundas Zähnen hindurch und nötigte sie anschließend zum Trinken. Der Sud schmeckte mindestens so bitter wie die Körner. Angeekelt verzog Gunda das Gesicht. Gerda zeigte kein Erbarmen, kippte ihr den Rest des widerwärtigen Gebräus in den Mund. Kaum hatte Gunda den letzten Schluck hinuntergewürgt, machte sich die Hebamme bereits an ihrem Unterleib zu schaffen. Ein seifiger, zugleich würziger Geruch nach Koriander durchzog den Raum. Voller Entsetzen spürte Gunda, wie Gerda mit dem Kraut an ihren Schamlippen entlangrieb, mit den Fingern den Muttermund bearbeitete. Sie begann, sich zu wehren, presste die Schenkel zusammen. Die erfahrene Geburtshelferin war stärker als sie und spreizte ihr energisch die Beine auseinander. Gunda erstarrte.
Nicht!, wollte sie rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Ein dunkelbärtiges Gesicht schob sich ihr vor Augen. Sie meinte, würgen zu müssen, so deutlich hatte sie den sauren Atem ihres Peinigers in der Nase, spürte das garstige Reiben seines Lederwamses auf der Haut, hörte sein widerliches Keuchen in den Ohren. Wie damals fuhr ihr auch jetzt wieder ein stechender Schmerz von unten her in den Leib. Die Qual nahm kein Ende. Heilige Mutter Gottes, flehte sie, hab Erbarmen mit mir armer Sünderin! Von neuem verlor sie die Besinnung. Dieses Mal klatschte Gerda ihr einen Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht. »So leicht machst du dich nicht davon!«
Wieder erfasste die Woge Gundas Leib. Ein zweites Mal wollte sie sich vor der Hebamme keine Blöße geben. Sie biss sich auf die Lippen, drückte und presste, wie Gerda sie geheißen hatte. Ihre Beine zitterten. Der Rand des hölzernen Gebärstuhls bohrte sich in ihr Gesäß. Feucht klebte ihr das Leinenhemd auf der Brust. Sie fror und schwitzte gleichzeitig. Die Augen zu schließen, wagte sie nicht mehr. Die bärtige Fratze sollte nicht zurückkehren.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, bis das Auf und Ab der Schmerzen nachließ. Wie ein Pfropfen aus dem Weinschlauch entlud sich endlich die schwere Last aus Gundas Bauch. Nass rann es ihr die Innenseiten der Schenkel hinab. Ein letzter, schmerzvoller Schub folgte, eine blutige Masse klatschte zu Boden. Dann war es vorbei.
Kaum nahm Gunda den empörten Aufschrei wahr, mit dem auch das zweite Kind seinen Schreck über die Ankunft in der kalten Welt zum Besten gab. Das zärtliche Gefühl in ihrem Busen blieb allerdings aus. Ein wenig zu eilig übergab die Hebamme das Kleine der wartenden Magd. Lore half ihr, es hinter dem Vorhang zu baden und zu wickeln. Das Nächste, was Gunda wahrnahm, war, wie Lore ihr sanft über den Kopf strich. Aufmunternd lächelte sie, wiegte ein Kind auf ihrem Arm. »Ist das nicht schön? Von jeder Sorte eins: ein Mädchen und ein Junge.«
Verwirrt starrte Gunda sie an. Wie konnte die Mutter sich freuen? Hatte sie vergessen, was geschehen war? Trug Lore nicht selbst entsetzlich schwer an den Folgen jenes schrecklichen Überfalls? Gundas Blick streifte die Narbe, die das vertraute Antlitz der Mutter seither am Kinn verunstaltete. Für alle Ewigkeit hatten die wüsten Peiniger sich damit in ihre Erinnerung eingeschrieben. Übelkeit stieg in Gundas Kehle auf.
Gerda brachte ihr den zweiten Säugling ans Bett. Ihre Miene war abweisend. »Zwillinge sind es. Du weißt, was das heißt. Noch ist Zeit. Dein Mann muss nichts erfahren. Soll ich mich um eins von ihnen kümmern? Mir kannst du trauen. Ich werde rasch jemanden finden, der sich um das arme Würmchen kümmert. Am besten nehme ich wohl das Mädchen.«
Knapp nickte sie zu dem Bündel, das Lore in Armen hielt. Ängstlich drückte die das Mädchen enger gegen die Brust. Gerda reichte den Jungen an Gunda, half ihr, den gierig schnappenden Mund des Kleinen um die Brustwarze zu schließen. Trotz der Nähe vermisste Gunda das Aufflammen von Wärme in ihrem Leib. Sollte eine Mutter nicht etwas empfinden, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal am Busen nährte? Während der Kleine zu saugen begann, besah sie sich mit Bangen sein rotes Gesichtchen. Einen kurzen Moment öffnete er die Augen. Gunda meinte, das Herz zerspringe ihr, so vorwurfsvoll erschien ihr der Blick. Die Nase des Jungen war winzig. Dennoch hatte sie bereits einen eindeutigen Höcker gleich unterhalb der Wurzel. Die Kerbe am Kinn und die Form der Augen bewiesen Gunda jedoch rasch etwas, was sie kaum zu hoffen gewagt hatte. Behutsam drehte sie das Köpfchen, besah sich den Nacken. Ein längliches Feuermal zog sich dort entlang. Genau wie bei Gernot! Mit einem befreiten Aufschluchzen sank sie ins Kissen, kostete endlich das glucksende Saugen des Kleinen an ihrer Brust aus. Das dunkelbärtige Ungeheuer löste sich in Nebel auf.
»Überlässt du mir also das Mädchen?« Gerdas Frage riss sie in die Wirklichkeit zurück. Da war noch ein Kind! Wie gern hätte sie das nun, da mit dem Jungen alles klar war, vergessen. Die Hebamme hatte recht. Ein Kind war genug. Die Zwillingsgeburt warf nur neue Schwierigkeiten auf. Widerwillig schob sie sich in den Kissen hoch. Gerda machte sich bereits an Lores Armen zu schaffen. Die Mutter aber wollte ihr das Bündel nicht geben.
»Gunda, Kind!«, flehte sie. »Sag doch etwas! Mach dich nicht unglücklich! Auch das hier ist dein Kind. Wir finden schon einen Weg, Kelletat alles zu erklären.«
Lores Hinweis versetzte Gunda einen Stich. An ihren Gemahl wollte sie jetzt nicht denken. Vielleicht blieb ihr das Glück hold, und er merkte nichts von der Ähnlichkeit des Jungen mit Gernot. So gut kannte der Böttchermeister aus dem Löbenicht den Kaufmannssohn aus der Altstadt glücklicherweise nicht. Außerdem hieß es, Männer schauten sich Kinder selten genauer an. Die Nachricht, einen Sohn zu haben, würde ihn in einen Freudentaumel versetzen.
Leider aber war da noch das Mädchen. Bei ihm drohte von neuem die Gefahr, dass der Alptraum wahr wurde und der Samen des stinkenden Hundes ihren Leib befruchtet hatte. Immerhin hatte das Mädchen zuerst das Licht der Welt erblickt, wie auch ihre grausame Schändung vor der verbotenen Nacht mit Gernot gelegen hatte. Seltsam, dass sie vorhin ausgerechnet für dieses Kind die ungeahnte Zärtlichkeit empfunden hatte. Ein Schauer überfiel sie. Gerdas Angebot war verlockend. Noch war es leicht, das erste Kind zu vergessen.
Nie würde jemand erfahren, dass sie an diesem Tag mehr als einen Jungen geboren hatte. Die Vorstellung gefiel ihr. Doch da war noch etwas, eine eigenartige Unruhe, ein beklemmendes Gefühl. Immer würde es da sein, wenn der Kleine an ihr saugte, wenn ein Mädchen ihren Weg kreuzte. Für einen Moment schloss sie die Augen, horchte in sich hinein. Es half nichts. Sie musste den Blick wagen, auch wenn damit alles zu spät sein würde.
»Lass es mich sehen«, bat sie mit zitternder Stimme und streckte den freien Arm nach der Mutter aus. Dem Kind an ihrem Busen entfuhr ein schwacher Seufzer. Sacht entglitt ihm die Brustwarze aus den Lippen, und es schlief ein. Lore trottete mit dem kostbaren zweiten Bündel ans Bett, behielt Gerda allerdings argwöhnisch im Auge.
»Nehmt den Jungen und legt ihn in die Wiege«, wies Gunda die Hebamme an. Erst als das geschehen war, bettete Lore ihr das Mädchen behutsam in die Armbeuge.
Von neuem überflutete Gunda bei seinem Anblick eine Woge der Zärtlichkeit. Noch ehe sie das Köpfchen gedreht und den Nacken des Kindes begutachtet hatte, wusste sie, was sie tun musste. Nie und nimmer würde sie Gerda das Kind freiwillig überlassen, selbst wenn das ihr Verderben war! Kaum nahm sie wahr, dass sich im Nacken der Kleinen dasselbe Feuermal wie bei Gernot und seinem Sohn abzeichnete. Glücklich hauchte sie einen Kuss auf das winzige, haarlose Köpfchen, drückte das Bündel eng an ihre Brust.
»Und?« Gerda machte aus ihrer Ungeduld keinen Hehl, ahnte doch auch sie bereits, was das Zaudern bedeutete. »Du weißt, was die Leute reden, wenn eine Frau zwei Kinder zugleich gebiert. Sind es wie bei dir ein Mädchen und ein Junge, ist die Sache eindeutig: Du hast nicht nur mit deinem Gemahl das Lager geteilt.«
»Was fällt Euch ein, so mit meiner Tochter zu reden?« Zitternd vor Wut hob Lore die Hand. Die Geste hatte etwas Verzweifeltes. Lore war einen guten Kopf kleiner und weitaus zierlicher als Gerda. Unbeeindruckt zuckte die Wehmutter mit den Achseln und sah wieder zu Gunda.
Unten in der Werkstatt schlug der Hund an, die Katze fauchte. Jemand stieß gegen eines der Fässer, Metall polterte zu Boden. Erschreckt sahen die Frauen einander an. Ein Fremder musste im Haus sein. Um der Gebärenden die nötige Ruhe zu verschaffen, hatte sich der Löbenichter Böttchermeister Rudolf Kelletat bereits am frühen Morgen mit seinem Knecht zur Altstadt aufgemacht. Mit ängstlichem Gesicht schlurfte die bucklige alte Magd vom Herdfeuer zur Bettstatt in der Mitte der geräumigen Wohnstube herüber.
Die Angst der Frauen erwies sich als unbegründet. Leichtfüßig sprang Gerdas zehnjähriger Sohn Laurenz die Stufen hinauf. »Hier steckst du, Mutter! Du wirst gesucht. Oh, was gibt es denn hier?«, unterbrach er sich selbst. Blitzschnell erfassten seine wachen Augen die Lage. Ohne der Mutter zu erklären, wer sie suchte, lief er erst zur Wiege, dann zum Bett, betrachtete beide Kinder mit einem verzückten Lächeln. »Zwei auf einmal!«, stieß er verwundert zwischen den Lippen hervor.
Schon beugte er sich zu Gunda herunter und streichelte dem Mädchen mit seinen feingliedrigen Fingern sacht über die Wange. Gerührt beobachtete Gunda ihn. Als sie seiner Augen gewahr wurde, schauderte sie. Laurenz hatte ein grünes und ein blaues Auge! Sie wandte sich zu Gerda. Der erschrockene Ausdruck auf dem Antlitz der Hebamme genügte. Gerda war klar, dass Gunda die Besonderheit entdeckt hatte. Widerstrebend rang sie sich ein Lächeln ab. Gunda erwiderte es zaghaft. Wenn Gerda es gelungen war, ihren Sohn trotz dieses Makels vor bösem Gerede zu bewahren, würde sie mit den Zwillingen ebenfalls zurechtkommen.
»Oh!«, entschlüpfte es Laurenz. Über der Berührung an der Wange hatte der Säugling den Kopf gedreht. Dabei wurde das Mal sichtbar. Feuerrot zog es sich vom ersten, zarten Haarflaum bis in den Nacken hinunter. Laurenz betrachtete es eine Weile. Schweigend ging er zur Wiege, besah sich den Jungen und legte unwillkürlich den rechten Zeigefinger an seinen Nasenflügel.
»Wer sucht nach mir?«, fragte Gerda unwirsch.
Der schlaksige Zehnjährige zuckte zusammen, hob den Blick. »Ich h-h-hab's v-v-vergessen«, stotterte er.
»Dann verschwinde wieder!« Gerda stupste ihn zur Treppe. »In einer Wöchnerinnenstube hast du nichts verloren.«
Eilig sprang Laurenz die Treppe hinunter. Unter dem Gepolter ging das neuerliche Anschlagen des Hundes beinahe unter.
»Wo seid ihr alle?« Eine aufgeregte Frauenstimme drang nach oben, übertönte das aufgeregter werdende Bellen. Ehe die Magd nach dem Rechten sehen konnte, kam wieder jemand die Treppen heraufgerannt. Ein wirrer, blonder Haarschopf wurde sichtbar. Kurz darauf stand eine junge, erstaunlich kräftige Frau im dämmrigen Wohnraum des Obergeschosses.
»Hermine, du?« Überrascht starrte Gerda sie an. Das breite Gesicht der jungen Frau war gerötet, ihr Atem ging heftig. Aufgeregt raufte sie sich mit den Fingern das offene Haar. In der Eile hatte sie vergessen, eine Haube aufzusetzen.
»Die Fischartin, Gerda, schnell, Ihr müsst mir helfen! Es ist entsetzlich. Der Junge ist tot zur Welt gekommen. Sie will es nicht wahrhaben, droht und zetert, ist wie von Sinnen. Was soll ich nur machen? Helft mir, sonst tut sie sich ein Leid an!«
»In dem Zustand hast du sie allein gelassen?«
»Ihre Magd ist bei ihr. Ich habe gesagt, ich hole Euch. Bitte, kommt sofort mit!«
»Langsam, langsam.« Gerda musterte Hermine von oben bis unten. Bis vor kurzem war sie noch ihre Gehilfin gewesen. »Schlimm, dass dir das gleich bei einer deiner ersten Geburten passiert. Vielleicht hättest du doch noch ein Jahr länger bei mir bleiben sollen? Auf alle Fälle musst du jetzt ruhig bleiben. So einfach kann ich hier nicht weg. Sag mir, was bei der Fischartin genau passiert ist. Vielleicht fällt mir etwas ein, was ihr hilft.«
»Hier ist Eure Arbeit doch längst getan! Den Rest erledigen die Frauen allein.« Verzweifelt schüttelte Hermine den Kopf, stellte sich an die Wiege und besah sich den darin schlafenden Jungen. Mit einem Mal senkte sich eine eigenartige Ruhe über sie. Andächtig faltete sie die Hände.
»Der ist ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten!« Sie fuhr herum, blickte zur Wöchnerin. Als sie an deren Busen ein zweites Kind entdeckte, weiteten sich ihre Augen vor Staunen. »Zwillinge? Und dann sieht auch noch das eine aus wie das drüben bei den Fischarts. Heilige Margareta, steh uns bei! Das ist ein Zeichen.« Sie bekreuzigte sich.
»Was redest du für einen Unsinn?« Gerda trat zu ihr, rüttelte sie an den Schultern. »Warum soll der Junge aussehen wie der von der Fischartin? Wie soll das gehen?«
»Fragt nicht mich, fragt lieber die Kelle...«
Weiter kam sie nicht. Gerda Selege gebot ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung zu schweigen. Ein Leuchten huschte über ihr Gesicht.
»Kelletatin, ich weiß, wie dein Mann ist«, begann sie in überaus mildem Ton und trat vors Bett. »Schon bei seiner ersten Frau war ich als Wehmutter hier im Haus. Glaub mir, ein Mädchen ist ihm ebenso willkommen wie ein Junge. Hauptsache, Mutter und Kind sind wohlauf. Das Beste ist, du überlässt uns also doch den Jungen. Hermine, nimm ihn, schnell. Bring ihn rüber in die Altstadt und leg ihn der Fischartin an die Brust. Je eher sie das Kind am Busen spürt, desto leichter nimmt sie es als das ihre an. Solange einer wie der andere aussieht, wird sie am Ende rasch vergessen, was in Wahrheit geschehen ist. Und du, Kelletatin, bist die Sorge los, wie du deinem Mann die beiden Kinder erklärst.«
»Was soll sie mir zu den beiden Kindern erklären?« Von den Frauen unbemerkt war der Böttchermeister Rudolf Kelletat in die Stube getreten. Seine stattliche Gestalt füllte den niedrigen Raum sogleich aus, die dunkle Stimme dröhnte durch das Haus. »Von hier wird kein Kind genommen und irgendwohin gebracht! Alles bleibt, wie es ist. In meinem Haus entscheide ich. Ist das klar?«
Die beiden Hebammen duckten sich erschrocken, die Magd verschanzte sich beim Herdfeuer. Lore aber stellte sich schutzspendend an das Kopfende des Betts zu ihrer Tochter. Gunda blieb keine Wahl. Bebend vor Angst zwang sie sich, ihrem Gemahl direkt ins Gesicht zu sehen.
»Sieh nur, mein lieber Rudolf, die heilige Margareta war gütig zu uns und hat uns gleich zwei Kinder beschert: einen Jungen, wie du ihn dir gewünscht hast, und ein Mädchen, wie ich es seit Wochen schon so lieblich unter meinem Herzen gespürt habe.« Umständlich reckte sie das Bündel aus ihren Armen in die Höhe, lud Kelletat ein, den neuen Erdenbürger näher zu betrachten.
Der Böttchermeister reagierte verlegen. Vorsichtig nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr sich mit den klobigen Fingern übers glattrasierte Kinn. Seine hellen Augen schimmerten feucht. Endlich gab er sich einen Ruck, ging zu Gundas Bett, kniete nieder und fasste nach ihrer freien Hand. Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Liebste, du bist wohlauf! Gott im Himmel sei Dank!«
Rudolfs sanftes Gebaren entlockte Gunda ein Lächeln. Vielleicht ging die Geschichte doch gut aus. Die rehbraunen Augen starr auf sein breites Antlitz gerichtet, drehte sie das winzige Mädchen zu ihm hin. Lore huschte zur Kiste. Umsichtig nahm sie den Jungen heraus, legte auch ihn zu Gunda ins Bett, so dass Rudolf ihn ebenfalls genauer betrachten konnte. Die beiden Hebammen rührten sich noch immer nicht. Auch die Magd schien die Luft anzuhalten. Lore verharrte neben dem Bett, jederzeit bereit, der Tochter beizustehen. Der breitschultrige Böttchermeister ließ sich Zeit.
Das Knistern des Herdfeuers füllte die Stube aus. Aufmerksam beobachtete Gunda Kelletats Mienenspiel. Er roch nach milder Frühlingsluft, Harz, Rauch und Fisch. Der zarte Milchduft der Säuglinge verschwand darüber ganz. Dicht beugte Kelletat sich über die Kinder, musterte sie genau. Gundas Herz klopfte bis zum Hals, als sie zu erkennen meinte, wie er die linke Augenbraue hochzog, die Stirn kaum merklich runzelte. Im nächsten Augenblick war nichts mehr davon zu sehen. Scheinbar ausdruckslos sah er mehrmals zwischen den beiden Säuglingen hin und her, hob schließlich die riesige Hand und stippte mit dem Zeigefinger auf die winzige Nase des Jungen. Sacht fuhr er den markanten Schwung des Nasenrückens nach.
Jetzt war es so weit! Gunda stockte der Atem. Der wahre Vater der Kinder war ihm klar. Kelletats Lippen verzogen sich zu einem wissenden Schmunzeln, seine Augen funkelten.
...
© 2012 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Es war da! Erschöpft fiel Gunda auf das Bett zurück. Nach dem ersten kraftvollen Schrei des Neugeborenen überrollte sie ein nie zuvor empfundenes Gefühl von Zärtlichkeit. Sie streckte die Arme aus, um das schleimverschmierte Bündel aus den Händen der Hebamme entgegenzunehmen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Was, wenn sich beim Anblick des Kindes die Alpträume der letzten Monate bewahrheiteten? Eine neuerliche Schmerzwelle erfasste ihren Leib. Jäh bäumte sie sich auf und stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Im nächsten Moment krümmte es sie nach vorn. Sie meinte, von innen heraus zu zerreißen.
»Heilige Margareta, steh uns bei!« Hastig übergab die Hebamme Gerda Selege das Kind an Gundas Mutter Lore und eilte zurück zum Bett. Aufmerksam glitt ihr Blick über Gundas weiterhin stark aufgedunsenen Leib. Wesentlich unsanfter als beim ersten Mal zerrte sie die Achtzehnjährige auf den Gebärstuhl zurück, tastete sie ab, schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei. Da kommt noch eins.«
Gunda begriff nicht. Warum fand dieser Alptraum kein Ende, seit so vielen Monaten nicht? Verwirrt strich sie sich das schweißnasse Haar aus der Stirn, schloss die Lider. Das Kind war da, das reichte. Jetzt wollte sie sich ausruhen, bevor sie der Wahrheit ins Auge sah.
Von neuem erfüllte ein eigenartiges Ziehen ihren Unterleib. Bald schon ging es wieder in jene kaum auszuhaltende Pein über, die binnen weniger Atemzüge den gesamten Körper erfasste. Ihr schwanden die Sinne. Eine schallende Maulschelle brachte sie ins Bewusstsein zurück.
»Hiergeblieben!«, knurrte Gerda. »Was du dir eingebrockt hast, badest du gefälligst auch aus.«
Sie setzte ihr einen Becher an die Lippen, schob mit den Fingerkuppen einige Körner zwischen Gundas Zähnen hindurch und nötigte sie anschließend zum Trinken. Der Sud schmeckte mindestens so bitter wie die Körner. Angeekelt verzog Gunda das Gesicht. Gerda zeigte kein Erbarmen, kippte ihr den Rest des widerwärtigen Gebräus in den Mund. Kaum hatte Gunda den letzten Schluck hinuntergewürgt, machte sich die Hebamme bereits an ihrem Unterleib zu schaffen. Ein seifiger, zugleich würziger Geruch nach Koriander durchzog den Raum. Voller Entsetzen spürte Gunda, wie Gerda mit dem Kraut an ihren Schamlippen entlangrieb, mit den Fingern den Muttermund bearbeitete. Sie begann, sich zu wehren, presste die Schenkel zusammen. Die erfahrene Geburtshelferin war stärker als sie und spreizte ihr energisch die Beine auseinander. Gunda erstarrte.
Nicht!, wollte sie rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Ein dunkelbärtiges Gesicht schob sich ihr vor Augen. Sie meinte, würgen zu müssen, so deutlich hatte sie den sauren Atem ihres Peinigers in der Nase, spürte das garstige Reiben seines Lederwamses auf der Haut, hörte sein widerliches Keuchen in den Ohren. Wie damals fuhr ihr auch jetzt wieder ein stechender Schmerz von unten her in den Leib. Die Qual nahm kein Ende. Heilige Mutter Gottes, flehte sie, hab Erbarmen mit mir armer Sünderin! Von neuem verlor sie die Besinnung. Dieses Mal klatschte Gerda ihr einen Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht. »So leicht machst du dich nicht davon!«
Wieder erfasste die Woge Gundas Leib. Ein zweites Mal wollte sie sich vor der Hebamme keine Blöße geben. Sie biss sich auf die Lippen, drückte und presste, wie Gerda sie geheißen hatte. Ihre Beine zitterten. Der Rand des hölzernen Gebärstuhls bohrte sich in ihr Gesäß. Feucht klebte ihr das Leinenhemd auf der Brust. Sie fror und schwitzte gleichzeitig. Die Augen zu schließen, wagte sie nicht mehr. Die bärtige Fratze sollte nicht zurückkehren.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, bis das Auf und Ab der Schmerzen nachließ. Wie ein Pfropfen aus dem Weinschlauch entlud sich endlich die schwere Last aus Gundas Bauch. Nass rann es ihr die Innenseiten der Schenkel hinab. Ein letzter, schmerzvoller Schub folgte, eine blutige Masse klatschte zu Boden. Dann war es vorbei.
Kaum nahm Gunda den empörten Aufschrei wahr, mit dem auch das zweite Kind seinen Schreck über die Ankunft in der kalten Welt zum Besten gab. Das zärtliche Gefühl in ihrem Busen blieb allerdings aus. Ein wenig zu eilig übergab die Hebamme das Kleine der wartenden Magd. Lore half ihr, es hinter dem Vorhang zu baden und zu wickeln. Das Nächste, was Gunda wahrnahm, war, wie Lore ihr sanft über den Kopf strich. Aufmunternd lächelte sie, wiegte ein Kind auf ihrem Arm. »Ist das nicht schön? Von jeder Sorte eins: ein Mädchen und ein Junge.«
Verwirrt starrte Gunda sie an. Wie konnte die Mutter sich freuen? Hatte sie vergessen, was geschehen war? Trug Lore nicht selbst entsetzlich schwer an den Folgen jenes schrecklichen Überfalls? Gundas Blick streifte die Narbe, die das vertraute Antlitz der Mutter seither am Kinn verunstaltete. Für alle Ewigkeit hatten die wüsten Peiniger sich damit in ihre Erinnerung eingeschrieben. Übelkeit stieg in Gundas Kehle auf.
Gerda brachte ihr den zweiten Säugling ans Bett. Ihre Miene war abweisend. »Zwillinge sind es. Du weißt, was das heißt. Noch ist Zeit. Dein Mann muss nichts erfahren. Soll ich mich um eins von ihnen kümmern? Mir kannst du trauen. Ich werde rasch jemanden finden, der sich um das arme Würmchen kümmert. Am besten nehme ich wohl das Mädchen.«
Knapp nickte sie zu dem Bündel, das Lore in Armen hielt. Ängstlich drückte die das Mädchen enger gegen die Brust. Gerda reichte den Jungen an Gunda, half ihr, den gierig schnappenden Mund des Kleinen um die Brustwarze zu schließen. Trotz der Nähe vermisste Gunda das Aufflammen von Wärme in ihrem Leib. Sollte eine Mutter nicht etwas empfinden, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal am Busen nährte? Während der Kleine zu saugen begann, besah sie sich mit Bangen sein rotes Gesichtchen. Einen kurzen Moment öffnete er die Augen. Gunda meinte, das Herz zerspringe ihr, so vorwurfsvoll erschien ihr der Blick. Die Nase des Jungen war winzig. Dennoch hatte sie bereits einen eindeutigen Höcker gleich unterhalb der Wurzel. Die Kerbe am Kinn und die Form der Augen bewiesen Gunda jedoch rasch etwas, was sie kaum zu hoffen gewagt hatte. Behutsam drehte sie das Köpfchen, besah sich den Nacken. Ein längliches Feuermal zog sich dort entlang. Genau wie bei Gernot! Mit einem befreiten Aufschluchzen sank sie ins Kissen, kostete endlich das glucksende Saugen des Kleinen an ihrer Brust aus. Das dunkelbärtige Ungeheuer löste sich in Nebel auf.
»Überlässt du mir also das Mädchen?« Gerdas Frage riss sie in die Wirklichkeit zurück. Da war noch ein Kind! Wie gern hätte sie das nun, da mit dem Jungen alles klar war, vergessen. Die Hebamme hatte recht. Ein Kind war genug. Die Zwillingsgeburt warf nur neue Schwierigkeiten auf. Widerwillig schob sie sich in den Kissen hoch. Gerda machte sich bereits an Lores Armen zu schaffen. Die Mutter aber wollte ihr das Bündel nicht geben.
»Gunda, Kind!«, flehte sie. »Sag doch etwas! Mach dich nicht unglücklich! Auch das hier ist dein Kind. Wir finden schon einen Weg, Kelletat alles zu erklären.«
Lores Hinweis versetzte Gunda einen Stich. An ihren Gemahl wollte sie jetzt nicht denken. Vielleicht blieb ihr das Glück hold, und er merkte nichts von der Ähnlichkeit des Jungen mit Gernot. So gut kannte der Böttchermeister aus dem Löbenicht den Kaufmannssohn aus der Altstadt glücklicherweise nicht. Außerdem hieß es, Männer schauten sich Kinder selten genauer an. Die Nachricht, einen Sohn zu haben, würde ihn in einen Freudentaumel versetzen.
Leider aber war da noch das Mädchen. Bei ihm drohte von neuem die Gefahr, dass der Alptraum wahr wurde und der Samen des stinkenden Hundes ihren Leib befruchtet hatte. Immerhin hatte das Mädchen zuerst das Licht der Welt erblickt, wie auch ihre grausame Schändung vor der verbotenen Nacht mit Gernot gelegen hatte. Seltsam, dass sie vorhin ausgerechnet für dieses Kind die ungeahnte Zärtlichkeit empfunden hatte. Ein Schauer überfiel sie. Gerdas Angebot war verlockend. Noch war es leicht, das erste Kind zu vergessen.
Nie würde jemand erfahren, dass sie an diesem Tag mehr als einen Jungen geboren hatte. Die Vorstellung gefiel ihr. Doch da war noch etwas, eine eigenartige Unruhe, ein beklemmendes Gefühl. Immer würde es da sein, wenn der Kleine an ihr saugte, wenn ein Mädchen ihren Weg kreuzte. Für einen Moment schloss sie die Augen, horchte in sich hinein. Es half nichts. Sie musste den Blick wagen, auch wenn damit alles zu spät sein würde.
»Lass es mich sehen«, bat sie mit zitternder Stimme und streckte den freien Arm nach der Mutter aus. Dem Kind an ihrem Busen entfuhr ein schwacher Seufzer. Sacht entglitt ihm die Brustwarze aus den Lippen, und es schlief ein. Lore trottete mit dem kostbaren zweiten Bündel ans Bett, behielt Gerda allerdings argwöhnisch im Auge.
»Nehmt den Jungen und legt ihn in die Wiege«, wies Gunda die Hebamme an. Erst als das geschehen war, bettete Lore ihr das Mädchen behutsam in die Armbeuge.
Von neuem überflutete Gunda bei seinem Anblick eine Woge der Zärtlichkeit. Noch ehe sie das Köpfchen gedreht und den Nacken des Kindes begutachtet hatte, wusste sie, was sie tun musste. Nie und nimmer würde sie Gerda das Kind freiwillig überlassen, selbst wenn das ihr Verderben war! Kaum nahm sie wahr, dass sich im Nacken der Kleinen dasselbe Feuermal wie bei Gernot und seinem Sohn abzeichnete. Glücklich hauchte sie einen Kuss auf das winzige, haarlose Köpfchen, drückte das Bündel eng an ihre Brust.
»Und?« Gerda machte aus ihrer Ungeduld keinen Hehl, ahnte doch auch sie bereits, was das Zaudern bedeutete. »Du weißt, was die Leute reden, wenn eine Frau zwei Kinder zugleich gebiert. Sind es wie bei dir ein Mädchen und ein Junge, ist die Sache eindeutig: Du hast nicht nur mit deinem Gemahl das Lager geteilt.«
»Was fällt Euch ein, so mit meiner Tochter zu reden?« Zitternd vor Wut hob Lore die Hand. Die Geste hatte etwas Verzweifeltes. Lore war einen guten Kopf kleiner und weitaus zierlicher als Gerda. Unbeeindruckt zuckte die Wehmutter mit den Achseln und sah wieder zu Gunda.
Unten in der Werkstatt schlug der Hund an, die Katze fauchte. Jemand stieß gegen eines der Fässer, Metall polterte zu Boden. Erschreckt sahen die Frauen einander an. Ein Fremder musste im Haus sein. Um der Gebärenden die nötige Ruhe zu verschaffen, hatte sich der Löbenichter Böttchermeister Rudolf Kelletat bereits am frühen Morgen mit seinem Knecht zur Altstadt aufgemacht. Mit ängstlichem Gesicht schlurfte die bucklige alte Magd vom Herdfeuer zur Bettstatt in der Mitte der geräumigen Wohnstube herüber.
Die Angst der Frauen erwies sich als unbegründet. Leichtfüßig sprang Gerdas zehnjähriger Sohn Laurenz die Stufen hinauf. »Hier steckst du, Mutter! Du wirst gesucht. Oh, was gibt es denn hier?«, unterbrach er sich selbst. Blitzschnell erfassten seine wachen Augen die Lage. Ohne der Mutter zu erklären, wer sie suchte, lief er erst zur Wiege, dann zum Bett, betrachtete beide Kinder mit einem verzückten Lächeln. »Zwei auf einmal!«, stieß er verwundert zwischen den Lippen hervor.
Schon beugte er sich zu Gunda herunter und streichelte dem Mädchen mit seinen feingliedrigen Fingern sacht über die Wange. Gerührt beobachtete Gunda ihn. Als sie seiner Augen gewahr wurde, schauderte sie. Laurenz hatte ein grünes und ein blaues Auge! Sie wandte sich zu Gerda. Der erschrockene Ausdruck auf dem Antlitz der Hebamme genügte. Gerda war klar, dass Gunda die Besonderheit entdeckt hatte. Widerstrebend rang sie sich ein Lächeln ab. Gunda erwiderte es zaghaft. Wenn Gerda es gelungen war, ihren Sohn trotz dieses Makels vor bösem Gerede zu bewahren, würde sie mit den Zwillingen ebenfalls zurechtkommen.
»Oh!«, entschlüpfte es Laurenz. Über der Berührung an der Wange hatte der Säugling den Kopf gedreht. Dabei wurde das Mal sichtbar. Feuerrot zog es sich vom ersten, zarten Haarflaum bis in den Nacken hinunter. Laurenz betrachtete es eine Weile. Schweigend ging er zur Wiege, besah sich den Jungen und legte unwillkürlich den rechten Zeigefinger an seinen Nasenflügel.
»Wer sucht nach mir?«, fragte Gerda unwirsch.
Der schlaksige Zehnjährige zuckte zusammen, hob den Blick. »Ich h-h-hab's v-v-vergessen«, stotterte er.
»Dann verschwinde wieder!« Gerda stupste ihn zur Treppe. »In einer Wöchnerinnenstube hast du nichts verloren.«
Eilig sprang Laurenz die Treppe hinunter. Unter dem Gepolter ging das neuerliche Anschlagen des Hundes beinahe unter.
»Wo seid ihr alle?« Eine aufgeregte Frauenstimme drang nach oben, übertönte das aufgeregter werdende Bellen. Ehe die Magd nach dem Rechten sehen konnte, kam wieder jemand die Treppen heraufgerannt. Ein wirrer, blonder Haarschopf wurde sichtbar. Kurz darauf stand eine junge, erstaunlich kräftige Frau im dämmrigen Wohnraum des Obergeschosses.
»Hermine, du?« Überrascht starrte Gerda sie an. Das breite Gesicht der jungen Frau war gerötet, ihr Atem ging heftig. Aufgeregt raufte sie sich mit den Fingern das offene Haar. In der Eile hatte sie vergessen, eine Haube aufzusetzen.
»Die Fischartin, Gerda, schnell, Ihr müsst mir helfen! Es ist entsetzlich. Der Junge ist tot zur Welt gekommen. Sie will es nicht wahrhaben, droht und zetert, ist wie von Sinnen. Was soll ich nur machen? Helft mir, sonst tut sie sich ein Leid an!«
»In dem Zustand hast du sie allein gelassen?«
»Ihre Magd ist bei ihr. Ich habe gesagt, ich hole Euch. Bitte, kommt sofort mit!«
»Langsam, langsam.« Gerda musterte Hermine von oben bis unten. Bis vor kurzem war sie noch ihre Gehilfin gewesen. »Schlimm, dass dir das gleich bei einer deiner ersten Geburten passiert. Vielleicht hättest du doch noch ein Jahr länger bei mir bleiben sollen? Auf alle Fälle musst du jetzt ruhig bleiben. So einfach kann ich hier nicht weg. Sag mir, was bei der Fischartin genau passiert ist. Vielleicht fällt mir etwas ein, was ihr hilft.«
»Hier ist Eure Arbeit doch längst getan! Den Rest erledigen die Frauen allein.« Verzweifelt schüttelte Hermine den Kopf, stellte sich an die Wiege und besah sich den darin schlafenden Jungen. Mit einem Mal senkte sich eine eigenartige Ruhe über sie. Andächtig faltete sie die Hände.
»Der ist ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten!« Sie fuhr herum, blickte zur Wöchnerin. Als sie an deren Busen ein zweites Kind entdeckte, weiteten sich ihre Augen vor Staunen. »Zwillinge? Und dann sieht auch noch das eine aus wie das drüben bei den Fischarts. Heilige Margareta, steh uns bei! Das ist ein Zeichen.« Sie bekreuzigte sich.
»Was redest du für einen Unsinn?« Gerda trat zu ihr, rüttelte sie an den Schultern. »Warum soll der Junge aussehen wie der von der Fischartin? Wie soll das gehen?«
»Fragt nicht mich, fragt lieber die Kelle...«
Weiter kam sie nicht. Gerda Selege gebot ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung zu schweigen. Ein Leuchten huschte über ihr Gesicht.
»Kelletatin, ich weiß, wie dein Mann ist«, begann sie in überaus mildem Ton und trat vors Bett. »Schon bei seiner ersten Frau war ich als Wehmutter hier im Haus. Glaub mir, ein Mädchen ist ihm ebenso willkommen wie ein Junge. Hauptsache, Mutter und Kind sind wohlauf. Das Beste ist, du überlässt uns also doch den Jungen. Hermine, nimm ihn, schnell. Bring ihn rüber in die Altstadt und leg ihn der Fischartin an die Brust. Je eher sie das Kind am Busen spürt, desto leichter nimmt sie es als das ihre an. Solange einer wie der andere aussieht, wird sie am Ende rasch vergessen, was in Wahrheit geschehen ist. Und du, Kelletatin, bist die Sorge los, wie du deinem Mann die beiden Kinder erklärst.«
»Was soll sie mir zu den beiden Kindern erklären?« Von den Frauen unbemerkt war der Böttchermeister Rudolf Kelletat in die Stube getreten. Seine stattliche Gestalt füllte den niedrigen Raum sogleich aus, die dunkle Stimme dröhnte durch das Haus. »Von hier wird kein Kind genommen und irgendwohin gebracht! Alles bleibt, wie es ist. In meinem Haus entscheide ich. Ist das klar?«
Die beiden Hebammen duckten sich erschrocken, die Magd verschanzte sich beim Herdfeuer. Lore aber stellte sich schutzspendend an das Kopfende des Betts zu ihrer Tochter. Gunda blieb keine Wahl. Bebend vor Angst zwang sie sich, ihrem Gemahl direkt ins Gesicht zu sehen.
»Sieh nur, mein lieber Rudolf, die heilige Margareta war gütig zu uns und hat uns gleich zwei Kinder beschert: einen Jungen, wie du ihn dir gewünscht hast, und ein Mädchen, wie ich es seit Wochen schon so lieblich unter meinem Herzen gespürt habe.« Umständlich reckte sie das Bündel aus ihren Armen in die Höhe, lud Kelletat ein, den neuen Erdenbürger näher zu betrachten.
Der Böttchermeister reagierte verlegen. Vorsichtig nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr sich mit den klobigen Fingern übers glattrasierte Kinn. Seine hellen Augen schimmerten feucht. Endlich gab er sich einen Ruck, ging zu Gundas Bett, kniete nieder und fasste nach ihrer freien Hand. Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Liebste, du bist wohlauf! Gott im Himmel sei Dank!«
Rudolfs sanftes Gebaren entlockte Gunda ein Lächeln. Vielleicht ging die Geschichte doch gut aus. Die rehbraunen Augen starr auf sein breites Antlitz gerichtet, drehte sie das winzige Mädchen zu ihm hin. Lore huschte zur Kiste. Umsichtig nahm sie den Jungen heraus, legte auch ihn zu Gunda ins Bett, so dass Rudolf ihn ebenfalls genauer betrachten konnte. Die beiden Hebammen rührten sich noch immer nicht. Auch die Magd schien die Luft anzuhalten. Lore verharrte neben dem Bett, jederzeit bereit, der Tochter beizustehen. Der breitschultrige Böttchermeister ließ sich Zeit.
Das Knistern des Herdfeuers füllte die Stube aus. Aufmerksam beobachtete Gunda Kelletats Mienenspiel. Er roch nach milder Frühlingsluft, Harz, Rauch und Fisch. Der zarte Milchduft der Säuglinge verschwand darüber ganz. Dicht beugte Kelletat sich über die Kinder, musterte sie genau. Gundas Herz klopfte bis zum Hals, als sie zu erkennen meinte, wie er die linke Augenbraue hochzog, die Stirn kaum merklich runzelte. Im nächsten Augenblick war nichts mehr davon zu sehen. Scheinbar ausdruckslos sah er mehrmals zwischen den beiden Säuglingen hin und her, hob schließlich die riesige Hand und stippte mit dem Zeigefinger auf die winzige Nase des Jungen. Sacht fuhr er den markanten Schwung des Nasenrückens nach.
Jetzt war es so weit! Gunda stockte der Atem. Der wahre Vater der Kinder war ihm klar. Kelletats Lippen verzogen sich zu einem wissenden Schmunzeln, seine Augen funkelten.
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Autoren-Porträt von Heidi Rehn
Heidi Rehn, geb. 1966 in Koblenz/ Rhein, wuchs in einer Kleinstadt am Mittelrhein auf. Zum Studium der Germanistik, Geschichte, BWL und Kommunikationswissenschaften kam sie nach München. Nach dem Magisterexamen arbeitete sie zunächst als Dozentin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, anschließend war sie PR-Beraterin in einer Agentur. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie mitten in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heidi Rehn
- 2012, 712 Seiten, Maße: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426652617
- ISBN-13: 9783426652619
Rezension zu „Gold und Stein “
"Dieser Historienroman fesselt mit beeindruckenden Frauen, die über Generationen hinweg gegen Ungerechtigkeit und für die Liebe kämpfen." -- Petra - Buch Special, 01.05.2012
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