Habt Mut!
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
In seinem Plädoyer „Habt Mut!" stützt sich Erwin Kräutler auf die Schriften der Bibel, den Worten von Papst Franziskus und dem Erfahrungsschatz aus seiner 50-jährigen Arbeit als Seelsorger und Bischof in Amazonien. Es überrascht nicht, dass Erwin Kräutler und Papst Franziskus in vielen Ansichten übereinstimmen. Umso interessanter ist es zu lesen, wie die beiden Kirchenmänner aus dem Süden die anstehenden Herausforderungen für uns Europäer und europäischen Christen benennen. In sieben Leitsätzen versuchen Sie uns den richtigen Weg in die Zukunft zu weisen:
1.Liebe die Menschen
2.Schau bei den Armen nicht weg
3.Achte die Schöpfung
4.Suche den Frieden
5.Führe auf Augenhöhe
6.Hab Mut zu Veränderungen
7.Es gibt nur eine Welt - nimm deine Verantwortung wahr
Gerade in schwierigen Zeiten gibt dieses Buch einen Denkanstoß, unsere Einstellung zu anstehenden Veränderungen und den Umgang mit unseren Mitmenschen und unserer Erde zu hinterfragen. Die Leitsätze dieses Buches helfen uns mutig und aufgeschlossen in eine neue Zukunft zu gehen. Ein aufrüttelnder Appell an alle Menschen, vom Ehrenpreisträger des österreichischen Buchhandels 2014. Ein sehr empfehlenswertes Werk, um sich mutig den neuen Zeiten zu stellen.
„Habt Mut!" das neue Werk des Amazonasbischofs gleich hier online bestellen!
Vorwort
Die Welt hat sich verändert, alte Ordnungen und Sicherheiten
wanken. Europa muss sich neu orientieren. Aber
wohin?
Erwin Kräutler benennt sieben Kategorien für ein Leben,
das vor dem eigenen Gewissen und vor der Mitwelt
bestehen kann. In seinem Plädoyer stützt sich der gebürtige
Vorarlberger auf die Bibel, auf seine 50-jährige Erfahrung
als Seelsorger und Bischof in Amazonien und auf
die Verkündigung von Papst Franziskus. Der Bischof vom
Xingu und der Papst aus Buenos Aires stimmen dabei in
vielen wesentlichen Akzentsetzungen überein. Punktgenau
benennen die beiden Kirchenmänner aus dem Süden
die Herausforderungen, vor denen Europa und die europäischen
Christen stehen.
Franziskus wohnt nicht im Papstpalast, sondern im
Gästehaus, er fährt nicht mit einer Limousine vor, sondern
im Kleinwagen, er gibt keine autoritären Lehrschreiben
heraus, sondern fragt zuerst die Menschen, wie sie
leben und was sie glauben. Für Jorge Mario Bergoglio stehen
nicht die Kirche, das System und die Hierarchie im
Mittelpunkt. Der erste Papst aus Lateinamerika hat immer
den konkreten Menschen im Blick. Er will kein jahrhundertealtes
System in die Zukunft retten, sondern fragt,
wie die Kirche den Menschen Hilfe und Stütze sein kann
- in guten und in bösen Tagen.
Erwin Kräutler lädt uns ein, ein Stück des Weges mit
dem Bischof von Rom zu gehen. Dieser Weg ist markiert
von der Liebe zu den Menschen, vom Blick für die Armen,
von der Achtung für die Mitwelt, von der Suche nach Versöhnung
und Frieden und von einer Autorität, die kein
autoritäres Gehabe braucht. Aus diesen Haltungen können
wir den Mut zur Veränderung schöpfen, der notwendig
ist, um unsere Verantwortung für die Welt wahrzunehmen.
Drei Lebensregeln aus der Bibel geben zu jedem der
sieben Kapitel konkrete Anregungen für den Alltag.
Josef Bruckmoser
1. Liebe die Menschen
„Guten Abend,
Brüder und Schwestern!"
Mit dem ersten Papst aus Lateinamerika hat in der römisch-
katholischen Kirche eine neue Ära begonnen. Das
hat sich schon in seiner ersten unmittelbaren Begegnung
mit den Menschen gezeigt, am 13. März 2013 um 20.22
Uhr, als Jorge Mario Bergoglio auf der Loggia des Petersdoms
in Rom erschienen ist. „Habemus papam" war
die Ankündigung - und gekommen ist ein Mensch wie
du und ich. Einer, der sich von Anfang an nicht als eine
abgehobene Autorität verstand, sondern dessen Name
Programm ist: Franziskus, abgeleitet von Franz von Assisi.
Ein „Poverello" will er sein, ein Armer unter den Menschen,
einer, der die Menschen mag, und einer, der staunen
kann vor den Wundern dieser Welt, wie es Franz von
Assisi in seinem berühmten und bis heute berührenden
„Sonnengesang" getan hat.
Mit seinen ersten Worten, mit seiner ersten kurzen Ansprache
hat Papst Franziskus die Herzen der Menschen
erobert, die auf dem Petersplatz versammelt waren:
„Brüder und Schwestern!
Guten Abend!
Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen
Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle,
sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um
ihn zu holen. ... Aber wir sind hier. ... Ich danke euch
für diesen Empfang. Die Diözese Rom hat nun ihren
Bischof. Danke. Zunächst möchte ich ein Gebet sprechen
für unseren emeritierten Bischof Benedikt XVI.
Beten wir alle gemeinsam für ihn, dass der Herr ihn
segne und die Mutter Gottes ihn beschütze.
Und jetzt beginnen wir diesen Weg - Bischof und Volk
-, den Weg der Kirche von Rom, die den Vorsitz in der
Liebe führt gegenüber allen Kirchen; einen Weg der
Brüderlichkeit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens.
Beten wir immer füreinander. Beten wir für die ganze
Welt, damit ein großes Miteinander herrsche. Ich wünsche
euch, dass dieser Weg als Kirche, den wir heute beginnen
und bei dem mir mein Kardinalvikar, der hier
anwesend ist, helfen wird, fruchtbar sei für die Evangelisierung
dieser schönen Stadt.
Und nun möchte ich den Segen erteilen, aber zuvor
bitte ich euch um einen Gefallen. Ehe der Bischof das
Volk segnet, bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass
er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen
für seinen Bischof bittet. In Stille wollen wir euer Gebet
für mich halten.
Jetzt werde ich euch und der ganzen Welt, allen Männern
und Frauen guten Willens, den Segen erteilen.
[Segen]
Brüder und Schwestern, ich verabschiede mich von
euch. Vielen Dank für den Empfang. Betet für mich
und bis bald! Wir sehen uns bald: Morgen möchte ich
die Mutter Gottes aufsuchen und sie bitten, ganz Rom
zu beschützen. Gute Nacht und angenehme Ruhe."
Für mich ist es die wichtigste Voraussetzung für den Beruf
und die Berufung des Priesters oder Bischofs - oder des
Papstes, des Bischofs von Rom -, dass du die Menschen
magst. Wir erleben das in der lateinamerikanischen Situation
sehr deutlich. Es gibt eine gar nicht so geringe Zahl
von jüngeren Priestern, die - ähnlich wie bei evangelikalen
und pfingstlerischen Gemeinschaften - vor allem ihr
Amt hervorheben. Sie verstehen sich als die aus dem Volk
herausgenommenen Männer, die kraft ihrer Weihe die
Sakramente spenden. Und es gibt die vielen anderen, ich
nenne sie die Priester des Volkes. Das sind die, die bei den
Menschen und mit den Menschen leben. Auch sie spenden
die Sakramente, aber sie teilen mit dem Volk Gottes
die Sorgen des Alltags. Sie verklären die Armut nicht zynisch,
indem sie ein reiches Leben im Paradies des Jenseits
versprechen.
Als ich zum Bischof der Diözese Xingu in Amazonien
bestellt wurde, fragte ich vor der Bischofsweihe meine
Leute, was sie von ihrem Bischof erwarten. Die Antwort
der Laien, Frauen und Männer, die an der Versammlung
teilnahmen, war: „Bitte, leite die Diözese nicht von einem
Schreibtisch aus, sondern komm hinaus zu uns, damit du
an deinem eigenen Leib erfährst, wie wir leben, was unsere
Sorgen und Nöte sind, unsere Trauer und Angst, aber
auch unsere Freude und Hoffnung." Ich kann einen Menschen
nur wirklich lieben, wenn ich sein Umfeld kenne,
wenn ich weiß, woher er kommt, wie er lebt und wohin
er strebt.
Schon als Jesuit, als Priester, als Bischof und schließlich
als Kardinal in Buenos Aires hat Jorge Mario Bergoglio
diesen Geist der Geschwisterlichkeit gelebt. Das macht
seine persönliche Glaubwürdigkeit aus. Für Papst Franziskus
ist es kein PR-Gag, keine Show für die Fernsehkame-
ras aus aller Welt, wenn er auf einer seiner Reisen mitten
im Pulk offizieller Staatskarossen in einen mausgrauen
Mittelklassewagen steigt. Es ist nicht für die „Auslage",
sondern es ist für ihn selbstverständlich, dass er beim Optiker
nicht eine komplett neue Brille kauft, sondern nur
Gläser mit der neuen Dioptrie in die alte Fassung einpassen
lässt.
Der Zweck ist erfüllt, mehr ist nicht notwendig, denkt
Franziskus, und vermittelt damit zwei Botschaften: Das
Notwendige ja, das Überflüssige nein. Ich will - und muss
in meinem Amt - gut sehen, aber ich bin kein Teil einer
Konsum- und Wegwerfgesellschaft, die das ohne weiteres
noch Brauchbare achtlos in den Müll wirft.
Ein Evangelium, das froh macht
Papst Franziskus ist ein Mensch, der eine frohe Gelassenheit
ausstrahlt. Sie kommt aus einem Verständnis
des Evangeliums, das zuerst die frohe Botschaft, die gute
Nachricht sieht und erst darauf aufbauend die Konsequenzen,
die sich in der Lebensführung als Rechte, aber
naturgemäß auch als Pflichten daraus ergeben. Bei Franziskus
besteht nie ein Zweifel, was er will, was er für menschenwürdig
und erstrebenswert hält. Aber diese Haltung
kommt nicht als eine von oben daher, als eine nur belehrende
und fordernde, eventuell sogar mit erhobenem Zeigefinger.
Die Kirche war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein
in erster Linie die Hierarchie. Diese wurde als Mutter und
Lehrerin der Gläubigen verstanden. Über die Stellung und
Berufung der Laien in der Kirche gab es kaum theologische
Abhandlungen. Die Laien waren so etwas wie Konsumenten
dessen, was der Klerus ihnen vorsetzte, praktisch
ohne Mitspracherecht. Unbedingter, sich unterwerfender
Gehorsam der kirchlichen Obrigkeit gegenüber war gefordert.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) sieht
nun an erster Stelle das Volk Gottes. In der Dogmatischen
Konstitution über die Kirche „Lumen gentium" ist
nach einem einleitenden Kapitel über das Mysterium der
Kirche das zweite große Kapitel dem Volk Gottes gewidmet.
Erst im dritten Kapitel geht es um die Amtsträger,
die nicht eine isolierte, abgehobene Kaste bilden, sondern
im Dienste ebendieses Volkes Gottes stehen. Nach diesem
dritten Kapitel über die Amtsträger kommt ein weiteres
über die Laien. Es geht also nochmals um das Volk Gottes,
denn das Wort Laie kommt ja vom griechischen laós
(Volk) bzw. laikós (zum Volk gehörig). In diesem Kapitel
steht dann auch der wunderbare Satz: „Wie die Laien
Christus zum Bruder haben, der, obwohl aller Herr, doch
gekommen ist, nicht um sich bedienen zu lassen, sondern
um zu dienen (vgl. Mt 20,28), so haben sie auch die geweihten
Amtsträger zu Brüdern" (LG 32).
Es hat noch Jahrzehnte gedauert, bis diese Umkehrung
der Verhältnisse Fuß gefasst hat. Wirklich vollzogen, intensiviert
und gelebt wird dieses Kirchenbild von Papst
Franziskus. Bereits in seinem ersten programmatischen
Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium" über die
„Freude des Evangeliums" hat er mit Blick auf die Gläubigen
geschrieben:
„Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften,
die dem Volk Gottes von Christus und den
Aposteln gegeben wurden, ,ganz wenige‘ʻ sind. Indem
er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die
von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit
Maß einzufordern sind, ,um den Gläubigen das Leben
nicht schwer zu machen‘ʻ und unsere Religion nicht in
eine Sklaverei zu verwandeln, während ,die Barmherzigkeit
Gottes wollte, dass sie frei sei‘. Diese Warnung,
die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt
eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien
sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über
eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht
wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.
(EG 43)"
Das erinnert an die Auseinandersetzungen, die Jesus mit
den religiösen Autoritäten seiner Zeit geführt hat. „Sie legen
den Menschen schwere Lasten auf" (Mt 23,4), kritisierte
er - und hielt sein Evangelium der Freude dagegen:
„Meine Bürde ist leicht" (Mt 11,30). Für Papst Franziskus
kommt zuerst die Frohbotschaft. Alles andere folgt daraus,
sofern es aus der prinzipiellen und bedingungslosen
Heilszusage Gottes an den Menschen ableitbar ist.
Das Jahr
der Barmherzigkeit
Ein konkreter programmatischer Ausdruck dieser Haltung
des Papstes ist das „Jahr der Barmherzigkeit". Dieses
Heilige Jahr begann symbolträchtig am 8. Dezember
2015, dem 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen
Konzils. Es endet am 20. November 2016. Es
ist somit eine Einladung, das mit dem Konzil begonnene
Werk fortzuführen, und zwar ausdrücklich unter dem Aspekt
der Barmherzigkeit.
Dieses „Außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit"
ist ein Mottojahr, das aus den innersten Beweggründen
kommt, die Papst Franziskus in seinem Amt leiten.
Barmherzigkeit ist für ihn der Kern der christlichen Botschaft
und das Schlüsselwort seines Pontifikates. Er will
mit dem Jahr der Barmherzigkeit die Kirche dahin führen,
in allen Bereichen der Seelsorge Zeichen und Zeugin dieser
Barmherzigkeit zu sein.
Barmherzigkeit ist ein zutiefst biblischer Begriff. Ich erinnere
mich gerne an eine Frau, Adriana heißt sie, die ich getraut
habe. Ein Jahr nach der Hochzeit habe ich sie getroffen.
Sie erzählte mir, sie hätte so gern ein Kind, aber es sei bisher
nicht möglich gewesen. Sie war unendlich traurig. Wiederum
ein Jahr später habe ich die Frau neuerlich getroffen,
und sie war schwanger. Nie mehr vergesse ich das leuchtende
Gesicht von Adriana, wie sie mit der Liebe einer jungen
Mutter ihre Hände auf ihren bereits sanft gewölbten Schoß
legte und mir erklärte, wie sich das Kind rege und bewege.
Genau das will rachamim ausdrücken, das hebräische
Wort für Barmherzigkeit. Dessen Wurzel ist rechem, das
heißt Mutterschoß. Es ist die Erfahrung einer werdenden
Mutter, die ein Kind in ihrem Schoß trägt, die tiefe Verbundenheit,
alle damit verbundenen Gefühle selbstloser Liebe,
Zärtlichkeit, Sorgfalt, Zuneigung und Güte. Niemand ist
einander näher als eine Mutter und das Kind unter ihrem
Herzen. Es gibt unter Menschen keine ursprünglichere Erfahrung
liebender Verbundenheit als diese zärtliche Einheit.
Das Alte Testament schreibt alle diese „Gefühle" Gott
zu. Barmherzigkeit offenbart somit vom Wortstamm her
die mütterliche, die weibliche Seite Gottes.
Genau darauf zielt das Jahr der Barmherzigkeit: dass
Menschen die unmittelbare und bedingungslose Zuwendung
Gottes erfahren, auch und gerade im Handeln der
Kirche. So war beispielsweise die Lossprechung in der
Beichte für eine Frau, die eine Abtreibung durchgeführt
hatte, immer einem Bischof vorbehalten. Franziskus hat
diese Vollmacht für das „Jahr der Barmherzigkeit" allen
Priestern erteilt. Es ist ihm damit etwas gelungen, was der
katholischen Kirche zumal in Fragen des Lebensschutzes
so schwerfällt: dem einzelnen Menschen in seiner persönlichen
Situation mit Liebe zu begegnen und ihm gerecht
zu werden, ohne damit den Grundsatz aufzugeben, dass
das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum Tod
unantastbar ist.
Franziskus unterläuft jenes kirchliche Schwarz-Weiß-
Denken, das entweder nur die strenge Sitte und Moral
oder den völligen Relativismus und sittlichen Verfall
kennt. Er lebt das Wort, das Jesus angesichts der „Sünde18
rin" gesagt hat, die man ihm vorgeführt hatte: „Wer von
euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein." Als sich nach
und nach alle widerwillig, aber sozusagen alternativlos,
aus dem Staub machen, sagt Jesus: „Dann will auch ich
dich nicht verurteilen. Gehe hin und sündige nicht mehr"
(Joh 8,1-11). Diesem Vorbild folgend sagt Franziskus, die
Priester müssten für betroffene Frauen „Worte der echten
Annahme" finden - verbunden „mit einer Reflexion, die
hilft, die begangene Sünde zu begreifen".
Für Franziskus steht an erster Stelle, dass Frauen, die
abgetrieben haben, die Vergebung Gottes nicht verweigert
werden darf. Er übersieht dabei nicht, dass die veränderte
Beziehung moderner Gesellschaften zum Leben - ob am
Anfang oder am Ende - aus Sicht der Kirche schwerwiegende
Fragen aufwirft. „Das Drama der Abtreibung wird
von manchen mit einem oberflächlichen Bewusstsein erlebt",
schreibt er. „Viele andere dagegen, die diesen Moment
zwar als Niederlage erleben, meinen, keinen anderen
Ausweg zu haben." Er denke an die Frauen, die eine
Abtreibung vornehmen ließen, und wisse um den Druck,
der sie zu dieser Entscheidung geführt habe. „Ich weiß,
dass es ein existenzielles und moralisches Drama ist", sagt
Franziskus und betont zugleich, er sei vielen Frauen begegnet,
„die in ihrem Herzen die Narben dieser leidvollen
und schmerzhaften Entscheidung trugen".
Ich habe als Bischof selbst solche Erfahrungen gemacht,
wie junge Frauen buchstäblich zur Abtreibung
gezwungen wurden, indem man ihnen angedroht hat, sie
mittellos auf die Straße zu setzen, wenn sie den Eingriff
nicht vornehmen ließen. Sie kamen dann nachher zu mir
und baten weinend um Hilfe und wollten, dass ich sie „um
Gottes und seiner heiligsten Mutter willen" von ihrem tief
liegenden Schock und ihrer Schuld befreie. Manchmal
sagte mir eine Frau, dass sie in der Nacht schweißgebadet
aufwache, weil sie Albträume habe und ihr Kind schreien
höre. Ein grausames Schicksal, das Frauen nie mehr
wegstecken können. Ich habe jedes Mal mit ihnen gebetet
und ihnen gesagt, dass Gott sie ganz sicher nicht verdamme
und nie aufhöre, sie zu lieben. „Mit ewiger Liebe habe
ich dich geliebt; darum habe ich dich an mich gezogen
aus lauter Gnade", lesen wir beim Propheten Jeremia (Jer
31,3). Ich legte ihnen die Hände auf und sprach die sakramentale
Lossprechung.Ich fragte mich allerdings, in welchem Maße eine solche
Frau subjektiv, also in dieser ihrer schaurigen Grenzsituation,
tatsächlich Schuld auf sich geladen hat. Es
brachte mich jedes Mal in Rage, wenn ich an die wirklich
Verantwortlichen für all dieses Leid von Frauen und den
Tod ihrer ungeborenen Kinder dachte. Kein Mensch belangt
diese gemeinen Typen. Sie selbst tun so, als ob absolut
nichts geschehen wäre. Sie sind die eigentlichen Verbrecher!
Aber von denen kommt niemand zum Bischof
und bittet um Absolution.
Ein ähnliches Signal der Barmherzigkeit setzte der Papst
durch den erleichterten Zugang zur Annullierung einer
Ehe. In einem Ehenichtigkeitsverfahren geht es um die
amtliche Feststellung, ob bei den betreffenden Partnern eine
gültige Ehe im katholischen Sinne überhaupt zustande
gekommen sei. Mögliche Gründe für eine ungültige Ehe
können Formfehler bei der Eheschließung sein, vor allem
aber Willensmängel oder Erkenntnismängel. Ein Willensmangel
liegt etwa vor, wenn ein Partner von vornherein
einen Kinderwunsch ausschließt, ein Erkenntnismangel,
wenn etwa einem der Partner nicht bewusst ist, dass eine
Ehe nach katholischem Verständnis unauflöslich ist.
Bei uns in Lateinamerika kommt als Ehehindernis
auch ganz besonders der äußere oder innere Zwang dazu.
Schwarz auf weiß heißt es im Kirchenrecht: „Ungültig
ist eine Ehe, die geschlossen wurde aufgrund von Zwang
oder infolge von außen, wenn auch ohne Absicht, eingeflößter
Furcht, die jemandem, um sich davon zu befreien,
die Wahl der Ehe aufzwingt" (CIC Canon 1103). Wie oft
passiert es in Lateinamerika, dass ein Mädchen zur Heirat
gezwungen wird, weil sie schwanger ist. Der Traupriester
erfährt nichts davon und beim Traugespräch wird so getan,
als ob alles eitel Wonne wäre. Aus Angst wird einfach
gelogen. Die Frage, ob sie (oder seltener auch er) aus freiem
Willen die Ehe eingehen möchte, wird mit Ja beantwortet.
Die Wahrheit kommt erst viel später ans Licht.
Ich kenne zur Genüge Fälle von Drohungen väterlicheroder
sogar mütterlicherseits wie „Wenn du den Burschen
nicht heiratest, werfe ich dich hinaus. Ich sehe dich nicht
mehr als meine Tochter an! Ich will keine Hure in meinem
Haus!" Es ist jedes Mal ein eklatanter Fall von Ehenichtigkeit.
Aber es ist meist sehr schwierig, Zeugen einzuvernehmen.
Ich weiß oft als Bischof aus dem forum internum von
den näheren Umständen, die zur Heirat geführt haben,
aber der Weg über die Instanzen des kirchlichen Ehegerichts
war immer langwierig. Es kam oft aus diesem und
jenem Grund zu keinem Urteilsspruch - auch wenn ich
völlig überzeugt war, dass die Ehe ungültig ist. Da stieg bei
mir jedes Mal die Frage auf: Warum ist mir als Ortsbischof
nicht das letzte Urteil anheimgestellt, wenn ich doch die
Umstände aus allernächster Nähe kenne?!
Zu Beginn des Heiligen Jahres kam die erlösende, von
mir längst erwartete Entscheidung aus Rom. Seither gilt
für die Nichtigkeitserklärung einer kirchlich geschlossenen
Ehe bereits das Urteil der ersten Instanz. Es muss
nicht mehr, wie zuvor, jedes Urteil in einem kirchlichen
Eheprozess in zweiter Instanz bestätigt werden. Zudem
darf die Maximaldauer eines Ehenichtigkeitsprozesses
nur mehr ein Jahr betragen. Außerdem verfügte der Papst,
dass der Ortsbischof selbst dieses Amt auszuüben hat, er
darf es nicht vollständig delegieren. Das ist die eine Seite.
Die andere ist, dass der Ortsbischof dadurch auch gegenüber
der römischen Kurie aufgewertet wird. Die ehegerichtliche
Entscheidung fällt jetzt auf diözesaner Ebene
- ein kleiner, aber in der Tendenz beachtenswerter Schritt
weg vom Zentralismus.
Nur im Falle einer Anfechtung des Ersturteils geht das
Verfahren in zweiter Instanz an den Erzbischof der jeweiligen
Kirchenprovinz - in Österreich an den Erzbischof
von Salzburg oder den Erzbischof von Wien. Erst wenn
das Diözesangericht und das übergeordnete Metropolitangericht
zu unterschiedlichen Urteilen kommen, entscheidet
in dritter und letzter Instanz die Rota Romana,
der Berufungsgerichtshof im Vatikan.
Der Einwand von Kritikern, dass die Nichtigkeitserklärung
einer Ehe von den betroffenen Partnern immer auch
eine gewisse Selbstverleugnung verlange, ist teilweise richtig.
Sie müssen ja tatsächlich mehr oder weniger erklären,
dass sie sich in ihrer Beziehung schwerwiegend getäuscht
hätten, dass sie unter Zwang gestanden seien oder dass ihr
Ja-Wort gleichsam nie den ernsthaften Charakter gehabt
habe, den der kirchlich definierte Wille zur Ehe verlange.
Wichtig scheint mir trotzdem, dass die Richtung stimmt.
Zum einen durch die Dezentralisierung und zum anderen
durch das neue Verständnis, wie die Kluft zwischen dem
Sakrament, dem kirchlichen Recht und der vom Evangelium
gebotenen Barmherzigkeit kleiner werden könnte.
Zur statistischen Einordnung: 2013 wurden weltweit rund
47.150 Ehen für nichtig erklärt - bei insgesamt 71.800 abgeschlossenen
Verfahren. Davon entfielen mit 24.600 mehr
als die Hälfte der annullierten Ehen auf die USA.
Franziskus will eine Kirche, die in zweifacher Hinsicht näher
bei den Menschen ist. Was vor Ort entschieden werden
kann, soll auch dort entschieden werden. Erst wenn
dezentral keine Einigung erzielt werden kann, entscheidet
in allerletzter Instanz Rom. Das Zweite ist: Weil menschliches
Leben brüchig und unvollendet ist, muss die Barmherzigkeit
gegenüber dem Recht wieder mehr Gewicht
bekommen.
Ein Detail am Rande: Über den juristischen Schatten
ist Franziskus auch gegenüber der traditionalistischen Piusbruderschaft
gesprungen. Überraschend ordnete er an,
dass im Heiligen Jahr alle Katholiken das Sakrament der
Versöhnung, die Beichte, auch bei Priestern der Bruderschaft
Sankt Pius X. gültig und erlaubt empfangen kön
nen. „Ich vertraue darauf, dass in naher Zukunft Lösungen
gefunden werden können, um die volle Einheit mit
den Priestern und Oberen der Bruderschaft wiederzugewinnen",
schrieb Franziskus.
Bislang ist die Spendung von Sakramenten durch die
Priester der von Rom getrennten Bruderschaft nach katholischem
Kirchenrecht gültig, aber nicht erlaubt. Für
die Beichte macht Franziskus im „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit"
eine Ausnahme. Vielleicht darf man auch darin
eine grundsätzliche Haltung dieses Papstes sehen: dass
mehr Ausnahmen die Regel bestätigen, weil nicht alles
Leben über einen einzigen kirchenrechtlichen Leisten geschlagen
werden kann.
© Verlagsanstalt Tyrolia
- Autoren: Erwin Kräutler , Josef Bruckmoser
- 2016, 2. Aufl., 144 Seiten, Maße: 13,4 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Tyrolia
- ISBN-10: 3702235086
- ISBN-13: 9783702235086
- Erscheinungsdatum: 18.02.2016
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Habt Mut!".
Kommentar verfassen